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Dougals Geschichte
Die Zivilisation mochte ja ihre Schattenseiten
haben, dachte ich grimmig, aber ihre Vorteile waren nicht zu
leugnen. Man denke nur an das Telefon. Oder auch an Zeitungen, die
es zwar in Großstädten wie Edinburgh oder auch Perth schon gab, die
aber in der Wildnis des schottischen Hochlandes völlig unbekannt
waren.
Ohne die Hilfe derartiger Kommunikationsmittel
verbreiteten sich Nachrichten von einer Person zur nächsten mit
Schrittgeschwindigkeit. Die Leute erfuhren zwar in der Regel, was
sie wissen mußten, aber mit wochenlanger Verzögerung. Wollte ich
herausfinden, wo Jamie steckte, konnte ich nur hoffen, daß irgend
jemand, der ihm begegnet war, Lallybroch verständigen würde. Das
konnte Wochen dauern. Und bald würde der Winter hereinbrechen, so
daß es unmöglich wäre, nach Beauly zu reisen. So saß ich da, warf
Stöcke ins Feuer und erwog die spärlichen Möglichkeiten.
Welchen Weg mochte Jamie nach seiner Flucht wohl
eingeschlagen haben? Gewiß nicht zurück nach Lallybroch, und
wahrscheinlich auch nicht nach Norden ins MacKenzie-Gebiet. Nach
Süden ins Grenzland, wo er vielleicht wieder auf Hugh Munro und
einige seiner ehemaligen Gefährten stoßen würde? Nein,
höchstwahrscheinlich nach Nordosten, Richtung Beauly. Aber wenn ich
darauf gekommen war, dann konnten das auch die Männer, die ihn
gefangen hatten.
Murtagh kam mit einem Armvoll Holz zurück und warf
es auf den Boden. Er setzte sich im Schneidersitz auf eine Ecke
seines Plaids und wickelte sich den Rest um die Schultern. Er warf
einen Blick zum Himmel, wo der Mond hinter Wolkenfetzen
hervorleuchtete.
»Es wird nicht gleich schneien«, sagte er mit
gerunzelter Stirn. »Erst in einer Woche, vielleicht in zwei.
Vielleicht erreichen wir
Beauly noch vorher.« Nett, daß er meine Schlußfolgerung
bestätigte.
»Glaubst du, daß er dort sein wird?«
Er zuckte die Schultern und zog sich das Plaid
enger um die Schultern.
»Kann man nicht wissen. Wird nicht leicht für ihn
sein, vorwärts zu kommen; am Tag muß er sich verstecken und die
Straßen meiden. Außerdem hat er kein Pferd.« Er kratzte sich
nachdenklich die Bartstoppeln. »Wir können ihn nicht finden; am
besten lassen wir uns von ihm finden.«
»Und wie? Sollen wir Leuchtkugeln hinaufschießen?«
schlug ich sarkastisch vor. Auf eines konnte ich mich bei Murtagh
verlassen; was für seltsame Dinge ich auch sagte, er würde so tun,
als hätte er nichts gehört.
»Ich habe dir ein kleines Paket Arznei
mitgebracht«, sagte er und deutete auf die Satteltasche am Boden.
»Du hast in der Gegend von Lallybroch einen guten Ruf. In der
näheren Umgebung wirst du als Heilerin bekannt sein.« Er nickte und
murmelte noch: »Das wird uns weiterhelfen«, bevor er sich ohne
weitere Erklärungen hinlegte und einschlief.
Bald erfuhr ich, was er gemeint hatte. Wir bewegten
uns langsam und in aller Öffentlichkeit die Hauptstraßen entlang
und hielten bei jeder Kate, jedem Weiler und jedem Dorf.
Wo immer wir Station machten, verschaffte Murtagh
sich schnell einen Überblick über die Bewohner, griff die heraus,
die an irgendeiner Krankheit oder Verletzung litten, und brachte
sie zu mir. Da Ärzte in dieser unwirtlichen Gegend äußerst dünn
gesät waren, gab es immer jemanden, der Hilfe brauchte.
Während ich mit meinen Wässerchen und Salben
beschäftigt war, plauderte er mit den Freunden und Verwandten
meiner Patienten und ließ jeden genau wissen, welchen Weg wir
einzuschlagen gedachten. Wenn es einmal ausnahmsweise niemand zu
behandeln gab, dann stiegen wir trotzdem über Nacht in einer Kate
oder einem Wirtshaus ab. Dort unterhielt Murtagh unsere Gastgeber
mit Gesang, um auf diese Weise unser Abendessen zu verdienen; er
wollte keinen Pfennig von dem Geld ausgeben, das ich bei mir trug;
vielleicht würden wir es brauchen, wenn wir Jamie fanden.
Da Murtagh sich aus Gesprächen nicht viel machte,
brachte er
mir, um uns die Zeit zu vertreiben, einige seiner Lieder bei,
während wir von Ort zu Ort zogen.
»Du hast eine gute Stimme«, bemerkte er eines Tages
nach einem einigermaßen erfolgreichen Versuch, mir das Lied »Die
traurigen Täler von Yarrow« beizubringen. »Ungeübt, aber kräftig
und echt. Du kannst es heute abend mit mir singen. In Limraigh gibt
es eine kleine Schenke.«
»Glaubst du wirklich, daß uns das weiterhilft«,
fragte ich, »was wir hier tun?«
Er rutschte im Sattel hin und her. Er war gewiß
kein Reitersmann, sondern sah eher aus wie ein Affe, dem man das
Reiten beigebracht hatte, aber dennoch hüpfte er am Ende des Tages
frisch und behende aus dem Sattel, während ich kaum noch fähig war,
meinem Pferd die Füße zusammenzubinden, bevor ich auf mein Lager
fiel.
»Ich denke doch«, antwortete er schließlich.
»Früher oder später. Jeden Tag hilfst du kranken Leuten, und das
wird sich herumsprechen. Genau das wollen wir. Aber vielleicht
könnten wir noch mehr erreichen. Deswegen singst du heute abend.
Und vielleicht…« Er zögerte, als wäre er unsicher, wie ich seinen
Vorschlag aufnehmen würde.
»Vielleicht was?«
»Verstehst du was vom Wahrsagen?« fragte er
vorsichtig. Ich verstand seine Zurückhaltung; schließlich hatte er
die wüste Raserei bei der Hexenjagd in Cranesmuir miterlebt.
Ich lächelte. »Ein wenig. Soll ich es
probieren?«
»Aye. Je mehr wir zu bieten haben, um so mehr Volk
wird kommen, um uns zu sehen. Und die werden es dann weitersagen.
Und irgendwann wird der Junge von uns hören, und dann werden wir
ihn finden. Bist du dabei?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Wenn es uns hilft,
warum nicht?«
An diesem Abend gab ich in Limraigh mein Debüt als
Sängerin und Wahrsagerin - mit nicht geringem Erfolg. Ich stellte
fest, daß Mrs. Graham recht gehabt hatte - es waren die Gesichter,
nicht die Hände, die einem die notwendigen Hinweise gaben.
Unser Ruhm begann sich zu verbreiten, und innerhalb
von einer Woche kamen die Leute aus den Häusern gerannt, um uns zu
begrüßen, und ließen Groschen und kleine Gaben auf uns herabregnen,
wenn wir wieder wegritten.
»Wir könnten direkt etwas daraus machen«, sagte ich
eines Abends, als ich die Einnahmen des Tages verstaute. »Schade,
daß es kein Theater in der Nähe gibt - wir könnten eine Show daraus
machen; Murtagh der Magier und Glamour-Gladys, seine
Assistentin.«
Er quittierte diese Bemerkung mit der üblichen
schweigsamen Gleichgültigkeit, aber es stimmte - wir hatten
wirklich Erfolg. Vielleicht deswegen, weil wir dasselbe Ziel vor
Augen hatten, auch wenn wir vom Wesen her grundverschieden
waren.
Das Wetter wurde zunehmend schlechter, und wir
kamen noch langsamer vorwärts. Und von Jamie keine Spur. Außerhalb
von Belladrum trafen wir eines Abends, es regnete in Strömen, auf
eine Gruppe waschechter Zigeuner.
Ich blinzelte ungläubig, als ich die kleine
Ansammlung bunter Wohnwagen sah, die auf einer Lichtung bei der
Straße stand. Es sah genauso aus wie das Lager, das Zigeuner
alljährlich in Hampstead Down aufschlugen.
Auch die Leute waren genauso: dunkelhäutig,
fröhlich, laut und offen. Eine Frau hörte uns kommen und steckte
den Kopf aus dem Fenster eines Wagens. Sie musterte uns einen
Augenblick und rief dann etwas. Plötzlich war der Boden unter den
Bäumen voller grinsender brauner Gesichter.
»Gib mir deinen Geldbeutel, damit ich ihn
aufbewahre«, sagte Murtagh finster, während er den jungen Mann
betrachtete, der auf uns zustolzierte und sich nicht im mindesten
daran störte, daß der Regen sein buntes Hemd durchweichte. »Und
wende niemandem den Rücken zu.«
Ich war vorsichtig, aber wir wurden warm empfangen
und sogleich zum Abendessen eingeladen. Der Eintopf roch köstlich,
und ich nahm die Einladung ohne Zögern an. Murtaghs düstere
Überlegungen, von welchem Tier die Fleischeinlage wohl stammen
mochte, ignorierte ich.
Sie sprachen wenig Englisch und noch weniger
Gälisch; wir unterhielten uns weitgehend mittels Gesten und in
einem Kauderwelsch, der von ferne an Französisch erinnerte. Es war
warm und gemütlich in dem Wohnwagen, in dem wir aßen, Männer,
Frauen und Kinder löffelten gemeinsam aus den Schüsseln und
tauchten Brotstücke in die Soße. Es war das Beste, was ich seit
Wochen gegessen hatte, und ich aß, bis ich schier platzte. Ich
konnte kaum mehr Atem holen, um
zu singen, aber ich tat, was ich konnte, und bei den schwierigen
Stellen summte ich und überließ Murtagh den Rest.
Unsere Vorstellung wurde mit begeistertem Applaus
bedacht, und die Zigeuner revanchierten sich: Ein junger Mann sang
zu den Klängen einer uralten Fiedel ein herzzerreißendes Klagelied,
und ein Mädchen von etwa acht Jahren schlug mit großer
Ernsthaftigkeit das Tamburin.
Während Murtagh sich in all den Weilern und
Dörfern, die wir bisher besucht hatten, bei seinen Nachforschungen
immer bedeckt gehalten hatte, war er bei den Zigeunern vollständig
offen. Zu meiner Überraschung sagte er ihnen ohne Umschweife, daß
wir einen großen Mann mit Haaren wie Feuer und Augen wie der
Sommerhimmel suchten. Die Zigeuner tauschten Blicke aus, aber einer
nach dem anderen schüttelte bedauernd den Kopf. Nein, sie hatten
ihn nicht gesehen. Aber… und hier versicherte uns der Anführer -
der buntgewandete Mann, der uns begrüßt hatte - mit pantomimischer
Begabung, daß sie uns einen Boten senden würden, falls ihnen der
Mann, den wir suchten, über den Weg laufen sollte.
Ich bedankte mich lächelnd, und nun war Murtagh an
der Reihe, mit Hilfe seiner schauspielerischen Talente deutlich zu
machen, daß eine solche Information mit Geld belohnt werden würde.
Dies wurde mit einem Lächeln quittiert, aber auch, wie mir schien,
mit berechnenden Blicken. Ich war froh, als Murtagh erklärte, daß
wir nicht über Nacht bleiben könnten und leider aufbrechen müßten.
Er schüttelte ein paar Münzen aus einer Felltasche, wohlweislich
darauf bedacht, jeden sehen zu lassen, daß nur ein paar
Kupferstücke darin waren. Wir verteilten die Münzen zum Dank für
die Gastfreundschaft und wurden mit vielen guten Wünschen für die
Weiterreise verabschiedet - jedenfalls hielt ich ihre fröhlichen
Zurufe dafür.
Tatsächlich hätten sie auch verabreden können, uns
zu folgen und uns die Kehle durchzuschneiden, und Murtagh verhielt
sich lieber so, als hätten sie genau das getan: Wir galoppierten
die zwei Meilen bis zur nächsten Kreuzung und verschwanden dort im
Dickicht und machten einen weiten Umweg, bevor wir wieder auf der
Straße auftauchten.
Murtagh schaute die Straße hinauf und hinunter.
Keine Menschenseele war zu sehen.
»Glaubst du wirklich, daß sie uns gefolgt
sind?«
»Weiß nicht, aber da sie zu zwölft sind und wir nur
zu zweit,
dachte ich, wir tun mal so als ob.« Das fand ich vernünftig, und
ich folgte ihm ohne Zögern bei seinen weiteren Ausweichmanövern.
Schließlich erreichten wir Rossmoor und fanden in einem Schuppen
Unterschlupf.
Am nächsten Tag fiel Schnee, zwar nicht viel, aber
doch genug, um den Boden mit einer dünnen Schicht zu überpudern,
und das machte mir Sorgen - der Gedanke, daß Jamie allein irgendwo
in der Heide Schnee und Sturm ausgesetzt war und nichts am Leib
trug außer seinem Hemd und dem Plaid, gefiel mir nicht.
Zwei Tage später kam der Bote.
Die Sonne stand noch über dem Horizont, aber in
den Felstälern war es schon schattig. Unter den kahlen Bäumen war
es so duster, daß man den Pfad - sofern überhaupt einer da war -
fast nicht sah. Aus Angst, ich könnte den Boten in der zunehmenden
Dunkelheit verlieren, folgte ich ihm so dicht auf den Fersen, daß
ich ein- oder zweimal auf den am Boden schleifenden Saum seines
Umhangs trat. Schließlich drehte er sich mit einem ärgerlichen
Schnauben um und gab mir mit einem unsanften Stoß zu verstehen, daß
ich vor ihm gehen sollte; er legte mir seine schwere Hand auf die
Schulter und steuerte mich durch die Dunkelheit.
Mir schien, daß wir sehr lange unterwegs waren; in
der rauhen Felsenlandschaft hatte ich jede Orientierung verloren.
Ich konnte nur hoffen, daß Murtagh irgendwo hinter uns war. Der
Mann, der in die Schenke gekommen war, um mich zu holen, ein
Zigeuner mittleren Alters, der kein Englisch konnte, hatte
rundheraus abgelehnt, daß mich irgend jemand begleitete.
Nachdrücklich hatte er zuerst auf Murtagh gezeigt und dann auf den
Boden, um deutlich zu machen, daß er hierbleiben mußte.
Zu dieser Jahreszeit waren die Nächte frostig, und
mein schwerer Umhang schützte mich nur unzureichend gegen den
eiskalten Wind. Ich war hin und her gerissen zwischen Bestürzung
bei dem Gedanken, daß Jamie schutzlos den kalten feuchten
Herbstnächten preisgegeben sein könnte, und Aufregung bei der
Vorstellung, ihn wiederzusehen. Ein Schauer lief mir über den
Rücken, der nichts mit der Kälte zu tun hatte.
Endlich signalisierte mir die Hand auf meiner
Schulter mit festem Druck, daß ich stehenbleiben sollte, und im
selben Augenblick war mein Führer spurlos verschwunden. Ich wartete
so geduldig wie
möglich; ich war sicher, daß mein Führer - oder sonst jemand -
zurückkäme, schließlich hatte ich ihn noch nicht bezahlt. Der Wind
fuhr raschelnd durchs Geäst; es klang, als würde der Geist eines
Hirsches vorbeihuschen, noch immer auf panischer Flucht vor dem
Jäger. Die Feuchtigkeit drang durch die Nähte meiner Stiefel; das
Otterfett, mit dem ich sie imprägniert hatte, hatte sich abgenutzt,
und ich hatte keine Möglichkeit gehabt, wieder etwas
aufzutragen.
Mein Führer war ebenso plötzlich wieder da, wie er
verschwunden war. Vor Schreck biß ich mir auf die Zunge. Mit einer
Kopfbewegung forderte er mich auf, ihm zu folgen. Hinter den
Erlenzweigen verbarg sich der Eingang einer engen Höhle.
Auf einem Felsvorsprung brannte eine Laterne. In
ihrem Schein zeichnete sich die Silhouette einer großen Gestalt ab,
die sich umdrehte, um mir entgegenzukommen.
Ich stürzte nach vorne, aber noch bevor ich den
Mann berührte, wußte ich, daß es nicht Jamie war. Die Enttäuschung
war wie ein Schlag in die Magengrube, und ich mußte zurücktreten
und mehrmals schlucken.
Ich preßte die Fäuste an meine Schenkel, bis ich
mich genügend beruhigt hatte, um sprechen zu können.
Mit einer Stimme, die so kühl war, daß es mich
selbst überraschte, sagte ich: »Was treibst du dich denn hier
herum?«
Dougal MacKenzie hatte nicht ohne Mitgefühl
beobachtet, wie ich um Selbstbeherrschung rang. Jetzt nahm er mich
am Ellbogen und führte mich tiefer in die Höhle. An der Rückwand
waren zahlreiche Bündel gestapelt, sehr viel mehr, als ein
einzelnes Pferd tragen konnte. Er war also nicht allein. Was immer
seine Leute da transportieren mochten - er wollte verhindern, daß
neugierige Gastwirte oder Stallburschen es zu Gesicht
bekamen.
»Schmuggelware, vermute ich?« Ich deutete mit dem
Kopf auf die Bündel. Dann ging mir ein Licht auf. »Ach nein, Güter
für Prinz Charles, nicht wahr?«
Er machte sich nicht die Mühe, mir zu antworten,
sondern setzte sich mir gegenüber auf einen Stein und legte die
Hände auf die Knie.
»Ich habe Neuigkeiten«, sagte er
unvermittelt.
Ich atmete tief ein, um mich zu wappnen gegen das,
was da kommen mochte. Neuigkeiten, aber keine guten, das war an
seinem Gesicht abzulesen. Ich atmete noch einmal tief durch,
schluckte mühsam und nickte.
»Sag es mir.«
»Er lebt«, sagte er, und der größte Eisklumpen in
meinem Magen begann zu schmelzen. Dougal legte den Kopf schief und
schaute mich forschend an. Fragte er sich, ob ich ohnmächtig werden
würde? Nein, das würde ich nicht.
»Vor zwei Wochen wurde er in der Nähe von
Kiltorlity aufgegriffen«, sagte Dougal, ohne mich aus den Augen zu
lassen. »War nicht seine Schuld, einfach Pech. Er stand plötzlich
sechs Dragonern gegenüber, und einer davon erkannte ihn.«
»Wurde er verletzt?« Meine Stimme war immer noch
ruhig, aber meine Hände begannen zu zittern.
Dougal schüttelte den Kopf. »Nein, soviel ich
weiß.« Nach einer Pause fügte er widerstrebend hinzu: »Er ist im
Wentworth-Gefängnis.«
»Wentworth«, wiederholte ich mechanisch. Das
Wentworth-Gefängnis. Es war ursprünglich ein mächtiges
Grenzbollwerk, das im späten sechzehnten Jahrhundert errichtet und
in den darauffolgenden hundertfünfzig Jahren immer weiter ausgebaut
worden war. Die riesige Festung erstreckte sich mittlerweile über
fast zwei Morgen und wurde von meterdicken Granitmauern
umschlossen. Aber selbst Granitmauern hatten Tore, dachte ich. Ich
schaute auf, um eine Frage zu stellen, und sah, daß sich auf
Dougals Gesicht immer noch Widerwillen malte.
»Was noch?« fragte ich. Seine haselnußbraunen Augen
blickte unbeirrbar in meine.
»Vor drei Tagen hat man ihm den Prozeß gemacht. Er
wurde zum Tod durch den Strang verurteilt.«
Mein Magen war jetzt ein einziger Eisklumpen, und
ich schloß die Augen.
»Wie lange?« fragte ich. Meine Stimme klang selbst
für meine Ohren weit entfernt. Ich öffnete die Augen und versuchte,
im flackernden Laternenlicht etwas zu erkennen. Dougal schüttelte
den Kopf.
»Ich weiß nicht. Jedenfalls nicht lange.«
Das Atmen fiel mir wieder etwas leichter, und es
gelang mir, meine geballten Fäuste zu öffnen.
»Wir sollten uns also beeilen«, sagte ich ruhig.
»Wie viele Männer hast du bei dir?«
Anstatt zu antworten, stand Dougal auf und kam zu
mir herüber.
Er legte seine Hand auf meine. In seinen Augen lagen Anteilnahme
und ein tiefer Kummer, und das machte mir mehr Angst als alles, was
er bisher gesagt hatte. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Nein, Mädel«, sagte er sanft. »Da ist nichts zu
machen.«
In Panik zog ich meine Hände weg.
»Doch! Es muß eine Möglichkeit geben. Du hast
gesagt, er lebt noch!«
»Und ich habe gesagt, nicht lange«, entgegnete er
scharf. »Der Junge ist im Wentworth-Gefängnis, nicht im Räuberloch
von Cranesmuir! Vielleicht hängen sie ihn schon heute auf,
vielleicht morgen, vielleicht auch erst nächste Woche. Jedenfalls
ist es ganz und gar unmöglich, dort mit zehn Männern gewaltsam
einzudringen!«
»Ach nein?« Ich zitterte wieder, aber diesmal aus
Wut. »Woher willst du das wissen? Du willst nur nicht deine Haut
riskieren, oder deinen jämmerlichen… Profit!« Anklagend deutete ich
auf die aufgestapelten Bündel. Rasend vor Schmerz und Wut,
trommelte ich ihm mit den Fäusten auf die Brust. Dougal ignorierte
die Schläge, legte die Arme um mich und zog mich eng an sich heran,
bis ich aufhörte zu toben.
»Claire.« Nie zuvor hatte er mich mit meinem
Vornamen angesprochen, und daß er es jetzt tat, machte mir noch
mehr angst.
»Claire«, sagte er wieder und lockerte seinen
Griff, so daß ich zu ihm aufschauen konnte. »Glaubst du nicht, daß
ich alles tun würde, um den Jungen zu befreien, wenn die geringste
Aussicht auf Erfolg bestünde? Schließlich habe ich ihn mit
großgezogen! Aber es gibt keine Möglichkeit - nicht die geringste!«
Er schüttelte mich leicht, um seinen Worten Nachdruck zu
verleihen.
»Jamie würde nicht wollen, daß ich das Leben guter
Männer bei einer aussichtslosen Unternehmung aufs Spiel setze. Das
weißt du so gut wie ich.«
Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.
Sie brannten auf meinen eiskalten Wangen, und ich stieß Dougal von
mir. Aber er hielt mich nur noch fester.
»Claire, meine Liebe«, sagte er sanfter. »Mein Herz
ist voller Kummer wegen dem Jungen - und wegen dir. Komm mit mir.
Ich bringe dich in Sicherheit. In mein eigenes Haus«, fügte er
schnell hinzu, als er spürte, wie ich mich versteifte. »Nicht nach
Leoch.«
»In dein Haus?« wiederholte ich langsam. Ein
schrecklicher Verdacht begann in mir aufzusteigen.
»Ja«, sagte er. »Du hast doch sicher nicht
geglaubt, daß ich dich nach Cranesmuir zurückbringen würde?« Er
lächelte kurz, dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Nein. Ich
bringe dich nach Beannachd. Dort bist du sicher.«
»Sicher«, sagte ich, »oder hilflos?« Der Ton meiner
Stimme veranlaßte ihn, die Arme fallen zu lassen.
»Was soll das heißen?« Auch seine Stimme war
plötzlich kalt.
Mich fröstelte, und ich zog den Mantel eng um mich
und trat einen Schritt zurück.
»Du hast Jamie davon abgehalten, nach Hause
zurückzukehren, weil du ihm erzählt hast, seine Schwester hätte ein
Kind von Randall. Auf diese Weise ist es dir und deinem
hochgeschätzten Bruder gelungen, ihn in euer Lager zu locken. Aber
jetzt haben ihn die Engländer, und Jamie nützt euch nichts
mehr.
Warst du nicht dabei, als der Ehevertrag deiner
Schwester aufgesetzt wurde? Du und Colum habt darauf bestanden, daß
Broch Tuarach in den Besitz einer Frau übergehen kann. Du glaubst,
wenn Jamie tot ist, wird Broch Tuarach mir gehören - oder dir, wenn
du mich dazu bringen kannst, deine Frau zu werden.«
»Was?! Du glaubst … du glaubst wirklich, das alles
wäre ein raffinierter Plan? Bei der heiligen Agnes! Glaubst du, daß
ich dich anlüge?«
Ich schüttelte den Kopf und achtete darauf, den
Abstand zwischen uns zu wahren.
»Nein, ich glaube dir. Wenn Jamie nicht wirklich im
Gefängnis wäre, würdest du nie wagen, mir das zu sagen. Man könnte
es viel zu leicht nachprüfen. Auch glaube ich nicht, daß du ihn an
die Engländer verraten hast - nicht einmal du könnest einem
Blutsverwandten so etwas antun. Im übrigen weißt du auch, daß sich
deine Männer augenblicklich gegen dich wenden würden, wenn das
herauskäme. Sie nehmen eine ganze Menge hin, aber nicht Verrat am
eigenen Blut.« Während ich sprach, fiel mir etwas ein.
»Warst du es, der Jamie letztes Jahr an der Grenze
überfallen hat?«
Die schweren Augenbrauen hoben sich erstaunt.
»Ich? Nein! Ich habe den Jungen halbtot gefunden
und ihn gerettet! Hätte ich das getan, wenn ich ihm übelgewollt
hätte?«
Unter meinem Umhang tastete ich mit der Hand nach
unten und empfand es als tröstlich, den Griff meines Dolches zu
spüren.
»Wenn du es nicht warst, wer war es dann?«
»Das weiß ich nicht.« Sein Blick war wachsam,
schien aber nichts zu verbergen. »Es war einer von den drei Männern
ohne Clanbindung, die damals mit Jamie auf der Jagd waren. Einer
hat den anderen beschuldigt, es war unmöglich, die Wahrheit
herauszufinden.« Er zuckte mit den Achseln, und sein Reisemantel
rutschte über eine Schulter.
»Es spielt keine Rolle mehr; zwei der Männer sind
tot, und der dritte sitzt im Gefängnis - aus einem anderen Grund,
aber was macht das schon.«
Es war eine gewisse Erleichterung, daß er immerhin
kein Mörder war. Er hatte keinen Grund, mich jetzt anzulügen,
soweit er wußte, war ich vollständig hilflos. Er könnte mich
zwingen, zu tun, was immer er wollte. Jedenfalls bildete er sich
das wahrscheinlich ein. Ich legte die Hand um den Griff meines
Dolches.
Es war nur wenig Licht in der Höhle, aber ich
beobachtete ihn genau und sah, daß ein unsicherer Ausdruck über
sein Gesicht huschte, während er den nächsten Zug plante. Er machte
einen Schritt auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen, blieb
aber stehen, als er mich zurückweichen sah.
»Claire. Meine süße Claire.« Seine Stimme war
sanft, und schmeichelnd strich er mir mit der Hand über den Arm. Er
wollte mich also lieber verführen als zwingen.
»Ich weiß, warum du so kalt mit mir sprichst und
warum du schlecht von mir denkst. Du weißt, daß ich für dich
brenne, Claire. Und es ist wahr - ich will dich seit der Nacht der
Versammlung, seit ich deine süßen Lippen geküßt habe.« Zwei Finger
ruhten leicht auf meiner Schulter und glitten jetzt zu meinem Hals.
»Wäre ich ein freier Mann gewesen, als Randall dich bedrohte, dann
hätte ich dich auf der Stelle geheiratet und den Kerl zum Teufel
geschickt.« Stückchen für Stückchen kam er näher und drängte mich
an die Felswand der Höhle. Seine Fingerspitzen fuhren am Verschluß
meines Mantels entlang und berührten meine Kehle.
Mein Gesichtsausdruck hinderte ihn daran, seine
Annäherung fortzusetzen. Er ließ jedoch die Hand an meinem Hals, so
daß er den wilden Pulsschlag spürte.
»Und dennoch, obwohl ich so fühle - und ich will es
nicht länger vor dir verbergen -, wirst du doch wohl nicht glauben,
daß ich Jamie im Stich lassen würde, wenn die geringsten Aussichten
bestünden?
Schließlich ist Jamie Fraser für mich derjenige, der einem Sohn am
nächsten kommt!«
»Wenn man von deinem eigenen Sohn absieht«,
entgegnete ich. »Oder sind es inzwischen zwei?« Die Finger an
meiner Kehle verstärkten ihren Druck und fielen dann nach
unten.
»Was soll das heißen?« Inzwischen war jede
Heuchelei, jede Verstellung überflüssig. Sein Blick war scharf, und
der Mund eine grimmige Linie im roten Bart. Er war sehr groß und
sehr nah, aber ich hatte mich schon zu weit vorgewagt.
»Das heißt, daß ich weiß, wer Hamishs Vater ist«,
sagte ich. Er hatte es wohl halbwegs erwartet und hatte sein
Gesicht gut unter Kontrolle, aber meine vierwöchige Erfahrung als
Hellseherin kam mir jetzt zugute. Ich sah ein winziges
erschrockenes Flackern in seinen Augen, und seine Mundwinkel
zuckten in kurzer Panik.
Trotz der Gefahr fühlte ich einen momentanen
Triumph. Ich hatte also recht gehabt, und dieses Wissen könnte
vielleicht genau die Waffe sein, die ich brauchte.
»Du weißt es also«, sagte er leise.
»Ja. Und ich vermute, daß es auch Colum
weiß.«
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und ich
fragte mich, ob er bewaffnet war.
»Eine Weile hat er wohl geglaubt, es wäre Jamie
gewesen«, fuhr ich fort und starrte ihm direkt in die Augen. »Wegen
der Gerüchte. Du hast sie wahrscheinlich in die Welt gesetzt, mit
Hilfe von Geillis Duncan. Warum? Weil Colum Verdacht gegen Jamie
geschöpft und Letitia zur Rede gestellt hat? Sie konnte ihm sicher
nicht sehr lange standhalten. Oder dachte Geillis, du wärst
Letitias Liebhaber, so daß du ihr erzählt hast, es wäre Jamie, um
sie zu beruhigen? Sie ist eine eifersüchtige Frau, aber jetzt hat
sie wohl kaum mehr einen Grund, dich zu schützen.«
Dougal lächelte grausam. Eiseskälte lag in seinen
Augen.
»Nein«, sagte er leise, »das hat sie auch nicht.
Die Hexe ist tot.«
»Tot?« schrie ich auf. Der Schock muß mir deutlich
im Gesicht gestanden haben.
»Aye. Verbrannt. Die Füße in einem Eimer voll Pech,
und rundherum aufgeschichteter Torf. An einen Pfahl gebunden und
angezündet wie eine Fackel. Als Flammensäule ist sie in die Hölle
gefahren.«
Ich dachte zuerst, er wollte mich mit dieser
gnadenlosen Aufzählung
von Einzelheiten beeindrucken, aber das stimmte nicht. Ich schaute
ihn von der Seite an und entdeckte Gram um seine Augen. Er geißelte
sich selbst. Ich hatte kein Mitleid mit ihm.
»Du mochtest sie also«, sagte ich kalt. »Hat ihr
viel genützt, und dem Kind auch. Was hast du mit ihm
gemacht?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe dafür gesorgt,
daß es in ein gutes Heim kommt. Ein Sohn, ein gesundes Baby, obwohl
seine Mutter eine Hexe und eine Ehebrecherin war.«
»Und sein Vater ein Ehebrecher und ein Verräter«,
gab ich giftig zurück. »Deine Frau, deine Gebliebte, deinen Neffen,
deinen Bruder - gibt es irgend jemanden, den du nicht verraten und
betrogen hast? Du… du…« Ich würgte an den Worten, vor Haß war mir
ganz übel. »Ich weiß nicht, warum mich das überrascht«, sagte ich
und versuchte das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken. »Wenn du
deinem König schon nicht treu bist, warum solltest du es dann
deinem Neffen oder deinem Bruder sein?«
Zornig starrte er mich an. Er zog die buschigen
dunklen Brauen hoch, Brauen, wie sie auch Colum hatte, und Jamie
und Hamish. Tiefliegende Augen, hohe Wangenknochen, edle
Schädelform - der alte Jacob MacKenzie hatte wahrhaftig einen
starken Eindruck hinterlassen.
Eine große Hand packte mich hart an der
Schulter.
»Mein Bruder? Du glaubst, ich würde meinen Bruder
verraten?« Das hatte ihn offensichtlich getroffen. Sein Gesicht war
dunkel vor Wut.
»Du hast selbst zugegeben, daß du das getan hast!«
Aber dann wurde mir plötzlich alles klar.
»Ach, natürlich, ihr beide«, sagte ich leise. »Du
und Colum, ihr habt das alles gemeinsam gemacht.« Ich packte seine
Hand und schleuderte sie von meiner Schulter.
»Colum hätte nicht Clanoberhaupt sein können, wenn
du nicht für ihn in den Krieg ziehen würdest. Er könnte den Clan
gar nicht zusammenhalten, wenn du nicht für ihn reisen, die Pacht
einsammeln und Streitigkeiten schlichten würdest. Er kann nicht
reiten, er kann nicht reisen. Und er konnte keinen Sohn zeugen, der
sein Erbe hätte antreten können. Und auch du hattest von Maura
keinen Sohn. Du hast geschworen, ihm Arm und Bein zu sein…« - ich
wurde langsam hysterisch -, »warum solltest du nicht auch sein
Schwanz sein?«
Dougals Wut schien verflogen; mit verschränkten
Armen schaute er mir zu und wartete, bis ich fertig wäre.
»Du hast es also mit Colums Einverständnis getan.
Und Letitia?« Da ich inzwischen wußte, wie skrupellos die
MacKenzie-Brüder sein konnten, hätte ich mich nicht gewundert, wenn
sie sie dazu gezwungen hätten.
Dougal nickte. »Sie war nicht gerade versessen auf
mich, aber sie wollte unbedingt ein Kind. Also hat sie mich drei
Monate lang in ihr Bett genommen - so lange hat es gedauert, Hamish
auf den Weg zu bringen. Es war eine verdammt langweilige
Angelegenheit«, fügte er hinzu und kratzte sich ein wenig Dreck vom
Stiefelabsatz. »Langweilig wie warmer Milchpudding.«
»Und hast du das Colum gesagt?« Er hörte die
Schärfe in meiner Stimme und schaute auf. Nach einer Weile erhellte
ein feines Lächeln sein Gesicht.
»Nein«, sagte er ruhig. »Nein, das habe ich ihm
nicht gesagt.« Er schaute auf seine Hände und drehte sie um, als
suchte er in seinen Handflächen ein Geheimnis.
»Ich habe ihm gesagt, daß sie zart und süß sei wie
ein reifer Pfirsich, daß ein Mann sich mehr von einer Frau nicht
wünschen könne.«
Abrupt ballte er die Hände zusammen und schaute
mich an. »Zart und süß würde ich dich nicht unbedingt
nennen. Aber alles, was ein Mann sich wünschen kann.« Langsam glitt
sein Blick über meinen Körper, verweilte genüßlich auf den
Rundungen der Brüste und Hüften, die unter dem offenen Mantel zu
sehen waren. Unbewußt strich er sich über die Muskeln seines
Schenkels, während er mich beobachtete.
»Wer weiß?« sagte er wie zu sich selbst.
»Vielleicht werde ich noch einen Sohn bekommen - diesmal einen
legitimen. Es ist wahr« - er taxierte meine Hüften -, »mit Jamie
ist es noch nichts geworden. Vielleicht bist du unfruchtbar. Aber
ich riskiere es. Schon allein das Anwesen ist es wert.«
Plötzlich machte er einen Schritt auf mich
zu.
»Wer weiß?« sagte er wieder, ganz sanft. »Wenn ich
Tag für Tag durch diese hübsche, braunhaarige Furche pflügen und
meinen Samen tief hineinstreuen würde…« Er machte noch einen
Schritt auf mich zu. Da tauchte ein Schatten an der Höhlenwand
auf.
»Du hast dir aber viel Zeit gelassen«, sagte ich
ärgerlich.
Dougal war fassungslos vor Schreck, als ihm
aufging, daß mein Blick auf jemanden gerichtet war, der im
Höhleneingang stand.
»Ich wollte nicht stören«, sagte Murtagh und
näherte sich mit zwei geladenen Pistolen in der Hand. Mit der einen
zielte er auf Dougal, mit der anderen gestikulierte er.
»Sofern du dieses letzte Angebot nicht hier und
jetzt annehmen willst, würde ich vorschlagen, du verschwindest. Und
wenn du es annimmst, dann verschwinde ich.«
»Niemand verschwindet«, gab ich kurz zurück. »Setz
dich«, sagte ich zu Dougal. Er starrte Murtagh immer noch an, als
wäre er eine Erscheinung.
»Wo ist Rupert?« fragte er, als er seine Stimme
wiedergefunden hatte.
»Oh, Rupert.« Murtagh kratzte sich nachdenklich mit
dem Pistolenlauf am Kinn. »Dürfte inzwischen in Belladrum sein.
Sollte vor Tagesanbruch wieder hier sein, mit dem Faß Rum, das er
angeblich in deinem Auftrag besorgen soll. Der Rest deiner Männer
schläft noch in Quinbrough.«
Dougal war so nett, ein wenig zu lachen, wenn auch
eher widerwillig. Er setzte sich und schaute zwischen mir und
Murtagh hin und her. Eine Weile war es still.
»Und nun?« fragte Dougal. »Was jetzt?«
Das war in der Tat eine gute Frage. Dougal hatte
mich im Lauf des Abends überrascht, schockiert und in Wut gebracht,
so daß ich noch keine Zeit gefunden hatte zu überlegen, was wir tun
sollten.
Murtagh war glücklicherweise besser vorbereitet.
Schließlich hatte er ja auch keine lüsternen Annäherungsversuche
abwehren müssen.
»Wir brauchen Geld«, antwortete er prompt, »und
Männer.« Er ließ den Blick über die Bündel schweifen, die an der
Wand aufgestapelt waren. »Nein«, meinte er nachdenklich. »Das ist
für König James. Aber wir nehmen, was du am Leib trägst.« Die
kleinen schwarzen Augen richteten sich schnell wieder auf Dougal,
und der Lauf einer Pistole zeigte auf seine Felltasche.
Eines mußte man einem Leben in den Highlands zugute
halten: Es förderte eine fatalistische Gelassenheit. Mit einem
Seufzer griff Dougal in die Tasche und warf mir einen Beutel vor
die Füße.
»Zwanzig Goldstücke und ungefähr dreißig
Schilling«, sagte er und schaute mich an. »Nimm es. Das ist mein
Beitrag.«
Er sah meine Skepsis und nickte bekräftigend.
»Doch, doch. Ich meine es ernst. Du kannst glauben,
was du willst, aber Jamie ist der Sohn meiner Schwester, und wenn
du ihn befreien kannst, dann sei Gott mit dir. Aber es ist
unmöglich.«
Er schaute Murtagh an, der immer noch die Pistole
in der Hand hielt.
»Was die Männer angeht, nein. Ich bin bereit, euch
zu Jamies Seite zu beerdigen, aber meine Männer sollte ihr nicht
mit ins Grab nehmen, Pistolen hin oder her.« Er verschränkte die
Arme, lehnte sich an die Höhlenwand und beobachtete uns
ruhig.
Murtaghs Hände bewegten sich nicht, aber seine
Augen richteten sich fragend auf mich. Wollte ich, daß er
schoß?
»Ich mache dir ein Angebot«, sagte ich.
Dougal zog eine Augenbraue hoch.
»Deine Position ist im Augenblick etwas besser als
meine. Was hast du anzubieten?«
»Erlaube mir, mit deinen Männern zu sprechen, und
wenn sie freiwillig mit mir gehen, dann laß sie. Wenn nicht, dann
gehen wir, wie wir gekommen sind - und du bekommst auch deinen
Geldbeutel zurück.«
Er grinste schief. Er musterte mich, als wollte er
sich darüber klarwerden, welche Überzeugungskraft ich besäße. Dann
lehnte er sich zurück und nickte.
»Abgemacht«, sagte er.
Am Ende verließen wir die Höhle mit Dougals
Geldbeutel und fünf seiner Männer: Rupert, John Whithlow, Willie
MacMurtry und die Zwillingsbrüder Rufus und Geordie Coulter.
Ruperts Entscheidung hatte den Ausschlag gegeben. Mit einem Gefühl
grimmiger Befriedigung hatte ich immer noch Dougals
Gesichtsausdruck vor Augen, als sein gedrungener, schwarzbärtiger
Leutnant mich gedankenvoll musterte und dann sagte: »Gut, Mädchen,
warum nicht?«
Das Wentworth-Gefängnis war fünfunddreißig Meilen
entfernt - zwei Tage mühsame Plackerei über morastige Wege in
eisiger Kälte. Nicht lange. Dougals Worte waren mir ständig
im Ohr und hielten mich im Sattel, auch wenn ich vor Erschöpfung
schon fast herunterfiel.
Um mir nicht ständig Sorgen um Jamie zu machen,
ging ich in Gedanken noch einmal das Gespräch mit Dougal in der
Höhle
durch. Ich dachte daran, was er zu mir gesagt hatte, als er vor
der Höhle stand, während Rupert und seine Leute die Pferde aus dem
Versteck holten.
»Ich habe eine Botschaft für dich«, hatte er
gesagt. »Von der Hexe.«
»Von Geillis?« Ich war erstaunt, um das mindeste zu
sagen.
»Aye. Ich habe sie noch einmal gesehen, als ich das
Kind abholte.« Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht
Mitgefühl empfunden. Wie die Dinge lagen, war meine Stimme jedoch
eisig.
»Und was hat sie gesagt?«
Er antwortete nicht gleich, und ich war mir nicht
sicher, ob er einfach die Information nicht preisgeben wollte oder
ob er sich seine Worte ganz genau überlegte. Scheinbar war es
letzteres, denn er sprach sehr langsam und genau.
»Sollte ich dich je wiedersehen, so sollte ich dir
zwei Dinge sagen, und zwar ganz genau so, wie ich sie von ihr
hörte. Das erste war: ›Ich glaube, es ist möglich, aber ich weiß es
nicht.‹ Und das zweite - das waren nur Zahlen. Ich mußte sie
mehrmals wiederholen, bis sie ganz sicher war, daß ich sie mir
richtig eingeprägt hatte. Die Zahlen waren eins, neun, sechs und
acht.«
Er schaute mich fragend an.
»Kannst du was damit anfangen?«
»Nein«, log ich und ging zu meinem Pferd.
»Ich glaube, es ist möglich.« Damit konnte sie nur
eins meinen: Sie glaubte, daß es möglich wäre, durch den Steinkreis
an meinen richtigen Platz zurückzukehren, auch wenn sie es nicht
sicher wußte. Offensichtlich hatte sie es nicht selbst ausprobiert,
sondern sich dafür entschieden zu bleiben und teuer dafür bezahlt.
Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Ob es Dougal war?
Was die Zahlen anging, so war mir sofort klar, was
sie bedeuteten. Sie hatte sie einzeln genannt, um ihre Bedeutung zu
verschleiern, ein Verhalten, daß ihr wahrscheinlich schon in
Fleisch und Blut übergegangen war, aber in Wirklichkeit war es eine
einzige Zahl: 1968. Das Jahr, in dem sie in die
Vergangenheit verschwand.
Ich empfand Neugierde und tiefes Bedauern. Wie
schade, daß ich die Impfnarbe an ihrem Arm erst gesehen hatte, als
es zu spät war! Hätte ich sie jedoch früher entdeckt, dann wäre ich
vielleicht mit ihrer Hilfe zum Steinkreis zurückgekehrt und hätte
Jamie verlassen.
Jamie. Der Gedanke an ihn lastete wie ein
Bleigewicht auf mir. Nicht lange. Der Weg zog sich endlos
hin, verlor sich manchmal vollständig im gefrorenen Morast. In
eisigem Nieselregen, der sich bald in Schnee verwandeln würde,
erreichten wir am Abend des zweiten Tages unser Ziel.
Das Gebäude zeichnete sich schwarz vor dem
bewölkten Himmel ab. Es war ein gigantischer Klotz, über hundert
Meter lang, mit einem Turm an jeder Ecke. Dreihundert Gefangene
konnten darin untergebracht werden, und dazu die vierzig Soldaten
der Garnison mit ihrem Kommandanten, der zivile Gouverneur mit
seinen Leuten, die vier Dutzend Köche, Wärter, Stallknechte und
andere Dienstboten, die nötig waren, um die Festung in Schwung zu
halten.
Ich schaute an den einschüchternden Mauern aus
grünem Granit empor, die da und dort von winzigen Fenstern
durchbrochen waren. In einigen flackerte Licht auf, die meisten
blieben jedoch dunkel. Vermutlich waren das die Gefängniszellen.
Ich schluckte. Angesichts der erdrückenden Wucht dieses Gebäudes,
der undurchdringlichen Mauern, des gewaltigen, fest verschlossenen
Tores und der Wachen kamen mir Zweifel.
»Was, wenn« - mein Mund war trocken, und ich hatte
Mühe, die Worte auszusprechen -, »was, wenn wir es nicht
schaffen?«
Murtagh war nicht anders als sonst auch, mürrisch
und verschlossen.
»Dann wird Dougal uns an seiner Seite begraben«,
antwortete er. »Los, wir haben Arbeit zu tun.«