25
Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben
lassen
Die in groben Wollstoff gehüllten Schultern
verschwanden vor mir in der Dunkelheit. Ich erhielt einen Stoß,
schlug mir schmerzhaft den Ellbogen an und fiel kopfüber in ein
stinkendes Verlies. Ich schrie aus Leibeskräften, schlug um mich
und bekam von einem winselnden Ungetüm einen heftigen Schlag auf
den Schenkel.
Es gelang mir, mich ein paar Fuß wegzurollen, bis
ich an eine Erdwand stieß. Der Aufprall löste eine Drecklawine aus.
Ich drückte mich so nah wie möglich an die Wand und hielt den Atem
an, um zu hören, was sonst noch mit mir in diesem gottverlassenen
Loch gefangen war. Da war irgend etwas Großes, das schwer
schnaufte, aber wenigstens nicht knurrte. Ein Schwein
vielleicht?
»Wer ist da?« kam eine Stimme aus der abgrundtiefen
Finsternis, zwar angstvoll, aber herausfordernd laut. »Claire, bist
du es?«
»Geillis!« Ich tastete mich zu ihr und bekam ihre
Hände zu fassen. Wir klammerten uns aneinander und wiegten uns eine
Weile hin und her.
»Ist hier sonst noch jemand?« fragte ich und
versuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Von oben fielen ein paar
fahle Lichtstrahlen herein, aber dennoch konnte ich Geillis’
Gesicht, das direkt vor mir war, kaum erkennen.
Sie lachte zitternd. »Mäuse und sonstiges Getier.
Und ein Gestank, der einem den Magen umdreht.«
»Ja, der Gestank ist grausam. Wo um Gottes willen
sind wir?«
»Im Loch, in das man die Diebe wirft.
Zurück!«
Oben war ein knirschendes Geräusch zu hören, und
plötzlich fiel ein Lichtstrahl herein. Ich drückte mich gerade noch
rechtzeitig an die Wand, um der Kaskade von Dreck und Unrat
auszuweichen, die durch eine kleine Öffnung in der Decke unseres
Gefängnisses auf uns herunterfiel. Danach klatschte irgend etwas
weich auf den Boden.
Geillis bückte sich und hob es auf. Die Luke an der Decke blieb
offen, und so konnte ich sehen, daß sie einen kleinen Brotlaib in
der Hand hielt, altbacken und dreckverschmiert. Sie wischte ihn
vorsichtig mit einem Rockzipfel ab.
»Abendessen«, sagte sie. »Hast doch bestimmt
Hunger?«
Abgesehen von den Wurfgeschossen, die die
Passanten gelegentlich auf uns herabschleuderten, und dem feuchten
Nieselregen kam durch die offene Luke nichts mehr herunter. Es war
kalt und feucht und jammervoll. Äußerst passend für die Übeltäter,
für die es gebaut war, Diebe, Landstreicher, Gotteslästerer,
Ehebrecher … und Frauen, die man der Hexerei verdächtigte.
Geillis und ich hatten uns dicht
aneinandergekuschelt, um uns zu wärmen, und sprachen nicht viel. Es
gab nicht viel zu sagen, und auch nichts zu tun, außer uns in
Geduld zu üben.
Das Loch über uns wurde allmählich dunkler, und die
Nacht zog herauf, bis alles in tiefes Schwarz gehüllt war.
»Wie lange, glaubst du, werden sie uns hier
festhalten?«
Geillis streckte die Beine aus, und das Morgenlicht
fiel durch die kleine längliche Öffnung auf ihren gestreiften
Leinenrock. Er war einmal rosa-weiß gewesen, aber das konnte man
jetzt nur noch ahnen.
»Nicht allzu lang«, sagte sie. »Sie warten auf die
kirchlichen Untersuchungsbeamten. Letzten Monat haben sie sich bei
Arthur schriftlich für die zweite Oktoberwoche angekündigt. Sie
müßten in Kürze da sein.«
»Was sind das für Untersuchungsbeamte? Was tun sie
hier?«
»Ich kann es nicht genau sagen. Ich habe nie einen
Hexenprozeß gesehen, obwohl ich natürlich davon gehört habe.« Sie
dachte einen Moment nach. »Sie sind nicht auf einen Hexenprozeß
vorbereitet, weil sie wegen Streitereien um Landrechte herkommen.
Sie werden also wenigstens keinen Hexenstecher dabeihaben.«
»Keinen was?«
»Hexen spüren keinen Schmerz«, erklärte Geillis,
»und sie bluten auch nicht, wenn sie gestochen werden. Ein
Hexenstecher ist ein Gerät, das mit allerlei spitzen Dingen
ausgerüstet ist. Es soll die Unempfindlichkeit überprüfen.« Ich
erinnere mich dunkel, so etwas in Franks Büchern gelesen zu haben,
aber ich dachte, so etwas
wäre im siebzehnten Jahrhundert praktiziert worden, nicht mehr in
diesem. Andererseits mußte ich leider zugeben, daß Cranesmuir nicht
gerade eine Hochburg der Zivilisation war.
»Dann ist es bedauerlich, daß sie keinen dabeihaben
werden«, sagte ich, obwohl mir der Gedanke, wiederholt ins Fleisch
gestochen zu werden, Bauchschmerzen verursachte. »Wir würden den
Test ohne Schwierigkeiten bestehen. Ich jedenfalls«, fügte ich
beißend hinzu. »Ich fürchte, bei dir würde nichts als Eiswasser
herauskommen.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, antwortete sie
nachdenklich, ohne der Beleidigung Beachtung zu schenken. »Ich habe
von Hexenstechern mit präparierten Nadeln gehört, die abbrechen,
wenn sie gegen die Haut gedrückt werden, so daß es so aussieht, als
könnte man sie nicht hineinstechen.«
»Aber warum? Warum sollte man jemand fälschlich als
Hexe verurteilen wollen?«
Die Sonne sank bereits, aber das Nachmittagslicht
reichte noch aus, um den Ausdruck mitleidigen Bedauerns zu
erkennen, der sich auf Geillis’ feinem, ovalen Gesicht
zeigte.
»Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Sie
wollen uns umbringen. Und da ist es ziemlich gleichgültig, weswegen
wir angeklagt werden, oder ob man etwas beweisen kann. Man wird uns
so oder so verbrennen.«
In der vorigen Nacht stand ich noch so unter
Schock, daß ich nicht mehr tun konnte, als mich an Geillis zu
drücken und auf den Morgen zu warten. Inzwischen begann sich das,
was mir an Mut geblieben war, wieder zu regen.
»Warum denn, Geillis? Weißt du es?« Der faulige
Gestank, der Schmutz und die Feuchtigkeit waren kaum mehr zu
ertragen, und ich fürchtete, die undurchdringlichen Erdwände
könnten über uns zusammenfallen wie ein schlecht geschaufeltes
Grab.
Ihr Schulterzucken spürte ich mehr, als daß ich es
sah. Der Lichtstrahl war mit der sinkenden Sonne gewandert und ließ
uns in der kalten Dunkelheit sitzen.
»Wenn es dir ein Trost ist«, sagte sie trocken,
»dann laß dir sagen, daß du wahrscheinlich gar nicht gemeint bist.
Es ist eine Sache zwischen mir und Colum - du hattest das Pech, bei
mir zu sein, als die Leute kamen. Bei Colum auf der Burg wärst du
wahrscheinlich in Sicherheit gewesen, Sassenach oder nicht.«
Das Wort »Sassenach«, das sie wie üblich abwertend
gebrauchte, weckte in mir plötzlich eine heiße Sehnsucht nach dem
Mann, in dessen Mund es ein Kosewort war. Ich schlang mir die Arme
um den Körper, um die Panik abzuwehren, die mich in dieser
jammervollen Einsamkeit zu befallen drohte.
»Warum bist du zu mir gekommen?« fragte Geillis
neugierig.
»Ich dachte, du hättest nach mir geschickt. Eins
der Mädchen auf der Burg brachte mir die Botschaft - von dir, sagte
sie.«
»Ah - das muß wohl Laoghaire gewesen sein, oder
nicht?«
Ich lehnte mich gegen die Erdwand, obwohl ich mich
vor der stinkenden, feuchten Oberfläche ekelte. Geillis rückte
nach. Ob Freund oder Feind, wir waren füreinander die einzige
Wärmequelle in diesem Loch und mußten uns
aneinanderschmiegen.
»Woher wußtest du, daß es Laoghaire ist?« fragte
ich zitternd.
»Sie war es, die dir die Verwünschung ins Bett
gelegt hat«, antwortete Geillis. »Ich habe dir gleich gesagt, daß
es einige geben würde, die dir den Rotschopf neiden. Ich vermute,
daß sie sich ausgerechnet hat, sie könnte wieder eine Chance haben,
wenn du weg bist.«
Ich war wie vom Donner gerührt und brauchte eine
Weile, bis ich die Stimme wiederfand.
»Niemals!«
Geillis’ Lachen war heiser vor Kälte und Durst,
klang aber immer noch silbern.
»Jeder, der sieht, wie dich der Junge anschaut,
wüßte das. Aber ich vermute, sie hat noch nicht genug von der Welt
mitbekommen, um sich da auszukennen. Laß sie ein- oder zweimal bei
einem Mann liegen, dann weiß sie Bescheid.«
»Das habe ich nicht gemeint!« platzte ich heraus.
»Sie will gar nicht Jamie; das Mädchen bekommt von Dougal MacKenzie
ein Kind.«
»Was?!« Einen Augenblick schien sie wirklich
schockiert zu sein, und ihre Finger gruben sich in meinen Arm. »Wie
kommst du denn darauf?«
Ich erzählte ihr, wie ich Laoghaire vor Colums
Arbeitszimmer gesehen und welche Schlüsse ich daraus gezogen
hatte.
Geillis schnaubte verächtlich.
»Pah! Sie hörte Colum und Dougal über mich
sprechen; deswegen hat sie’s mit der Angst bekommen - sie dachte,
Colum hätte
erfahren, daß sie wegen der Verwünschung bei mir war. Er hätte sie
dafür auspeitschen lassen; er läßt nicht zu, daß man mit solchen
Dingen herumspielt.«
»Du hast ihr die Kräuter gegeben?« Ich war
sprachlos. Geillis rückte heftig von mir ab.
»Ich habe sie ihr nicht gegeben, nein, ich habe sie
ihr verkauft.«
Ich starrte sie an. »Macht das einen
Unterschied?«
»Natürlich.« Sie wurde ungeduldig. »Es war ein
Geschäft, weiter nichts. Und ich verrate die Geheimnisse meiner
Kunden nicht. Im übrigen hat sie mir gar nicht gesagt, für wen sie
es wollte. Und du wirst dich erinnern, daß ich versucht habe, dich
zu warnen.«
»Danke«, sagte ich sarkastisch. »Aber…« Beim
Versuch, die Dinge unter diesem neuen Gesichtspunkt zu ordnen,
geriet mein Verstand ins Rotieren. »Aber wenn sie mir die
Verwünschung ins Bett gelegt hat, dann wollte sie doch Jamie. Das
erklärt, warum sie mich zu dir geschickt hat. Aber was hat Dougal
damit zu tun?«
Geillis zögerte einen Moment lang und schien dann
einen Entschluß zu fassen.
»Das Mädchen bekommt genausowenig ein Kind von
Dougal MacKenzie wie du.«
»Woher weißt du das so genau?«
Sie tastete in der Dunkelheit nach meiner Hand und
legte sie auf die schwellende Rundung unter ihrem Kleid.
»Weil ich es bekomme«, sagte sie schlicht.
»Also nicht Laoghaire, sondern du!«
»Ja, ich.« Sie sprach schlicht, ohne ihre übliche
Affektiertheit. »Was hat Colum gesagt? ›Ich sorge dafür, daß die
Sache in Ordnung kommt.‹ Nun, das ist wohl seine Art und Weise,
sich ein Problem vom Hals zu schaffen.«
Ich war eine Weile still und dachte nach.
»Geillis«, sagte ich schließlich, »dieses
Magenleiden deines Mannes …«
Sie seufzte. »Arsen. Ich dachte, es würde ihm den
Rest geben, bevor man mir die Schwangerschaft zu deutlich ansah,
aber er hielt länger durch als erwartet.«
Ich erinnerte mich an Arthur Duncans fassungslosen
Gesichtsausdruck, als er am letzten Tag seines Lebens aus dem
Ankleidezimmer seiner Frau stürzte.
»Ach, so ist das«, sagte ich. »Er wußte nichts von
dem Kind, bis er dich am Tag des Banketts halb ausgezogen sah.
Wahrscheinlich hatte er gute Gründe anzunehmen, daß es nicht sein
Kind war?«
Ein schwaches Lachen war aus der Ecke zu
hören.
»Der Salpeter kam teuer, aber er war jeden Groschen
wert.«
Mir lief ein Schauer über den Rücken, der mit der
Feuchtigkeit der Wand nichts zu tun hatte.
»Deswegen mußtest du das Risiko eingehen, ihn in
aller Öffentlichkeit umzubringen. Er hätte dich sonst als
Ehebrecherin oder Giftmischerin gebrandmarkt - oder glaubst du, er
wußte nichts von dem Arsen?«
»Oh, Arthur wußte es, auch wenn er es nicht
wahrhaben wollte. Aber er wußte Bescheid. Wir saßen einander beim
Abendessen gegenüber, und ich fragte ihn: ›Möchtest du noch etwas
vom Rehragout, mein Lieber?‹ oder ›Noch einen Schluck Bier, mein
Bester?‹, und er ließ mich nicht aus den Augen - diese Augen! Wie
gekochte Eier! - und sagte, nein, er habe heute keinen Appetit. Und
schob seinen Teller zurück und stand auf. Später hörte ich ihn dann
in der Küche, wie er heimlich Essen in sich hineinschaufelte, er
glaubte, er sei sicher, weil es nicht von mir kam.«
Ihre Stimme klang leicht und belustigt, als würde
sie irgendeinen saftigen Klatsch zum besten geben. Wieder überlief
es mich kalt, und ich rückte instinktiv von diesem Ding ab, das das
dunkle Loch mit mir teilte.
»Er kam nicht darauf, daß es in dem Stärkungsmittel
war, das er einnahm. Von mir wollte er ja keine Medizin mehr
anehmen; deswegen ließ er sich ein Tonikum aus London kommen - war
noch dazu verdammt teuer.« In ihrer Stimme schwang Groll über diese
extravagante Ausgabe. »In dem Zeug war sowieso schon Arsen, es fiel
ihm gar nicht auf, daß ich noch ein wenig mehr dazugetan
hatte.«
Ich hatte einmal gehört, Eitelkeit sei des Mörders
größte Schwäche; anscheinend stimmte das; denn sie konnte gar nicht
aufhören, sich mit ihren Taten zu brüsten.
»Es war ein bißchen riskant, ihn vor der ganzen
Gesellschaft um die Ecke zu bringen, aber ich mußte schnell
handeln.« Arsen war es nicht gewesen. Ich dachte an die harten
blauen Lippen des Prokurators und die Taubheit in meinem Mund, wo
er den seinen berührt hatte. Ein schnelles, tödliches Gift.
Und ich hatte gedacht, Dougal hätte eine Affäre mit
Laoghaire gestanden. Aber dann hätte Dougal das Mädchen ja heiraten
können, auch wenn Colum das nicht gerne gesehen hätte. Schließlich
war er Witwer und frei.
Aber eine ehebrecherische Beziehung mit der Frau
des Prokurators? Das war eine andere Geschichte - für alle
Beteiligten. Ehebruch wurde hart bestraft. Colum konnte eine Affäre
dieser Größenordnung nicht einfach unter den Teppich kehren, aber
ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß er seinen Bruder
öffentlich auspeitschen lassen oder ihn verbannen würde. Und für
Geillis mochte ein Mord durchaus eine brauchbare Alternative sein,
wenn man bedachte, was ihr drohte: mit einem heißen Eisen ins
Gesicht gebrannt und jahrelang eingekerkert zu werden und dabei
täglich zwölf Stunden Hanf klopfen müssen.
Sie hatte also vorbeugende Maßnahmen ergriffen, und
Colum hatte das gleiche getan. Und mich hatte es eiskalt
erwischt.
»Aber das Kind?« fragte ich. »Sicherlich…«
Ein grimmiges Auflachen war aus der Dunkelheit zu
hören. »Mißgeschicke passieren eben, meine Liebe. Selbst den
klügsten. Und nachdem es einmal geschehen war …« - ich fühlte
förmlich, wie sie mit den Achseln zuckte -, »zuerst wollte ich es
loswerden, aber dann dachte ich, er würde mich nach Arthurs Tod
vielleicht heiraten.«
Ein schrecklicher Verdacht überfiel mich.
»Aber damals hat Duncans Frau doch noch gelebt.
Geillis, hast du etwa -?«
Ihr Kleid raschelte, als sie den Kopf schüttelte,
was ich an einem matten Aufleuchten ihrer Haare sehen konnte.
»Ich hatte es vor«, sagte sie. »Aber Gott ersparte
mir die Mühe. Ich hielt das für ein Zeichen, verstehst du. Und es
hätte auch alles klappen können, wenn Colum MacKenzie nicht gewesen
wäre.«
»Wolltest du Dougal oder nur seine Position und
sein Geld?«
»Oh, Geld hatte ich genug«, sagte sie. In ihrer
Stimme lag Befriedigung. »Ich wußte, wo Arthur den Schlüssel für
all seine Papiere und Unterlagen verwahrte. Und der Mann hatte ja
eine gute Handschrift, das muß ich ihm lassen. Es war kein Problem,
seine Unterschrift zu fälschen. In den letzten zwei Jahren konnte
ich über zehntausend Pfund abzweigen.«
»Aber wofür denn?« fragte ich fassungslos.
»Für Schottland.«
»Was?« Ich glaubte einen Augenblick, ich hätte mich
verhört. Dann kam ich zu dem Schluß, daß eine von uns vielleicht
nicht ganz richtig im Kopf war. Den Fakten nach zu urteilen,
handelte es sich dabei nicht um mich.
»Was meinst du mit Schottland?« fragte ich
vorsichtig und zog mich noch ein Stückchen weiter zurück. Ich war
mir nicht mehr sicher, in welcher Verfassung sie eigentlich war.
Vielleicht hatte die Schwangerschaft ihren Verstand in
Mitleidenschaft gezogen.
»Brauchst keine Angst zu haben. Ich bin nicht
verrückt.« Die zynische Belustigung in ihrer Stimme ließ mich
erröten, und ich war dankbar für die Dunkelheit.
»Wirklich nicht?« gab ich bissig zurück. »Du selbst
bekennst dich zu Betrug, Diebstahl und Mord. Es wäre vielleicht zu
deinen Gunsten, wenn man dich für verrückt erklärt, denn wenn du es
nicht bist…«
»Ich bin weder verückt noch verworfen«, sagte sie
mit Entschiedenheit. »Ich bin eine Patriotin.«
Endlich dämmerte es mir. In der Erwartung, von
einer Geistesgestörten attackiert zu werden, hatte ich die Luft
angehalten. Nun atmete ich tief durch.
»Eine Jakobitin! Heiliger Jesus, das also steckt
dahinter!«
Damit wurde klar, warum Dougal, der im allgemeinen
die Ansichten seines Bruders teilte, sich so ins Zeug gelegt hatte,
um Geld für das Haus Stuart aufzutreiben. Und warum Geillis, die
jeden Mann ihrer Wahl zum Altar hätte führen können, sich auf so
ungleiche Typen wie Arthur Duncan und Dougal MacKenzie verlegt
hatte. Auf den einen wegen seines Geldes und seiner Position, auf
den anderen wegen seiner Macht über die öffentliche Meinung.
»Colum wäre besser gewesen«, fuhr sie fort.
»Schade. Sein Unglück ist auch meines. Er wäre der Richtige für
mich gewesen, der einzige, der wirklich zu mir gepaßt hätte.
Zusammen hätten wir… aber da ist nichts zu machen. Der einzige
Mann, den ich wirklich wollte, und gerade bei dem nutzten mir meine
Waffen nichts.«
»Und so hast du statt dessen Dougal
genommen.«
»Ja, ja«, sagte sie gedankenverloren. »Ein starker
Mann mit einiger Macht und etwas Besitz. Das Volk hört auf ihn.
Aber in Wirklichkeit ist er nicht mehr als die Beine und der
Schwanz« - sie
lachte auf -, »von Colum MacKenzie. Colum ist der Stärkere von
beiden, fast so stark wie ich.«
Der angeberische Ton ärgerte mich.
»Colum hat ein paar Dinge, die dir abgehen, zum
Beispiel Mitgefühl.«
»Ach ja, nichts als herzliche Liebe und
Barmherzigkeit, nicht wahr?« Die Ironie war nicht zu überhören.
»Hoffentlich nützt es ihm was. Der Tod sitzt ihm auf der Schulter;
das sieht ein Blinder mit dem Krückstock. Der Mann hat vielleicht
noch zwei Jahre zu leben, jedenfalls nicht viel länger.«
»Und wie lange wirst du noch leben?« fragte
ich.
Die Ironie verschwand, aber die Silberstimme blieb
gefaßt.
»Nicht so lange, vermute ich. Aber was macht das
schon. Ich habe einiges in die Wege geleitet in der Zeit, die ich
hatte. Zehntausend Pfund nach Frankreich geschickt und den ganzen
Distrikt auf die Seite von Prinz Charles gebracht. Wenn der
Aufstand losgeht, dann weiß ich, daß ich dazu beigetragen habe -
sofern ich noch lebe.«
Sie stand beinahe unter der Deckenöffnung. Meine
Augen waren hinreichend an die Dunkelheit gewöhnt, um ihre bleiche
Gestalt sehen zu können. Sie wirkte wie ein Geist.
»Was immer dieser Prozeß bringen wird, ich bedauere
nichts, Claire.«
»Ich bedauere nur, daß ich nur ein Leben habe, das
ich für mein Land hingeben kann«, führte ich ihre Bedenken ironisch
fort.
»Schön gesagt«, antwortete sie.
»Ja, nicht wahr?«
Wir verfielen in Schweigen, während die Nacht
hereinbrach. Die Schwärze in diesem Loch war wie eine greifbare
Kraft, die mir kalt und schwer auf der Brust lastete und meine
Lungen mit dem Geruch des Todes füllte. Schließlich rollte ich mich
so eng zusammen, wie ich konnte, legte den Kopf auf die Knie und
hörte auf zu kämpfen; frierend und am Rande der Panik verfiel ich
in Halbschlaf.
»Liebst du den Mann denn eigentlich?« fragte
Geillis in die Stille hinein.
Ich hob überrascht den Kopf. Ich hatte keine
Ahnung, wie spät es sein mochte; ein blasser Stern leuchtete über
uns, warf aber kein Licht in das Loch.
»Wen? Jamie?«
»Wen sonst?« antwortete sie trocken. »Es ist sein
Name, den du im Schlaf rufst.«
»Ach, tue ich das?«
»Nun, liebst du ihn?« Die Kälte hatte eine tödliche
Schläfrigkeit über mich gebracht, aber Geillis’ bohrende Frage
belebte mich wieder etwas.
Ich umklammerte die Knie und schaukelte leicht hin
und her. Die Untersuchungsbeamten würden in Kürze eintreffen,
vielleicht schon morgen. Es war ein bißchen spät für Ausflüchte.
Obwohl ich immer noch nicht wahrhaben wollte, daß mein Leben
ernsthaft in Gefahr war, begann ich doch zu verstehen, warum zum
Tode Verurteilte am Vorabend der Exekution beichten wollten.
»Ob du ihn wirklich liebst«, forderte Geillis
weiter. »Ich meine nicht, ob du mit ihm ins Bett gehen willst; ich
weiß ja, daß du das willst, und er auch. Aber liebst du ihn?«
Liebte ich ihn? Über das Begehren hinaus? Das Loch
hatte die dunkle Anonymität eines Beichtvaters, und eine Seele am
Rande des Todes hat für Lügen keine Zeit.
»Ja«, sagte ich und legte den Kopf zurück auf die
Knie.
Es wurde wieder still, und ich trieb erneut am Rand
des Schlafes dahin, als ich sie noch einmal, wie zu sich selbst,
sagen hörte:
»Dann ist es also möglich.«
Die kirchliche Untersuchungskommission traf am
nächsten Tag ein. Wir hörten das Geschrei der Dorfbewohner und das
Klappern der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster. Der Lärm nahm
ab, als sich die Prozession die Straße hinunter zum Dorfplatz
bewegte.
»Sie sind da«, sagte Geillis, während sie auf die
aufgeregten Geräusche lauschte.
Wir griffen uns instinktiv an den Händen; die Angst
ließ uns alle Feindseligkeiten vergessen.
Man ließ uns allerdings weiter frieren. Erst am
Mittag des darauffolgenden Tages wurde die Tür zu unserem Kerker
plötzlich aufgerissen; wir wurden herausgezerrt und vor unsere
Richter geführt.
Damit die vielen Zuschauer Platz fanden, wurde auf
dem Dorfplatz Gericht gehalten, direkt vor dem Haus der Duncans.
Ich sah, wie Geillis einen Blick zu den Bleiglasfenstern des Salons
hinaufwarf und sich mit ausdruckslosem Gesicht wieder
abwendete.
Zwei kirchliche Untersuchungsbeamte saßen auf
gepolsterten Hockern hinter einem Tisch, der auf einer Tribüne
aufgebaut worden war. Der eine Richter war ungewöhnlich groß und
dünn, der andere klein und dick. Ich mußte an amerikanische
Comic-Figuren denken, die ich einmal gesehen hatte, und taufte den
großen Mutt und den anderen Jeff.
Fast das ganze Dorf hatte sich versammelt. Ich
schaute herum und entdeckte eine ganze Anzahl meiner früheren
Patienten. Die Bewohner der Burg hielten sich allerdings
fern.
Es war John MacRae, der Dorfbüttel, der die
Anklageschrift gegen eine gewisse Geillis Duncan und eine gewisse
Claire Fraser verlas, die sich beide vor dem kirchlichen Gericht
wegen Hexerei zu verantworten hatten.
»… wird der Beschuldigten zur Last gelegt, mittels
Hexerei den Tod von Arthur Duncan verursacht zu haben, den Tod des
ungeborenen Kindes von Janet Robinson herbeigeführt zu haben, das
Schiff von Thomas MacKenzie zum Kentern gebracht zu haben …«
Die Litanei nahm kein Ende. Colum hatte gründlich
Vorarbeit geleistet. Anschließend wurden die Zeugen
vernommen.
Manche Aussagen waren schlicht absurd, und manche
Zeugen waren offensichtlich bestochen worden, aber einiges klang
wahr. Janet Robinson zum Beispiel, die bleich und zitternd von
ihrem Vater vorgeführt wurde, gestand, daß sie von einem
verheirateten Mann ein Kind empfangen hatte und sich in die Hände
von Geillis Duncan begeben hatte, um es abzutreiben.
»Sie hat mir einen Trunk gegeben und einen
Zauberspruch, den ich bei Mondaufgang dreimal sagen sollte«,
murmelte das Mädchen und blickte angstvoll von Geillis zu ihrem
Vater, unsicher, wer die größere Bedrohung darstellte. »Sie hat
gesagt, dann würde der Monatsfluß einsetzen.«
»Und? Hat er das?« fragte Jeff interessiert.
»Zuerst nicht, Euer Ehren, aber dann hab’ ich den
Trunk noch einmal bei abnehmendem Mond eingenommen, und dann hat’s
angefangen.«
»Was!?« schrie eine ältere Frau dazwischen,
offensichtlich die Mutter des Mädchens. »Sie hat sich fast zu Tode
geblutet. Nur weil sei beinah im Sterben war, hat sie mir die
Wahrheit gesagt.« Mrs. Robinson hätte nur allzugern sämtliche
schaurigen Einzelheiten
ausgebreitet, aber ihr wurde, was nicht leicht war, das Wort
abgeschnitten, damit weitere Zeugen aussagen konnten.
Es schien niemand dazusein, der etwas Bestimmtes
gegen mich vorbringen konnte, abgesehen von den vagen
Beschuldigungen, ich hätte etwas mit Arthur Duncans Tod zu tun,
weil ich dabei war und ihn berührt hatte, bevor er starb. Geillis
schien recht zu haben: Colum hatte mich nicht im Visier. Vielleicht
würde ich doch entrinnen können. Diesen Gedanken gab ich auf, als
die Frau vom Berg vortrat.
Als ich die dünne, gebückte Frau mit dem gelblichen
Schal erblickte, spürte ich sofort, daß wir in ernster Gefahr
waren. Sie stammte nicht aus dem Dorf; ich hatte sie nie zuvor
gesehen. Sie ging barfuß, und ihre Füße waren staubig von dem
langen Weg.
»Haben Sie etwas gegen eine dieser Frauen
vorzubringen?« fragte der dünne, große Richter.
Die Frau hatte Angst; sie vermied es, den Richtern
in die Augen zu schauen, nickte aber kurz. Sie sprach so leise, daß
man sie auffordern mußte, ihre Aussage zu wiederholen.
Sie und ihr Mann hatten ein kränkelndes Kind, das
zwar gesund zur Welt gekommen war, dann aber schwächlich wurde und
nicht mehr gedieh. Schließlich waren sie zu der Überzeugung
gekommen, daß es ein Wechselbalg sein mußte, und hatten es auf den
Feensitz auf dem Berg Croich Gorm gelegt. Um ihr eigenes Kind
wiederzuholen, sollten die Feen es zurückbringen, hatten sie in
einem Versteck Wache gehalten und gesehen, wie die beiden Damen -
sie wies mit dem Finger auf uns - zu dem Feensitz gegangen waren,
das Kind hochgehoben und seltsame Verwünschungen ausgesprochen
hatten.
Die Frau rang die dünnen Hände.
»Wir haben die ganze Nacht Wache gehalten. Und als
es dunkel wurde, ist ein Dämon aufgetaucht, eine riesige, schwarze
Gestalt; lautlos ist sie aus dem Schatten gekommen und hat sich
über unser Baby gebeugt.«
Aus der Menge kam ehrfürchtiges Gemurmel, und ich
spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten, obwohl ich doch
wußte, daß der »riesige Dämon« Jamie gewesen war, der nachgesehen
hatte, ob das Kind noch am Leben war. Ich holte tief Luft, weil ich
wußte, was jetzt kommen würde.
»Und als die Sonne aufgegangen ist, sind mein Mann
und ich
hin, um nachzuschauen. Und da war bloß der Wechselbalg, tot auf
dem Felsen, und keine Spur von unserem eigenen kleinen Kind.« Hier
brach ihr die Stimme, und sie schlug die Schürze vors Gesicht, um
ihre Tränen zu verbergen.
Als wäre dies das Signal gewesen, teilte sich die
Menge, und Peter, der Fuhrmann, trat hervor. Ich stöhnte innerlich
auf, als ich ihn sah. Ich hatte gespürt, wie sich die Stimmung
gegen mich gerichtet hatte, während die Frau sprach; alles, was
jetzt noch fehlte, war, daß dieser Mann dem Gericht vom Wasserpferd
erzählte.
Mit sichtlichem Genuß warf sich der Fuhrmann in die
Brust und deutete mit einer dramatischen Geste auf mich.
»Mit Fug und Recht nennt ihr sie eine Hexe, Euer
Ehren! Mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie diese Frau
ein Wasserpferd aus den Fluten des Evil Loch heraufbeschworen hat!
Ein furchterregendes Ungetüm, hoch wie eine Tanne, mit einem Hals
wie eine riesige blaue Schlange, Augen groß wie Äpfel, mit einem
Blick, daß einem schier die Seele aus dem Leib fahren
könnte.«
Die Richter schienen von dieser Aussage beeindruckt
und flüsterten einige Minuten miteinander, während Peter mich mit
einem schadenfrohen Blick musterte.
Nach einer Weile gab der dicke Richter John MacRae
einen gebieterischen Wink.
»Büttel!« rief er und deutete auf den Fuhrmann.
»Nehmen Sie diesen Mann und stellen Sie ihn wegen öffentlicher
Trunkenheit an den Pranger. Das hier ist ein ehrwürdiges Gericht;
wir wollen unsere Zeit nicht mit den nichtigen Anschuldigungen
eines Trunkenbolds verschwenden, der Wasserpferde sieht, wenn er
zuviel Whisky getrunken hat!«
Peter war so überrascht, daß er nicht einmal
Widerstand leistete, als John MacRae mit festem Schritt auf ihn
zuging und ihn am Arm packte. Als er abgeführt wurde, warf er mir
noch einen lodernden Blick zu. Ich konnte der Versuchung nicht
widerstehen, ihm einen kleinen Abschiedsgruß nachzuwinken.
Die Spannung hatte kurzzeitig nachgelassen, aber
nun wendeten sich die Dinge rapide zum Schlechten. Eine ganze
Prozession von Mädchen und Frauen kam nach vorne. Sie schwörten,
sie hätten alle möglichen Zaubermittel von Geillis Duncan gekauft -
um jemandem eine Krankheit anzuhängen, ein unerwünschtes Kind
abzutreiben oder einen Mann in den Liebesbann zu schlagen. Sie
beteuerten ausnahmslos, daß die Mittel gewirkt hätten - ein
Allgemeinarzt würde vor Neid erblassen. Zwar schrieb mir niemand
solche Fähigkeiten zu, aber einige gaben wahrheitsgemäß an, daß sie
mich verschiedentlich in Mrs. Duncans Kräuterzimmer gesehen hatten,
wo ich Arzneien gemischt und Kräuter zerstoßen hätte.
Das wäre mir vielleicht noch nicht zum Verhängnis
geworden; ebenso viele bezeugten, daß ich sie mit ganz normalen
Arzneien geheilt hätte, ohne irgendwelche Zaubersprüche oder
sonstigen Hokuspokus. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung
vorzutreten und zu meinen Gunsten auszusagen, erforderte einiges an
Mut, und ich war diesen Leuten äußerst dankbar.
Meine Füße schmerzten vom langen Stehen; während
die Richter relativ bequem saßen, gab es für die Gefangenen keine
Stühle. Als jedoch der nächste Zeuge auftrat, vergaß ich meine Füße
vollständig.
Mit einem Gespür für Dramatik, das dem von Colum in
nichts nachstand, stieß Vater Bain die Kirchentür auf und trat auf
den Platz. Auf eine Eichenkrücke gestützt, hinkte er mühsam nach
vorne. Er verbeugte sich vor den Richtern, drehte sich dann um und
ließ die Augen über die Menge schweifen, bis der Lärm abflaute und
nur noch ein bedrücktes Gemurmel zu hören war. Als er den Mund
auftat, war seine Stimme wie das Zischen einer Geißel.
Ȇber euch, Volk von Cranesmuir, wird Gericht
gehalten! Ihr seid vom Pfad der Gerechten abgekommen! Ihr habt Wind
gesät und Wirbelsturm geerntet!«
Ich staunte über diese unverhoffte rhetorische
Begabung. Vielleicht war er nur in Krisensituationen zu solchen
oratorischen Höhenflügen fähig. Die peitschende Stimme donnerte
weiter.
»Die Pest wird über euch kommen, und ihr werdet an
euren Sünden sterben, es sei denn, ihr läutert euch! Ihr habt die
Hure Babylon in eurer Mitte willkommen geheißen.« Nach dem
lodernden Blick zu schließen, den er zu mir hinüberschoß, mußte
wohl ich damit gemeint sein. »Ihr habt eure Seele an eure Feinde
verkauft, ihr habt die englische Schlange am Busen genährt, und
jetzt kommt die Rache des Allmächtigen über euch. ›Denn die Lippen
der fremden Frau sind süß wie Honigseim, und ihre Kehle ist glatter
als Öl, hernach aber ist sie bitter wie Wermut und scharf wie ein
zweischneidiges Schwert.‹ Bereut, bevor es zu spät ist! Fallt
auf die Knie, sage ich, und fleht um Vergebung! Jagt die englische
Hure fort! Kündigt euren Pakt mit dem Satansgezücht!« Er ergriff
den Rosenkranz, der an seinem Gürtel hing, und schüttelte das
hölzerne Kreuz in meine Richtung.
Unterhaltsam war diese Darbietung ja, dennoch
merkte ich, daß Mutt unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte,
vielleicht war er neidisch.
»Hochwürden«, unterbrach ihn der Richter und machte
eine kleine Verbeugung, »haben Sie gegen diese Frauen etwas
vorzubringen?«
»In der Tat!« Der Rhetorikausbruch hatte den
kleinen Priester erschöpft. Er wurde ruhiger. Drohend deutete er
auf mich, so daß ich mich zusammennehmen mußte, um nicht
zurückzuweichen.
»Dienstag vor zwei Wochen, um die Mittagszeit, traf
ich dieses Weib in den Gärten von Burg Leoch. Mit ihren
übernatürlichen Kräften hetzte sie ein Pack Hunde auf mich; ich
stürzte und war in Lebensgefahr. Mit einer schweren Bißverletzung
am Bein wollte ich ihrem Einfluß entkommen. Aber die Frau versuchte
mich mit ihrer Sündigkeit und wollte mich zu sich locken, aber ich
widerstand ihrer Tücke, und da verfluchte sie mich.«
»Was für ein verdammter Unsinn«, rief ich empört.
»Das ist die lächerlichste Unterstellung, die ich je gehört
habe!«
Vater Bains Augen glänzten fiebrig, als er den
Blick von den Untersuchungsrichtern abwandte und mich
fixierte.
»Willst du leugnen, Frau, daß du diese Worte zu mir
gesagt hast: ›Komm jetzt mit mir, Priester, sonst wird deine Wunde
eitern und du bekommst den Wundbrand‹?«
»Nun, nicht gerade in diesem Ton, aber in etwa
stimmt es.«
Mit zusammengebissenen Zähnen und triumphierendem
Blick hob der Priester seine Soutane hoch. Zum Vorschein kam ein
dikker Verband, der sich um seinen Oberschenkel wand, fleckig von
getrocknetem Blut und gelb von Eiter. Oben und unten quoll das
blasse Fleisch hervor, durch das sich bedrohliche rote Streifen
zogen, die von der unsichtbaren Wunde ausgingen.
»Mein Gott!« rief ich schockiert aus. »Sie haben
eine Blutvergiftung. Das muß sofort versorgt werden, sonst sterben
Sie!«
Ein erschrockenes Gemurmel ging durch die Menge,
und sogar Mutt und Jeff schienen etwas benommen.
Vater Bain schüttelte langsam den Kopf.
»Hört ihr das? Die Schamlosigkeit dieser Frau kennt
keine Grenzen. Sie verflucht mich, mich, einen Mann Gottes, hier
vor dem Richterstuhl der heiligen Kirche!«
Das aufgeregte Murmeln der Menge wurde lauter.
Vater Bain ergriff wieder das Wort und übertönte den Lärm.
»Männer von Cranesmuir, traut auf euer Urteil und
gehorcht dem Befehl des Herrn: ›Die Zauberinnen sollst du nicht am
Leben lassen!‹«
Vater Bains dramatische Beweisführung führte zu
einer Unterbrechung der Zeugenaussagen. Vermutlich hatte es nach
diesem Auftritt allen die Sprache verschlagen. Die Richter legten
eine kurze Pause ein und stärkten sich mit Erfrischungen, die ihnen
aus dem Wirtshaus gebracht wurden. Für uns gab es keine derartigen
Annehmlichkeiten.
Ich atmete tief durch und zog probeweise an meinen
Fesseln. Die Lederriemen quietschten ein bißchen, gaben aber keinen
Zoll nach. Das, dachte ich sarkastisch und versuchte gegen meine
Panik anzukämpfen, wäre nun der Moment, wo der strahlende junge
Held durch die Menge reitet, das kriecherische Volk zurückschläg
und die in Ohnmacht fallende Heldin in den Sattel hebt.
Aber mein strahlender junger Held trieb sich leider
irgendwo im Wald herum, schlürfte Bier mit einem alternden Lüstling
von adeliger Geburt und schlachtete unschuldiges Wild ab. Es war
ziemlich unwahrscheinlich, daß Jamie rechtzeitig zurückkäme, um
wenigstens noch meine Asche in Empfang zu nehmen, bevor sie in alle
Winde zerstreut würde.
Von meiner wachsenden Angst vollauf in Anspruch
genommen, hörte ich den Reiter zunächst gar nicht kommen. Erst als
sich Hälse reckten und aufgeregte Rufe laut wurden, nahm ich das
Klappern der Hufe auf dem Pflaster der Highstreet wahr.
Trotz meiner Verzweiflung begann ein Funken
irrationaler Hoffnung in mir aufzuflackern. Was, wenn Jamie
tatsächlich früher zurückgekommen wäre? Vielleicht hatte ihn der
Herzog zu sehr bedrängt. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um
das Gesicht des Ankömmlings zu erspähen.
Der kräftige Fuchs drängte das letzte Schulterpaar
auseinander, und zum Erstaunen aller - mich eingeschlossen - sprang
Ned Gowan behende vom Pferd.
Jeff schaute verwundert an der hageren, adretten
Gestalt herunter.
»Und Sie sind, Sir?« Zweifellos war diese
zurückhaltende, höfliche Anrede auf die silbernen Schuhschnallen
und den Samtrock zurückzuführen - es hatte seine Vorzüge, im Dienst
des Oberhaupts des MacKenzie-Clans zu stehen.
»Mein Name ist Edward Gowan, Euer Ehren«, sagte er
präzise, »Advokat.«
Mutt zog die Schultern hoch und zappelte auf seinem
Sitz herum. Sein Hocker hatte keine Lehne, bestimmt schmerzte ihn
sein langer Rücken. Ich starrte ihn an und wünschte, ein Hexenschuß
würde ihm in die Wirbelsäule fahren. Wenn man mich schon verbrennen
wollte, weil ich den bösen Blick hatte, dann sollte das nicht ganz
grundlos geschehen.
»Advokat?« knurrte er. »Was führt Sie her?«
»Ich bin gekommen, Euer Ehren, um Mrs. Fraser meine
bescheidenen Dienste anzubieten, einer äußerst liebenswürdigen
Dame, von deren wohltätiger und kenntnisreicher Ausübung der
Heilkunst ich selbst Zeuge bin.«
Guter Auftritt, dachte ich anerkenenend. Das war
das erste Tor auf unsere Seite. Ich schaute zu Geillis hinüber und
sah, wie sich ihr Mund zu einem halb bewundernden, halb höhnischen
Lächeln verzog. Zwar war Ned Gowan nicht der Typ, den jede zum
Prinzen ihrer Träume gewählt hätte, aber in Zeiten wie diesen
neigte ich nicht dazu, allzu wählerisch zu sein. Ich nahm, was
kam.
Nach einer erneuten Verbeugung vor den Richtern und
einer nicht weniger formvollendeten vor mir richtete sich Mr. Gowan
noch eine Spur weiter auf, steckte die Daumen in den Bund seiner
Reithose und warf sich mit der ganzen Romantik seines gealterten,
ritterlichen Herzens in den Kampf, und zwar mit der vornehmsten
Waffe der Juristerei: entnervender Langeweile.
Mit der tödlichen Präzision eines Fleischwolfs
unterwarf er jeden Punkt der Anklageschrift einer erbarmungslosen
Analyse und zerhackte ihn rücksichtslos mit dem Beil der
Präzedenzfälle und dem Messer der Gesetzesparagraphen.
Es war eine noble Darbietung. Er redete und redete
und redete. Manchmal machte er eine Pause und nickte respektvoll
zur Richterbank, als erwartete er von dort Anweisungen, tatsächlich
aber schöpfte er nur Luft für den nächsten Wortschwall.
Obwohl mein Leben auf dem Spiel stand und meine
Zukunft vollständig von der Eloquenz dieses dürren Männchens abhing
und ich ihm an den Lippen hätte hängen müssen, wurde ich von einem
unwiderstehlichen Drang zu gähnen gepackt. Ich war unfähig, meinen
aufgesperrten Mund zu bedecken, und trat von einem schmerzenden Fuß
auf den anderen. Am liebsten wäre es mir gewesen, sie hätten mich
sofort verbrannt, um dieser Tortur ein Ende zu machen.
Den Zuschauern schien es ähnlich zu gehen, die
Aufregung legte sich, und Langeweile machte sich breit. Mr. Gowan
redete weiter. Die Masse begann sich zu zerstreuen; plötzlich fiel
den Leuten ein, daß Tiere gemolken und Böden gewischt werden
mußten. Niemand glaubte, daß noch irgend etwas von Interesse
geschehen könnte.
Als Ned Gowan schließlich mit seiner
Verteidigunsrede fertig war, dunkelte es bereits; der gedrungene
Richter, den ich Jeff getauft hatte, verkündete, daß das Gericht am
nächsten Morgen wieder zusammentreten würde.
Nachdem sich Ned Gowan, Jeff und John MacRae kurz
beraten hatten, wurde ich zwischen zwei stämmigen Dorfbewohnern zum
Wirtshaus geführt. Ich sah, wie Geillis in die andere Richtung
abgeführt wurde; sie hielt sich kerzengerade und weigerte sich,
ihren Schritt zu beschleunigen oder ihre Umgebung in irgendeiner
Weise zur Kenntnis zu nehmen.
Im düsteren Hinterzimmer des Wirtshauses wurden mir
endlich die Fesseln abgenommen. Ned Gowan kam mit einer Flasche
Bier und einem Teller Fleisch und Brot herein.
»Ich habe nur ein paar Minuten Zeit, meine Liebe,
also hören Sie gut zu.« Der kleine Mann rückte seinen Stuhl neben
mich. Seine Augen blitzten, und abgesehen davon, daß ihm die
Perücke schief auf dem Kopf saß, deutete nichts darauf hin, daß er
müde oder erschöpft sein könnte.
»Mr. Gowan, ich bin so froh, daß Sie da
sind.«
»Ja, ja, meine Liebe, aber dafür haben wir jetzt
keine Zeit.« Er tätschelte mir freundlich, aber flüchtig die
Hand.
»Es ist mir gelungen, das Gericht dazu zu bewegen,
Ihren Fall vom Verfahren gegen Mrs. Duncan abzutrennen. Das ist ein
erster Schritt. Es hat den Anschein, daß im Grunde gar nicht die
Absicht bestand, Sie festzunehmen, und daß es nur geschehen ist,
weil Sie Umgang mit der He … mit Mrs. Duncan haben.
Dennoch besteht noch Gefahr für Sie, und das will
ich Ihnen nicht verhehlen. Die Stimmung im Dorf ist derzeit nicht
besonders günstig für Sie. Was, um Gottes willen, hat Sie
veranlaßt«, fragte er ungewöhnlich erzürnt, »das Kind zu
berühren?«
Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber er
wischte meinen Erklärungsversuch ungeduldig vom Tisch.
»Es tut nichts zur Sache. Worauf wir uns jetzt
stützen müssen, ist die Tatsache, daß Sie Engländerin sind und
folglich unwissend, was die hiesigen Gepflogenheiten angeht. Wir
müssen das Verfahren so sehr in die Länge ziehen wie möglich. Die
Zeit ist auf unserer Seite, verstehen Sie, denn am schlimmsten ist
es, wenn solche Prozesse in einer Atmosphäre allgemeiner Erregung
geführt werden, wo nicht mehr die Beweise, sondern die Befriedigung
des Blutdurstes im Vordergrund stehen.«
Besser konnte man nicht beschreiben, was ich in den
Gesichtern des Mobs gesehen hatte. Hier und da hatte ich Spuren von
Zweifel und Sympathie entdeckt, aber es bedarf einer seltenen
Charakterfestigkeit, sich gegen die Masse zu stellen, und in
Cranesmuir schienen Menschen dieses Schlages zu fehlen. Aber ich
mußte mich korrigieren - einen gab es, nämlich diesen kleinen
trockenen Advokaten aus Edinburgh, zäh wie der alte Stiefel, dem er
so sehr ähnelte.
»Je länger wir die Sache hinausziehen«, fuhr Mr.
Gowan ganz sachlich fort, »um so geringer ist die Neigung zu
überstürzten Handlungen. Nun«, sagte er mit den Händen auf den
Knien, »Sie haben morgen nur eine Aufgabe: still zu sein. Das Reden
erledige ich, und gebe Gott, daß wir etwas erreichen.«
»Das klingt vernünftig«, sagte ich und machte einen
eher kläglichen Versuch zu lächeln. Ich schaute zur Tür in Richtung
Gaststube, wo Stimmen laut wurden. Mr. Gowan sah meinen Blick und
nickte.
»Ich muß Sie verlassen. Aber ich habe dafür
gesorgt, daß Sie die Nacht über hierbleiben dürfen.« Er musterte
den kleinen Anbau, der als Lager für diverse Gerätschaften und
Vorräte diente. Dort war es kalt und dunkel, aber er war dem
Räuberloch bei weitem vorzuziehen.
Mr. Gowan stand auf, aber ich hielt ihn am Ärmel
fest. Es gab noch etwas, was ich wissen mußte.
»Mr. Gowan - hat Colum Sie geschickt?« Er zögerte,
aber innerhalb
der Grenzen, die sein Beruf ihm vorgab, war er ein Mann von
untadeliger Ehrlichkeit.
»Nein«, sagte er schlicht. Er schien beinahe
verlegen. »Ich kam … äh … aus eigenem Entschluß.« Er setzte sich
den Hut auf, wandte sich mit einem knappen »Guten Abend« zur Tür
und verschwand im Gedränge der hellen Schankstube.
Für mich war wenig Vorsorge getroffen worden, aber
immerhin fand ich auf einem der Fässer einen kleinen Krug Wein und
einen Laib Brot - diesmal sauber - und auf dem Boden eine
zusammengefaltete Decke.
Ich wickelte mich in die Decke und setzte mich hin,
um mein karges Mahl einzunehmen. Gedankenverloren kaute ich vor
mich hin.
Also war Gowan nicht von Colum geschickt worden.
Wußte er überhaupt von Gowans Absicht? Vermutlich hatte Colum
strikt verboten, daß irgend jemand ins Dorf hinunterging, damit
niemand in die Hexenjagd verwickelt würde. Die Wellen von Angst und
Hysterie, die das Dorf gepackt hatten, waren mit Händen zu
greifen.
Ein plötzliches Ansteigen des Lärmpegels im
Schankraum lenkte mich von meinen Gedanken ab. Vielleicht war das
hier ja meine Henkersmahlzeit. Aber am Rande der Vernichtung war
jede Stunde, die noch blieb, ein Grund, dankbar zu sein. Ich rollte
mich noch fester in die Decke, zog sie über den Kopf, um den Lärm
zu dämpfen, und bemühte mich nach Kräften, nichts außer Dankbarkeit
zu empfinden.
Nach einer äußerst ruhelosen Nacht wurde ich in
der Morgendämmerung geweckt und auf den Platz geführt, obwohl die
Richter erst eine Stunde später kamen.
Fröhlich, fett und vollgefressen, begannen sie
sogleich mit der Arbeit. Jeff wandte sich an John MacRae.
»Das Gericht fühlt sich nicht in der Lage, die
Angeklagten einzig auf der Grundlage der vorgebrachten Beweise
schuldig zu sprechen.« Die Menge, die sich bereits wieder
eingefunden hatte, brauste auf, aber Mutt brachte sie mit einem
stechenden Blick zum Schweigen. Als die Ordnung wiederhergestellt
war, drehte er sein kantiges Gesicht erneut zum Büttel.
»Führen Sie die Gefangenen zum Ufer des
Loch.«
Die erwartungsvollen Rufe der Menge weckten meine
schlimmsten Befürchtungen. John MacRae packte mich mit der einen
und
Geillis mit der anderen Hand, aber er bekam reichlich Hilfe.
Boshafte Hände rissen an meinen Kleidern, zwickten mich und stießen
mich vorwärts. Irgendein Idiot hatte eine Trommel und schlug darauf
einen Rhythmus, der die Menge noch mehr anheizte. Einige verfielen
in einen Sprechchor, den ich aber im allgemeinen Gejohle nicht
verstehen konnte und auch nicht wollte.
Die Prozession ging über die Wiese hinunter zu dem
kleinen hölzernen Kai am Loch. Wir wurden ans Ende geführt, wo sich
die beiden Richter aufgebaut hatten. Jeff wandte sich zu der Menge,
die am Ufer stand.
»Bringt die Seile!« Die Leute murmelten und
schauten einander vorwurfsvoll an, bis einer hastig mit einer Rolle
dünnem Seil angelaufen kam. MacRae nahm sie und ging zögernd auf
mich zu. Ein Blick auf die Richter schien ihm die nötige
Entschlossenheit zu verleihen.
»Bitte würden Sie Ihre Schuhe entfernen, Madam!«
befahl er.
»Was zum Teu - wofür?« fragte ich mit verschränkten
Armen.
Er war auf Widerspruch offensichtlich nicht
vorbereitet, aber einer der Richter kam seiner Antwort zuvor.
»Das ist das übliche Verfahren - die Wasserprobe.
Die Angeklagte wird gebunden, der rechte Daumen an den großen Zeh
des linken Fußes, und der linke Daumen an den großen Zeh des
rechten Fußes. Und dann …« Er warf einen vielsagenden Blick auf den
Loch. Zwei Fischer standen mit hochgerollten Hosenbeinen am Wasser
und grinsten mich erwartungsfroh an.
»Sobald sie im Wasser ist«, fiel der kleine Richter
ein, »wird sich zeigen, ob sie eine Hexe ist. Eine Hexe schwimmt,
weil die Reinheit des Wassers eine sündenbefleckte Person abstößt.
Eine unschuldige Frau sinkt.«
»Mir bleibt also die Wahl, als Hexe verurteilt oder
freigesprochen, aber ertränkt zu werden?« zischte ich. »Nein,
vielen Dank!« Ich umklammerte meine Ellbogen noch fester, um das
Zittern einzudämmen, das mir in Fleisch und Blut übergegangen zu
sein schien.
Der kleine Dicke blies sich auf wie eine Kröte in
Gefahr.
»Ohne Erlaubnis hast du vor dem hohen Gericht nicht
zu sprechen, Frau. Wagst du es, dich einer gesetzmäßigen
Untersuchung zu widersetzen?«
»Ob ich es wage, mich dem Tod durch Ertränken zu
widersetzen?
Ja, allerdings!« rief ich aus. Zu spät fiel mein Blick auf
Geillis, die wie verrückt den Kopf schüttelte, so daß die blonden
Haare um ihr Gesicht tanzten.
Der Richter befahl MacRae: »Ziehen Sie sie aus und
peitschen Sie sie.«
Ich hörte ein kollektives Seufzen, das ich zunächst
für eine Äußerung des Entsetzens hielt, das in Wahrheit aber
Vorfreude signalisierte. Und ich erkannte, was Haß bedeutete -
nicht ihr Haß, meiner. Ich hatte das Gefühl, kaum noch etwas zu
verlieren zu haben, und machte es ihnen nicht leicht.
Grobe Hände stießen mich vorwärts und rissen an
meiner Bluse und meinem Mieder.
»Laß mich los, du verdammtes Scheusal!« schrie ich
und trat einen von den Kerlen dahin, wo es am schmerzhaftesten war.
Er krümmte sich und verschwand in der Masse der johlenden,
spukkenden Zuschauer. Mehrere Hände packten mich an den Armen und
zerrten mich vorwärts. Jemand schlug mir so fest in den Magen, daß
ich keine Luft mehr bekam. Mein Mieder war inzwischen völlig
zerrissen, so daß mir die letzten Fetzen ohne Schwierigkeiten vom
Leib gerissen werden konnten. Ich hatte nie an übermäßiger
Schamhaftigkeit gelitten, aber hier halbnackt vor dieser
feindseligen Masse zu stehen, mit den Abdrücken verschwitzter Hände
auf den Brüsten, war eine Demütigung, die mich mit einem Haß
erfüllte, wie ich ihn mir nie hätte vorstellen können.
John MacRae legte mir eine Schlinge um die
Handgelenke und zog sie fest. Er hatte die Güte, beschämt
auszusehen, aber er wich meinem Blick aus. Es war klar, daß ich von
dieser Seite weder Hilfe noch Milde erwarten konnte; er war der
Masse nicht weniger ausgeliefert als ich.
Kein Zweifel, Geillis erging es nicht besser. Ich
erhaschte einen Blick auf ihr flatterndes, platinblondes Haar. Man
hatte mich unter eine große Eiche geführt. Das Seilende wurde über
einen Ast geworfen und straff gezogen, so daß es mir die Arme nach
oben riß. Ich biß die Zähne zusammen und klammerte mich an meine
Wut, das einzige, was ich meiner Angst entgegensetzen konnte. Jetzt
herrschte atemlose Stille, nur unterbrochen von einzelnen
anfeuernden Schreien.
»Gib es ihr, John! Los, mach schon!«
John MacRae, der wußte, was auf dieser Bühne von
ihm verlangt
wurde, zögerte kunstvoll, die Peitsche horizontal geneigt, und
ließ die Augen über die Menge wandern. Er trat vor und brachte mich
in die richtige Position. Nun war mein Gesicht so nah am Baum, daß
es fast die rauhe Rinde berührte. Dann ging er zwei Schritte
zurück, holte aus und ließ die Peitsche zischend
niedersausen.
Der Schock war schlimmer als der Schmerz. Erst nach
einigen Schlägen merkte ich, daß der Dorfbüttel sein Bestes tat, um
mich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu schonen. Dennoch waren ein
oder zwei Hiebe genug, die Haut zu zerfetzen.
Ich hatte die Augen fest geschlossen, preßte die
Wange gegen das Holz und versuchte mit allen Kräften, irgendwo
anders zu sein. Plötzlich hörte ich etwas, das mich augenblicklich
ins Hier und Jetzt zurückbrachte.
»Claire!«
Das Seil, mit dem meine Hände gefesselt waren, gab
nach, gerade genug, daß ich mich umwenden konnte. Der nächste
Peitschenhieb ging ins Leere, der Büttel stolperte, verlor das
Gleichgewicht und schlug sich unter den Hohnrufen der Menge den
Kopf an.
Die Haare klebten mir am Gesicht, das voller
Schweiß, Tränen und Schmutz war. Ich schüttelte es aus den Augen
und riskierte einen Blick, der bestätigte, was ich gehört
hatte.
Jamie kämpfte sich rücksichtslos durch die Masse.
Sein Gesicht glühte vor Zorn. Trotz der entsetzlichen Gefahr für
Geillis und mich und nun auch für Jamie war ich noch nie so
glücklich gewesen über die Ankunft eines Menschen.
»Der Hexenmann!« - »Ihr Mann, ja er ist’s!« -
»Nehmt ihn auch fest!« - »Zum Teufel mit dem Hexenpack!« -
»Verbrennt sie, verbrennt sie alle!« Die Hysterie der Menge,
momentan abgelenkt durch das Mißgeschick des Büttels, stieg wieder
zum Siedepunkt.
Jamie, der von den Gehilfen des Dorfbüttels
festgehalten wurde, kam nicht weiter. An jedem Arm hing ihm ein
Mann, und es gelang ihm nicht, mit der Hand an den Gürtel zu
kommen. Jemand glaubte, Jamie wollte ein Messer ziehen, und schlug
ihm die Faust in den Bauch.
Jamie krümmte sich, richtete sich aber gleich
wieder auf und stieß dem Kerl den Ellbogen auf die Nase. Dadurch
bekam er einen Arm vorübergehend frei - den zeternden Kerl auf der
anderen Seite ignorierte er - und konnte in eine Felltasche
greifen. Er hob den
Arm und warf. Im selben Augenblick, als sich das Objekt aus seiner
Hand löste, hörte ich ihn schreien:
»Claire! Steh still!«
Wo sollte ich auch hin, dachte ich benommen. Etwas
Dunkles kam auf mich zugeflogen, und ich wollte schon
zurückweichen, konnte aber gerade noch stehenbleiben. Mit einem
klirrenden Geräusch landete der schwarze Rosenkranz wie ein Lasso
auf meinen Schultern. Er blieb an meinem rechten Ohr hängen. Ich
schüttelte den Kopf, die Kette legte sich ganz um meinen Hals, und
das Kruzifix baumelte zwischen meinen nackten Brüsten.
Die Gesichter in den vorderen Reihen starrten mit
ungläubigem Entsetzen auf. Die erschrockene Stille breitete sich
allmählich nach hinten aus. Jamies Stimme, die normalerweise weich
war, selbst wenn er sich ärgerte, übertönte jetzt alles. Sie hatte
absolut nichts Weiches an sich.
»Bindet sie los!«
Die Kerle hatten von ihm abgelassen, und die Menge
teilte sich, um ihm den Weg nach vorne freizugeben. Der Büttel, dem
der Unterkiefer nach unten gefallen war, starrte ihn wie gebannt
an.
»Ich habe gesagt, bindet sie los!« Der Dorfbüttel
hatte plötzlich eine Vision, in der er den Tod in Gestalt eines
rothaarigen Teufels auf sich zukommen sah. Hastig griff er nach
seinem Dolch. Mit einem Schlag durchtrennte er das gestraffte Seil,
und meine Arme fielen wie Holzklötze nach unten. Ich stolperte und
wäre gefallen, wenn mich nicht eine starke vertraute Hand am
Ellbogen ergriffen und hochgezogen hätte. Dann sank mein Kopf an
Jamies Brust, und nichts berührte mich mehr.
Jamies Arm hielt mich fest. Er hatte sein Plaid
über mich geworfen, so daß ich meine Nacktheit endlich vor den
lüsternen Blicken der Zuschauer verbergen konnte. Alle möglichen
Stimmen riefen wirr durcheinander, aber die Menge war nicht mehr so
blutrünstig.
Die Stimme von Mutt - oder war es Jeff? - schnitt
durch die Verwirrung.
»Wer sind Sie? Was erlauben Sie sich, die
Untersuchungen des Gerichts zu stören?«
Ich spürte mehr, als daß ich es sah, wie sich die
Menge nach vorne drängte. Jamie war groß, und er war bewaffnet,
aber er war allein. Ich drückte mich unter den Falten des Plaids an
ihn. Sein rechter Arm spannte sich noch fester um mich, aber seine
linke
Hand ging zur Scheide an seiner Hüfte. Die silberblaue Klinge
zischte gefährlich, als er sie halb herauszog, und die Leute in den
Reihen blieben abrupt stehen.
Die Richter waren aus festerem Holz. Ich spähte
unter der Decke hervor und sah den kampfbereiten Blick, den Jeff
Jamie zuwarf. Mutt schien diese überraschende Wendung eher zu
verwirren.
»Sie wagen es, das Schwert gegen die Gerechtigkeit
Gottes zu ziehen?« keifte der faßartige kleine Richter.
Jamie zog das Schwert ganz heraus, ließ die Klinge
in der Sonne blitzen und rammte es dann in die Erde, so daß der
Griff zitterte.
»Ich ziehe es, um diese Frau und die Wahrheit zu
verteidigen«, rief er. »Wenn jemand gegen diese beiden ist, dann
soll er sich vor mir und dann vor Gott verantworten, in dieser
Reihenfolge.«
Der Richter blinzelte, als könnte er seinen Augen
nicht trauen, und ging noch einmal zum Angriff über.
»Sie haben bei der Arbeit dieses Gerichts nichts
verloren, Sir! Ich fordere Sie auf, die Gefangene unverzüglich dem
Gericht zu übergeben. Ihr eigenes Verhalten wird das Gericht
sogleich beschäftigen!«
Jamie sah die Richter ungerührt an. Ich spürte, wie
sein Herz hämmerte, aber seine Hände waren ruhig. Die eine lag am
Griff seines Schwerts, die andere am Dolch im Gürtel.
»Was Sie angeht, Sir, so habe ich vor Gottes Altar
den Schwur abgelegt, diese Frau zu schützen. Falls Sie mir sagen
wollen, daß Sie Ihre eigene Autorität für größer halten als die des
Allmächtigen, dann muß ich Sie davon in Kenntnis setzen, daß ich
diese Meinung nicht teile.«
Die Stille, die diesen Worten folgte, wurde von
einem verlegenen Gekicher unterbrochen. Zwar hatte sich die Menge
noch nicht auf unsere Seite geschlagen, aber immerhin war der Bann
gebrochen, der das Verhängnis unausweichlich hatte erscheinen
lassen.
Jamie faßte mich an der Schulter und drehte mich
um. Ich konnte es nicht ertragen, der Menge ins Gesicht zu schauen.
Ich hielt mein Kinn so hoch wie möglich und starrte weit in die
Ferne, bis mir die Augen tränten.
Jamie schlug das Plaid zurück, so daß mein Hals und
meine Schultern sichtbar wurden. Er berührte den schwarzen
Rosenkranz, so daß das Kreuz leicht hin und her schwang.
»Schwarzer Gagat verbrennt die Haut einer Hexe,
nicht wahr?« fragte er die Richter herausfordernd. »Und ganz gewiß,
möchte
ich annehmen, das Kreuz unseres Herrn. Aber seht!« Er hob das
Kreuz von meiner Brust. Die Haut darunter war rein und weiß,
abgesehen von ein paar Schmutzflecken.
Staunendes Murmeln ging durch die Menge.
Unglaublicher Mut, eiskalte Geistesgegenwart und
ein Instinkt für den großen Auftritt. Colum MacKenzie wußte schon,
warum er sich vor Jamie in acht nahm. Bedenkt man noch, daß er
befürchten mußte, ich könnte die Wahrheit über Hamishs Abstammung
verraten, oder das, was Colum meinte, daß ich darüber wußte, so war
verständlich, was Colum getan hatte. Verständlich, aber doch
unverzeihlich.
Die Stimmung der Masse schwankte hin und her; die
Gefahr war noch nicht gebannt. Immer noch war es möglich, daß die
Emotionen aufgepeitscht würden und wir wie unter einer Woge
darunter begraben würden. Mutt und Jeff schauten einander
unentschlossen an: Im Moment hatten sie die Kontrolle über die
Situation verloren.
Das war der Augenblick für Geillis Duncan, das Heft
in die Hand zu nehmen. Ich weiß nicht, ob es an diesem Punkt noch
Hoffnung für sie gab. Jedenfalls warf sie die blonden Locken
trotzig zurück und ihr Leben in die Waagschale.
»Diese Frau ist keine Hexe«, sagte sie schlicht.
»Aber ich bin eine.«
Jamies Darbietung, so gut sie gewesen war, konnte
sich damit nicht messen. Im Aufschrei der Menge gingen die Stimmen
der Richter völlig unter.
Es war nicht zu erkennen, was sie dachte oder
fühlte; die hohe Stirn war klar, die großen grünen Augen schienen
fast so etwas wie Belustigung auszustrahlen. Sie stand aufrecht da
in ihren zerfetzten schmutzigen Kleidern und blickte kalt auf ihre
Ankläger herunter. Als sich der Tumult ein wenig gelegt hatte,
begann sie zu sprechen, ohne sich dazu herabzulassen, die Stimme zu
heben, vielmehr zwang sie die Masse, leise zu werden, um sie
verstehen zu können.
»Ich, Geillis Duncan, gestehe, daß ich eine Hexe
und Satans Braut bin.« Erneut ging ein Aufschrei durch die Menge,
und sie wartete gelassen, bis Ruhe eingekehrt war.
»Meinem Meister gehorchend, gestehe ich, daß ich
meinen Ehemann, Arthur Duncan, durch Hexerei getötet habe.« Bei
diesen
Worten warf sie mir einen Blick zu, und es schien fast, als würde
ein Lächeln über ihre Lippen huschen. Ihre Augen ruhten auf der
Frau mit dem gelben Schal, wurden aber nicht weich. »Aus schierer
Boshaftigkeit verhängte ich einen Fluch über den Wechselbalg, daß
er sterben möge und das Menschenkind bei den Feen bleiben würde.«
Sie machte eine Geste in meine Richtung.
»Ich machte mir die Unwissenheit von Claire Fraser
zunutze und spannte sie für meine Zwecke ein. Aber sie hatte weder
Anteil noch Kenntnis von meinen Machenschaften, noch dient sie
meinem Meister.«
Wieder lief ein Raunen durch die Menge, und die
Leute drängten sich nach vorne, um besser sehen zu können. Sie
streckte abwehrend die Arme aus.
»Bleibt zurück!« Die Stimme schnitt wie eine
Peitsche durch die Luft. Sie warf den Kopf zurück, schaute zum
Himmel und verharrte bewegungslos.
»Hört!« rief sie. »Hört, der Wind eilt ihm voraus!
Habt acht, ihr Menschen von Cranesmuir! Denn mein Meister kommt auf
den Flügeln des Windes!« Sie neigte den Kopf und stieß einen
gedehnten, schrillen Triumphschrei aus. Die großen grünen Augen
starrten reglos wie in Trance. Und tatsächlich erhob sich der Wind.
Ich sah, wie am fernen Ufer des Loch dunkle Sturmwolken aufzogen.
Die Leute begannen sich ängstlich umzusehen, und die ersten machten
sich davon.
Geillis fing an, sich im Kreis zu drehen, die Haare
flatterten im Wind. Ich traute meinen Augen nicht.
Während sie tanzte, bedeckten die Haare ihr
Gesicht. Bei der letzten Drehung schleuderte sie sich jedoch die
blonde Mähne aus dem Gesicht, und ich fing einen glasklaren Blick
auf. Von Trance keine Spur. Ihre Lippen formten ein einziges Wort.
Dann wandte sie sich zur Menge und verfiel wieder in dieses
gruselige Schreien.
Das Wort war: »Rennt!«
Plötzlich hielt sie inne, und mit einem Ausdruck
des Wahnsinns riß sie ihr Mieder auf - weit genug, um der Masse das
Geheimnis preiszugeben, das meine Hand in dem dreckigen Räuberloch
ertastet hatte und das Arthur Duncan in der Stunde vor seinem Tod
gelüftet hatte. Die Fetzen ihres Kleides fielen herab und gaben den
Blick auf eine Schwangere im sechsten Monat frei.
Immer noch stand ich wie angewurzelt da. Jamie
jedoch erfaßte
die Situation. Er packte mich mit einer Hand, sein Schwert mit der
anderen, und stürzte sich in die Menge. Mit Ellbogen, Knien und
Schwertgriff kämpfte er sich den Weg zum Ufer frei.
Gebannt von dem Spektakel unter der Eiche,
begriffen zunächst nur wenige, was geschah. Als uns ein paar Leute
schreiend aufhalten wollten, hörte man das Trommeln von
galoppierenden Hufen.
Donas hatte immer noch nicht viel für Menschen
übrig und ließ es jeden merken, der sich ihm näherte. Er biß in die
erste Hand, die nach dem Zügel griff, und ein Mann hielt sich
schreiend die blutige Hand. Das Pferd bäumte sich auf, wieherte und
schleuderte die Hufe in die Luft, und die tapferen Mannen, die den
Hengst hatten aufhalten wollen, verloren plötzlich das
Interesse.
Jamie warf mich über den Sattel wie einen Mehlsack,
sprang selbst mit einer einzigen fließenden Bewegung hinauf und
drängte Donas durch die Menge, während er links und rechts
Schwerthiebe austeilte. Schließlich hatten wir freie Bahn, und wir
ließen den Loch, das Dorf und Leoch hinter uns. Ich war wie
erstarrt und rang nach Atem, um Jamie etwas zuzurufen.
Es war nicht die Offenbarung von Geillis’
Schwangerschaft gewesen, die mich bis ins Mark erschreckt hatte.
Als sie sich gedreht hatte, die weißen Arme hoch über dem Kopf
erhoben, hatte ich etwas gesehen, was sie auch an mir bemerkt haben
mußte, als man mir die Kleider heruntergerissen hatte. Ein Mal auf
dem Arm. Hier, in dieser Zeit, war es ein Hexenmal, das Signum
eines Zauberers: die unauffällige, vertraute Narbe der
Pockenimpfung.
Der Regen prasselte herab und kühlte mein
geschwollenes Gesicht und die brennenden Einschnitte an meinen
Handgelenken. Ich schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Bach,
schlürfte es langsam und spürte dankbar, wie mir die kalte
Flüssigkeit die Kehle hinunterlief.
Jamie verschwand für ein paar Minuten. Er kam mit
einer Handvoll flacher grüner Blätter zurück und kaute etwas. Er
spuckte den grünen Brei in die Hand und rieb meinen Rücken
vorsichtig damit ein. Das Brennen ließ sofort nach.
»Was ist das?« fragte ich ihn und versuchte mich zu
fassen. Ich war noch etwas zittrig, aber der Tränenstrom versiegte
langsam.
»Brunnenkresse«, antwortete er. »Du bist nicht die
einzige, die etwas von Kräutern versteht, Sassenach.«
»Wie - wie schmeckt es?« fragte ich und schluckte
einen Schluchzer hinunter.
»Ziemlich scheußlich«, antwortete er lakonisch. Er
beendete seine Behandlung und legte mir das Plaid wieder sorgsam
über die Schultern.
»Es wird keine … Ich meine, die Einschnitte sind
nicht tief. Ich - ich glaube, du wirst nicht gezeichnet sein.«
Seine Stimme war rauh, aber seine Berührung sehr sanft, und ich
brach in Tränen aus.
»Es tut mir leid«, brachte ich weinend hervor und
wischte mir die Nase mit einer Ecke des Plaids ab. »Ich - ich weiß
nicht, was mit mir los ist, warum ich nicht aufhören kann zu
weinen.«
Er zuckte die Schultern. »Vermutlich hat dir noch
nie jemand absichtlich weh getan, Sassenach. Der Schock darüber ist
ebenso schlimm wie die Schmerzen.« Er hielt inne und nahm eine Ecke
des Plaids in die Hand.
»Mir ist es genauso gegangen«, sagte er ganz
sachlich. »Hab’ mich hinterher übergeben und nur noch geweint, als
sie die Wunden gesäubert haben. Dann habe ich gezittert.«
Sorgfältig wischte er mir mit der Decke das Gesicht ab.
»Und als ich aufgehört habe zu zittern, Sassenach«,
sagte er ruhig, »da habe ich Gott gedankt, daß ich noch am Leben
war.« Er nickte mir zu. »Wenn du an diesem Punkt bist, mein
Mädchen, dann sag es mir, denn es gibt ein oder zwei Dinge, die ich
dir sagen möchte.«
Er stand auf und ging zum Bach, um das
blutbefleckte Taschentuch im kalten Wasser auszuwaschen.
»Wieso bist du früher zurückgekommen?« fragte ich,
als er wieder neben mir saß. Ich hatte aufgehört zu weinen,
zitterte aber immer noch, und ich kroch tiefer in die Decke
hinein.
»Alec MacMohan«, sagte er lächelnd. »Er sollte auf
dich aufpassen, während ich weg war. Als die Leute dich und Mrs.
Duncan festgenommen haben, ist er die ganze Nacht und den nächsten
Tag geritten, um mich zu finden. Ich bin dann wie der Teufel
zurückgaloppiert. Mein Gott, das ist ein Pferd!« Er schaute
anerkennend zu Donas hinauf, der oben an der Böschung angebunden
war und dessen Fell wie Kupfer glänzte.
»Ich darf ihn da nicht stehen lassen«, sagte er
nachdenklich. »Ich bezweifle zwar, daß uns jemand verfolgt, aber so
weit ist es auch wieder nicht von Cranesmuir. Kannst du jetzt
gehen?«
Ich folgte ihm mit einiger Mühe den Hügel hinauf;
Steine rollten unter meinen Füßen weg, und Farne und Brombeerranken
verhakten sich in meinem Rock. In der Nähe der Kuppe kamen wir zu
einem kleinen Erlengehölz, das so dicht war, daß die Äste über dem
Farn ein Dach bildeten. Jamie hob die Äste weit genug hoch, daß ich
in die grüne Höhle hineinkriechen konnte, und richtete dann die
umgeknickten Farne vor dem Eingang wieder auf. Er trat zurück, um
das Versteck zu begutachen, und nickte zufrieden.
»Hier wird dich keiner finden.« Er wollte gehen,
kam aber noch einmal zurück. »Versuche zu schlafen und mach dir
keine Sorgen, wenn ich nicht gleich wieder da bin. Ich gehe ein
bißchen jagen; wir haben kein Essen dabei, und an einer Kate wollte
ich nicht anhalten, das hätte zuviel Aufmerksamkeit erregt. Zieh
dir die Decke über den Kopf und paß auf, daß dein Hemd bedeckt ist;
das Weiß leuchtet durch die Zweige.«
Essen war mir gleichgültig; ich hatte das Gefühl,
als würde ich nie wieder essen wollen. Mit dem Schlaf war es
anders. Mein Rücken und meine Arme schmerzten immer noch, meine
Handgelenke waren wund, und mir tat einfach alles weh; erschöpft
schlief ich fast augenblicklich ein.
Ich schreckte hoch, weil mich etwas am Fuß packte,
und stieß mir den Kopf an den Zweigen. Blätter fielen herunter, und
mein Haar verfing sich in den Ästen. Ich schlug mit den Armen wild
um mich und kroch schließlich zerkratzt aus meinem Versteck heraus.
Jamie hockte amüsiert davor und wartete auf mich. Die Sonne ging
bereits unter, und tiefe Schatten hüllten das Tal ein. Von einem
kleinen Feuer in der Nähe des Baches wehte der Geruch von
gerösteten Kaninchen herauf.
Jamie reichte mir die Hand, um mir den Hügel
hinunterzuhelfen. Ich lehnte dankend ab und rannte hinunter. Meine
Übelkeit war verschwunden, und ich fiel gierig über das Fleisch
her.
»Nach dem Essen ziehen wir hinauf in den Wald,
Sassenach«, sagte Jamie und riß ein Bein von dem Kaninchenbraten
ab. »Ich möchte nicht hier unten am Bach schlafen; hier kann ich
nicht hören, wenn jemand kommt.«
Wir sprachen nicht viel beim Essen. Der Schrecken
vom Morgen saß uns noch in den Knochen, und der Gedanke an das, was
wir zurückgelassen hatten, bedrückte uns beide. Ich jedenfalls
trauerte um den Verlust. Mit Geillis hatte ich nicht nur eine
Gelegenheit,
mehr über die Gründe meiner Existenz hier herauszufinden,
verloren, sondern auch eine Freundin - meine einzige Freundin. Ich
war oft im Zweifel über Geillis’ Motive, aber ich hatte überhaupt
keinen Zweifel, daß sie mir an diesem Morgen das Leben gerettet
hatte. In dem Bewußtsein, daß sie selbst verloren war, hatte sie
alles getan, um mir die Flucht zu ermöglichen.
Das Feuer, das bei Tageslicht kaum zu sehen war,
begann jetzt, als die Schatten länger wurden, zu leuchten. Ich
schaute in die Flammen und betrachtete die Kaninchen, die darüber
an Spießen brieten. Von einem Knochen fiel ein Tropfen Blut ins
Feuer und verdampfte zischend. Plötzlich blieb mir der
Fleischbrocken im Halse stecken. Ich drehte mich um und mußte
würgen.
Wir packten unsere Habseligkeiten und fanden einen
guten Platz am Rande einer Lichtung im Wald. In der hügeligen
Landschaft hatte Jamie einen hohen Punkt ausgesucht, von dem aus er
die Straße überblicken konnte, die vom Dorf herführte. In der
Abenddämmerung leuchteten die Farben der Landschaft noch einmal
auf: in den Senken glühendes Smaragdgrün, Purpurviolett über den
Heidebüschen und brennendes Rubinrot in den Vogelbeeren auf dem
Gipfel des Hügels. Vogelbeeren - ein Mittel gegen Hexenzauber. In
weiter Ferne, am Fuß des Ben Aden, war immer noch die Silhouette
von Burg Leoch zu sehen.
Jamie machte an einem geschützten Fleck Feuer und
setzte sich daneben. Lange starrte er in die Flammen. Schließlich
schaute er zu mir auf und sagte ernst:
»Ich habe dir versprochen, daß ich dich nicht
drängen werde, wenn du mir etwas nicht erzählen willst. Und ich
würde dich auch jetzt nicht fragen; aber ich muß es wissen. Bist du
eine Hexe?«
Fassungslos starrte ich ihn an. »Eine Hexe? Ist das
dein Ernst?«
Er packte mich fest an den Schultern und schaute
mir gerade in die Augen, als wollte er mich zwingen, ihm zu
antworten.
»Ich muß dich das fragen, Claire! Und du
mußt es mir sagen!«
»Und wenn ich eine wäre?« fragte ich mit trockenem
Mund. »Wenn du geglaubt hättest, daß ich eine Hexe bin, hättest du
dann trotzdem für mich gekämpft?«
»Ich wäre auf den Scheiterhaufen mit dir gegangen!«
sagte er leidenschaftlich. »Und in die Hölle, wenn es sein muß.
Aber möge der Herr Jesus Christus unserer Seele gnädig sein, sag
mir die Wahrheit!«
Plötzlich konnte ich der wahnsinnigen Anspannung
nicht mehr standhalten. Ich riß mich los und rannte über die
Lichtung. Nicht weit, nur bis zu den ersten Bäumen. Ich konnte den
offenen Raum um mich herum nicht mehr ertragen. Ich preßte mich an
einen Baum, grub die Fingernägel in die Rinde, drückte mein Gesicht
daran und wurde von hysterischem Gelächter geschüttelt.
Jamies Gesicht, bleich und schockiert, tauchte auf
der anderen Seite des Baumes auf. In der vagen Erkenntnis, daß
Jamie glauben mußte, ich wäre übergeschnappt, zwang ich mich unter
Aufbietung all meiner Kräfte zum Sprechen. Keuchend starrte ich ihn
an.
»Ja«, sagte ich zurückweichend und immer noch von
einzelnen Lachanfällen geschüttelt, »ja, ich bin eine Hexe! In
deinen Augen muß ich eine sein. Ich habe nie die Pocken gehabt,
aber ich kann durch ein Zimmer voller sterbender Männer gehen, ohne
mich anzustecken. Ich kann die Kranken versorgen und ihre Körper
berühren, und doch kann mir die Krankheit nichts anhaben. Und du
mußt es für Hexerei halten, weil du von Impfung noch nie etwas
gehört hast und es dir anders nicht erklären kannst.
Die Dinge, die ich weiß …« - ich blieb stehen und
rang schwer atmend um Selbstbeherrschung -, »die weiß ich, weil mir
davon erzählt wurde. Ich weiß, wann Jonathan Randall geboren wurde
und wann er sterben wird, ich weiß, was er getan hat und was er tun
wird, ich weiß von Sandringham, weil… weil Frank es mir erzählt
hat. Er kannte die Geschichte von Randall, weil er … er … o Gott!«
Ich war nah daran, mich zu übergeben, und schloß die Augen, um die
Sterne nicht zu sehen, die um meinen Kopf tanzten.
»Und Colum … er glaubt, daß ich eine Hexe bin, weil
ich weiß, daß Hamish nicht sein eigener Sohn ist. Ich weiß, daß er…
keine Kinder zeugen kann. Aber er glaubt, ich wüßte, wer Hamishs
Vater ist… erst dachte ich, daß du es vielleicht wärst, aber dann
wußte ich, daß es nicht sein konnte, und …« Ich redete schneller
und schneller, um mit dem Klang meiner eigenen Stimme den Schwindel
in Zaum zu halten.
»Alles, was ich dir je über mich gesagt habe, ist
wahr«, sagte ich und nickte wie verrückt, als wollte ich jeden
Zweifel ausräumen. »Alles. Ich habe keine Verwandten, ich habe
keine Geschichte, weil es mich überhaupt noch nicht gibt. Soll ich
dir sagen, wann ich geboren wurde?«
Ich schaute ihm direkt in die Augen. Ich wußte, daß
meine Haare
wild zerzaust waren und meine Augen weit aufgerissen, aber es war
mir egal. »Am zwanzigsten Oktober im Jahr des Herrn
neunzehnhundertundachtzehn. Hörst du mich?« Er starrte mich
unverwandt an, als würde er kein Wort von dem erfassen, was ich
sagte. »Neunzehnhundertachtzehn habe ich gesagt! In fast
zweihundert Jahren! Hast du mich gehört?«
Mittlerweile schrie ich, und er nickte
langsam.
»Habe ich«, sagte er leise.
»Ja, hast du!« brach es aus mir heraus. »Und du
glaubst, daß ich wahnsinnig bin. Nicht wahr? Gib es zu! Das ist es,
was du glaubst. Du mußt das denken, denn wie könntest du dir sonst
erklären, was mit mir los ist? Du kannst mir nicht glauben,
du kannst es nicht wagen. O Jamie …« Ich fühlte, wie sich mein
Gesicht verzog. Die ganze Zeit hatte ich die Wahrheit verheimlichen
müssen, und jetzt, wo ich erkannte, daß ich Jamie, meinem geliebten
Ehemann, so sehr vertrauen konnte, um ihm alles zu erzählen, jetzt
wurde mir klar, daß er mir einfach nicht glauben
konnte.
»Es waren die Steine auf dem Feenhügel, der
Steinkreis. Da bin ich durchgegangen.« Ich rang nach Luft,
schluchzte auf, verhedderte mich zunehmend. »Es war einmal,
genaugenommen vor zweihundert Jahren. Es war immer vor zweihundert
Jahren in den Märchen … Aber in den Geschichten kommen die Leute
zurück. Ich konnte nicht zurück.« Ich sank auf einen Stein und
stützte den Kopf in die Hände. Es war lange still im Wald. Lang
genug, daß die kleinen Nachtvögel wieder Mut faßten, einander mit
dünnem Zirpen zuriefen und die Jagd nach den letzten Insekten des
Sommers fortsetzten.
Ich schaute auf. Ist er vielleicht einfach
fortgegangen, weil er meine Offenbarungen nicht ertragen konnte?
Aber da saß er immer noch, die Hände auf den Knien, den Kopf
gebeugt, als würde er nachdenken.
Die Härchen auf seinen Armen glänzten kupfern, und
ich merkte, daß sie sich sträubten wie das Nackenfell eines Hundes.
Er hatte Angst vor mir.
»Jamie«, sagte ich, überwältigt von einem Gefühl
absoluter Einsamkeit. »O Jamie.«
Ich rollte mich zu einem Ball zusammen, in dessen
Mittelpunkt mein Schmerz war. Alles wurde mir gleichgültig, und ich
schluchzte mir die Seele aus dem Leib.
Er legte mir seine warmen Hände auf die Schultern,
und ich blickte in sein Gesicht. Durch die Tränen hindurch sah ich,
daß es denselben Ausdruck trug wie im Kampf, wenn äußerste
Anspannung ruhiger Gewißheit Platz gemacht hatte.
»Ich glaube dir«, sagte er fest. »Ich verstehe kein
Wort - noch nicht -, aber ich glaube dir, Claire, ich glaube dir!
Die Wahrheit ist zwischen uns, zwischen dir und mir, und was du
auch sagst, ich glaube es dir.« Er schüttelte mich sanft.
»Es kann sein, was es will. Du hast es mir gesagt.
Das reicht erst einmal. Sei ruhig, mo duinne. Leg den Kopf
in meinen Schoß und ruh dich aus. Später erzählst du mir dann den
Rest. Und ich werde dir glauben.«
Ich schluchzte immer noch, unfähig zu begreifen,
was er mir sagte. Ich wollte mich losmachen, aber er drückte mich
fest an sich und sagte wieder und wieder: »Ich glaube dir.«
Schließlich beruhigte ich mich aus schierer
Erschöpfung und schaute zu ihm auf. »Aber du kannst mir
nicht glauben.«
Er lächelte mich an. Sein Mund zitterte leicht,
aber er lächelte.
»Sag du mir nicht, was ich nicht tun kann,
Sassenach.« Nach einer Pause fragte er plötzlich: »Wie alt bist du
eigentlich? Ich habe dich nie danach gefragt.«
Die Frage schien so absurd, daß ich eine Weile
nachdenken mußte.
»Ich bin siebenundzwanzig … oder vielleicht
achtundzwanzig.« Das verschlug ihm im ersten Augenblick die
Sprache. Mit achtundzwanzig war eine Frau in dieser Zeit schon
beinahe alt.
»Oh«, sagte er und atmete tief durch. »Ich dachte,
du wärst ungefähr so alt wie ich - oder jünger.«
Er rührte sich nicht, aber dann schaute er auf mich
herab und lächelte mich matt an. »Herzlichen Glückwunsch zum
Geburtstag, Sassenach.«
Ich war völlig überrascht und schaute ihn
verständnislos an. »Was?«
»Ich sagte: ›Herzlichen Glückwunsch zum
Geburtstag.‹ Heute haben wir den zwanzigsten Oktober.«
»Tatsächlich?« fragte ich benommen. »Ich habe den
Anschluß verpaßt.« Ich schlotterte wieder am ganzen Leib - vor
Kälte, dem Schock und der Heftigkeit meines Ausbruchs. Er zog mich
eng an sich heran und strich mir mit seiner großen Hand zart über
die
Haare. Ich begann wieder zu weinen, diesmal aus Erleichterung. Daß
er mich jetzt, wo er mein richtiges Alter wußte, immer noch wollte,
gab mir seltsamerweise die Gewißheit, daß alles gut werden
würde.
Jamie trug mich behutsam ans Feuer, wo der
Pferdesattel lag. Er setzte sich hin, lehnte sich gegen den Sattel
und hielt mich leicht in den Armen.
Nach einer langen Weile sagte er: »Gut. Dann erzähl
mir jetzt alles.«
Ich tat es. Ich erzählte ihm alles. Vor Erschöpfung
war mein Körper ganz taub, aber ich fühlte mich erleichtert wie ein
Kaninchen, das dem Fuchs entkommen ist und unter einer Wurzel ein
vorübergehendes Versteck gefunden hat. Keine endgültige Zuflucht,
aber immerhin ein Unterschlupf. Und ich erzählte ihm von
Frank.
»Frank«, sagte er leise. »Er ist also nicht
tot.«
»Er ist noch gar nicht geboren.« Ich spürte,
wie mich wieder eine Welle der Hysterie ergreifen wollte, aber es
gelang mir, sie niederzukämpfen. »Und ich bin es auch nicht.«
Er streichelte mir über den Rücken und murmelte
beruhigende gälische Worte.
»Damals, als ich dich in Fort William befreit
habe«, sagte er plötzlich, »wolltest du zurück. Zurück zu den
Steinen. Und… zu Frank. Deswegen bist du weggelaufen.«
»Ja.«
»Und ich habe dich dafür geschlagen.« In seiner
Stimme schwang aufrichtiges Bedauern.
»Du konntest es nicht wissen. Und ich konnte es dir
nicht sagen.« Allmählich wurde ich wirklich sehr müde.
»Nein, das konntest du wohl nicht.« Er deckte mich
sorgsam zu. »Schlaf jetzt, mo duinne. Niemand soll dir etwas
tun. Ich bin bei dir.«
Ich kuschelte mich an seine warme Schulter und
begann ins Dunkel des Vergessens hinabzusinken. Aber ich zwang mich
noch einmal an die Oberfläche und fragte schlaftrunken: »Glaubst du
mir wirklich, Jamie?«
Er seufzte und lächelte reuig auf mich herab.
»Aye, ich glaube dir, Sassenach. Aber es wäre
einfacher gewesen, wenn du nur eine Hexe wärst.«
Ich schlief wie eine Tote und wachte eine Weile
nach Sonnenaufgang mit fürchterlichen Kopfschmerzen und steifen
Gliedern auf. Jamie hatte eine kleine Tüte Haferflocken in seiner
Felltasche und zwang mich, sie mit kaltem Wasser angerührt zu
essen. Mühsam würgte ich sie hinunter.
Er war behutsam mit mir und sprach kaum. Nach dem
Frühstück packte er schnell unsere Sachen zusammen und sattelte
Donas.
Noch vom Schock der Ereignisse betäubt, fragte ich
nicht einmal, wohin wir ritten. Es genügte mir, hinter ihm auf dem
Sattel zu sitzen, mein Gesicht an seinen breiten Rücken zu legen
und mich vom Rhythmus des Pferdes in einen tranceartigen Zustand
wiegen zu lassen.
In der Nähe von Loch Madoch kamen wir von den
Hügeln herunter und trabten durch den grauen, kühlen Frühnebel.
Wildenten stiegen aus dem Schilf auf und kreisten quakend über die
Moorwiesen, um die letzten Langschläfer aufzuwecken. Hoch über uns
flogen Wildgänse in Keilformation über den Himmel, und ihr Rufen
klang nach Sehnsucht und Einsamkeit.
Der graue Nebel hob sich am nächsten Tag um die
Mittagszeit, und die Sonne leuchtete schwach auf die mit Ginster
gesäumten Wiesen. Ein paar Meilen nach dem Loch kamen wir auf eine
schmale Straße, die nach Nordwesten führte. Sie stieg aufwärts in
eine saftige Hügellandschaft, die zunehmend von Granitfelsen
durchsetzt war. Nur wenige Reisende waren unterwegs, und sobald wir
Pferdehufe hörten, versteckten wir uns vorsichthalber im
Gebüsch.
Nach und nach änderte sich die Vegetation, und wir
kamen in Kiefernwälder. Ich sog die Luft durch die Nase ein und
freute mich an dem frischen, harzigen Geruch. Wir schlugen unser
Nachtlager abseits des Weges auf einer kleinen Lichtung auf. Wie
Vögel, die sich ein Nest bauen, scharrten wir die Tannennadeln
zusammen und legten uns, eng aneinandergekuschelt, unter Jamies
Plaid.
Irgendwann in der Dunkelheit weckte er mich auf und
begann mich zärtlich und langsam zu lieben, ohne dabei etwas zu
sagen. Ich beobachtete die Sterne durch das Geflecht der dunklen
Zweige über mir und schlief wieder ein, noch bedeckt von seinem
tröstlich warmen Körper.
Am Morgen erschien Jamie fröhlicher, oder zumindest
ruhiger, so als hätte er eine schwere Entscheidung getroffen. Er
versprach
mir zum Abendessen heißen Tee, was in der morgendlichen Kälte ein
schwacher Trost war. Schläfrig klopfte ich die Kiefernnadeln und
kleinen Spinnen von meinem Rock und folgte ihm zur Straße. Der
schmale Weg, der sich um die hervorstehenden Felsen wand, verlor
sich bald in der Ferne.
Während ich träumerisch die milde Wärme der
aufsteigenden Sonne genoß, hatte ich kaum auf die Umgebung
geachtet. Plötzlich jedoch fiel mein Blick auf eine wohlbekannte
Felsformation. Das riß mich schlagartig aus meinem Dämmerzustand.
Ich wußte, wo wir waren und warum.
»Jamie!« schrie ich auf.
Er drehte sich um. »Du wußtest es nicht?« fragte er
überrascht.
»Daß wir hierher reiten? Woher denn?« Mir wurde
flau im Magen. Der Craigh na Dun war nicht mehr als eine Meile
entfernt; ich sah die Silhouette des Bergrückens durch die letzten
morgendlichen Nebelstreifen.
Ich schluckte schwer. Sechs Monate lang hatte ich
versucht, hierher zu gelangen. Jetzt, wo ich endlich da war, wäre
mir jeder andere Ort lieber gewesen. Der Steinkreis war von unten
nicht zu sehen, aber es schien, als ginge ein Schrecken von ihm
aus, der mich in seinen Bann zog.
Weit unter dem Gipfel wurde der Weg für Donas zu
unsicher, und so saßen wir ab, banden ihn an eine Kiefer und gingen
zu Fuß weiter.
Ich keuchte und schwitzte, als wir oben ankamen.
Jamie dagegen wirkte nicht im mindesten erschöpft. Es war ruhig
hier oben, nur der Wind pfiff leise über die Felsen. Schwalben
schossen an uns vorbei, ließen sich auf der Jagd nach Insekten vom
Luftstrom nach oben tragen und sausten im Sturzflug wieder
herab.
Jamie half mir die letzte Stufe hoch, die zu der
breiten flachen Granitplatte führte, auf der der gespaltene Stein
stand. Er zog mich dicht an sich heran und schaute mich aufmerksam
an, als wollte er sich meine Gesichtszüge einprägen. »Warum?«
begann ich, nach Atem ringend.
»Du hast diesen Ort gemeint, oder?«
»Ja.« Ich starrte wie hypnotisiert auf den
Steinkreis. »Er sieht genauso aus.«
Jamie betrat mit mir den Kreis. Er faßte mich am
Arm und ging mit festem Schritt auf den gespaltenen Stein zu.
»Ist es dieser hier?« fragte er.
»Ja.« Ich versuchte mich loszumachen. »Vorsicht!
Komm ihm nicht zu nahe!« Er warf mir einen skeptischen Blick zu.
Vielleicht war sein Mißtrauen berechtigt. Ich zweifelte plötzlich
an der Wahrheit meiner eigenen Geschichte.
»Ich - ich weiß nicht, wie es passiert ist.
Vielleicht hat sich das … was immer es ist… hinter mir geschlossen.
Vielleicht geschieht das nur an bestimmten Tagen im Jahr. Damals
war es kurz vor dem Maifest.«
Jamie schaute zur Sonne hinauf, einer flachen
Scheibe, die hinter einem dünnen Wolkenschleier hoch am Himmel
stand.
»Es ist jetzt fast Allerheiligen. Das wäre doch ein
passender Zeitpunkt, findest du nicht?« Unwillkürlich überfiel ihn
ein Schauer. »Als du … durchgingst, was hast du getan?«
Ich versuchte mich zu erinnern. Mir war eiskalt,
und ich stekkte die Hände unter die Achseln.
»Ich bin im Kreis herumgegangen und habe mich ein
bißchen umgeschaut. Und dann kam ich in die Nähe des gespaltenen
Steines und hörte ein Summen wie von Bienen -«
Es klang immer noch wie ein Bienenschwarm. Ich wich
zurück wie vor einer Klapperschlange.
»Es ist immer noch da«, schrie ich in Panik und
warf meine Arme um Jamie, aber er löste sich von mir und schob mich
entschlossen vor den Stein. Sein Gesicht war weiß.
»Und dann?« Der Wind pfiff scharf um meine Ohren,
aber seine Stimme war noch schärfer.
»Ich legte meine Hand auf den Stein.«
»Dann tu es.« Als ich nicht reagierte, drängte er
mich noch näher an den Stein, nahm meine Hand und legte sie fest
auf die rauhe Oberfläche.
Chaos erfaßte mich - ein unwiderstehlicher
Sog.
Endlich hörte das Licht auf, hinter meinen
Augenlidern zu tanzen, und mein eigener schriller Schrei verklang
in meinen Ohren. Aber ein anderes sich ständig wiederholendes
Geräusch war zu vernehmen: Jamie, der meinen Namen rief.
Zu elend, um mich aufzusetzen oder die Augen zu
öffnen, winkte ich nur mit der Hand, um ihn wissen zu lassen, daß
ich noch am Leben war.
»Ich bin noch da«, sagte ich.
»O mein Gott, Claire!« Er preßte mich an sich und
hielt mich fest. »Ich dachte, du wärst tot. Irgendwie … irgendwie
schienst du zu verschwinden. Du hast entsetzlich ausgesehen, als
würdest du dich zu Tode fürchten. Ich - ich habe dich vom Stein
weggezogen. Ich habe dich festgehalten. Ich hätte es nicht tun
sollen - es tut mir leid, aber …«
Ich öffnete die Augen und sah über mir sein
entsetztes, angsterfülltes Gesicht.
»Es ist gut«, brachte ich mühsam hervor. Ich konnte
kaum sprechen und fühlte mich schwer und orientierungslos, aber
allmählich erkannte ich meine Umgebung wieder. Ich versuchte zu
lächeln, fühlte aber nur ein Zucken meiner Mundwinkel.
»Jedenfalls … wissen wir … daß es immer noch
funktioniert.«
»Aye, wahrhaftig!« rief er mit einem angst- und
haßerfüllten Blick auf den Stein.
Er ließ mich kurz los, um sein Taschentuch in einer
Pfütze naß zu machen, und strich mir damit über das Gesicht.
Unablässig murmelte er Entschuldigungen. Schließlich kam ich soweit
zu mir, daß ich mich aufsetzen konnte.
»Du hast mir also doch nicht geglaubt!« Trotz aller
Benommenheit fühlte ich mich gerechtfertigt. »Und es ist weiß Gott
wahr.«
»Ja, das ist es.« Er saß neben mir und starrte
minutenlang auf den Stein. Ich fuhr mir mit dem nassen Taschentuch
übers Gesicht. Immer noch fühlte ich mich matt und schwindelig.
Plötzlich sprang er auf, ging zum Stein und legte die Hand
darauf.
Nicht das geringste geschah, und nach einer Minute
ließ er die Schultern sinken und kam zu mir zurück.
»Vielleicht geht es nur bei Frauen. Es sind immer
Frauen in den Legenden. Oder vielleicht nur bei mir.«
»Jedenfalls nicht bei mir«, antwortete er. »Aber
ich möchte ganz sichergehen.«
»Jamie! Sei vorsichtig!« schrie ich, konnte ihn
aber nicht zurückhalten. Er ging entschlossen auf den Stein zu,
schlug mit der Hand darauf, lehnte sich dagegen, schritt durch die
Öffnung und wieder zurück, aber der Stein war und blieb nichts als
ein stummer Monolith. Ich erschauerte allein schon bei der
Vorstellung, mich dem Tor des Irrsinns ein weiteres Mal zu
nähern.
Und doch hatte ich an Frank denken müssen, als ich
in den Sog des Chaos geriet. Ich hatte ihn gespürt, da war ich mir
ganz sicher.
Irgendwo im Nichts war ein winziger Lichtfunken gewesen, und er
war darin. Ich wußte es. Ich wußte auch, daß es einen zweiten
Lichtpunkt gegeben hatte, und der saß immer noch neben mir und
starrte auf den Stein. Seine Stirn war schweißnaß, obwohl es kühl
war.
Endlich wandte er sich zu mir und ergriff meine
Hände. Er führte sie an die Lippen und küßte sie innig.
»Meine Frau«, sagte er leise. »Meine Claire. Es hat
keinen Sinn, länger zu warten. Wir müssen voneinander Abschied
nehmen.«
Ich brachte kein Wort hervor, aber meine Gefühle
standen mir sicher - wie üblich - deutlich im Gesicht
geschrieben.
»Claire« sagte er eindringlich, »du gehörst in die
Zeit auf der anderen Seite von… von diesem Stein. Du hast dort ein
Zuhause, die Dinge, die dir vertraut sind. Und… und Frank.«
»Ja«, sagte ich, »Frank ist dort.«
Jamie nahm mich bei den Armen und zog mich auf die
Füße. Flehentlich schüttelte er mich.
»Auf dieser Seite gibt es nichts für dich, mein
Mädchen! Nichts außer Gewalt und Gefahr. Geh!« Er drehte mich zum
Steinkreis und gab mir einen leichten Stoß. Aber ich wandte mich
wieder zu ihm um und griff nach seinen Händen.
»Gibt es hier wirklich nichts für mich, Jamie?« Ich
schaute ihm in die Augen und hielt seinen Blick fest.
Ohne zu antworten, entzog er sich sanft und wich
zurück. Plötzlich war er eine Gestalt aus einer anderen Zeit, eine
Silhouette vor einer verschwommenen Hügellandschaft, das Leben in
seinem Gesicht nichts als eine Täuschung, hervorgerufen von Licht
und Schatten.
Ich schaute ihm in die Augen, sah darin den Schmerz
und die Sehnsucht, und er wurde wieder wirklich und greifbar, mein
Geliebter, Gatte, Mann.
Die Qual, die ich empfand, mußte sich in meinem
Gesicht gespiegelt haben, denn er zögerte, drehte sich dann nach
Osten und deutete nach unten. »Siehst du die Eichen dort unten und
die Hütte dahinter?«
Ich sah eine verfallene Kate, die verlassen am Fuß
des Geisterbergs stand.
»Ich gehe hinunter zu der Hütte und bleibe dort bis
zum Abend, um… um sicherzugehen, daß dir nichts passiert.« Er sah
mich an,
berührte mich jedoch nicht. Er schloß die Augen, als könnte er
meinen Anblick nicht mehr ertragen.
»Lebe wohl«, sagte er und wandte sich zum
Gehen.
Wie gelähmt blickte ich ihm nach, und dann fiel es
mir ein. Ich mußte ihm etwas sagen. Ich rief ihn zurück.
»Jamie!«
Er hielt an und stand einen Augenblick reglos da,
um Selbstbeherrschung ringend. Sein Gesicht war fahl und zerfurcht
und seine Lippen blutleer, als er sich umdrehte.
»Aye?«
»Es gibt noch etwas… ich muß dir noch etwas sagen,
bevor… bevor ich gehe.«
Er schloß die Augen, und es schien mir, als
schwankte er, aber vielleicht war es nur der Wind, der an seinem
Kilt zerrte.
»Laß es gut sein, mein Mädchen. Geh lieber. Du
solltest nicht zögern. Geh!« Er wollte sich umdrehen, aber ich
faßte ihn am Ärmel.
»Jamie, hör zu! Du mußt mir zuhören!« Er schüttelte
hilflos den Kopf und hob die Hand, als wollte er mich
wegstoßen.
»Claire … nein. Ich kann nicht.« Der Wind trieb ihm
die Tränen in die Augen.
»Es geht um den Aufstand«, sagte ich und schüttelte
ihn am Arm. »Jamie, hör zu. Prinz Charlie - seine Armee. Colum hat
recht! Hörst du mich, Jamie? Colum hat recht, nicht Dougal.«
»Wie? Was soll das heißen?« Endlich hörte er mir
zu. Er fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht, und sein Blick war
scharf und klar.
»Prinz Charlie. Es wird eine Erhebung geben. Soweit
hat Dougal recht, aber sie wird keinen Erfolg haben. Charlies Armee
wird am Anfang Siege erringen, aber am Schluß werden alle
abgeschlachtet. In Culloden, dort wird alles enden. Die - die Clans
…« Im Geiste sah ich die großen grauen Grabsteine auf dem
Schlachtfeld vor mir, und auf jedem Stein stand nur der Name des
Clans, dem die Männer angehört hatten, die hier zu Tode gekommen
waren. Ich atmete tief durch und mußte mich an seiner Hand
festhalten. Sie war eiskalt. Mich schauerte, und ich schloß die
Augen, um mich auf das zu konzentrieren, was ich sagen
wollte.
»Die Highlanders - alle Clans, die sich Charlie
anschließen, werden vernichtet. Hunderte und Aberhunderte der
Clanmitglieder werden in Culloden umkommen; die, die überleben,
werden gejagt
und getötet. Die Clans werden zerstört… und sie werden sich
niemals wieder erheben. Nicht in deiner Zeit - und auch nicht in
meiner.«
Ich öffnete die Augen und sah, daß er mich
ausdruckslos anstarrte.
»Jamie, halte dich heraus!« flehte ich ihn an.
»Halte deine Leute heraus, wenn du kannst. Aber du, Jamie, um
Gottes willen, wenn du …« Ich unterbrach mich. Ich hatte sagen
wollen, »wenn du mich liebst, Jamie«, aber ich konnte es nicht. Ich
würde ihn für immer verlieren, und wenn ich bisher nicht von Liebe
gesprochen hatte, so konnte ich das jetzt auch nicht tun.
»Geh nicht nach Frankreich«, sagte ich bittend.
»Geh nach Amerika, oder nach Spanien. Aber um derer willen, die du
liebst, Jamie, setz keinen Fuß auf das Feld von Culloden.«
Er starrte mich noch immer an. Ich fragte mich, ob
er mich überhaupt verstanden hatte.
Nach einigen Augenblicken nickte er, den Blick weit
in die Ferne gerichtet.
»Aye«, sagte er leise, so leise, daß ich ihn fast
nicht verstand, »ja, ich habe dich verstanden.« Er ließ meine Hand
fallen.
»Geh mit Gott … mo duinne.«
Er trat aus dem Steinkreis heraus und ging den
steilen Hang hinunter, ohne zurückzublicken. Ich schaute ihm nach,
bis er hinter den Eichen verschwunden war. Er ging langsam wie ein
Verwundeter, der weiß, daß er sich bewegen muß, aber doch spürt,
daß sein Leben langsam verebbt.
Mir zitterten die Knie. Langsam ließ ich mich auf
dem Granitboden nieder und schaute den Schwalben nach. Unten sah
ich das Dach der Kate, die jetzt meine Vergangenheit aufgenommen
hatte. In meinem Rücken lauerte der gespaltene Stein - und meine
Zukunft.
Ohne mich zu rühren, blieb ich den ganzen
Nachmittag so sitzen. Ich versuchte, alle Gefühle zum Schweigen zu
bringen und meinen Verstand zu benutzen. Jamie hatte die Vernunft
zweifellos auf seiner Seite, wenn er mich dazu bringen wollte
zurückzugehen: mein Zuhause. Sicherheit. Frank; sogar die kleinen
Annehmlichkeiten des Lebens, die ich von Zeit zu Zeit doch
schmerzhaft vermißte - ein heißes Bad, fließendes Wasser, von
ärztlicher Versorgung und bequemen Verkehrsmitteln ganz zu
schweigen.
So waren zwar die Unbilden und Gefahren dieses
Lebens nicht von der Hand zu weisen, aber ich mußte auch zugeben,
daß mir vieles sehr gut gefiel. Ja, das Reisen war beschwerlich,
aber dafür war die Landschaft nicht zubetoniert, es gab keine
lärmenden, stinkenden Automobile, die ja auch nicht ungefährlich
waren. Das Leben war viel einfacher, und auch die Menschen. Nicht
dümmer, aber viel direkter - abgesehen von ein paar Ausnahmen wie
Colum ban Campbell MacKenzie, dachte ich grimmig.
Wegen Onkel Lambs Arbeit hatte ich an vielen
verschiedenen Orten gelebt, manche sogar noch primitiver als dieser
hier. Ich hatte keine Schwierigkeiten, mich an eine rauhe Umgebung
anzupassen, und »die Zivilisation« fehlte mir nicht im mindesten,
obwohl es mir gleichermaßen leichtfiel, mich an Annehmlichkeiten
wie Elektroherde und Durchlauferhitzer zu gewöhnen. Ich zitterte im
kalten Wind und schlang mir die Arme um den Leib, während ich auf
den grauen Stein starrte.
Die Vernunft schien mich nicht recht
weiterzubringen. Ich wandte mich seufzend meinen Gefühlen zu und
ließ meine beiden Ehen Revue passieren - zuerst mit Frank, dann mit
Jamie. Das hatte nur zur Folge, daß ich schluchzend
zusammensackte.
Wenn mir also weder Vernunft noch Gefühl helfen
konnten, wie stand es dann mit der Pflicht? Ich hatte Frank Treue
geschworen, und das mit ganzem Herzen. Jamie hatte ich dasselbe
Versprechen gegeben, mit der Absicht, es so bald wie möglich zu
brechen. Wen von beiden wollte ich nun verraten? Ich saß immer noch
da, als sich die Sonne bereits dem Horizont zuneigte und die
Schwalben in ihren Nestern verschwunden waren.
Als der Abendstern zwischen den schwarzen
Kiefernzweigen aufging, kam ich zu dem Schluß, daß ich in dieser
Situation mit dem Verstand nicht weiterkam. Ich mußte mich auf
etwas anderes verlassen - aber worauf? Ich wandte mich dem
gespaltenen Felsen zu und tat einen Schritt, und noch einen, und
noch einen. Ich stand still, drehte mich um und versuchte es in die
andere Richtung. Ein Schritt, noch ein Schritt und noch einer, und
bevor ich merkte, daß ich mich entschieden hatte, war ich schon
halb den Berg hinunter, stolperte, fiel, stand wieder auf und
rannte weiter.
Als ich bei der Kate ankam, außer mir vor Angst,
daß er schon fort sein könnte, sah ich Donas in der Nähe grasen.
Das Pferd hob den Kopf und betrachtete mich mißtrauisch.
Mit leisen Schritten ging ich weiter und stieß die
Tür auf.
Er war im vorderen Zimmer und schlief auf einer
schmalen Eichenpritsche. Er schlief auf dem Rücken, wie er das
gewöhnlich tat, die Hände über dem Magen gefaltet, den Mund leicht
geöffnet. Die letzten Lichtstrahlen fielen auf sein Gesicht, so daß
es wie eine metallene Maske aussah; silbrige Tränenspuren glänzten
auf der goldenen Haut, und die kupferroten Bartstoppeln
leuchteten.
Ich stand da, schaute auf ihn herunter und fühlte
eine unbeschreibliche Zärtlichkeit. Ganz leise legte ich mich neben
ihn auf das schmale Lager und schmiegte mich an ihn. Er drehte sich
im Schlaf zu mir, wie er das so oft getan hatte, hielt mich an
seine Brust gedrückt und legte seine Wange an mein Haar. Als er
sich im Halbschlaf eine Strähne aus dem Gesicht streichen wollte,
wurde er plötzlich wach und merkte, daß ich da war. Ein Ruck ging
durch seinen Körper, wir verloren das Gleichgewicht und fielen
beide auf den Boden.
Ich hatte nicht den geringsten Zwiefel, daß er aus
Fleisch und Blut war. Er küßte mich wild, bis ich kaum mehr Luft
bekam. Aber ich ignorierte den Sauerstoffmangel und konzentrierte
mich auf wichtigere Dinge.
Wir hielten einander lange in den Armen, ohne zu
sprechen. Irgendwann flüsterte er: »Warum?«
Ich küßte seine feuchte, salzige Wange. Ich fühlte
sein Herz gegen meine Rippen schlagen und wollte nur noch eines -
für immer hierbleiben, ohne mich zu bewegen, ohne mit ihm zu
schlafen, einfach nur dieselbe Luft atmen.
»Ich konnte nicht anders«, sagte ich, noch immer
etwas wakkelig. »Du weißt nicht, wie nahe ich daran war. Das heiße
Bad hätte fast gewonnen.« Ich weinte und zitterte, weil die
Entscheidung noch so frisch war, und weil die Freude über den Mann,
den ich in meinen Armen hielt, mit Trauer um den Mann gemischt war,
den ich niemals wiedersehen würde.
Jamie hielt mich eng umschlungen. Schließlich
versiegten meine Tränen, und ich entspannte mich erschöpft. Es war
mittlerweile ganz dunkel geworden, aber er hielt mich immer noch in
den Armen und murmelte leise wie zu einem Kind, das Angst vor der
Nacht hat. Wir wollten nicht voneinander lassen, auch nicht, um
Feuer zu machen oder um eine Kerze anzuzünden.
Schließlich stand Jamie auf und trug mich zur
Pritsche, setzte
sich darauf und mich auf seinen Schoß. Die Tür nach draußen stand
noch offen, und wir sahen die Sterne über dem Tal blinken.
»Hast du gewußt, daß es viele tausend Jahre dauert,
bis das Licht der Sterne uns erreicht? Manche sind sogar schon tot,
aber ihr Licht können wir immer noch sehen.«
»Wirklich?« antwortete er und strich mir über den
Rücken. »Nein, das wußte ich nicht.«
Ich schlief ein, den Kopf an seine Schulter
gelehnt, wachte aber kurz auf, als er mich auf ein improvisiertes
Bett aus Pferdedecke hob. Er legte sich neben mich und zog mich eng
an sich.
»Schlaf weiter, mein Mädchen«, flüsterte er.
»Morgen bringe ich dich nach Hause.«
Wir standen noch vor dem Morgengrauen auf und
waren schon auf dem Weg nach unten, als die Sonne aufging. Nur zu
gern verließen wir den Craigh na Dun.
»Wohin gehen wir, Jamie?« Voller Freude sah ich
einer Zukunft mit Jamie entgegen, obwohl ich dafür die letzte
Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, zu dem Mann
zurückzukehren, der mich einst geliebt hatte - oder einst lieben
würde?
Jamie zügelte sein Pferd und schaute über die
Schulter zurück. Der bedrohliche Steinkreis war von hier unten
nicht mehr zu sehen, und es schien, als wäre der mit Steinbrocken
und Ginsterbüschen übersäte Berg hinter uns gar nicht zu ersteigen.
Das zerfallene Dach der Kate glich von hier aus einem Felsen.
»Ich wünschte, ich hätte mit ihm um dich kämpfen
können«, sagte er unvermittelt. Seine blauen Augen waren dunkel und
ernst.
Ich lächelte ihn an.
»Es war nicht dein Kampf, es war meiner. Aber du
hast trotzdem gewonnen.« Ich streckte eine Hand aus, und er drückte
sie.
»Ja, aber das habe ich nicht gemeint. Wenn ich Mann
gegen Mann gegen ihn gekämpft und gewonnen hätte, dann gäbe es
nichts, das du bedauern müßtest.« Er zögerte. »Wenn jemals -«
»Es gibt keine Wenns mehr«, sagte ich fest.»Ich
habe gestern an jedes einzelne Wenn gedacht und bin immer noch
hier.«
»Gott sei Dank«, sagte er lächelnd. »Ich werde wohl
nie verstehen, warum.«
Ich legte die Arme um ihn und hielt mich fest, als
das Pferd den letzten steilen Abhang hinunterschlitterte.
»Weil ich verdammt noch mal ohne dich nicht leben
kann, Jamie Fraser. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und wohin
bringst du mich nun?«
Jamie drehte sich noch einmal im Sattel um und
schaute den Berg hinauf.
»Gestern habe ich die ganze Zeit gebetet, während
wir den Berg hinaufgestiegen sind; nicht darum, daß du bleibst; ich
hatte das Gefühl, das wäre nicht richtig gewesen. Ich habe darum
gebetet, stark genug zu sein, um dich wegschicken zu können.« Er
schüttelte den Kopf.
»›Herr‹, habe ich gesagt, ›schenke mir Mut. Gib mir
die Stärke, nicht auf die Knie zu fallen und sie anzuflehen zu
bleiben.‹« Er riß den Blick von der Hütte los und lächelte mich
kurz an.
»Es war das Schwerste, was ich je getan habe,
Sassenach.« Er drehte sich nach vorne und lenkte das Pferd in
Richtung Osten. Es war ein selten klarer Tag, und die Morgensonne
tauchte alles in strahlendes Licht, vergoldete die Zügel, die
gebogene Halslinie des Pferdes und die breiten Flächen von Jamies
Gesicht und Schultern.
Er atmete tief durch und nickte über das Moor zu
einem entfernten Paß zwischen zwei Felszacken hinüber.
»Und jetzt kommt das Zweitschwerste, und ich bin
bereit dafür.« Er schnalzte leicht mit der Zunge, um das Pferd
anzutreiben. »Wir gehen nach Haue, Sassenach. Nach
Lallybroch.«