7
Davie Beatons Kammer
Zu meiner Überraschung wurde ich, als ich auf die
Burg zurückkehrte, in der Nähe des Tores von einem von Colums
kilttragenden Kriegern erwartet. Der MacKenzie, so sagte er, wäre
mir sehr verbunden, wenn ich ihn in seinem Gemach aufsuchen
wollte.
Die hohen Flügelfenster im Allerheiligsten des
Burgherrn standen offen, und der Wind strich rauschend durch die
Zweige der Bäume in den Pflanzkübeln, so daß man meinen konnte, man
sei im Freien.
Colum saß an seinem Tisch und schrieb, hielt aber
sofort inne und erhob sich, um mich zu begrüßen. Nachdem er sich
nach meinem Wohlergehen erkundigt hatte, führte er mich zum Käfig
an der Wand, wo wir die Vögel bewunderten.
»Dougal und Mrs. FitzGibbons berichten, Sie seien
eine recht geschickte Heilerin«, bemerkte Colum im Plauderton,
während er einen Finger durch das Käfiggitter steckte. Offenbar
waren die Vögel daran gewöhnt, denn eine kleine Ammer segelte herab
und landete säuberlich auf seinem Finger, umfaßte ihn mit ihren
kleinen Zehen und spreizte die Flügel, um das Gleichgewicht zu
halten. Colum strich der Ammer mit dem schwieligen Zeigefinger
seiner anderen Hand behutsam über den Kopf. Ich sah die verhornte
Haut um den Nagel und wunderte mich; es kam mir unwahrscheinlich
vor, daß Colum viel körperliche Arbeit verrichtete.
Ich zuckte die Achseln. »Man muß nicht besonders
geschickt sein, um eine oberflächliche Wunde zu verbinden.«
Colum lächelte. »Vielleicht. Aber es verlangt
einiges an Geschick, dies im Dunkeln zu tun, oder? Und Mrs.
FitzGibbons sagt, Sie hätten bei einem ihrer kleinen Jungen einen
gebrochenen Finger gerichtet und heute früh den verbrühten Arm
einer Küchenhilfe versorgt.«
»Auch das ist nicht allzu schwierig«, erwiderte ich
und fragte
mich, worauf Colum hinauswollte. Er winkte einem Bedienten, der
aus einer Schublade des Sekretärs rasch eine Schale holte. Colum
nahm den Deckel ab und begann Körner durchs Käfigfenster zu
streuen. Die Vögel stürzten sich von ihren Ästen, und auch die
Ammer flatterte zu Boden, um sich ihren Gefährten
anzuschließen.
»Sie sind nicht zufällig mit dem Beaton-Clan
verwandt?« erkundigte sich Colum. Ich erinnerte mich, daß Mrs.
FitzGibbons bei unserer ersten Begegnung gefragt hatte, ob ich eine
Zauberin, eine Beaton sei.
»Nein. Was hat der Beaton-Clan mit ärztlicher
Behandlung zu tun?«
Colum betrachtete mich erstaunt. »Sie haben noch
nie von den Beatons gehört? Die Heiler dieses Clans sind überall in
den Highlands berühmt. Viele von ihnen fahren im Land umher. Einen
solchen Heiler hatten wir eine Weile bei uns.«
»Ach ja? Und was ist mit ihm geschehen?« fragte
ich.
»Er hat das Zeitliche gesegnet«, antwortete Colum
gelassen. »Ein Fieber hat ihn binnen einer Woche dahingerafft.
Seitdem haben wir keinen Heiler mehr - außer Mrs.
FitzGibbons.«
»Sie scheint sehr tüchtig zu sein«, sagte ich und
dachte daran, wie effizient sie Jamies Verletzungen behandelt
hatte.
Colum nickte, nach wie vor mit seinen Vögeln
beschäftigt. Er verteilte den Rest der Körner, bevorzugte mit der
letzten Handvoll einen blaugrauen Waldsänger, der als Nachzügler
kam.
»O ja. Sie versteht sich auf diese Dinge, aber sie
hat schon mehr als genug zu tun. Sie führt die Wirtschaft auf der
Burg und befehligt alle - einschließlich meiner selbst«, sagte
Colum und lächelte plötzlich.
Ich erwiderte das Lächeln, und er schlug seinen
Vorteil daraus. »Gegenwärtig ist Ihre Zeit wohl nicht besonders
ausgefüllt«, fuhr er fort. »Möchten Sie also einen Blick auf Davie
Beatons Hinterlassenschaft werfen? Vielleicht wissen Sie mit seinen
Arzneien etwas anzufangen.«
»Nun … warum nicht?« Tatsächlich begann mich die
Runde zwischen Garten, Vorratskammer und Küche bereits zu
langweilen. Ich war neugierig auf das Handwerkszeug des seligen Mr.
Beaton.
»Angus oder ich - wir könnten die Dame
hinunterführen, Sir«, schlug der Bediente ehrerbietig vor.
»Bemüht euch nicht, John«, sagte Colum. »Ich werde
es Mistress Beauchamp selbst zeigen.«
Als er dann die Treppe hinunterstieg, geschah es
langsam und offenkundig unter Schmerzen. Doch ebenso offenkundig
wollte er keine Hilfe, also bot ich ihm auch keine an.
Das Sprechzimmer des verstorbenen Beaton befand
sich in einem abgelegenen Winkel der Burg, hinter der Küche. In
unmittelbarer Nähe war nichts als der Friedhof, auf dem der
ehemalige Bewohner des Raumes nun ruhte. Der kleine, schmale Raum
war in die Außenmauer der Burg gebaut und hatte folglich nur eine
Schießscharte als Fenster, die hoch oben lag, so daß der dünne
Sonnenstrahl schräg hereinfiel und die Düsternis zwischen der
gewölbten Decke und dem Boden durchschnitt.
Ich spähte in die schummrigen Ecken des Zimmers und
erkannte einen hohen Apothekenschrank mit Dutzenden von winzigen
Schubladen. Gefäße, Kästchen und Gläser standen säuberlich geordnet
auf Borden über einer Art Tresen, auf dem Davie Beaton anscheinend
Arzneien zubereitet hatte, zumindest nach den vielen Flecken und
einem verkrusteten Stößel zu urteilen, der dort lag.
Colum trat vor mir in den Raum, stand einen Moment
reglos da, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten,
und ging dann, nach rechts und links blickend, langsam voran.
Vielleicht war er zum ersten Mal in diesem Zimmer.
Ich beobachtete seine unsicheren Bewegungen und
sagte: »Massage könnte ein wenig helfen. Gegen die Schmerzen, meine
ich.« In den grauen Augen blitzte es drohend auf, und ich wünschte
mir, ich hätte geschwiegen, aber der Funke verschwand, und an seine
Stelle trat der gewohnte Ausdruck höflicher Aufmerksamkeit.
»Kräftige Massage«, fuhr ich fort. »Besonders am
Ende des Rückgrats.«
»Ich weiß«, sagte Colum. »Angus Mhor tut das jeden
Abend für mich.« Er hielt inne und betastete eines der Gläser.
»Scheinbar verstehen Sie wirklich etwas von der Heilkunst.«
»Ein bißchen.« Ich war auf der Hut, hoffte, er
würde mich nicht auf die Probe stellen und fragen, wofür die
diversen Arzneien waren. Auf dem Etikett des Glases, das er in der
Hand hielt, stand PURLES OVIS. Weiß der Himmel, was das war.
Glücklicherweise stellte er das Glas zurück und fuhr mit spitzen
Fingern über den Staub auf der großen Truhe nahe der Wand.
»Es ist eine Weile her, daß jemand hier war«, sagte
Colum. »Ich werde Mrs. FitzGibbons bitten, zwei ihrer Mädchen zu
schicken, damit sie ein wenig saubermachen, ja?«
Ich öffnete eine Schranktür und hustete, weil es so
staubte. »Das wird wohl das beste sein«, stimmte ich zu. Im unteren
Schrankfach lag ein Buch, ein dicker Foliant, in blaues Leder
gebunden. Ich holte es heraus und entdeckte darunter ein kleineres
Buch mit billigem schwarzem Leinenumschlag, das ziemlich
zerfleddert war.
Es erwies sich sozusagen als Beatons Kartei; dort
hatte er peinlich genau die Namen seiner Patienten, ihre Gebrechen
und den Behandlungsverlauf aufgeschrieben. Ein Eintrag lautete:
»2ter Februar 1741. Sarah Graham MacKenzie, Verletzung am Daumen,
welcher sich am Dorne eines Spinnrads verfangen. Gekochtes
Flohkraut appliziert, hernach einen Breiumschlag aus je einem Teil
Johanniskraut, gemahlenem Oniscus und Mauseohr, vermischt mit
feiner Tonerde.« Mauseohr? Zweifellos eine Arzneipflanze, die ich
nicht kannte.
»Ist Sarah MacKenzies Daumen gut verheilt?« fragte
ich, während ich das Buch zuschlug.
»Sarahs Daumen?« erwiderte Colum nachdenklich.
»Nein, wohl nicht.«
»Tatsächlich? Was ist passiert?« fragte ich weiter.
»Vielleicht kann ich ihn mir später anschauen -«
Colum schüttelte den Kopf, und ich bildete mir ein,
daß sein voller, schöngeschwungener Mund sich in grimmiger
Erheiterung verzog.
»Warum nicht?« erkundigte ich mich. »Hat sie die
Burg verlassen?«
»So könnte man es auch ausdrücken«, antwortete
Colum. Seine Erheiterung war jetzt nicht mehr zu übersehen. »Sie
ist tot.«
Ich starrte ihn an, während er langsam zur Tür
ging.
»Es steht zu hoffen, Mrs. Beauchamp, daß Sie sich
in der Heilkunst besser bewähren als Davie Beaton«, sagte Colum. Er
drehte sich um, blieb einen Moment in der Tür stehen und
betrachtete mich sarkastisch. Der Sonnenstrahl beleuchtete ihn wie
ein Bühnenscheinwerfer.
»Schlechter können Sie es schwerlich machen«,
meinte Colum und verschwand.
Ich wanderte in dem kleinen Raum hin und her und
sah mich um. Wahrscheinlich war das meiste Plunder, aber es mochte
auch ein paar nützliche Dinge geben, die es verdienten, gerettet zu
werden. Ich zog eine Schublade des Apothekenschranks auf, woraufhin
eine kleine Wolke Kampfer aufstieg. Nun, der war durchaus nützlich.
Ich machte die Schublade wieder zu und wischte die staubigen Finger
an meinem Rock ab. Vielleicht wartete ich mit meiner
Bestandsaufnahme lieber, bis Mrs. Fitz’ Mädchen geputzt
hatten.
Ich lugte auf den Flur hinaus. Leer. Und keine
Geräusche. Doch ich war nicht so naiv zu glauben, daß niemand in
der Nähe war. Die Leute waren sehr unaufdringlich, sei es auf
Befehl oder sei es aus Taktgefühl, aber ich wußte, daß ich
beobachtet wurde. Wenn ich in den Garten ging, kam jemand mit. Wenn
ich die Treppe zu meinem Zimmer hinaufstieg, merkte ich, wie jemand
wie zufällig nach oben schaute, um festzustellen, welchen Weg ich
einschlug. Nein, man würde mich nicht einfach ziehen lassen,
geschweige denn mich mit Transport- und sonstigen Mitteln versehen,
damit ich abreisen konnte.
Ich hatte schon mehrmals versucht, über all die
Dinge nachzudenken, die geschehen waren, seit ich durch den
gespaltenen Stein gekommen war. Aber die Ereignisse überstürzten
sich dermaßen, daß ich kaum einen Moment für mich hatte.
Jetzt hatte ich anscheinend einen. Ich zog die
staubige Truhe ein wenig vor und setzte mich darauf. Ich drückte
die Handflächen gegen die massiven Mauern und dachte über den
Steinkreis nach. Ich versuchte, mich auf jede Einzelheit zu
besinnen.
Die schreienden Steine waren das letzte, an das ich
mich wirklich erinnerte. Und selbst da hatte ich meine Zweifel. Das
Geschrei hatte die ganze Zeit angedauert. Es war möglich, dachte
ich, daß es gar nicht von den Steinen selbst kam, sondern von dem,
in das ich eingetreten war, was auch immer das sein mochte. Waren
die Steine also eine Art Tür? Und wohin öffnete sie sich? Es gab
keine Worte dafür. Es war ein Riß in der Zeit, nahm ich an, denn
ich hatte damals existiert und ich existierte jetzt, und die Steine
waren die einzige Verbindung.
Und die Geräusche. Sie waren ohrenbetäubend
gewesen, aber rückblickend dachte ich, sie hatten wie
Schlachtenlärm geklungen. Das Lazarett, in dem ich gearbeitet
hatte, war dreimal angegriffen worden. Obwohl alle Ärzte,
Schwestern und Sanitäter wußten, daß
die dünnen Wände unserer provisorischen Bauten keinen Schutz
bieten würden, waren sie beim ersten Alarm nach drinnen gerannt und
hatten sich aneinandergedrängt, um Mut zu fassen. Mut ist
Mangelware, wenn ringsumher Granaten einschlagen und Bomben
explodieren. Und die Panik, die mich damals ergriffen hatte, kam
dem, was ich in dem Stein empfunden hatte, noch am nächsten.
Ich merkte, daß ich mich tatsächlich an einiges im
Zusammenhang mit der Reise durch den Stein erinnerte. Kleine Dinge.
An das Gefühl, gegen etwas anzukämpfen, als wäre ich in einer
Strömung gefangen. Ja, ich hatte mich gewehrt. In der Strömung gab
es auch Bilder. Keine Erscheinungen, eher unvollständige Gedanken.
Einige waren entsetzlich, und ich hatte mich von ihnen gewaltsam
befreit, als ich… »hinüberging«. Hatte ich mich auf andere Gedanken
zubewegt? Doch, mir war, als hätte ich mich zu irgendeiner
Oberfläche durchgekämpft. Hatte ich mich dafür entschieden,
gerade in diese Zeit zu gelangen, weil sie Zuflucht vor der
wirbelnden Strömung bot?
Ich schüttelte den Kopf. Auch wenn ich noch so
angestrengt nachdachte - ich fand keine Antwort. Nichts war klar
außer der Tatsache, daß ich zu dem Steinkreis zurückkehren
mußte.
»Mistress?« Eine weiche, schottische Stimme ertönte
von der Tür, und ich blickte auf. Zwei Mädchen, sechzehn oder
siebzehn Jahre alt, warteten schüchtern auf dem Flur. Sie hatten
Holzpantinen an den Füßen und handgewebte Kopftücher umgebunden.
Die eine trug eine Wurzelbürste und mehrere zusammengefaltete
Lappen, ihre Gefährtin hielt einen dampfenden Eimer in der
Hand.
»Wir stören Sie doch nicht, Mistress?« fragte die
eine bang.
»Nein, nein«, versicherte ich. »Ich wollte ohnehin
gerade gehen.«
»Sie waren nicht beim Mittagessen«, sagte die
andere. »Aber Mrs. FitzGibbons läßt Ihnen ausrichten, daß noch
genug für Sie da ist, wenn Sie in die Küche kommen.«
Ich blickte durch das Fenster am Ende des Flures.
Die Sonne hatte den Zenit überschritten, und ich merkte, daß mir
schwach vor Hunger war. Ich lächelte die Mädchen an.
»Ja, das werde ich tun. Vielen Dank.«
Ich brachte das Mittagessen wieder auf die Weide,
weil ich befürchtete, Jamie werde sonst bis zum Abend nichts in den
Magen
bekommen. Ich saß im Gras, beobachtete ihn beim Schmausen und
fragte, warum er unter freiem Himmel gelebt und jenseits der Grenze
Überfälle gemacht hatte. Inzwischen hatte ich genug von den Leuten
aus dem nahe gelegenen Dorf und den Burgbewohnern gesehen, um sagen
zu können, daß Jamie sowohl höher geboren als auch wesentlich
gebildeter war als die meisten. Aufgrund der kurzen Beschreibung,
die er mir von seinem Hof gegeben hatte, schloß ich, daß er aus
einer recht wohlhabenden Familie kam. Warum war er so weit fort von
zu Hause?
»Weil ich ein Geächteter bin«, sagte Jamie, als
überraschte es ihn, daß ich das nicht wußte. »Die Engländer haben
eine Belohnung von zehn Pfund Sterling auf meinen Kopf
ausgesetzt.«
»Nur für Obstruktion?« fragte ich ungläubig. Zehn
Pfund Sterling entsprachen dem halben Jahreseinkommen eines kleinen
bäuerlichen Anwesens; ich konnte mir nicht vorstellen, daß ein
relativ harmloser Gesetzesbrecher der englischen Krone soviel wert
war.
»Nein. Hier geht es um Mord.« Ich verschluckte
mich. Jamie klopfte mir auf den Rücken, bis ich wieder sprechen
konnte.
Mit tränenden Augen fragte ich: »W-wen hast du
um-umgebracht?«
Jamie zuckte die Achseln. »Das ist ein bißchen
sonderbar. Ich habe den Mord, für den ich nun geächtet bin, gar
nicht begangen. Aber ich habe ein paar anderen Rotröcken das
Lebenslicht ausgeblasen, und so ist die Sache wohl nicht ganz
ungerecht.«
Jamie legte eine Pause ein und bewegte die
Schultern, als riebe er sich an einer unsichtbaren Mauer.
»Es war in Fort William. Ich konnte mich, nachdem
ich zum zweiten Mal ausgepeitscht worden war, zwei Tage kaum
bewegen, und dann hatte ich Wundfieber. Doch als ich wieder
aufrecht stehen konnte, haben mich … Freunde aus dem Fort geholt -
auf die Mittel gehe ich lieber nicht ausführlich ein. Wie auch
immer, es war mit Krawall verbunden, und ein englischer
Unteroffizier wurde erschossen; zufällig war es der Mann, der mich
das erste Mal ausgepeitscht hatte. Ich selbst hätte ihn nicht
getötet; ich hatte nichts gegen ihn persönlich, und ich war ohnehin
zu schwach, um mehr zu tun, als mich an meinem Pferd festzuhalten.«
Jamies breiter Mund wurde schmaler. »Wäre es freilich Hauptmann
Randall gewesen …« Jamie zuckte die Achseln.
»Jedenfalls bin ich geächtet. Das ist einer der
Gründe dafür, daß
ich mich allein nie weit von der Burg entferne. Die englische
Patrouille würde sich zwar kaum so weit in die Highlands wagen,
aber sie kommen recht häufig über die Grenze. Und dann gibt es noch
die Wache, obwohl sie der Burg fernbleibt. Colum benötigt ihre
Dienste nicht, er hat seine eigenen Leute.« Jamie fuhr sich
schmunzelnd über die kurzen Haare, bis sie zu Berge standen wie die
Stacheln eines Igels.
»Ich bin nicht gerade unauffällig. Zwar bezweifle
ich, daß auf der Burg selbst Spitzel sind, aber auf dem Land mag es
welche geben, die sich nur zu gern etwas Geld verdienen würden. Sie
würden den Engländern gleich verraten, wo ich mich aufhalte, wenn
sie nur wüßten, daß ich gesucht werde.« Jamie lächelte mich an. »Du
wirst bereits zu dem Schluß gekommen sein, daß ich nicht MacTavish
heiße -«
»Weiß das der Burgherr?«
»Daß ich geächtet bin? Aye, das ist Colum bekannt.
Die meisten Menschen in diesem Teil der Highlands wissen es
vermutlich; was in Fort William geschah, hat einiges Aufsehen
erregt, und Nachrichten verbreiten sich hier sehr schnell. Aber die
Leute wissen nicht, daß Jamie MacTavish der Mann ist, der gesucht
wird - vorausgesetzt, es sieht mich niemand, der mich unter meinem
wahren Namen kennt.« Jamies Haare standen ihm immer noch vom Kopf
ab. Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, sie zu glätten, widerstand
dem jedoch.
»Warum hast du so kurze Haare?« fragte ich
unvermittelt und errötete. »Entschuldigung, das geht mich nichts
an. Ich hab’s mir nur überlegt, weil die meisten Männer ihre Haare
lang tragen …«
Jamie drückte seine Stacheln nieder und schaute ein
bißchen verlegen drein.
»Ich habe meine auch lang getragen. Jetzt sind sie
so kurz, weil mir die Mönche den Schädel rasieren mußten und die
Haare bisher nur ein paar Monate Zeit zum Nachwachsen hatten.«
Jamie beugte sich vor und forderte mich auf, seinen Hinterkopf zu
inspizieren.
»Siehst du’s? Verläuft quer.« Ich konnte es spüren,
und um es auch zu sehen, wühlte ich die dichten Haare auseinander:
eine fünfzehn Zentimeter lange Narbe, noch rosig und ein wenig
erhaben. Ich drückte behutsam dagegen. Sauber verheilt. Wer immer
die Wunde genäht hatte, die erheblich geklafft und geblutet haben
mußte, hatte gute Arbeit geleistet.
»Hast du Kopfschmerzen?« fragte ich sachlich. Jamie
setzte sich auf, strich die Haare über der Narbe glatt und
nickte.
»Manchmal, aber nicht mehr so schlimm wie noch vor
einiger Zeit. Ich war, nachdem es geschah, ungefähr einen Monat
lang blind, und der Kopf tat mir dauernd höllisch weh. Als mein
Augenlicht zurückkehrte, verschwanden die Schmerzen.« Jamie
blinzelte, wie um seine Sehkraft zu erproben.
»Wenn ich sehr müde bin, kann ich manchmal nicht
mehr gut sehen«, erklärte er. »Dann verschwimmt alles ein
bißchen.«
»Es ist ein Wunder, daß du das überlebt hast«,
sagte ich. »Du mußt stabile Knochen haben.«
»Ja. Einen rechten Dickschädel, findet meine
Schwester.« Wir lachten.
»Wie ist es passiert?« erkundigte ich mich. Jamie
runzelte die Stirn und wirkte plötzlich unsicher.
»Das ist die Frage«, erwiderte er langsam. »Ich
kann mich nämlich an nichts erinnern. War in der Nähe des
Carryarick-Passes mit ein paar Leuten vom Loch Laggan. Das letzte,
was ich weiß, ist, daß ich durch ein Wäldchen bergauf stieg. Ich
riß mir die Hand an einem Ilexstrauch auf und dachte mir, die
Blutstropfen sähen genauso aus wie die Beeren. Und das nächste, an
das ich mich erinnere, ist, daß ich in Frankreich erwachte, in der
Abtei Sainte Anne de Beaupré. Mein Kopf dröhnte wie verrückt, und
jemand reichte mir einen kühlen Trank.«
Jamie rieb sich den Hinterkopf, als hätte er noch
Schmerzen.
»Manchmal meine ich, daß ich mich auf Kleinigkeiten
besinnen kann - eine Lampe, die über mir hin und her schwingt, ein
süßer öliger Geschmack auf meinen Lippen, Menschen, die zu mir
sprechen -, aber ich weiß nicht, ob irgend etwas davon wirklich
passiert ist. Ich weiß nur, daß die Mönche mir Opium gegeben haben,
und ich habe fast die ganze Zeit geträumt.« Jamie drückte sich die
Finger gegen die Schläfen.
»Einen Traum hatte ich immer wieder. Lauter Wurzeln
wuchsen in meinem Kopf, große, knorrige Wurzeln. Sie gruben sich
tief in meinen Schlund, um mich zu ersticken. Schließlich waren die
Wurzeln so mächtig, daß sie meinen Schädel sprengten, und ich
wachte auf und hörte Knochen bersten.« Jamie verzog das Gesicht.
»Es war ein schmatzendes, knallendes Geräusch, wie Kanonenschüsse
unter Wasser.«
»O Gott.«
Ein Schatten fiel plötzlich über uns, und ein
fester Stiefel schob sich vor und stupste Jamie zwischen die
Rippen.
»Faulpelz«, sagte der Neuankömmling fast gemütlich,
»schlägst dir den Bauch voll, während die Pferde verrückt spielen.
Wann hast du die kleine Stute endlich zugeritten, Junge?«
»Geht sicher nicht schneller, wenn ich verhungere,
Alec«, erwiderte Jamie. »Greif zu; es ist genug da.« Er reichte ein
Stück Käse zu der arthritischen Hand hinauf. Die krallenartig
verkrümmten Finger schlossen sich langsam um den Käse, während sich
ihr Besitzer im Gras niederließ.
Jamie stellte den Mann formvollendet als Alec
MacMahon MacKenzie, Oberstallmeister von Burg Leoch, vor.
Die gedrungene Gestalt in lederner Kniehose und
Arbeitskittel strahlte genug Autorität aus, um jeden
widerspenstigsten Hengst zu bändigen. »Ein Aug’ wie Mars, zu drohen
oder zu befehlen« - dieses Zitat kam mir prompt in den Sinn. Es
handelte sich in der Tat nur um ein Auge; das andere wurde von
einer schwarzen Klappe bedeckt. Wie um den Verlust auszugleichen,
sprossen die Brauen überreichlich, und einige lange graue Haare
ragten wie Insektenfühler aus den dichten braunen Büscheln.
Nachdem er einmal genickt und mich damit zur
Kenntnis genommen hatte, ignorierte mich der alte Alec (denn so
nannte ihn Jamie - um ihn vom jungen Alec, der mich wieder
hierhergeführt hatte, zu unterscheiden) und widmete seine
Aufmerksamkeit statt dessen dem Mahl und den drei jungen Pferden
auf der Wiese. Ich wiederum konnte mich für die nun folgende
angeregte Diskussion über die Abstammung mehrerer sicherlich
hervorragender Wallache und etliche Jahre umspannende Details aus
den Zuchtbüchern des Stalles samt den dazugehörigen hippologischen
Informationen über Sprunggelenke, Widerriste, Schultern und andere
Punkte der Anatomie nicht recht erwärmen. Da das einzige, was mir
an einem Pferd auffiel, Nase, Schweif und Ohren waren, entgingen
mir die Feinheiten ganz und gar.
Ich lehnte mich, auf die Ellbogen gestützt, zurück
und genoß die warme Frühlingssonne. Der Tag war seltsam friedlich;
alle Dinge schienen ruhig ihren Gang zu gehen, ungeachtet aller
menschlichen Aufregungen. Vielleicht lag es an der Arbeit im
Garten, der stillen Freude, die man empfand, wenn man Pflanzen beim
Wachsen
und Gedeihen half. Vielleicht lag es auch an meiner Erleichterung
darüber, daß ich endlich eine Tätigkeit gefunden hatte, statt durch
die Burg zu irren und mich fehl am Platz zu fühlen, so auffällig
wie ein Tintenklecks auf Pergament.
Hier kam ich mir nicht so vor, obwohl ich an dem
Gespräch über Pferde nicht teilnahm. Der alte Alec behandelte mich,
als wäre ich ein Teil der Landschaft, und Jamie der anfangs noch ab
und zu einen Blick in meine Richtung geworfen hatte, ignorierte
mich dann auch, während die Rede in die gleitenden Rhythmen des
Gälischen überging - ein zuverlässiges Zeichen dafür, daß ein
Schotte Gefallen an seinem Thema fand. Da ich keinen Ton verstand,
wirkte die Unterhaltung so beruhigend wie Bienengesumm zwischen
Heideblüten. Merkwürdig zufrieden und schläfrig, schob ich alle
Gedanken an Colums Argwohn, meine mißliche Lage und andere Probleme
beiseite. »Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute«, dachte
ich noch - weiß der Himmel, aus welchem Winkel meines Gedächtnisses
ich das kramte.
Was mich einige Zeit später weckte, mochte ein
Wolkenschatten gewesen sein oder der neue Ton, den die Männer
angeschlagen hatten. Das Gespräch war ins Englische
zurückgeschwenkt, und es klang jetzt ernst, nicht mehr so behaglich
wie zuvor, als es um Pferde ging.
»Bis zur Versammlung haben wir nur noch eine Woche,
Junge«, sagte Alec. »Weißt du schon, was du tun willst?«
Jamie stieß einen langen Seufzer aus. »Nein, Alec.
Ich muß zugeben, es ist gut, hier mit den Pferden zu arbeiten und
mit dir.« In der Stimme des jungen Mannes schien ein Lächeln zu
liegen, das sich verlor, als er fortfuhr. »Aber das Eisen küssen
und den Namen MacKenzie annehmen und allem abschwören, wozu ich
geboren wurde? Nein, dafür kann ich mich nicht erwärmen.«
»Du bist so halsstarrig wie dein Vater«, bemerkte
Alec, doch die Worte hatten einen Unterton widerwilliger
Bewunderung.
»Du hast ihn gekannt, ja?« Jamies Frage klang
interessiert.
»Ein bißchen. Und ich habe viel über ihn gehört.
Ich war schon auf Leoch, bevor deine Eltern geheiratet haben. Und
wenn man Dougal und Colum von Black Brian reden hörte, konnte man
meinen, er wär’ der Teufel höchstpersönlich gewesen. Und deine
Mutter die Jungfrau Maria, vom Gottseibeiuns in die Hölle
geholt.«
Jamie lachte. »Und ich bin wie er?«
»Aye, mein Junge. Ich verstehe, warum es dir nicht
schmeckt, Colums Mann zu sein. Aber es gibt auch noch andere
Überlegungen, oder? Sagen wir, es kommt zum Kampf für die Stuarts,
und Dougal setzt seinen Willen durch. Wenn du da auf der richtigen
Seite stehst, Junge, hast du deine Ländereien wieder, egal, was
Colum tut.«
Jamie erwiderte mit einem »schottischen Geräusch«,
wie ich jenen unbestimmten Laut, der tief in der Kehle erzeugt wird
und fast alles bedeuten kann, inzwischen nannte. In diesem Fall
schien er von erheblichen Zweifeln zu künden.
»Und wenn Dougal seinen Willen nicht durchsetzt?«
fragte Jamie. »Oder wenn die Stuarts den Kampf verlieren?«
Nun war es an Alec, ein Geräusch von sich zu geben.
»Dann bleibst du hier, Junge. Wirst Oberstallmeister an meiner
Statt; ich werde es nicht mehr lange machen, und ich kenne
niemanden, der mit Pferden besser umgehen kann.«
Jamies verhaltenes Grunzen ließ Dankbarkeit für das
Kompliment vermuten.
Der ältere Mann fuhr fort, ohne auf ihn zu achten.
»Die MacKenzies sind außerdem mit dir verwandt; also schwörst du
deinem Blut nicht ab. Und es gibt, wie gesagt, auch noch andere
Überlegungen.« Alecs Stimme nahm einen foppenden Beiklang an.
»Mistress Laoghaire vielleicht…«
Diesmal reagierte Jamie mit einem schottischen
Geräusch, das auf Verlegenheit und Ablehnung hindeutete.
»Na, na, ein junger Bursche wie du läßt sich doch
nicht für ein Mädchen schlagen, das ihn in keiner Weise kümmert.
Und du weißt, ihr Vater wird sie nicht außerhalb des Clans heiraten
lassen.«
»Sie ist sehr jung, Alec, und sie hat mir leid
getan«, sagte Jamie. »Mehr war da nicht dabei.« Nun machte Alec das
schottische Geräusch, ein Schnauben voll ungläubigen Spottes.
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen, Junge.
Nun gut, auch wenn es nicht Laoghaire ist - und du könntest eine
weitaus schlechtere Wahl treffen, glaub mir das -, wärst du mit
einem bißchen Geld und Zukunftsaussichten eine bessere Partie; und
beides hättest du, wenn du der nächste Oberstallmeister würdest. Du
könntest dir die Mädels aussuchen, außer, ein Mädel kommt dir
zuvor und wirft auf dich ein Auge!« Alec prustete mit der
gehemmten Heiterkeit eines Menschen, der selten lacht. »Motten, die
das Licht umschwärmen, wären nichts dagegen, Junge! Noch hast du
kein Geld und keinen Namen, aber die Mädchen schmachten dir
trotzdem nach - ich hab’s selber gesehen!« Alec prustete erneut.
»Sogar diese Engländerin sucht deine Nähe, dabei ist sie eine junge
Witwe!«
Ich befürchtete eine Reihe von zunehmend
geschmacklosen Bemerkungen über meine Person und kam zu dem Schluß,
daß es an der Zeit sei, offiziell zu erwachen. Gähnend setzte ich
mich auf, streckte mich und rieb mir ostentativ die Augen.
»Mmmm. Ich bin wohl eingeschlafen«, sagte ich
blinzelnd. Jamie hatte ziemlich rote Ohren und beschäftigte sich
übertrieben eifrig damit, die Reste des Essens zusammenzupacken.
Der alte Alec starrte mich an und schien mich erst jetzt wieder zu
bemerken.
»Interessieren Sie sich für Pferde, Mädchen?«
fragte er. In Anbetracht der Umstände konnte ich schwerlich nein
sagen. Nachdem ich also bestätigt hatte, daß ich diese Tiere höchst
aufregend fand, wurde ich mit einem detaillierten Vortrag über das
Füllen in der Koppel verwöhnt, das nun dösig dastand und
gelegentlich mit dem Schweif zuckte, um die Fliegen zu
verscheuchen.
»Sie können jederzeit kommen und zuschauen, solange
Sie die Pferde nicht ablenken, Mädel«, sagte Alec zu guter Letzt.
»Die müssen arbeiten, verstehen Sie?« Das war ein deutliches
Schlußwort, aber ich hielt die Stellung und besann mich auf den
eigentlichen Grund meines Besuches.
»Ja, nächstes Mal werde ich aufpassen«, versprach
ich. »Aber bevor ich auf die Burg zurückkehre, möchte ich mir noch
Jamies Schulter ansehen.«
Alec nickte bedächtig, doch zu meiner Verwunderung
lehnte Jamie ab.
»Das muß noch eine Weile warten, Mädel«, sagte er,
wobei er meinem Blick auswich. »Gibt viel zu tun heute; später
vielleicht, nach dem Abendessen, ja?« Das schien mir sehr seltsam;
Jamie hatte es zuvor nicht eilig gehabt, sich wieder an die Arbeit
zu machen. Doch ich konnte ihn nicht zwingen, sich von mir umsorgen
zu lassen. Achselzuckend erklärte ich mich bereit, mich nach dem
Abendessen mit ihm zu treffen, und wandte mich bergauf, zurück zur
Burg.
Unterwegs dachte ich über die Narbe an Jamies
Hinterkopf nach. Es war keine gerade Linie, wie sie von einem
englischen Breitschwert herrühren würde. Die Narbe verlief gebogen,
als käme sie von einer krummen Klinge. Von einem Axtblatt
vielleicht, einem Lochaber-Beil? Aber meines Wissens hatten nur die
schottischen Clans diese mörderische Waffe geführt - nein,
führten sie, berichtigte ich mich.
Erst als ich fast bei der Burg war, dämmerte es
mir. Für einen jungen Mann auf der Flucht, der viele Feinde hatte,
war Jamie mir gegenüber, einer Fremden, bemerkenswert
vertrauensselig gewesen.
Ich ließ den Korb in der Küche und ging ins
Sprechzimmer des verstorbenen Beaton, das jetzt, nach dem Wirken
von Mrs. FitzGibbons’ energischen Helferinnen, tadellos sauber war.
Selbst die vielen Gläser im Schrank blinkten und blitzten im matten
Licht.
Ich begann mit dem Schrank, denn da stand mir
bereits ein Verzeichnis der Heilkräuter und Arzneien zur Verfügung.
Am Abend zuvor hatte ich, bevor mich der Schlaf übermannte, in dem
blauen Folianten geblättert, den ich aus dem Sprechzimmer
mitgenommen hatte. Es war Des Arztes Handbuch, eine Sammlung
von Rezepten zur Behandlung von diversen Krankheiten, und die
Zutaten dafür waren offenbar im Schrank zu finden.
Das Werk gliederte sich in mehrere Kapitel:
»Bitterlinge, Latwergen und Brechmittel«, »Pastillen und Pulver«,
»Pflaster und die Wirkungen derselben«, »Absude und Gegengifte«
sowie »Abführmittel«.
Ich las mir einige Rezepte durch und erkannte,
warum Davie Beaton bei seinen Patienten keine allzu großen Erfolge
hatte verzeichnen können. »Gegen Kopfschmerzen nehme man einen
Pferdeapfel, trockne ihn sorgfältig, zermahle ihn zu Pulver und
trinke dieses, in warmes Bier eingerührt«, stand da zum Beispiel.
»Gegen Schüttelkrämpfe bei Kindern appliziere man fünf Blutegel
hinter dem Ohr.« Und ein paar Seiten weiter: »Bei Gelbsucht leistet
ein Absud aus Schöllkrautwurzel, Gelbwurz und dem Safte von Oniscus
treffliche Dienste.« Ich klappte das Buch zu und staunte über die
stattliche Zahl von Patienten, die, den peniblen Aufzeichnungen des
verstorbenen Heilers zufolge, nicht nur die Behandlung überlebt
hatten, die er ihnen angedeihen ließ, sondern tatsächlich von ihren
Leiden genesen waren.
In der ersten Reihe stand ein großes braunes Glas,
das mehrere
verdächtig aussehende kugelförmige Gebilde enthielt, und in
Anbetracht von Beatons Rezepten hatte ich eine recht genaue
Vorstellung davon, was dies sein mochte. Ich drehte das Glas um und
las triumphierend das Etikett: PFERDEDUNG. Da eine solche Substanz
durch längere Lagerung nicht unbedingt besser wurde, stellte ich
das Glas ungeöffnet beiseite.
Weitere Recherchen ergaben, daß PURLES OVIS der
latinisierte Begriff für ein ähnliches Produkt war, nur diesmal von
Schafen. Auch MAUSEOHR erwies sich als tierischer, nicht
pflanzlicher Herkunft; ich schob leise schaudernd das Glas mit den
winzigen getrockneten Öhrchen von mir.
Ich hatte mich gefragt, was wohl Oniscus wäre, das
bei vielen Rezepten eine wichtige Rolle spielte, und freute mich,
als ich ein verkorktes Glas fand, auf dessen Etikett dieser Name zu
lesen war. Das Glas schien halbvoll mit kleinen grauen Tabletten.
Sie hatten nicht mehr als einen halben Zentimeter Durchmesser und
waren so vollkommen rund, daß ich über Beatons Geschick beim
Pillendrehen staunte. Ich hielt mir das Glas vor das Gesicht und
wunderte mich darüber, wie leicht es war. Dann sah ich die feinen
Kerben auf jeder »Tablette« und die mikroskopisch kleinen Beinchen.
Ich stellte das Glas hastig fort, wischte mir die Hand an der
Schürze ab und prägte mir eine weitere Erkenntnis ein. Für
»Oniscus« lies Bohr-, Kugel- oder Kellerassel.
In Beatons restlichen Gläsern waren mehr oder
minder harmlose Substanzen; manche enthielten getrocknete Kräuter
oder Extrakte, die tatsächlich hilfreich sein mochten. Ich
entdeckte Veilchenwurzel und Essig, mit denen Mrs. FitzGibbons
Jamies Verletzungen behandelt hatte. Ebenso Angelika, Wermut,
Rosmarin und ein Glas, das irreführend mit ASA FOETIDA beschriftet
war. Ich öffnete es vorsichtig, aber es enthielt nichts weiter als
die zarten Spitzen von Tannenzweigen. Sie verströmten einen
angenehmen Duft. Ich stellte das entkorkte Glas auf den Tisch,
damit der kleine dunkle Raum von dem Wohlgeruch erfüllt wurde,
während ich mit meiner Bestandsaufnahme fortfuhr.
Als unbrauchbar rangierte ich ein Gefäß mit
getrockneten Schnecken aus; ebenso REGENWURMÖL - was genau das zu
sein schien; VINUM MILLIPEDATUM - zerstoßene Tausendfüßler in Wein;
MUMIENPULVER - ein undefinierbarer Staub, der wohl eher von einem
Flußufer stammte als aus einem Pharaonengrab;
TAUBENBLUT, Ameiseneier, in Moos eingepackte getrocknete Kröten
und MENSCHLICHER SCHÄDEL, PULVERISIERT.
Es dauerte den größten Teil des Nachmittags, all
die Borde und den Apothekenschrank mit den vielen Schubladen zu
inspizieren. Als ich fertig war, hatte ich eine Unzahl von Gläsern,
Gefäßen und Kästchen zum Wegwerfen vor die Tür gestellt und eine
wesentlich kleinere Kollektion von möglicherweise nützlichen Dingen
wieder auf den Borden verstaut.
Nachdenklich rieb ich mir die Hände an der Schürze
ab. Ich hatte mir jetzt fast alles angesehen - außer der Truhe an
der Wand. Ich klappte den Deckel auf und prallte vor dem Gestank
zurück, der ihr entstieg.
Die Truhe beherbergte die chirurgische Abteilung.
Sie enthielt eine Fülle von ominös aussehenden Sägen, Messern,
Meißeln und anderem Gerät, das für einen Bauplatz geeigneter schien
als für empfindliches menschliches Gewebe. Der Gestank rührte
daher, daß Davie Beaton es für wenig sinnvoll gehalten hatte, seine
Instrumente nach Gebrauch zu säubern. Angewidert verzog ich beim
Anblick der dunklen Flecke auf einigen Sägeblättern und Klingen das
Gesicht; dann schlug ich den Deckel der Truhe zu.
Ich schleifte sie zur Tür, da ich Mrs. FitzGibbons
sagen wollte, daß die Instrumente ausgekocht und an den Zimmermann
der Burg weitergereicht werden sollten.
Eine Bewegung hinter mir warnte mich gerade noch
rechtzeitig, bevor ich mit den Menschen zusammenstieß, die
eintreten wollten. Ich drehte mich um und sah zwei junge Männer;
einer stützte den anderen, der auf einem Bein hopste. Sein lahmer
Fuß war unordentlich in einen blutigen Fetzen gewickelt.
Ich blickte in die Runde und deutete auf die Truhe,
weil es sonst keine Sitzgelegenheit gab. »Nehmen Sie Platz«, sagte
ich. Anscheinend war die neue Heilerin von Burg Leoch jetzt im
Dienst.