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»Sie sind bestimmt Louis? Vom West-Magazin?«

Simone de Laperouse blieb einen Schritt vor Lucas’ Tisch stehen. Er erhob sich, nicht, weil er darin geübt wäre, eine Dame in einer eleganten Brasserie mit adäquaten Umgangsformen zu empfangen, sondern weil sie etwas an sich hatte – etwas Melodramatisches in den Schultern, eine Strenge in ihrem lippenstiftgetränkten Lächeln –, das ihm gebot aufzustehen. Sie war ausgesprochen zierlich, trug einen pinkfarbenen Frühlingsmantel mit eckigen Knöpfen und rundem Kragen, als wäre sie wirklich gerade dem Jahr 1969 entsprungen. Ihr pechschwarzes Haar war so stramm nach hinten gebunden, dass ihre Augen schräg nach oben wiesen. Denise sah manchmal auch so aus, wenn sie ihr Haar zu fest flocht. Lucas beugte sich, schüttelte die winzige Hand, seine war feucht, und dankte Simone de Laperouse, dass sie den weiten Weg von Battersea her auf sich genommen hatte.

»Für meine Verspätung«, sagte sie und befreite einen Finger nach dem anderen aus einem Paar zarter, schwarzer, im Mai seltsam deplatzierter Handschuhe, »ist die Hammersmith-and-City-Linie verantwortlich. Der Zug ist mitten auf der Strecke liegen geblieben.« Sie entblößte einen Karneval aus Ringen und lange, zum Mantel passende, fuchsiafarbene Nägel; ihr rechtes Handgelenk war ein Orchester aus Armreifen. Sie warf die Handschuhe auf den Tisch und legte den Schal ab. Lucas schätzte sie auf Mitte fünfzig.

Er hatte sie im Schrank gefunden, ein weiß gefiederter Vogel, in einem Stapel kaum lesbarer Zeitungsausschnitte versteckt, der schlanke Hals zu einem dunklen Bühnenboden hin geneigt. »Bird«, so besagte die Bildunterschrift, sei eines der wichtigsten Werke des Midnight Ballet gewesen. Lucas hatte sich dem körnigen, schwarz-weißen Zauber dieser Aufnahme so lange hingegeben, so viele einsame Stunden durch die modrigen, holzig riechenden Erinnerungsstücke gewühlt (die, so empfand er es nun, all die Zeit auf ihn gewartet hatten, sein »Zug« waren, wie Dr. Glenda es formuliert hätte), dass es ihn nun sehr verwirrte, sie als schmuckbehangene Lady, noch dazu in farbig-plastischer Gestalt, vor sich zu sehen. Er hatte eine schlichtere, leicht verblühte Version des weiß gefiederten Mädchens erwartet. Im Vergleich dazu wirkte sie grell, wie eine gealterte Chaka Khan oder die Mutter von Naomi Campbell. Nachdem er sich an einer witzigen Entgegnung zum Hammersmith-and-City-Debakel versucht hatte, was ihm nicht gelungen war, fragte er sie, ob ihr der Platz recht sei. Er sprach sie als Mrs. de Laperouse an.

»Miss, bitte.« Sie reichte ihm ihren Mantel, zum Vorschein kam ein Bleistiftkleid mit einem Reißverschlussgürtel aus den Achtzigern. »Das hier ist schon ein wenig nah an der Tür, oder nicht? Egal. Ich werd mich hierhin setzen.« Sie schritt mit ihren unentwegt agierenden Schultern um den großen runden Tisch herum, zu der reich mit Kissen belegten Wandbank. An diese Bank drängten sich sämtliche, elegant gedeckten Tische mit ihrem üppigen weißen Leinen und dem verwirrenden Besteck, den Gläsern, kleinen Tellern, Zwei-Stiel-Vasen und Servietten – wo soll man hier noch essen?, hatte sich Lucas gefragt, als er gewartet und über seine Einstiegsfrage nachgesonnen hatte. Antike, goldgerahmte Spiegel brachen, neben einer Galerie stimmungsvoller Bilder von Filmstars, die Wände auf. Einige Tische schwärmten hinaus auf die Straße. Simone de Laperouse die Wirkliche visierte den ersehnten Sitzplatz an, fuhr mit dem Handrücken darüber, reckte ihr Adlernäschen ein wenig höher, ihr durchgedrücktes Rückgrat eine Mahnung an alle Krummsitzer dieser Welt, und ließ sich langsam und majestätisch wie auf einem Thronsitz nieder.

»Ich sitze nicht gern mit dem Rücken zum Publikum«, erklärte sie.

Lucas hatte zuvor anderthalb Stunden mit der Entscheidung zwischen Jeans und Cargohose, zwischen Stevie-Wonder- und Rhythm-Nation-T-Shirt verbracht. Am Ende waren es Stevie und Jeans geworden, obenauf eine Wolke Axe-Spray, doch als er aufgebrochen war, hatte er sich schlabberig und unpassend gefühlt. Laut Melissa sollte die Einstiegsfrage allgemein, jedoch präzise sein, am besten humorvoll, persönlich, aber nicht zu persönlich, intelligent, aber auch nicht allzu tiefschürfend. Am besten, sie kam spontan – wenn man so was schaffte. »Interviews sind wie Sex«, behauptete sie. »Man muss sich fallen lassen und trotzdem zeigen, dass man weiß, was man tut.« Nach einigen ratlosen Sitzungen auf dem Bodenkissen war Lucas auf zwei mögliche Fragen gekommen. Er wollte einen Versuch in Sachen Spontaneität wagen und sich in letzter Sekunde für eine entscheiden. Nun aber fiel ihm keine der beiden ein. Ihm war nämlich gerade aufgegangen, dass sein wahrer Name auf Seite sechs der aktuellen West stand – und die hatte er Simone de Laperouse eben gereicht –, gleich unter der Liste »Die fünf schlechtesten Popsongs aller Zeiten«. Louis Miguel (der Nachname war eine Leihnahme von Sizzla, es war dessen bürgerlicher Name) war, so fand Lucas, genau die richtige Anrede für einen schmissigen Journalisten aus Notting Hill, und die klangliche Ähnlichkeit mit »Lucas« machte die Lüge nicht ganz so groß. Dabei hatte er im Vorfeld sehr wohl geprobt, einer Fremden am Telefon zu sagen, er sei der Sohn von Antoney Matheus, aber es hatte sich komisch angefühlt, als ob ein fremder Mund die Worte spräche. So hatte er sich entschieden, Simone erst von Angesicht zu Angesicht zu offenbaren, wer er war. Sie blätterte interessiert durch das Heft. Um sie von Seite sechs abzulenken, langte er über den Tisch und schlug die »Was macht eigentlich …?«-Kolumne auf. Finn hatte sich von Simone de Laperouse’ obskurer Biografie locken lassen und bereit erklärt, auch sie in der Rubrik zu featuren.

»Ruby Turner?«, fragte sie. »Na, die ist doch noch da.«

Lucas setzte zu einer Erklärung an: »Sicher, die Seite ist ja auch für Künstler, deren großer Erfolg …«

»Lange zurückliegt, ich weiß … Beruhigen Sie sich, ich scherze bloß. Alles hat irgendwann ein Ende.«

Die Artikel aus dem Schrank hatten Simone de Laperouse als eine der heißesten Attraktionen des Midnight Ballet gepriesen, als »Geschöpf mit großem Potenzial« und einer »sprühenden, entfesselten tänzerischen Sprache«. Dieser Tage gab sie stundenweise Tanzunterricht in einem Gemeindezentrum in Lambeth, und dort hatte Lucas sie auch ausfindig gemacht. »Ich muss zugeben, Ihr Anruf hat mich überrascht«, sagte sie. »Es ist Jahre her, dass jemand das Midnight Ballet erwähnt hat. Ich hatte angenommen, wir wären längst vergessen.«

»Nicht bei uns«, sagte Lucas. »Unser Herausgeber mag – lokale Themen.«

Er schaute in sein Notizbuch und versuchte, sich zu sammeln. (Für Cynthia. Tu es, für Cynthia.) Dann sagte Simone wehmütig, eine Hand an die elegant-pudrig, gespenstisch braune Wange gelegt: »Dieser Ort weckt so viele Erinnerungen. Samstagnachmittags haben wir hier immer Filme angeschaut.«

Lucas sagte ungebremst: »Wie, die andern auch?«

Die Grove Brasserie war nicht immer schick gewesen. Bevor sie so schick geworden war, war sie das Café des »Grove Picture House«, eines heruntergekommenen Kinos gewesen, das im Ursprung, in Toreths Jugend, einmal ein Varietétheater war. Das Lichtspielhaus hatte im Laufe der Jahre mehrfach den Besitzer gewechselt und dabei zwischenzeitlich immer wieder geschlossen. In den frühen Neunzigern hatte es sich auf das Black Cinema spezialisiert, sich für Spike Lee und John Singleton begeistert, mit Wehmut auf Jimmy Cliff in The Harder They Come und Gregory Isaacs in Rockers geschaut. Der Vorführraum lag damals am Ende einer Wendeltreppe. Es gab nur einen Kinosaal, und nicht immer verlief alles reibungslos. Mancher Angestellte musste zugleich den Vorführer geben, und oft wurde die Leinwand beim Rollenwechsel schwarz. Lucas hatte hier schlechtes, trockenes Popcorn gegessen, das salzige ebenso fade wie das süße, und voller Anteilnahme die vielen kleinlichen Beschwerden mitangehört, die am Verkaufsstand auf Jake einprasselten. Es war keine große Überraschung, dass auch diese Erscheinungsform des Lichtspielhauses schließen musste. Dann kam ein reicher Schwede, der den Schick verordnete.

Nun hieß es »Grove Screening Rooms«. Im Kinosaal war eine neue Bestuhlung mit bequemen Armlehnen. In der Brasserie wurde das Salatangebot revolutioniert (nieder mit Iceberg-, ein Hoch auf Babywildsalat und Rucola). An der Bar gab es keine Knabbereien mehr, nur noch Nüsse (außer Erdnüssen natürlich), das komplette bisherige Personal wurde entlassen, bis auf einen Mitarbeiter mit interessanter, weil kommerzialisierbarer Frisur. Jake hatte feststellen müssen, dass ihm seine Dreadlocks in erstaunlichen Situationen nützten. Das neue Management hieß ihn weiße Hosen anziehen, ein weißes Hemd, eine lange, weiße Bistroschürze und, das war das Schlimmste, eine weiße Fliege. Dann war ihm auch noch aufgetragen worden, in Zeiten von Ungeschäftigkeit nicht etwa gelangweilt herumzustehen, so etwas war antikapitalistisch, sondern sein Silbertablett auf den Fingerspitzen herumzuwirbeln. »Ich seh wie’n Arsch aus«, waren seine ersten Worte gewesen, als Lucas ihn in dieser neuen Aufmachung erblickt hatte. Wäre Jake nicht, hätte Lucas’ Treffen mit Simone de Laperouse in einem schlichten Imbiss stattgefunden.

Jake kam in seiner weißen Uniform an ihren Tisch, mit gezücktem Notizblock und verlegen-distanziertem Blick. Lucas hatte mit ihm ausgemacht, so zu tun, als würden sie sich nur flüchtig kennen, damit es wirkte, als wäre dies einer der vielen Orte, die Lucas an einem Dienstagnachmittag im Zuge seines journalistischen Einsatzes aufsuchte. In Anbetracht ihrer verdrießlichen Reaktion auf die Öffnung des verbotenen Schranks war Denise über das Treffen erst gar nicht informiert worden, und so war Jake der einzige Mitwisser in der Louis-Miguel-Scharade. »Na, wie läuft’s so, Louis?«, fragte er.

»Echt gut«, sagte Lucas. Er wollte das Geplauder auf ein Minimum beschränken, Jake war ein lausiger Lügner. Er checkte Simone ab. Lucas wusste genau, was er dachte: gar nicht übel, die Alte.

Dann besaß er auch noch die Unverfrorenheit zu fragen: »Sind wir uns schon mal begegnet?«

»Ich glaube kaum, junger Mann«, erwiderte Simone, warf ihm aber ein mädchenhaftes Lächeln zu und spielte an ihren Ketten herum.

»Hier kommen viele berühmte Leute her. Wissen Sie, wer neulich hier war? Annie Lennox. Echt. Voll wahr. Sie hat …«

»Was hätten Sie gerne?« Lucas lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf die Speisekarte. Jake hatte ihm bei einigen Gerichten Kostenfreiheit gewährt: Brot, grüner Salat, Riesenoliven und Fisch. Die Freigetränke beschränkten sich auf Ananassaft und Hauswein. »Möchten Sie ein wenig Brot?«

»Es gibt frischen Wolfsbarsch«, sprang Jake ein. »Luc… Louis. Du kennst dich hier aus, du kannst unseren Hauswein doch empfehlen.«

»Oh, dafür ist es zu früh«, sagte Simone. »Nur Wasser, bitte.« Sie bestellte den falschen Salat. Jake musste behaupten, es gebe keine Tomaten mehr. Und Lucas ihm später beibringen, dass er sich niemals als ernsthafter Schauspieler versuchen sollte.

Neben den Zeitungsausschnitten, einigen Fotografien, einem Männerschuh aus Schlangenleder mit breiter Spitze und dem Flapperkleid seiner Mutter hatte Lucas im Kirschholzschrank auch ein Tagebuch aus dem Jahr 1969 gefunden, ebenfalls von seiner Mutter. Es war ledergebunden und recht dünn, wie ein Kalender, in den man mehr als nur Termine, nicht jedoch längere Abhandlungen eintragen kann. Er hatte versucht, es in einer Lichtung am Ufer, ein Stück vom Boot entfernt zu lesen, damit Denise ihn nicht erwischte. Kindliches Filzstift-Gekrakel tollte über die Seiten. (War das von ihm? Denise?) Unter den ersten Monaten standen kurze, sporadische Einträge, »Tournee-Treffen«, »Rushwood Simone«. Im Frühling und Sommer hatte sie mehr notiert. Er fuhr mit dem Finger über ihre ordentliche Schulmädchenschrift. Siebter Juni: Ich bin an die Erde gefesselt. Es ist eine Schande. Ich kann mich nur noch vorwärtsschleppen. Ihm fuhr es kalt den Rücken hinunter, als er ganze Sätze von ihr las, wo ihr Grabstein doch gleich hinter der Mauer lag. Darum überflog er die Seiten, auf der Suche nach Namen – »A« nahm er an, hieß Antoney; Simone wurde oft erwähnt, ebenso ein gewisser Bluey. Das Tagebuch trug ihn von seinem Vater fort, während nun Carla, deren Stimme in den Schriftzügen beinahe hörbar war, in ihrem scharlachroten Kleid auf dem Boot umherwandelte. Sie war präsent, wenn die Sonne an den Kajütenwänden aufblitzte; früher, als das Kleid noch am Schrank gehangen hatte, hatten seine Perlen so gefunkelt. Er träumte von seiner Mutter, davon, dass ihn das Geräusch fließenden Wassers weckte, und dann stand sie im Badezimmer und wusch sich die Hände.

Vor ihm tat sich eine endlose Straße auf. Er hatte Denise in der kleinen Essecke über einem Teller Brotfruchtreis mit Erbsen ganz sachlich gefragt: »Kennst du eine Frau namens Simone?« »Simone wer?«, hatte sie zurückgefragt, als spielten sie ein Namensrätsel – sie war guter Dinge, die Heilsarmee hatte ihr aufgetragen, ein Mittagessen zu beblumen. Aber auch der Nachname sagte ihr nichts, bis er ergänzte: »Sie war wohl eine Freundin der Familie oder so.« Denise schluckte missgefällig ihren braunen Hühnereintopf. Sie presste die Lippen so fest zusammen, wie sie die Erde immer über ihren neuen Blumenzwiebeln andrückte. Das Boot schaukelte. »Woher weißt du das?«, fragte sie in eisig kaltem Ton und beschied Lucas, noch bevor er seine ausweichende, ausschweifende Antwort beendet hatte: »Der Mist, den du da gefunden hast, interessiert mich nicht. Ich will nichts davon hören. Verbringst du damit deine Tage, während ich arbeiten geh – du wühlst in einem Schrank herum? Lucas, pack endlich dein Leben an. Es gibt nichts umsonst. Ich mach das hier nicht mehr lange mit. Meine Güte, wenn wir untergehen würden, könntest du nicht mal allein ans Ufer schwimmen!« Lucas erinnerte sie daran, dass er, im Gegensatz zu ihr, sehr wohl schwimmen könne. »Das weiß ich«, sagte sie spitz. »Das war sinnbildlich gemeint.«

Simone de Laperouse nahm sich eine Olive mit einem Zahnstocher von einem gemusterten Tellerchen und steckte sie sich in den Mund. Lucas sah gespannt zu, er verfolgte jede Regung, wie die kauenden Lippen ihr Rot verloren, die steinbeschwerten Finger funkelten. Die Ohrringe hatten ihr goldenes Zeitalter längst hinter sich. Simone de Laperouse war eine Mittlerin zwischen einst und jetzt. Sie besaß das verborgene Wissen, sie war der Schlüssel zu allem. »Ich beginne am besten von vorne.«

Das Diktiergerät wurde eingeschaltet. Die Brasserie war von weich gespültem Ambientsound durchflutet, und Lucas hatte Sorge, dass die Musik samt dem Geklapper von Messer und Gabel Simone de Laperouse übertönen könnte. Ihre Stimme war durchdringend, bemuskelt und hätte sich so gerne hinter einer vornehmen Fassade versteckt. Trotzdem verschluckte sie ständig die Vokale.

Im Alter von fünf Jahren hatte Simone de Laperouse ein Bild von Josephine Baker mit ihren angeklebten Haarsträhnen gesehen. Simone war von so viel Schönheit, Glamour und Stärke derart geblendet, sie wollte nur noch eins, wie Josephine sein, und so nahm Simone in Kilburn Ballettunterricht. Sie wusste, sie musste Tänzerin werden, so wie alte Menschen sicher wissen, dass sie sterben müssen. Mit neunzehn tanzte sie für das Ballet Rambert vor, schaffte es aber nicht, »obwohl meine Haltung besser war als die der meisten Mädchen.« Sie unternahm einen Ausflug in die Welt des Cabaret. »Aber um das klarzustellen, Louis, weil manche Leute Cabaret mit Striptease verwechseln. Ich hab meine Kleider von Berufs wegen nie abgelegt, nur in der Garderobe. Für so was bin ich nicht der Typ.« Sie erging sich in den Vor- und Nachteilen des Cabaretlebens – nächtliche Busfahrten von der Baker Street, die gefährlich hohen Absätze. Um »dran«zubleiben, hatte sie in jener Zeit auch hin und wieder bei kleineren Festivals »richtige« Auftritte absolviert, und zwar mit Oscar Day, der in einer Kirche, ganz in der Nähe übrigens, experimentellen zeitgenössischen Tanz unterrichtete. »Wahrscheinlich haben Sie den Namen schon mal gehört. Er war ja damals recht bekannt. Ein Exzentriker. Und bisexuell war er wohl auch.«

Lucas hatte nicht von ihm gehört. Mit einem kurzen Lachen fügte Simone hinzu, er sei außerdem Nijinskys treuester Fan gewesen.

»Nijinsky?«

»Der Balletttänzer. Der Russe. Das können Sie ja nachlesen. Jedenfalls war Oscar ein fantastischer Lehrer, es gab keinen besseren. Er hat uns an das eigentliche Wesen des Tanzens rangeführt, und nach seinem Unterricht war man immer irgendwie …«, sie suchte nach dem richtigen Wort, die Finger funkelten, »lebendig und gestärkt. Er hat mir geholfen, mich im Tanz selbst zu finden. Ohne Oscar hätte es auch das Midnight Ballet nie gegeben.«

»Tatsächlich?«, sagte Lucas. »Lebt er noch?«

»Ich hab keine Ahnung, aber gut möglich, dass er lange tot ist. Machen wir heute eigentlich Fotos? Ich war nicht sicher.«

Manchmal schickte Finn einen Fotografen mit zu einem Interview, um währenddessen Bilder zu machen. Glücklicherweise hatte er Simone de Laperouse des Aufwands nicht für wert gehalten, und so hatte Lucas sie ganz für sich allein. Er konnte es verderben, sich nach Kräften blamieren, niemand würde je davon erfahren. »Wir hätten gerne eine alte Aufnahme von Ihnen beim Tanzen.«

Davon, erfuhr er, hatte sie zu Hause viele. Sie nippte an ihrem Wasser, führte ihren Bericht aber erst auf ein neues Stichwort fort, als ob die Kränkung, nicht fotografiert zu werden, oder der Schwenk des Rampenlichts auf Oscar ihr die Lust am Erzählen genommen hätte. Sie saß so aufrecht da, der Rücken so starr wie ein Lattenpfosten, dass sich Lucas unter seinem Stevie-T-Shirt ganz schäbig vorkam. Er streckte sich, während sie sich über Oscars interaktiven choreografischen Ansatz, seine besondere Achtung vor ihrem Talent und seine »innovative Formensprache« ausließ, was Lucas alles nur halb verstand. Wäre er doch so pfiffig wie Jeremy Paxman. Der war in seinem Nachrichtenjournal so was von gut! Immer, wenn sich ein Interviewpartner auf einem Nebenschauplatz verrannte, fing er ihn mit einer Frage im Stile von »Wieso ist die Partei Ihrer Meinung nach nun für einen Mann transsilvanischer Herkunft bereit?« wieder ein. Und mitten in diesen Gedanken hinein sagte Simone: »Und dann tauchte Antoney auf.«

Ein Straßenräuber jagte ihren Worten nach.

»Antoney – Matheus?«

»Richtig, der künstlerische Leiter. Sie haben ja doch ein wenig recherchiert.«

Jake brachte das Hauptgericht, und Lucas nutzte die Unterbrechung, um sich innerlich neu auszurichten. Die allgemeine-und-dennoch-präzise-intelligente-aber-nicht-allzu-tiefschürfende Einstiegsfrage Nummer eins, wie Simone Mitglied der Compagnie geworden war, hatte an einen entscheidenden Punkt geführt. Nun aber war er unsicher, ob er sich weiter vorwagen oder lieber auf die Portobello Road zurückweichen sollte, wo Avocados in der Sonne schimmerten und die Spice Girls von Straßenpostern grinsten, damit die Vergangenheit im Schrank und er in der Gegenwart bliebe, beide an dem Platz, wo sie hingehörten. Bis zu diesem Moment hatte er sich seinen Vater noch nicht als lebendiges, dreidimensionales Wesen vorgestellt. In ihm brannten Fragen. Hatte er Trainingsanzüge getragen? Hatte er sein Leben grenzenlos gelebt?

»Wie war er denn?«

»Antoney?« Sie hatte einen Olivenkern zwischen den Zähnen. »Antoney war … hm …«, sie holte den Kern aus dem Mund. »Sagen wir, er war dem, was er tun sollte, nicht wirklich gewachsen. Er war ein schwacher Mann, und ein ziemlich schwacher Anführer – aber Oscar war vollkommen eingenommen von ihm.«

Schweigen. Am Nachbartisch brach Gelächter aus. Lucas sagte leicht trotzig: »Was meinen Sie mit schwach?«

»Wer die Welt erobern will, muss erst mal seine eigene Truppe erobern«, sagte sie. »Das aber verlangt nach einer Fähigkeit, die Antoney abging.«

Oh, sie persönlich hatte sich gut mit ihm verstanden. Sie hatte nicht zu denen gehört, die in solchen Situationen, wenn man zu viel Zeit mit den gleichen Menschen verbringt, den Konflikt suchten. Ein professionelles Verhalten war ihrer Meinung nach unabdingbar. Allerdings hatte es auch Momente gegeben …

Lucas beschlich die Vermutung, dass Simone eifersüchtig gewesen war. Antoney war gekommen und wurde zum Liebling des verehrten Lehrers. Sie ließ sich ausführlich darüber aus, wie oft Oscar ihn während des Unterrichts nach vorne gerufen hatte und vortanzen ließ, »obwohl es deutlich erfahrenere Tänzer gab.« »Er hatte einen eigenen Ausdruck, das will ich gern zugeben. Irgendetwas machte er immer anders, hielt die Arme falsch oder machte eine Bewegung groß, anstatt sie zurückzunehmen. Das Problem war nur, dass Oscar daraufhin die Bewegung der anderen korrigierte und sie an Antoneys Stil anpasste, der natürlich nicht der Stil von jedem Tänzer war.« Sie beugte sich verschwörerisch vor, mit der gleichen mädchenhaften Art, die sie Jake gegenüber an den Tag gelegt hatte. »Ich vermute ja, Oscar war in ihn verknallt.«

»Wieso, weil er bisexuell war?«

»Nicht nur das …« Sie warf Lucas mit ihren hochgezerrten Augen einen kurzen, verlegenen Blick zu. »Es ist nur eine Vermutung.«

Oscar Day hatte die völlig verfrühte Geste gemacht, Antoney – den »schwachen«, »komischen Kauz«, »scheu wie ein junges Füllen«, »immer in schäbigen Schuhen« – bei einem Festival im Sphinx, einem Theater in Earls Court, zu seinem Ko-Choreografen zu machen. So etwas hatte er noch nie getan, nicht einmal für Ekow, der Simones Meinung nach so etwas viel eher verdient hätte (sie persönlich hatte kein Interesse an der Choreografie gehabt – sie war mit Leib und Seele Tänzerin, sie wollte geformt werden, nicht formen). Antoney hatte offenbar in manchen Dingen ein glückliches Händchen, aber Ekow hatte klare Vorstellungen. »Ekow hatte viel Ahnung vom afrikanischen Tanz, von Jazz Dance. Und technisch war er sehr präzise. Er hatte Oscar seit Jahren wegen einer solchen Gelegenheit in den Ohren gelegen.«

»Wie war das Sphinx-Stück denn?«, fragte Lucas. Er musste sie bei Laune halten. »Sie waren doch sicher auch dabei?«

»Sicher. Es ist über dreißig Jahre her, ich kann mich kaum noch erinnern. Na ja … viele Wiederholungen, karibische Einflüsse – reichlich amateurhaft. Nein, warten Sie, ich erinner mich an eine Phrase – sie war Gift für meine Waden.« Ihre Schultern untermalten jedes ihrer Worte. »In die Hocke, zum Rhythmus der Musik. Rechter Arm zur Seite, auf den Boden klopfen … genau, und dann Pause.« Ihre psychedelischen Finger spielten auf dem Tisch, die Armreifen klingelten dazu. »Dann mit der Hand über den Schoß streichen, immer schneller, aufspringen, nach vorne trippeln, die Arme über dem Kopf, als ob man eine Treppe hinunterstürzen würde. Wow, ich hatte keine Ahnung, dass ich das noch weiß. Der Körper vergisst nie, wohl wahr. Ich hab diese Phrase verflixt oft wiederholt. Sie kam bei Antoney immer vor, wie eine Art Markenzeichen.«

»Was sollte das bedeuten?«

»Keine Ahnung.«

»Wer war noch in dem Stück?«

»Antoney, Ekow. Der harte Kern des Midnight Ballet.« Simone blickte kurz in den Schoß. »Und eine Freundin von mir, Carla Bruce.« Als sie den Blick wieder auf Lucas heftete, zeichnete sich auf ihrem Gesicht eine beängstigende Erkenntnis ab.

Sag es, jetzt. Es war an der Zeit, dass Louis abtrat und Lucas die Bühne überließ. Carla war viel zu präsent. Ein schwerer, perliger Dunst hing über dem Tisch. »Leider ist sie früh verstorben«, sagte Simone und erhöhte den Druck, die Maske abzulegen. Lucas war nun ganz sicher, dass sie ihn durchschaut hatte, aber die Worte in seinem Kopf drangen nicht aus dem Mund. Louis war schneller.

»Tut mir leid«, sagte er.

»Ist schon gut, ist lange her.« Sie beugten sich über ihre Teller, Lucas mit dem gleichen Gefühl, mit dem er sich über das Tagebuch gebeugt hatte. Dies war nicht sein Ort, er war fehl am Platz, so wie das Filzstift-Gekrakel, das über die Seiten tollte. Er hätte Simone so gerne von seinem Traum erzählt, in dem sich seine Mutter die Hände wusch, er hätte sie so gerne gefragt, ob sie seine Mutter je in dem Perlenkleid gesehen hatte, als es noch scharlachrot war, aber er fand keine Worte dafür.

»Ich wette, Sie haben den Laden ordentlich aufgemischt«, sagte er und fand sich selbst mit diesem Ausdruck völlig idiotisch. Jake erschien und fragte pflichtgemäß, ob das Essen in Ordnung sei und sie noch etwas trinken oder mehr Brot wollten. »Wissen Sie was«, beschloss Simone, »ich nehm doch einen Wein, aber nur ein Gläschen.« Fünf Minuten später beugte sich Jake neben sie und stellte ihr rechter Hand einen perlmuttweißen Kelch hin. Er zwinkerte Lucas zu und begab sich in Warteposition neben einen Speiseaufzug, ohne sein Tablett herumzuwirbeln.

»Komisch«, sagte Simone und nahm den ersten Schluck. »Aber irgendwie erinnern Sie mich an Carla.«

»Das ist komisch. Wieso?«

»Sie haben so was an sich. Keine Ahnung, wahrscheinlich spielt mir bloß der Verstand einen Streich. Ich hab diese Leute so lange nicht erwähnt, und nun seh ich ihre Gesichter vor mir. Und dann hier zu sein, auf der Portobello Road … Ich hab lange in Paris gelebt, da war das alles in weite Ferne gerückt.«

Sie war mit Carla zur Schule gegangen. Sie hatten gemeinsam auf der Harrow Road Straßenmusik gemacht, da waren sie gerade zwölf. Carla hatte auf einem umgedrehten Eimer Weihnachtslieder gesungen und Simone dazu gesteppt. Immer Weihnachtslieder, egal, zu welcher Jahreszeit. Wenn sie einen Penny bekamen, hatte sich Carla den Eimer über den Kopf gestülpt. Simone kicherte seltsam, als sie davon erzählte. »Ja, das war Carla. Eine wunderbare, natürliche Tänzerin. Rein und fließend. Sie hat’s nur nie geglaubt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie hat immer behauptet, sie hätte kein Talent. Wir anderen seien ›richtige‹ Tänzer und sie sei nur zufällig dabei gelandet, womit sie sogar ein wenig recht hatte – der Tanz war nicht ihr Leben. Carla hätte ebenso gut was anderes machen können.« Simone hob das Glas an die Lippen und trank gedankenverloren. »Sie stand nicht gern im Rampenlicht. Was mich erstaunte. Ich kannte sie schließlich ein Leben lang, und Hemmungen hatte ich nie bei ihr bemerkt, bis sie dann mit Antoney zusammenkam. Und wie sie sich gekleidet hat! Ach! Das Mädchen hat diesem Kerl überhaupt erst mal gezeigt, was Stil ist!«

Simone schien es zu genießen, nach langer Zeit in Erinnerungen an ihre Freundin zu schwelgen. Sie blätterte einen Katalog von Carlas Kleidern auf, sämtlich aus Secondhandshops, Schals und alte Stiefel, Miniröcke, Blusen, Vintagekleider – das Flapperkleid inbegriffen. Sie hatte ihre Outfits wild kombiniert, mit Farben, die nicht harmonierten, orangefarbenen Strumpfhosen, Pelzmänteln. Sie war ihrer Zeit weit voraus gewesen. »Die Mädchen von heute halten sich für trendy, doch von Carla könnten sie was lernen. Aber Antoney! Er trug immer diese entsetzlichen Laurel-und-Hardy-Hosen, die vorn Falten werfen, und zwar schlimme Falten, dazu langweilige, durchschnittliche Hemden, dreckige Schuhe, oh, es war eine Schande. Ich hätte mein Kind so nicht auf die Straße gelassen. Wenn sich der Wert eines Mannes in seiner Kleidung ausdrücken würde …«

»Okay, verstehe …«

»Jedenfalls, als Carla mit ihm fertig war, da trug er Pink. Sie hat die schmuddeligen Schuhe abgeschafft und ihm ein Paar schlangenlederner besorgt. Röhrenhosen, gut sitzende Jeans. Das war eine der radikalsten Verwandlungen in der Modegeschichte. Wenn sie ihn nicht angeleitet hätte, hätte Antoney auch niemals den Mumm gehabt, anderen – Interessen nachzugehen … Die Verpackung ist alles.«

Lucas nahm einen großen Schluck Wasser und erkundigte sich, auf welche Interessen sie anspielte. Am liebsten hätte er sich in eine Gasse verdrückt und mit Jake eine rauchige Auszeit von Mr. Miguel gegönnt, aber würde ein Journalist in Festanstellung so etwas tun, wenn das Gespräch an einem heiklen Punkt war?

»Ich verbreite nicht gern Klatsch«, sagte Simone. »Viele Männer haben Mühe, treu zu sein.«

»Wollen Sie damit sagen, dass er sie betrogen hat?«

»Wie gesagt, ich verbreite nicht gern Klatsch.« Sie wandte sich von ihm ab, zum Raum hin, sie schien ihren Gedanken nachzuhängen. Lucas beschlich das Gefühl, dass sie keine allzu vertrauenswürdige Quelle war, dass sie ihm nur einen Teil erzählte. Der weichgespülte Ambientsound war einer französischen Sängerin gewichen, die Lucas traurig stimmte, aber vielleicht lag es auch an dem Gespräch. Er verzichtete auf weitere Fragen nach seiner Mutter, aus Angst, dass er mit den Antworten nicht umgehen konnte.

»Sie hatte zwei Kinder«, sagte Simone von ferne. »Ich hätte den Kontakt zu ihnen halten sollen.«

Das Interview schritt dann zu der Zeit voran, als das Midnight Ballet gegründet wurde. Simone erläuterte, dass Antoneys Unerschrockenheit in der Choreografie getrogen und den Eindruck vermittelt habe, er sei viel reifer, als es tatsächlich der Fall gewesen sei. Alles war sehr rasch geschehen. An das Sphinx-Projekt schlossen sich weitere gemeinsame Arbeiten mit Oscar an, bei denen sie den Hauptpart tanzte. Das habe schließlich dazu geführt, dass sie zur »Solotänzerin« der Truppe wurde (was Lucas so nirgends gelesen hatte). Sie behauptete, dass sie die »Muse« seines Vaters war. »Unabhängig davon, wie ich zu Antoneys Defiziten als künstlerischer Leiter gestanden hab«, sagte sie, »hab ich seine Arbeit gern getanzt. Sie war flüssig. Sinnlich und eklektisch. Sie war von einer kindhaften Beharrlichkeit, hatte was von Oscars Unerschrockenheit.«

Im Jahr 1966 (»Gott, bin ich alt«) fand in Oscars Souterrain ein Vortanzen statt, um Teilnehmer für eine Show im nahe gelegenen Ledbury Theatre zu finden, mit dessen Leiter Oscar befreundet war. »Es ging also bloß um eine Show. Am Anfang stand gar nicht die Absicht, eine Compagnie zu gründen.«

»Wo genau war denn die Kirche?«, fragte Lucas.

»Hier gleich um die Ecke, am Powis Square. St. Bernard. Sie ist vermutlich inzwischen abgerissen, sie war damals schon ziemlich baufällig.«

»Und die Tür hat ganz viele Schnitzereien und so?«

»Ja, wie Notre-Dame, hat Oscar immer gesagt. Steht sie etwa noch?«

Ein Frösteln, ein Spinnen-Kribbeln setzte sich auf seine Schulter und wanderte nach unten. Er, Jake, sie klettern über das hohe Tor in den Hof, Jake mit seiner Klammer um die großen Zähne, er selbst in seinen zerschlissenen Boots-Turnschuhen. Sechs Stufen bis ins Souterrain. Wer schafft alle auf einmal? Hörst du das?, fragt Lucas. Er legt das Ohr an die Tür zum Kellergeschoss. Was denn? Jake kommt zu ihm. Hörst du die Glocke? Welche Glocke? Ich hör keine Glocke. Sie hören genauer hin, und nun sind dort viele Geräusche, Stimmen, Trommeln, Lachen, Schritte, Simone. An jenem bewölkten Wintertag anno 1966 stiegen Simone de Laperouse mit glänzenden Lippen und den unvermeidlichen Legwarmern, Carla mit ihrem waldigen Haar und Vintagestiefeln, Antoney mit Röhrenhose und neuer Künstler-Miene, Ekow mit seinem ungenutzten Talent und ein ganzer Strom weiterer Hoffnungsvoller hinab durch diese Tür zu Oscar Day, zwanzig oder dreißig an der Zahl, von überall her, West-London, nördlich, südlich der Themse, einige sogar aus Birmingham. (»Fragen Sie mich nicht, wie sich das so weit rumsprechen konnte.«) Einige waren in England geboren, andere noch nicht lange dort. Es waren viele Nigerianer darunter und eine Reihe Jamaikaner mit ihrem verschlagenen Blick. (»Sie wissen, was ich meine, Antoney jedenfalls hatte diesen Blick«, sagte Simone.) Es kamen Studenten, Fabrikangestellte, Tanzverrückte, Nachtarbeiter. Beim Vortanzen waren die Frauen den Männern zahlenmäßig überlegen, bei der Musik war es umgekehrt. Es war eine unglaubliche Atmosphäre. Alles schien möglich. »Damals, Louis, war es nicht wie heute, heute gibt es Ensembles wie Adzido, Kokuma oder Phoenix. In den Sechzigern aber war eine schwarze Tanzcompagnie die absolute Ausnahme hier. Wenn, dann versuchte man es im West End, oder bei einem zeitgenössischen oder klassischen Ensemble, obwohl man dafür eine Ausbildung brauchte. Von den Leuten hatte übrigens niemand eine. Es hat im Midnight Ballet immer nur eine professionelle Tänzerin gegeben, und das war ich.«

Simones Vater war Wissenschaftler gewesen, er war einer der ersten Barbadier, die in Oxford studierten, wie sie eilig hinzufügte. Als junges Mädchen, nach dem Josephine-Bild, hatte ihr Wissenschaftler-Vater etwas gesagt, das sie nie vergessen hatte. Er hatte ihr erklärt, dass menschliche Wesen aus Sternenstaub bestehen. Ja, ganz genau. Wir sind aus Wasserstoff und Sauerstoff und vielem anderem, aber wir sind auch aus leichten Atomen, die in den Leibern uralter Sterne geboren wurden. »Ist das nicht schön?« (An dem Punkt wurde Simone Lucas wieder sympathischer.) »Die Vorstellung, dass das Universum in uns ist, dass wir so viel mehr sind, als wir glauben oder die Gesellschaft uns erlaubt?« (Mann, und ob!) »Mir war die Vorstellung immer zuwider, ein gewöhnliches, mittelmäßiges Leben zu führen. Ich wollte hell sein. Ich wollte strahlen.«

»Aber Sie strahlen doch.«

»Ach wo. Nicht mehr! Ich bin eingestaubt. Eingerostet. Sehen Sie mich an, ich bin alt und steif. Damals hab ich geleuchtet. Sie hätten mich sehen sollen – ich war so hell wie der Polarstern, ein ganz anderer Mensch. Ich erkenne mich dieser Tage selbst kaum wieder.« Sie war den Tränen nahe und klammerte sich an ihrer Serviette fest. Ohne Lippenstift wirkte sie alt. Sein Rot hatte ihr Kinn verschmiert.

»In dem Souterrain an jenem Tag«, fuhr sie fort, »waren alle wie ich, egal, wer sie waren und woher sie kamen. Wir alle wollten strahlen.«

Und so hatten sie sich also in Oscars Souterrain eingefunden. Die hohen Fenster waren benetzt von Körperhitze. Die Trommeln dröhnten, die Herzen bebten, die Tänzer dehnten sich, die Glocke schlug. »Wer hat die Glocke gespielt?«, fragte Lucas. »Die Glocke?«, sagte sie. »Sie meinen die Cowbell? Das war Bluey. Bluey war an jenem Tag aber nicht dabei.« Oscar ergriff das Wort, den Rücken zu den Spiegeln, und brachte den Saal zum Schweigen. Antoney stand neben ihm, scheu und verlegen. Bei dem Projekt gehe es um drei Abendaufführungen im Ledbury Theatre, erklärte Oscar, ein einmaliges Experiment, aber er hoffe auf Wiederaufnahmen. Für die Proben gab es kein Entgelt, aber alle würden einen Obolus erhalten, falls am Ende die Kasse stimmte. Er würde schon seit vielen Jahren unterrichten, fuhr er fort, nun aber habe er das Glück gehabt, dass ein sehr talentierter junger Mann namens Antoney Matheus zu seiner Truppe gestoßen sei, ein Name, von dem man in der Tanzwelt seiner Meinung nach noch sehr viel hören würde. Antoney schaute auf den Boden. Die Mädchen musterten ihn, von den kessen Augenbrauen bis hinunter zu den Schwebefüßen. Einige Nachzügler huschten herein und zogen sich weiter hinten um. Es sei sehr selten, so Oscar weiter, dass jemand schon so früh einen so autoritativen und innovativen Zugang zur Choreografie habe. Er pries Antoney wegen seiner »erstaunlichen Fantasie« und seiner Verwegenheit, die Formensprachen von Modern Dance, karibischen und afrikanischen Tänzen zu verweben (bei diesen Worten richtete sich Ekow auf, der an einem Spiegel lehnte). »Aber ich will euch nicht langweilen«, schloss Oscar. »Antoney will sicher selbst einige Worte sagen. Antoney? Möchtest du etwas, äh …?«

Das Gefummel, Gemurmel und Geraschel erstarb. Es war das erste Mal, dass Antoney zu einer Gruppe sprach. Er trat einen kleinen Schritt zurück, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er schien zu beten, dass sich der Boden auftat und ihn verschluckte. Als er endlich seine Stimme wiederfand, riefen die Trommler, er solle lauter reden. »Mein Lehrer weiß bessere Worte als ich«, sagte er. »Ich habe nicht so viel zu sagen.« Eine lange Pause. Schließlich fuhr er fort, in kurzen Sätzen, es war eine sehr holprige Rede. »Ich wurde während eines Hurrikans geboren. Bewegung kommt aus dem Alltag. Das, was wir hier machen, damit folgen wir dem Wind. Lasst uns sehen, wohin er uns trägt. Keine Wände, keine Grenzen, keine Genres. Das ist alles.« Er wandte sich sofort wieder an Oscar. Er war nicht zum Reden geboren, aber auf seine Weise war er aufrichtig und bezwingend.

»Also«, sagte der Lehrer. »An die Arbeit.«

Als Simone de Laperouse ihr Weinglas und dann ein weiteres geleert hatte, als Lucas mittrank, als es in der Grove Brasserie lebhafter wurde und Jake seine Schicht beendet hatte, an deren Ende die Begleichung der Rechnung vorgetäuscht worden war, versammelte Simone all jene, die es ins Midnight Ballet geschafft hatten. Wenn man zu so etwas gehört, sagte sie, wird das Studio dein Zuhause, das Tanzen dein Atem, die Kollegen deine Brüder und Schwestern. Diese Menschen vergisst man nie.

Milly Afolabi (Tänzerin)

Zum Zeitpunkt des Vortanzens besuchte Milly einen Buchhaltungskurs an der Abendschule und arbeitete als Zimmermädchen. Sie lebte in Harlesden, sie war 1960 von Nigeria nach London gekommen. Bekümmert über das mangelnde Angebot westafrikanischer Nahrungsmittel in ihrem Viertel (Wo bitte gibt es Yams, wo Egusisamen? Und was ist mit Gari?) erwog sie, einen Importhandel zu gründen. Milly war eine fesselnde Tänzerin. Sie fiel Oscar und Antoney sofort auf, das Mädchen in der zweiten Reihe mit der roten Jacke, den enormen Ohrringen und dem kurz geschnittenen Haar. Sie tanzte groß, aus vollem Herzen. Sie hatte kräftige Beine, und ihre Schultern waren phänomenal schüttelfähig. Sie war zuvor schon in Lagos und Accra aufgetreten und konnte dem Midnight Ballet ein großes Repertoire westafrikanischer Tanzelemente vermitteln. Milly war der Meinung, dass es für das Tanzen, anders als in England, keine Altersgrenze geben sollte. Tanzen sollte man ein Leben lang, egal ob alt oder jung, dünn oder dick. In den späten 1970er-Jahren gründete sie mit ihrem Mann einen Gemüse-Import-Export auf der Victor Street in Harlesden, der heute noch existiert.

Alphonso »Fansa« Fontaine (Trommler und Schlagzeuger)

Alphonso – der Kerl mit der großen Klappe ganz weit hinten, mit den Armbändern und starken Trommlerarmen – hatte Antoney bei den Marshall-Brüdern kennengelernt. Bei reichlich Bowle hatten sie über Tanz und Musik des Kumina-Kultes gesprochen, der aus dem Kongo stammte und im Osten Jamaikas von den Maroons praktiziert wurde, vor allem in St. Thomas. Der Kumina, den Antoney in seinen Stücken so gerne imitierte, war eine schleppende Vorwärtsbewegung, mit einer Rückwärtsbeugung des Körpers. Alphonso hatte gelernt, wie man den Rhythmus des Kumina schlug, wie auch den des Dinki Minni und des Brukins, und zwar auf Trommeln, die noch von seinem Großvater stammten. Alphonso war in Kingston aufgewachsen und hatte dort, bevor er nach Großbritannien gekommen war, in Folk Ensembles mitgespielt. Für das Midnight Ballet verließ er die Hot Tones, seine dem Erfolg ausgesprochen ferne Ska-Band. Er war das Leben im Showbiz gewöhnt und liebte lange Nächte und Guinness-Bowle (ein, Simone zufolge, widerliches Gebräu aus Guinness, Muskat, Zimt und Kondensmilch). Er kostete auch in vollen Zügen das Groupie-Angebot aus. Es warteten immer Mädchen vor der Bühnentür oder flatterten in der Lobby herum. Alphonso benahm sich ihnen gegenüber niemals reserviert oder überheblich, so wie Antoney. Ganz im Gegenteil – er erzählte immer gleich, dass er ledig und kinderlos sei, und widmete den Mädchen seine volle Aufmerksamkeit.

Ricardo und Rosina Morris (Tänzer, Tänzerin und Fotografin)

Diese beiden, die aus Kennington in Süd-London stammten, waren angeblich Zwillinge, aber Simone glaubte das bis heute nicht. Sie sahen einander überhaupt nicht ähnlich. Simone glaubte vielmehr, dass die beiden das erfunden hatten, um faszinierend und mystisch zu wirken, was bei Antoney ja wohl verfing. Ricardo hatte eine flache Stirn und ein freundliches Gesicht. Ihm war die fremde Welt des Tanzens durch eine Freundin namens Polly-Cinder erschlossen worden. Und das war so gekommen: Sie war halb Spanierin und je ein Viertel Irin und Französin. Sie war mit Körpergröße und Finesse gesegnet, und mit langem, umwerfendem Haar. Sie und Ricardo hatten einander während seiner allerersten Tanzstunde erblickt, die er auch bloß aus dem Grund besucht hatte, weil ihm ein befreundeter Maler und Dekorateur gesagt hatte, dass man da die Mädchen traf. Stell dir vor, sagte er Polly-Cinder später, als sie verschlungen auf einer Gänseblümchenwiese nahe Guildford lagen, unsere Kinder werden dann ein Viertel Schotte, ein Viertel Ägypter, ein Viertel Spanier, ein Achtel Ire und ein Achtel Franzose. Die Verbindung hielt nicht, aber Ricardo hatte entdeckt, dass er sich leidenschaftlich gerne bewegte. Mit seinem großen, kräftigen Körperbau war er das, was Oscar einen hässlichen Tänzer nannte. Später sollte er eine Laufbahn als Wrestler einschlagen.

Seine angebliche Zwillingsschwester Rosina, mit hoher Stirn, trat dem Midnight Ballet als Tänzerin bei und wurde auch dessen Fotografin. Sie war jungenhaft, viel lauter als ihr Bruder und manchmal ziemlich gemein zu ihm. Von allen Tänzern war sie die schwächste, brauchte am längsten, um eine Bewegung zu erlernen, was Antoneys Geduld sehr strapazierte. Die meisten der noch existierenden Fotografien des Midnight Ballet, darunter auch die, die Lucas im Schrank entdeckt hatte, stammten von Rosina. Sie hatte als Teenager mit der Fotografie begonnen, sie wollte immer schon Wesen in ihrer Bewegung festhalten.

The Wonder (Sänger und zweiter Trommler)

The Wonder, ursprünglich aus Ghana, jobbte damals in einem Restaurant in Bayswater und sehnte sich nach einer Rückkehr ins Rampenlicht. Er hatte sich zuvor viele Jahre in Spanien und auf den Kanaren als Feuerschlucker verdingt. Dabei hatte er Talent und Fantasie bewiesen und seine Auftritte immer um einfallsreiche Nuancen ergänzt – wenn ihm beispielsweise ein Paar in den Flitterwochen nach einem Sonnenuntergangabendessen am Strand zusah, gab The Wonder (mit großem T, da war er sehr empfindlich!) der Frau den brennenden Stab und forderte sie auf, ihn an seinen Fuß zu halten. Er schluckte das Feuer nicht wirklich, hatte er Simone einmal verraten. Nein. Es handelte sich dabei um einen besonderen Stab, der in dem Moment erlosch, wenn man ihn in den Mund nahm, obwohl seine Mundwinkel trotzdem manches Mal angekokelt wurden. The Wonder hatte einen beachtlichen Bauch und ein breites, pockennarbiges Gesicht. Obwohl er älter als die meisten war, begriff er sehr rasch die komplizierten senegalesischen Schrittfolgen, die Ekow ihm zeigte.

Benjamin Omotunde Ojo (Trommler)

Benjamin war der Kerl, der Antoney aufgefordert hatte, lauter zu sprechen. Er war der Älteste der Truppe, und vielleicht auch der Unbeliebteste. Benjamin arbeitete damals für Heinz, in der Fabrik in Park Royal. Er hasste gebackene Bohnen und eigentlich alles von und an Heinz. Er wollte mit Frau und Kindern zurück nach Nigeria, hatte aber Angst vor den politischen Unruhen dort und auch nicht die Mittel dafür. Ihm ging es eigentlich nur gut, wenn er seine Djembe spielte. Missfiel ihm etwas, blähten sich seine Nasenflügel auf, und er rieb sich wild das rechte Knie. Einmal hatte er auch eine vernichtende Tirade gegen Simone de Laperouse losgelassen, die ungefähr so ging: Du hältst dich wohl für die Queen? Glaubst wohl, du bist was Besseres? Du bist kein Stück besser als ich. Du bist Scheiße, und du tanzt scheiße. Du bist steif wie ein Besen. Du hast so lange Ballett und dieses blödsinnige Modern-Stretching-Zeug gemacht, das sich Tanz nennt, dass in deinem Körper kein Zoll Afrika mehr ist! Simone war darüber so aufgebracht, dass sie den Proben eine Woche lang fernblieb. Trotzdem, Benjamin war ein kompetenter und souveräner Trommler, und manchmal brach er spontan eine Improvisation los, wuchtige Solos über den Beat hinweg. Danach, so Simone, wirkte er immer viel netter. Aber eigentlich fand sie ihn unerträglich.

Es war zwanzig vor neun. Simone hatte mittlerweile drei Glas Wein getrunken und sprach ein wenig undeutlich. Lucas ging mit ihr unter der schillernden Markise der Grove Brasserie hindurch in den violetten Portobello-Abend, in den sich nun ein armbandtragender Trommler, ein pockennarbiger Feuerschlucker, falsche Zwillinge und ein Kahlkopf namens Oscar Day mischten. Antoney und Carla waren in dem Sauerstoff, den er atmete und der auf Sternenstaub in ihm treffen würde. Die Kirche am Powis Square läutete unter ihrer neuen Geschichte wie zur Sonntagsmesse. All das war für Lucas viel greifbarer als der Funk und das Geschnatter aus der Market Bar, als die Beine von Scary Spice unter dem Westway oder die Silhouetten der Raucher vor dem Falafel King.

Der Weg zur Tube-Station war unstetig. Simone war sichtbar beschwipst, und Lucas hatte sowieso diesen seltsamen Schlendergang. Wer mit Lucas spazieren geht, wird ziemlich schnell feststellen, dass er nicht in einer geraden Linie gehen kann, sondern seinen Begleiter in einer vagen Diagonale bedrängt, sodass man ihm ausweichen und auf die Straße treten muss. Für Denise war dies eine Quelle steten Zorns, und darum ging sie immer vor ihm her. Jakes Strategie bestand darin, kurz vor dem vermeintlichen Zusammenstoß stehen zu bleiben, um Lucas damit wortlos an das Gebot des geraden Gehens zu erinnern. An diesem Abend trieb Lucas besonders heftig ab.

»Hups, wir schwanken ja ganz schön«, sagte Simone. »Ich hake mich lieber bei Ihnen ein.« Wegen des Größenunterschieds musste sie sich unterhaken.

Sie gingen die verlassene Gasse entlang, die von der Portobello Road zur Tube-Station auf der Ladbroke Grove führte und nun, ohne das samstägliche Markttreiben, trübe und grünlich dalag. Nikotinstimmen drangen aus dem Park in der Nähe, der an den meisten Abenden von den etwas rustikaleren Trinkern frequentiert wurde. Lucas kam sich wie ein schäbiger Betrüger vor. Als sie das Ende der Gasse erreichten, als sie gerade in die geschäftige Straße eintauchen wollten, verspürte er wieder die Dringlichkeit, sich zu offenbaren – vielleicht würde ihm Simone im Gegenzug erzählen, was sie verbarg. Aber er wurde von einem heftigen Flügelschlagen abgelenkt, das aus einem Nest unter dem Bahnsteg kam, der sich über die Ladbroke Grove spannte (es gab zwei Stege, einen auf jeder Seite der Straße, die darunter so bekleckst wie ein schwarz-weißes Ölgemälde war). Louis Miguel war schon zu tief in ihm. Er bezweifelte, dass er Simone je wiedersehen würde. Und viel konnte sie ihm sowieso nicht mehr geben. Außer.

Es könnte gut sein, dass West, quatschte Louis der Schnelldenker, der Dranbleiber in seinem Journalistenslang auf sie ein, daran interessiert sei, etwas Größeres über die Compagnie zu bringen. Wenn sie noch Kontakte hätte, würde sie ihm die vermitteln? Schweigen. Schließlich erwiderte Simone, dass sie mit niemandem aus jener Zeit mehr in Kontakt stand. »Sie sind alle fort oder fern, tot oder aber alt und menschenscheu«, sagte sie.

»Warum der Name?« Sie standen kurz davor, sich endgültig voneinander zu verabschieden. »Warum Midnight Ballet?«

Sie sah zu ihm auf, gegen das farbige Licht einer Straßenlaterne. Wieder dieser prüfende, argwöhnische Blick. »Darauf ist Carla gekommen«, sagte sie. »Es war ein Scherz. Weil wir immer so spät geprobt haben.«

Er sah ihr nach, als sie zur Ticketschranke ging und in ihrer pinkfarbenen Manteltasche nach dem Fahrschein suchte, der Rücken unbeugsam, der Kopf hoch erhoben. Dennoch war etwas Schäbiges an ihr, der zerschlissene Saum, die altmodischen Abendschuhe. Wenn ein Mensch von einem fortgeht, dachte Lucas, ist das der Moment, in dem man ihn als Ganzen sehen kann, als Summe seines Lebens, seiner Erfahrungen, wie eine Hymne oder einen Abspann. Als ein Zug über seinen Kopf dröhnte, sah er Simone de Laperouse als Ganzes, und in ihrem Lied klang Wehmut mit. Sie durchquerte die Schranke in Richtung Stufen. Er wollte gerade gehen, da unterbrach sie, die Hand am Geländer, auf halber Strecke ihren Abstieg und fuhr herum.

»Louis!«, rief sie.

Sie trafen sich an der Schranke.

»Da war noch jemand«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ein guter Freund von Antoney. Ein Zeitungskritiker. Er hat viel über uns geschrieben.« In dem Moment wirkte es, als fiele ihr sein Name nicht mehr ein. Aber doch. »Er hieß Riley. Edward Riley. Aber bei uns hieß er nur Riley.«