11

Nachdem sich das Midnight Ballet aufgelöst hatte, bot sich Antoney die Gelegenheit, an einem College Modern-Dance-Kurse zu geben, manchmal holte ihn sogar das renommierte The Place. Doch das Unterrichten lag ihm nicht. Er erzählte – mehr zu seiner eigenen Unterhaltung – Anekdoten über Katherine Dunham und die Tage im Souterrain von Oscar Day, oder er erklärte den Unterschied zwischen einer Number 11- und einer Juli-Mango. Er trug verwaschene Gymnastiktrikots mit lockeren Hosen, und wenn er umherlief, ließ er die Hände an den Trägern auf- und abgleiten. Die ernsthaften, die begabteren Schüler mochten ihn, sie hatten ihren Spaß, aber die Übrigen fanden ihn unausstehlich. Er favorisierte wenige Einzelne, andere übergoss er mit ätzender Kritik. »Wie alt bist du, Mädel? Du tanzt, als wärst du schon neunzig.«

»Musst du unbedingt wie ein Ochse vor mir rumtrampeln? Das kann man sich ja nicht ansehen!« Manche Schüler kamen ein Mal und nie wieder.

St. Bernard war zurück in die Hände von Kensington und Chelsea gefallen. Kostüme, Tonbänder, Dokumente und sämtliche Fotografien – bis auf den Petruschka-Nijinsky über der Küchentür, er verblieb dort als Reminiszenz – wanderten in eine Truhe und wurden bei Riley gelagert, bis Antoney Platz in einem größeren Heim dafür hätte. Das Einzige, was er mit nach Hause nahm, waren die Kostüme von »Shango Storm«, das Porträt von Katherine, an die Säule gelehnt, und, auf Carlas Bitte hin, Blueys Cowbell. Antoney richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Carla und das künftige Baby, das, so hoffte er, ein Junge würde. Er wollte mit ihm Bus fahren. Er wollte mit ihm ins Theater gehen, und dann würden sie dort nebeneinandersitzen, die Beine überkreuzt, das Kinn auf den Händen aufgestützt. Er wollte seinem Jungen sagen, wenn er davon träumte, ein Drachen zu werden, dann sollte er danach streben, denn man bekam im Leben nur eine Chance. Er wollte es richtig machen. Obwohl er manchmal das Gefühl hatte, dass er in dieses neue, untänzerische Leben gewissermaßen konvertieren musste, dass er von seiner Natur abfiel, schenkte ihm seine Familie doch auch Trost, und ganz so furchtbar war es nicht. Er kaufte Carla Geschenke auf dem Markt, farbige Schals und Armreifen.

Die zweite Schwangerschaft machte es Carla schwer. Ihr war ständig übel, und ausgesprochen reizbar war sie auch. Sie wollte helfen, für das neue Heim zu sparen, und hatte eine Stelle als Kellnerin in einem Café angenommen. Um überhaupt durch den Tag zu kommen, musste sie regelmäßig Kohlenhydrate zu sich nehmen. Der Hunger war unerbittlich. Sie bekam fettige Haut. Ihre Knöchel schwollen an, weil sie so viel auf den Beinen war. Wenn Antoneys Blicke darauf fielen, flüsterte ihm eine leise Sorge zu, dass der Tag kommen würde, an dem Carlas Schönheit nicht mehr vor ihm, sondern in ihr wäre, der Tag, an dem er sich an ihre Schönheit erinnern und nach ihr suchen müsste, an dem das Bemühen um Liebe schwerer würde. Carla spürte, dass seine Zuneigung schwankte, wodurch sie sich noch plumper und unattraktiver vorkam und noch launischer wurde. Als sie im fünften Monat war, musste sie ihre Stelle aufgeben. Eines Tages brachte ihr Antoney eine violette Schmuckschatulle mit, in der drei Paar identischer Ohrringe und für Denise vierzehn Haarklammern lagen. »Was ist nur mit dir los?«, fragte sie. »Warum konntest du nicht einfach ein oder zwei kaufen?« Er sagte, er habe ihr damit eine Freude machen wollen.

Nach dem Unterricht ging er oft zu Riley und klagte über einem Brandy. Er roch nach Tanzschweiß, einem rauen, esoterischen Geruch. »Hast du inzwischen einen Kerl gefunden, Riley?«, fragte er ihn eines Abends, woraufhin Riley vor lauter Verlegenheit in seinen Brandy hüstelte. »Beziehungen unter Kerlen sind doch bestimmt viel einfacher, nicht so kompliziert und nörgelig. Ich kann ihr im Moment gar nichts recht machen.« Riley erwiderte mit kaum verhohlener Befangenheit, dass Antoney mit seiner Vermutung, was Beziehungen zwischen Männern anging, wahrscheinlich recht habe.

Kurz vor Weihnachten, im Jahr 1973, traf Carla zufällig Simone auf der Kilburn High Road. Sie umarmten sich spontan – sie hatten sich lange nicht gesehen. Die Situation war wegen der früheren Spannungen ein wenig unbehaglich, aber das legte sich, als Carla über Simones Kompliment, sie sähe großartig aus, lachte und es eine »unverschämte Lüge« nannte. Sie unterhielten sich eine halbe Stunde lang auf offener Straße, tauschten Neuigkeiten aus; Simone fragte nach Denise. Simone hatte bislang kein Glück mit dem Vortanzen gehabt – Carla fiel auf, dass ihr der Hochmut aus ruhmreichen Tagen ein wenig vergangen war –, aber Ekow hatte es gut getroffen und eine Rolle in einem Musical im West End ergattert, Gone with the Wind, das im Theatre Royal in der Drury Lane lief. Carla müsse es sich unbedingt ansehen. Sie verabschiedeten sich herzlich, mit dem lockeren Plan, sich nach der Geburt des Babys einen Verwöhntag in der Rushwood-Sauna zu gönnen, so wie früher.

Antoney gab sich unbeeindruckt, als er von Ekows Engagement hörte, doch er war wahnsinnig neidisch. »Du könntest mal mit mir hingehen«, sagte Carla. »Du könntest mal mit mir ins Theater gehen, anstatt immer Besen oder Landkarten zu kaufen.« (Die Landkarten, es gab sie auf dem Markt, in psychedelischen Rahmen, gehörten zu Antoneys jüngsten unerklärlichen Anschaffungen. Bislang hatte er Polen und Kuba erworben.) Am Tag vor Heiligabend ging er mit Carla zu Gone With the Wind, Denise blieb bei Toreth. Carla hatte sich extra ein neues Kleid gekauft, ein bodenlanges, hellbraunes Umstandsmodell mit Glockenärmeln. Sie hatte keine passenden Schuhe dafür und trug ein Paar alter, schwarzer Treter. Antoney zog zunächst ein weißes Hemd an, aber sie riet ihm zu dem roten, weil ihm das am besten stünde. Sie zupfte ihm im Schlafzimmer den Kragen zurecht und strich den Stoff über seiner Brust glatt, dabei drückte ihr Bauch gegen seinen. Er sah liebevoll auf sie hinunter. »Mein schöner, unergründlicher Mann«, sagte sie. »Meine wahre und einzige Königin«, erwiderte er.

Sie nahmen den 23er ins West End, das unter seinem Weihnachtsschmuck funkelte und glitzerte. All die Lichter mit ihren Farben, die leuchtenden Kaskaden über der Oxford Street, die Schaufenster und die Straßenlaternen – es war einer dieser berückenden Abende, an denen London der strahlendste Ort auf der Welt ist. Carla hatte das Gefühl, dass ihnen die Stadt zu Füßen lag. Sie drückte Antoneys Hand, als sie in Erinnerungen an ihre früheren Busfahrten schwelgten, sie strahlte innerlich vor lauter Glück, dass sie nach all der Zeit noch so viel Liebe für ihn verspürte. Auch wenn er sie manchmal wütend oder fassungslos machte, auch wenn er bisweilen selbstsüchtig war, es würde immer Momente wie diesen geben, in denen alles war, als wäre es neu. Die tiefen Falten auf seiner Stirn und der kurze, unordentliche Afro, den sie vor ihrem Aufbruch noch zu glätten versucht hatte, bestärkten sie in ihrem Gefühl. Sie wusste, auch später noch, wenn er grau und verblüht war, würde sie so für ihn empfinden. Es würde immer besser werden mit den Jahren, mit der Summe der gemeinsamen Erfahrungen.

Sie hatten billige Plätze auf dem oberen Balkon. Ekow hatte zwar nur eine Rolle im Chor, aber mit seinem weittragenden Charme stach er heraus. »Ich bin richtig stolz auf ihn. Ich glaube, Ekow wird es noch weit bringen«, sagte Carla in der Pause, die sie unter dem Vorwand, dass Carla ihre Füße hochlegen musste, auf ihren Plätzen verbrachten. In Wahrheit hatte Antoney Angst, Bekannten aus Tanzzeiten über den Weg zu laufen und sich der Frage zu stellen, was er denn dieser Tage so machte. Es fiel ihm schwer, in einem Theater zu sein, noch dazu in einem so prachtvollen, wenn ihm die Garderoben und der Bereich, der hinter der Zauberkunst lag, verschlossen blieben. Er hatte sich allein auf die Schwachstellen der Aufführung konzentriert und bemängelte die schlichte Choreografie und die einfallslose Positionierung. »Ach, nun sei nicht so ein Miesepeter, es ist wunderbar!« Ekow auf der Bühne zu sehen, machte es noch schwerer. In der zweiten Hälfte konnte er es nicht mehr ertragen. Er ging zur Bar.

Der Raum war verlassen, bis auf einige Raucher, die sich im Kreis um ihre Chesterfields drängten, und zwei Frauen auf Barhockern. Antoney setzte sich an die Theke und kippte seinen Drink in einem Zug herunter. Es war so ungerecht, dass Ekow da oben stand und er vergessen war. Er war ein Niemand, ein gefallener Stern. Er wollte einen zweiten Drink, konnte sich das aber nicht leisten. Dabei hatte es Zeiten gegeben, da brauchte er sich keinen zu bestellen, da hatten sich die Leute regelrecht überschlagen, ihm einen auszugeben. Und wie ein Echo seiner Gedanken erklang hinter ihm eine markante Stimme.

»Antoney Matheus. Na, dass ich dir hier über den Weg laufe.« Er fuhr herum. Da stand Audrey.

Sie hatten sich seit jener Nacht, seit er ihr Sofa zerstört hatte, nicht mehr gesehen, und am liebsten hätte er sie ignoriert. Aber sie lächelte ihn in ihrer verspielten Art aufrichtig an. Ihr Haar glühte im Schein der Lampen, ihre grün getuschten Wimpern passten zu einem beeindruckenden Smaragd an ihrem Hals. Sie trug ein eng anliegendes, silbernes Kleid und ein betörendes Parfum, so elegant wie immer. »Gott, bist du alt geworden«, sagte sie, so taktlos wie immer. In dem Moment wollte er gehen, aber sie tätschelte sein Bein und zog einen Hocker heran. »Keine Sorge, ich habe es neu aufpolstern lassen – ist so gut wie neu. Wie geht es dir? … Wodka mit Zitrone, bitte«, sagte sie an den Barmann gewandt. »Nimmst du auch noch einen, um der alten Zeiten willen?«

»Ich bin mit meiner Frau hier«, erwiderte er.

»Deiner Frau? Wie reizend – wie geht es ihr?«

Schon ein wenig entspannter erwiderte Antoney, sie sei in die Show vertieft, die, so fand Audrey, weit überschätzt wurde. Er erzählte ihr, dass sie ein zweites Kind erwarteten.

»Deshalb siehst du so elend aus«, sagte sie. »Kinder sind so kräftezehrend. Ich will keine Blagen, die sind mir viel zu unberechenbar – und dann quengeln und zerren sie auch noch ständig an dir herum. Tanzt du eigentlich noch?«

Sie bestellte ihm einen Rum-Cocktail. Audrey war zwar einige Jahre älter als Antoney, aber in diesem Moment beneidete er sie um ihre Freiheit und jugendliche Unbefangenheit. »Ich unterrichte.«

»Wirklich? Irgendwie sehe ich dich nicht als Lehrer. Oh, Darling, du hast doch nicht etwa Notre-Dame verloren?«

»Dieser Dempsey-Scheiß. Er und Priester? Den ganzen Mist hast du doch bloß erfunden.«

»Habe ich nicht. Er wollte wirklich Priester werden.«

»Aber von meiner Kirche hat er nie was gehört.«

»Sei mir nicht böse. Aus Begierde greift man schon mal zu einer List.«

Sie gab ihm einen koketten Knuff. »Wir hatten doch auch ziemlich viel Spaß, oder nicht?«

Antoney zog die Luft durch die Zähne. Es brachte nichts, ihr böse zu sein, und so wechselte er lieber das Thema. Wieder musste er feststellen, wie unterhaltsam sie war, wenn auch ein richtiges Biest.

Carla hatte unterdessen den Zuschauerraum verlassen und den Waschraum aufgesucht. Unter einem harschen Licht überprüfte sie im Spiegel ihr hochgezerrtes Haar, beklagte ihre müden Augen und die aufgedunsene, fettige Haut. Sie konnte es kaum erwarten, wieder ihr altes Selbst zu sehen. Auf dem Weg zurück in den Zuschauerraum steckte sie kurz den Kopf in die Bar, um zu schauen, ob Antoney noch da war. Sie sah ihn von hinten, im Gespräch mit einem Mädchen.

Das Erste, was ihr auffiel, war nicht das flammenfarbene Haar, sondern dass diese Frau eine Frau ohne Mühsal war. Ihre Haltung, ihre Kleidung, die Art, wie sie dasaß, wie sie die Hände bewegte, all das war vollkommen unbeschwert. Ihre cremefarbenen, konturierten Knöchel entwuchsen hochhackigen Schuhen. Es war nichts Verdächtiges zwischen ihnen. Carla neigte ohnehin nicht zur Eifersucht – und Antoney lernte ständig irgendwelche Frauen kennen. Aber als er aufstand, geschah etwas, und das war verräterisch. Die Frau, diese Frau-ohne-Mühsal, sah an Carlas Mann, an seinem Körper auf und ab, voller Besitzerstolz, und an diesem Blick erkannte Carla, dass sie seine Geliebte war. Zum zweiten Mal brach ihr das Herz, aber dieses Mal flossen keine Tränen.

Als Antoney zu seinem Platz zurückkehrte, wurde er nicht zur Kenntnis genommen. Er legte wieder, wie zuvor, eine Hand auf ihren Schoß. Ein Schmerz durchfuhr Carla, im Rücken, tief unten in der Wirbelsäule, es tat weh, wenn sie heftig atmete. Als das Stück vorbei war, als sie in der Lobby darauf wartete, dass er sich von Bekannten verabschiedete, wurde es immer schlimmer. Sie musste schließlich stören und sagte ihm, sie würde nun gerne nach Hause fahren, und ging allein zum Ausgang vor. Im Bus zurück zur Ladbroke Grove schwieg sie, entwand ihm ihre Hand. Er glaubte an einen pränatalen Stimmungsumschwung.

Sie stiegen an ihrer Haltestelle an der Kanalbrücke aus dem Bus, doch anstatt weiter zu ihrer Mutter zu gehen und Denise zu holen, zog Carla den Schlüssel hervor und steckte ihn in das Tor.

»Denise?« Er versuchte es mit einem Scherz über die angebliche Vergesslichkeit von Schwangeren.

»Später«, sagte sie. Sie ging vor ihm den dunklen Pfad hinunter, ihr Kleid blähte sich unter dem Mantel auf.

Als sie im Innern waren, machte sie das Licht an und hängte ordentlich ihren Mantel an den Haken. In der Kajüte stand ein winziger Weihnachtsbaum, der den Raum noch kleiner, aber auch gemütlicher wirken ließ. Seine schimmernden Kugeln kreisten an ihren Bändern mit dem Schaukeln des Boots. Carla sah alles vollkommen klar. Sie war sich ihrer selbst so sicher wie schon lange nicht, und ein Gefühl von Erleichterung ging damit einher. Aber als sie ihn anschaute, in dem Augenblick, als er seinen Mantel auszog und sie ihn anschaute – sie wollte wissen, ob der Lichtstrahl noch da war –, wankte die Klarheit. Sie schien verwirrt.

»Ist alles in Ordnung? Hab ich etwas falsch gemacht?«

»Könntest du bitte deinen Mantel da wegnehmen, damit ich mich setzen kann?«

Er hängte ihn neben ihren, aber auch das war nicht richtig.

»Nicht dahin. Häng ihn woandershin.«

Um einen Streit zu vermeiden, legte er den Mantel über die aufgeschlitzte Djembe nahe der Tür, was sie befriedete. Sie setzte sich trotzdem nicht. Während sich Antoney zur Beruhigung einen Drink einschüttete, blieb sie vor dem Spinnenfenster stehen und schaute hinaus aufs Wasser, mit Denises fliederfarbenem Teddy in der Hand. Er bot ihr einen Tee an.

»Du hast uns kein anderes Heim gefunden«, sagte sie, mehr zu sich selbst. »Du hast uns nicht beschützt.«

»Wie bitte?«

Sie sah ihn an (dort war kein Lichtstrahl) und wiederholte: »Du hast uns nicht beschützt.«

»Vor was beschützt?«

»Mördern. Vergewaltigern und allem Möglichen.«

»Geht es um den Umzug? Ach komm, lassen wir das Thema jetzt.«

»Okay.«

»Warum legst du dich nicht ein bisschen hin, und ich hol Denise?«

»Nein, das mache ich.«

Antoney umklammerte sein Glas mit beiden Händen, als müsste er sich daran wärmen. Die Temperatur im Innern sank, es war noch nie so kalt gewesen. »Das hier ist seltsam, Carla«, sagte er unruhig.

Sie seufzte schwer, was im Rücken schmerzte, sagte aber nichts.

»Ich hab mir vorhin überlegt«, er versuchte, ein unverfängliches Gespräch in Gang zu bringen, »dass ich bei solchen Shows als Choreograf mitmachen könnte – das war wirklich schwach. Wär womöglich leicht verdientes Geld. Vielleicht sollte ich mal mit Ekow sprechen.«

»Wer war das Mädchen, mit dem du gesprochen hast?«

»Welches Mädchen?«

»In der Bar.«

»Der Bar?«

»Ich weiß, dass du sie gefickt hast, also lüg mich nicht an!«

»Was? Hab ich nicht!«

»Heute Abend selbstverständlich nicht. Aber früher.«

Da es Antoney offenbar die Sprache verschlagen hatte, fragte Carla erneut: »Wer ist sie?«

»Wie kommst du denn auf die Idee?«

»Nennst du mir jetzt endlich ihren Namen?«

»Du wirfst mir vor …«

Sie schrie: »Verkauf mich nicht für dumm. Sag mir die Wahrheit!« Danach beugte sie sich vor und stützte sich mit beiden Händen auf dem Sessel ab. Antoneys Finger zitterten, als er sich nachschenkte.

»Und?«, fragte sie.

»Es war nichts.«

»Ihr Name.«

»So war das nicht, ich kann diese Ziege nicht einmal ausstehen.«

»Sag mir ihren verdammten Namen, Antoney, ich hab ein Recht darauf.«

»Gott, sie heißt Callaway, okay?«

»Callaway wie?«

»Audrey. Callaway ist ihr Nachname.«

Carla wirkte erstaunt. »Audrey? Ein komischer Name.«

»Hast du Schmerzen?« Sie klammerte sich an den Sessel und schwankte leicht. »Willst du dich nicht lieber setzen?«

»Ich will mich nicht setzen.«

»Carla, ich schwöre dir«, sagte er, »ich wollte das nicht. Das war ein Fehler.«

»Wie lange hast du mit ihr gefickt?«

»Das ist nicht fair!«

»Egal, trink noch was.«

»Sie hat mich erpresst.«

Carla spie ungläubig aus: »Sie hat dich erpresst? Was soll das heißen, sie hat dich erpresst?« (Beim zweiten Mal lag ein unglaublicher Hohn in ihrer Stimme.)

Und so erzählte er ihr von dem Onkel, der investieren wollte, von der Angst, Oscars Kirche zu verlieren. Carla hörte zu, wurde aber von Sirenen oben auf der Ladbroke Grove kurzzeitig abgelenkt. »Ich konnte nicht mehr klar denken.«

»Also warst du ihre was – ihre Hure?«

»Jetzt ist aber gut!«

»Eine männliche Prostituierte?«

Ihr Gesicht, im Lampenschein, erschreckte ihn mit seiner Strenge. Sie war ihm vollkommen fremd. »Das ist respektlos«, sagte er leise.

»Sag, wie lange hast du als Prostituierte gearbeitet?«

»Auf so etwas gebe ich keine Antwort. Warum versuchst du nicht, mich zu verstehen – du weißt doch, wie wichtig mir meine Arbeit ist.«

»Das war mir immer bewusst, Antoney. Und ich wünschte, ich hätte mich früher schon entsprechend verhalten.«

»Bitte, setz dich doch.«

»Fass mich nicht an. Wie lange?«

»Na gut.« Nun war er an der Reihe, auch er konnte gemein und hartherzig sein. »Warum erzählst du mir nicht ein bisschen von dir und Bluey?«

»Was hat denn Bluey damit zu tun?«

»Zwischen euch beiden war doch was.«

»Bluey ist tot. Er war mein Freund. Du solltest dich schämen.«

»Für mich sah das nicht nach Freundschaft aus.« Aber er wusste, dass er an Boden verlor. Er verstrickte sich nur immer mehr.

»Hast du allen Ernstes vor, einen toten Jungen vorzuschieben, um deine Haut zu retten?«

Darauf wusste er nichts zu sagen. Sie fragte ihn aus, er murmelte Antworten, sie forderte ihn auf, lauter zu sprechen. Als sie ihn fragte, wo er für das Mädchen »gearbeitet« habe, verlor er die Fassung und wurde laut. Sie sah sich um. Er dachte, sie würde nach einem Gegenstand suchen, den sie ihm an den Kopf werfen könnte, und wurde sehr traurig. Dabei stellte sich Carla bloß vor, wie das Zimmer ohne ihn aussehen würde, wenn nur noch sie mit den Kindern dort lebte. Sie sank auf den Sessel. Das Zimmer wurde größer, die Entfernung zwischen ihnen wuchs, dann aber schrumpfte es völlig zusammen. »Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas einmal passiert«, flüsterte Carla. Ein kalter Wind erfasste den Rumpf.

»Baby, es tut mir so leid«, sagte er.

»Ich weiß. Nur eine Frage noch. Hast du ihr gesagt, dass du verheiratet bist?«

»Von Anfang an.«

»Gut.«

Sie lächelte, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht änderte sich nicht. Nichts geschah in ihren Augen, in dem Moment, als sie lächelte.

»Es ist gut, es ist vorbei, du kannst jetzt gehen.« Sie nahm ihren Mantel von der Garderobe und ließ Antoney stehen. »Ich hole Denise ab. Es wird nicht lange dauern. Pack deine Sachen. Ich will dich hier nicht mehr sehen, wenn ich zurückkomme.«

»Wirf mich nicht raus.«

Er schien den Tränen nahe, doch sie tröstete ihn nicht, denn sie waren nicht, was sie waren. »Es ist zu spät. Ich hab dich gewarnt.«

»Aber, wo soll ich denn hin?«

»Geh doch zu Riley oder wohin auch immer – mir egal.« Sie öffnete die Tür.

»Warte. Ich hol sie ab«, sagte er. »Lass mich wenigstens noch eben Denise holen.«

»Nein.«

»Nun nimm doch Vernunft an, Mädchen. Es ist da draußen um die Zeit nicht sicher.«

»Uns passiert schon nichts.«

Er konnte sich nicht länger beherrschen. Er sank zusammen, aus purer Enttäuschung, und flehte um Vergebung. »Hör mir zu. Es hat, es hat nichts bedeutet. Ich liebe dich doch.«

»Nein, jetzt hörst du mir zu.« Sie kam zu ihm zurück, nun war ihr Ausdruck lebhaft, doch es war der blanke Hass. »Du bist ein Egoist, Antoney, ein scheiß Egoist. Du nutzt alle nur aus. Du hast mich ebenso benutzt wie diese Schlampe, wie Bluey und alle anderen auch, damit du auf deinem Teppich rumfliegen konntest und jemanden hast, der dich auffängt, falls es mal schiefgeht. Werd endlich erwachsen. Ich mach das nicht länger mit. Ich lasse nicht zu, dass du mich jemals wieder beleidigst.« Und mit diesen Worten trat sie hinaus aufs Deck.

Toreth bestand darauf, Carla und Denise zum Boot zu begleiten. Sie hatte Carla angeboten, bei ihr zu übernachten, aber Carla beharrte darauf, in ihrem eigenen Bett zu schlafen. In jener Nacht, aus einem Impuls heraus, drehte sie sich auf die Seite, wie es ihr die Wahrsagerin geraten hatte. Weihnachten feierten sie zu dritt. Am Neujahrstag fror der Grand Union Canal zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zu.

Riley mochte sich auf Fotos nicht. Entweder lächelte er seltsam oder schaute zu ernst. Oft blickte er auch von der Kamera weg. Manchmal hatte er Angst, dass allen klar war, worauf er schaute.

Als Rileys Bruder fünfzehn wurde und Riley dreizehn war, hatten ihre Eltern ein Fest im Garten ihres Hauses in Finchley gegeben. Ihre Mutter hatte, weil ihr Jüngster die Angewohnheit hatte, sich von Gesellschaft fernzuhalten, zwei Schwestern aus der Nachbarschaft eingeladen. Sie kamen in Sommerkleidchen mit Schleifen im Rücken und Söckchen, die aus ihren Schuhen hervorschauten. Der Himmel war wolkenlos, ein reines helles Blau. Das ältere Mädchen, eine hübsche Brünette, unterhielt sich ganz ungezwungen mit Jeremy, während sich die Jüngere, ebenfalls Hübsche, mit honigblonden Zöpfen, um ein Gespräch mit Edward mühte. »Du bist nicht so gesellig wie dein Bruder, oder?«, sagte sie und sah neidisch zu ihrer Schwester. Unter dem Blick seiner Mutter lächelte Edward schwach und floh schließlich in sein Kinderzimmer.

Er blieb eine ganze Weile dort und schaute hinunter in den Garten. Er sah, wie seine Mutter mit dem Absatz im Rasen stecken blieb, das fremde, honigblonde Wesen ganz alleine dort stand. Im Gras neben ihr bewegte sich etwas sehr rasch. Weil er nicht erkennen konnte, was es war, schob er die Gardine ein wenig beiseite. Es war ein Tier, wahrscheinlich ein Hund, doch es war nur der Schatten eines Hundes, ein Schatten, der keinen Körper hatte. Es lief im Kreis auf dem Rasen, immer und immer wieder, als würde es seinem eigenen Schwanz nachjagen.

Allmählich verblassten die Menschen im Garten. Die Zeit schritt voran. Riley wurde zu einem jungen Mann, Jeremy verließ das Elternhaus, das Zimmer leerte sich, aber während all dieser Zeit hatte er stets das Gefühl, am Fenster zu stehen und den unmöglichen Schatten zu beobachten, fasziniert und unfähig, seinetwegen den Raum zu verlassen. Wie war er beschaffen? Wie sah aus, was diesen Schatten warf? Diese seltsame Vorstellung verließ ihn nicht, nicht während des Studiums, nicht während der Arbeit. Langsam bekam er das Gefühl, dass die Tür in seinem Rücken verschlossen war.

Antoney traf, samt seinem Wäschebeutel, in den frühen Morgenstunden des Heiligabend bei Riley ein. Er ging tagelang nicht nach draußen, nicht einmal in den Garten. Er trank und rauchte ununterbrochen. Als Alkohol und Zigaretten zur Neige gingen und Riley sich weigerte, Nachschub zu kaufen, zog Antoney in seinem dreckigen Trainingsanzug los und kehrte gleich darauf wieder zurück. Er wollte nicht in den Park. Er wollte nicht fernsehen, nur schlafen – schlafen, trinken, rauchen. »Riley«, sagte er, »ich bin am Ende.«

Selbst in diesem Zustand hatte Riley ihn gerne um sich. Die Außenwelt brach weg, im Innern der Wohnung herrschte die gedämpfte Atmosphäre eines der Welt entrückten Tempels. Regnete es, war es wie eine weit entfernte Musik. Am letzten Tag des Jahres schneite es. Diesmal war Antoney bereit, hinaus in den Garten zu gehen; sie schritten über den Teppich aus Weiß und ließen sich Flocken in den Mund schneien. Zu Neujahr schenkte Riley Antoney einen Band mit Gedichten von W. B. Yeats und las sie ihm bei Kerzenschein im Wohnzimmer vor, wo sie ihm ein Bett gebaut hatten. Für Riley war es eine glückliche und friedvolle Zeit.

Antoney beeindruckte, wie Yeats über die Natur sprach, als eine mystische, uns weit überlegene Kraft, aber auch als etwas sehr Verletzliches. Antoney sagte zu Riley, dass Gott uns womöglich auf die Erde entsandt habe, damit wir litten, damit wir an den Punkt kamen, an dem wir seine Schöpfung zur Kenntnis nahmen und Trost in ihr fanden. Mag sein, sagte Riley, er aber hielt jede institutionalisierte Religion für eine Form der Kontrolle; all das konnten wir doch auch so zur Kenntnis nehmen. Dennoch zog Antoney im Januar an einem klaren Sonntagmorgen seine guten Sachen an und verkündete, dass er in die Kirche gehen wolle. So guter Dinge hatte Riley ihn seit seiner Ankunft noch nicht erlebt, er schien wieder hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Er wolle, so sagte er, sein Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken. Doch als er zwei Stunden später zurückkehrte, war er aufs Neue verzagt. Es hatte ihn an zu Hause erinnert, an die Zeit, als ihn seine Mutter jeden Sonntag in die Kirche geschleift hatte, nachdem sein Vater verschwunden war. Seine Mutter hatte ihm gesagt, Gott, und nicht Mr. Rogers, sei nun sein Vater, also hatte er in den farbigen Glasfenstern, am Altar, an der Decke und am Kreuz nach Mr. Rogers gesucht. Natürlich hatte er ihn nicht gefunden. Er hatte zu seiner Mutter aufgeblickt, die sang und mit den Händen auf den Wangen betete, und da war ihm allmählich aufgegangen, dass Gott ein Weg war, das zu finden, was man suchte, indem man schlicht eine Weile vergaß, dass man es verloren hatte. Deshalb gingen die Leute jeden Sonntag in die Kirche. Es war nichts als Schwindel.

Er blieb mehrere Monate bei Riley, ohne große Anstrengungen zu unternehmen, sich eine eigene Bleibe zu suchen, obwohl er das angeblich vorhatte. Sie fanden in eine harmonische Routine. Riley arbeitete weiterhin als Journalist. Antoney arbeitete wieder Teilzeit auf dem Bau. Sein Körper verlor an Form. Riley fiel auf, dass die Arme erschlafften, ihnen fehlte der Tanz. Obwohl Riley selbst recht prüde war und sich bei jedem Gang ins und aus dem Badezimmer etwas anzog, lief Antoney oft ohne Hemd herum. Wenn Antoney durch den Korridor ging, betrachtete Riley die Berge und Täler auf seinem Rücken; er kannte schließlich jede Faser, jeden müden Muskel, als wäre dies sein Privatgebirge. Als er eines Abends aus dem Theater heimkehrte, überraschte er Antoney in der Badewanne. Er stammelte eine Entschuldigung und stürmte aus dem Zimmer, aber das Bild der geliebten Brust mit ihrem borstigen schwarzen Haar, der starken Waden und der Genitalien, die durch die Wasseroberfläche brachen, ließ sich nicht löschen. Riley fiel es schwer, nicht daran zu denken, wenn er Antoney ansah. Es war, als hätte er den Schatten im Gras gesehen, dessen wahre Form und wahres Wesen sich ihm zum allerersten Mal offenbarten.

Er war froh, dass über Carla nur wenig gesprochen wurde. Als sie von der Europatournee als Ehepaar zurückgekehrt waren, war Riley am Boden zerstört. Er hatte nur mit großer Mühe die Fassung bewahrt, als sie gemeinsam im Westbourne Grove Café auf ihn zugekommen waren, zu einem Mittagessen, zu dem er sich mit Antoney alleine verabredet hatte. Ihre Knöchel hatten sich berührt, der Ausdruck einer verfestigten Intimität, und ihr frauliches Strahlen kam, wie Riley erfahren sollte, von ihrer Schwangerschaft. Er hatte immer gedacht, dass man mit Carlas Wesen schnell fertig wäre, sie für eher oberflächlich gehalten, mit einer gewissen Neigung zu Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit, aber dem größeren Verlangen, sich in die Konformität führen zu lassen. Die Frischvermählten waren auf banale Weise schön und groß. Der Schwur hatte sie sanktioniert, überschrieb jedes andere Wort, ließ sie stumm strahlen und ihn verblassen. Sie waren weniger als zuvor, und doch mehr. Antoney hatte sich die übliche Begrüßung, Rileys Hand herzlich mit beiden Händen zu umschließen oder ihn schwungvoll und freundschaftlich zu umarmen, verkniffen. Nun gaben sie sich die Hand, förmlich, als wären sie Bekannte. Riley verübelte es ihnen beiden, weil sie ihm das Recht auf ein wahres Wiedersehen mit seinem Freund versagten.

Antoney hatte offenbar akzeptiert, dass seine Ehe beendet war. Obwohl er Carla sichtlich vermisste, verlor er darüber kein Wort. Wohl aber erwähnte er im März, dass das Baby in diesem Monat kommen sollte und er so gerne bei der Geburt anwesend wäre. »Glaubst du, sie lässt zu, dass ich ihn sehe?«

»Woher weißt du, dass es ein Junge wird?«, fragte Riley.

»Ich weiß es einfach. Es ist mein Sohn. Glaubst du, ich kann sie sehen? Womöglich ist es ja schon passiert.«

»Das liegt bei dir«, sagte Riley, und ein Grauen ließ sich tief in ihm nieder.

Jedes Mal, wenn Antoney von dem Kind sprach, reagierte Riley derart distanziert; das Thema sorgte für eine stete unterschwellige Spannung. Antoney erwähnte es daraufhin eine Weile nicht mehr, offenbar interessierte es Riley nicht – entweder mochte er Kinder nicht, oder er fand, dass Antoney sich vergebens mühte. Antoney kaufte ein Geschenk für seinen Sohn, einen kleinen hölzernen Spielzeugbus, den er über den Boden rollen konnte. Eines Nachmittags machte er sich damit auf zum Kanal. Toreth saß an Deck, mit dem Baby auf dem Schoß. Es hatte ein winziges braunes Gesichtchen und strampelte mit den Beinchen. Antoney musste laut lachen, mit einem Kloß im Hals. Obwohl er immer noch einen Schlüssel zum Tor hatte und es ihn schmerzlich drängte, den Jungen in die Arme zu nehmen, zu fühlen und zu riechen, brachte er den Mut nicht auf, vorwärtszugehen und sein Geschenk zu überreichen.

Die Diskrepanz zwischen der glücklichen Geburt seines kleinen Jungen und seiner Entfremdung von Carla verstörte ihn. Riley ging auf, dass Antoney es mitnichten akzeptiert hatte. In vielen Nächten blieb er ruhelos. Riley hörte von seinem Schlafzimmer aus, wie Antoney in der Küche rumorte oder sich aber ein Bad einließ. Manchmal stand er auf und setzte sich zu ihm, denn er wusste, wie schwer die Nächte sein konnten, wenn ein Mensch sehr traurig war. In einer solchen Nacht erzählte Antoney Riley von der hässlichen grauen Masse, die er hinter seiner Schulter spürte, ein staubiges, dreckiges, verklumptes Drahtgewirr, das ihm folgte, wohin er auch ging. Und in seinem Kopf sei ein fernes Geräusch, ein Marschieren, als ob seine Gedanken Stiefel trügen. Ungefähr zu der Zeit begann er, Tabletten zu nehmen. Die Pillen besserten seine Stimmung. Riley genoss es, wie stets, dass er der Vertraute war, der einzige Mensch, der Antoneys Persönlichkeit in all ihren Facetten und in vollem Umfang erfasste. Ganz tief in seinem Innern aber war es ihm lieber, wenn Antoney niedergeschlagen war, dann waren sie einander näher.

Eines Morgens begegneten sie Carla bei einem Spaziergang durch ihr Viertel. Sie war mit dem Baby und Denise unterwegs. Bei ihrem Anblick setzte Rileys Herz einen Taktschlag aus. Antoneys Herz ebenfalls. Das Haar perlte ihr über die Schultern. Sie sah sehr gut aus, ihre großen Augen strahlten. Sie lächelte, als sie Antoney sah, aber es war bloß ein freundliches Lächeln und verebbte bald wieder, als wollte sie sich hinter ihrem Ernst verbarrikadieren. Sie sah sehr weiblich aus in ihrer Jeans und einem Oberteil aus Lochstickerei, das, so bemerkte Antoney hinterher, offenbar neu war.

»Geht es dir gut?«, fragte sie ihn.

»Es geht. Du siehst toll aus«, fügte er schüchtern hinzu.

Sie wich seinem Blick aus, ignorierte das Kompliment. Antoney hatte sich einen kleinen Bart wachsen lassen und wusste, dass er müde und ungepflegt wirkte, und ihr fiel es auch auf, als sie ihn rasch von oben bis unten musterte, ehe sie Denise aufforderte, ihrem Vater Hallo zu sagen.

»Hallo, Dad«, sagte Denise. »Lucas hat meine Rosine.«

»Er hat eine Rosine?«

Carla hielt den Kinderwagen sehr fest, als sich Antoney darüber beugte. Sie wechselte einige wenige, gestelzte Worte mit Riley.

»Lucas«, sagte Antoney. »Das ist aber ein schöner Name.« Das Baby sah mit dem erstaunten Blick eines Neugeborenen, mit riesigen Pupillen, fast so groß wie das Weiß seiner Augen, zu ihm auf. Er legte seinen Finger in die kleine, heiße Hand, in die ohne Rosine, und als der Finger gedrückt wurde, meldete sich der Kloß in seinem Hals. Es widerstrebte ihm, dass er fragen musste, wie alt genau das Baby war (fast drei Monate), ob es gut aß und gut schlief.

»Braucht ihr was?«, fragte er. »Was zum Anziehen oder so?«

»Ich komme zurecht. Wir müssen los, wir sind mit Simone verabredet.«

»Na gut. Okay. Nun, vielleicht sehe ich dich irgendwann mal wieder, hier irgendwo.«

Sie lächelte kurz. »Pass auf dich auf.«

»Bye, Daddy«, sagte Denise.

»Warte.« Antoney eilte ihnen hinterher. »Ich hab was für ihn. Ich hab es jetzt nicht bei mir, aber … vielleicht könnte ich ja mal vorbeikommen und es abgeben.«

»Oh«, sagte Carla. »Also, ich weiß nicht. Ich werde jemanden bei Gelegenheit zu Riley schicken, um es abzuholen, okay?«

Er schaute ihnen nach, als sie unter den Linden davongingen, bis er sie nicht mehr sehen konnte.

»Hast du bemerkt, wie sie mich angelächelt hat?«

»Das ist mir nicht aufgefallen«, erwiderte Riley.

Die Rushwood-Sauna an der Fifth Avenue, einer Nebenstraße der Harrow Road, war wahrlich kein Ort für einen heißen Sommerabend, und genau aus diesem Grund gingen Carla und Simone vierzehn Tage später dorthin. Mrs. Earlene Rushwood, die aus St. Lucia stammte, hatte die Sauna 1963 unter dem Eindruck des britischen Winters, der sie viel über Finnland nachdenken ließ, eröffnet. Nach neun Jahren der Schufterei wurde die Sauna unter einem palmengeschmückten Banner eingeweiht. Andere Wintergeplagte strömten aus den nahe gelegenen Avenuen herbei, aus der First, Third, Fourth und von noch weiter her, sie kamen mit Duschhauben, Handtüchern, Bürsten, Kämmen, Zitronen, um die Haut zu reinigen, und einer Vielzahl von Ölen und Cremes. Sie schlugen sich gegenseitig mit ihren Handtüchern, seufzten laut und tauschten den neuesten Klatsch aus, und über allem hing der intensive Geruch nach Zitrone, deren Schalen unter den Bänken der Umkleidekabinen landeten – ein stetes Ärgernis für Mrs. Rushwood, die sie dort jeden Abend aufsammeln musste, obwohl sie auf Schildern mit großen, fetten Buchstaben darum bat, den Abfall in die Eimer zu werfen. Carla und Simone hatten die Stoßzeiten immer vermieden, weil es dann in der Sauna so laut war. Wenn einen schon die Hitze auf die Bank drückt, will man nicht auch noch niedergebrüllt werden.

»Er hat mich gestern Abend angerufen«, sagte Simone. Sie lag auf der obersten Bank, Carla auf der unteren, beide mit Bademützen und im Bikini. Ihnen gegenüber legten sich zwei Frauen auf die Bänke und hörten der Unterhaltung zu, wie man es eben so tut.

»Wer?«

»Antoney.«

Carla verstummte. Gerade noch hatten sie über Simones Fuß gesprochen, darüber, was für eine schreckliche Sache das war. Es hatte Monate gedauert, bis die Verletzung verheilt war.

»Was wollte er denn?«

»Er wollte, dass ich ein gutes Wort für ihn einlege. Der Hund.«

»Das ist ja kindisch, findest du nicht?«

»Allerdings. Wie ein Schuljunge. Er hat sich nicht mal anständig bei mir entschuldigt.«

»Große Güte, ist das heiß«, stöhnte Carla. Simone schüttete trotzdem noch etwas Wasser auf die Kohlen, und der Dampf zischte nach oben. Die ältere Frau auf der Bank gegenüber rieb sich den Bauch mit einer halben Zitrone ab. »Ich finde, du solltest ihm das mit dem Zeh verzeihen«, sagte Carla. »Das gibt nur Falten, wenn man einen alten Groll in sich trägt.«

»Wohl wahr«, sagte die Bauch-Reiberin.

»Ach so«, sagte Simone. »Das klingt ja, als wär ein gutes Wort überhaupt nicht mehr nötig. Trägst du denn keinen Groll in dir, nach allem, was er dir angetan hat? Wenn Ekow sich so etwas mit mir erlaubt hätte, ich hätte ihm dafür die Eier abgeschnitten.«

»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Carla.

»Was ist denn geschehen?«, fragte die ältere Frau.

»Er hat sie betrogen. Mit einer Weißen

»Allmächtiger.«

»Mir wär lieb, du würdest es nicht jedem im Viertel erzählen, Simone.«

»Aber ist das nicht eine Todsünde?«, wandte sich Simone an die ältere Frau.

»Es gibt mehrere Todsünden«, erwiderte sie. »Du sollst nicht stehlen, nicht töten, nicht deine Eltern entehren oder ehebrechen. Aber Jesus, Er sei gesegnet, vergibt alles.«

»Na, ich finde, er verdient, was er bekommen hat.«

»Was hat er denn bekommen?«

»Er ist am Ende. Darf seine Kinder nicht sehen. Und du solltest ihn nach Strich und Faden ausnehmen, Carla.«

»Seit wann gibt es bei Antoney etwas zu holen?«, erwiderte sie. Sie taumelte von der Bank und ging in die Dusche.

»Ich finde, das mit dem Fuß sollten Sie ihm verzeihen«, sagte der Zitronenbauch.

Antoney rief Simone zwei weitere Male an, und schließlich erklärte sie sich damit einverstanden, den Spielzeugbus zu überbringen, wenn er damit zu ihr käme und keinen freundlichen Tee erwarten würde. Sie war entsetzt, wie elend er aussah; er hatte zugenommen. Bevor sie die Tür wieder schloss, entschuldigte er sich für den Fuß.

Riley versuchte, ihn wieder zum Tanzen zu bewegen. Er bot an, ihm ein Studio zu mieten, damit er neue Arbeiten entwickeln konnte. Das Tanzen, so Riley, wäre, was ihm fehlte, nicht Carla. Antoney konnte sich nicht wirklich für die Idee begeistern, und das eine Mal, als er ins Studio ging, machte es ihm überhaupt keinen Spaß. Er wollte sie, das sagte er immer wieder. Er wollte seine Familie. Er sparte, was ging, um sie zu unterstützen, und schickte das Geld mit der Post. Carla sandte es mit einer höflichen Nachricht zurück. Antoney war überzeugt, dass ihre Mutter die Hand im Spiel hatte, doch er gab nicht auf. Sein verzweifeltes Liebeswerben schien ihn irgendwie aufrechtzuerhalten, was Riley sehr ärgerte. Antoney war sogar so kühn, Simone zu drängen, Carla zu einem unverfänglichen Treffen im Westbourne Grove Café zu überreden, am Donnerstag, den 9. August, um 11 Uhr, in drei Wochen. Simone sagte, sie würde die Information weitergeben, dann sei aber auch Schluss, er vergeude nur seine Zeit.

»Sie kommt«, sagte er zu Riley. »Sie hat das Geld behalten, das ich ihr zuletzt geschickt hab.«

»Das muss nichts heißen. Sie ist knapp bei Kasse.«

»Ich brauch nur eine halbe Stunde mit ihr allein, damit ich alles besprechen kann.«

Eine Woche vor dem erhofften Treffen bereitete Riley ein besonderes Abendmahl. Es gab Ente mit Rotkohl, im Wohnzimmer spielte Miles Davis, dort war auch der Tisch gedeckt, mit edlem Besteck und Kerzen.

»Was wird das denn?«, fragte Antoney, als er verschwitzt von der Baustelle heimkam. »Du kochst wieder? Willst du die Branche wechseln?«

»Ich war es leid, in der Küche zu essen.«

Sie tranken eine Flasche Wein, sprachen über die ersten Tage des Midnight Ballet, die erste Tour durch Großbritannien. »Ich frag mich, was Fansa grade wohl macht«, sagte Antoney.

»Angeln?«, sagte Riley.

»Ach ja. Genau. Angeln.« Sie lachten vergnügt. Riley liebte den Schweißgeruch, den Antoney verströmte, das Glitzern in seinen Augen, diese lachenden, korkfarbenen Lippen.

»Ich habe dich gerne hier«, sagte er.

»Aber ich hab deine Gastfreundschaft wirklich überstrapaziert. Donnerstag. Der Donnerstag naht, mein Freund. Du willst doch nicht, dass ich ewig hier rumhäng.«

Ein langes Schweigen legte sich auf die Musik. Riley litt still. Er würde ihn verlieren, und es gab nichts, was er tun konnte. Antoney trank den letzten Rest Wein.

»Mann, ich hab echt alles versaut, was?«

»Du bist ein Mensch. Und du hast mehr erreicht als die meisten – und könntest das auch heute noch.«

»Aber du bist der Einzige, Riley, der an mich glaubt … Gott. Sieh mich doch an, ich darf nicht einmal meinen Jungen sehen. Wenn ich sie nicht zurückerobern kann, weiß ich nicht, was ich tun soll.«

»Wie wäre es mit einem Brandy?« Riley stand auf und ging zum Sideboard.

»Hast du jemals mit einer Frau geschlafen, Riley?«, fragte Antoney. »Nur so aus Neugierde.«

»Ähem …« Beinahe wären ihm die Gläser aus der Hand gefallen. Auf das fremde, ferne Terrain seiner Mädchengeschichten hatten sie sich noch niemals vorgewagt, seine Homosexualität noch niemals offen angesprochen. Jetzt schwitzte Riley.

»Ja, habe ich«, offenbarte er.

»Ach ja? Mit wem?«

Riley kehrte sichtlich beklommen an seinen Platz zurück.

»Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.«

»Nein, ist schon in Ordnung.«

»Also, wie viele?«

»Zwei. Ich hätte mich sogar beinahe dazu hinreißen lassen, eine zu heiraten. Helen.«

»Und was ist passiert?«

»Sie hat mich zurückgewiesen. Gesagt, das sei eine Lüge. Ich habe mich vor sie gekniet, das ganze Theater – aber sie hat mich durchschaut.« Antoney trank seinen Brandy mit einer Pall Mall zwischen den Lippen. All das hatte Riley noch niemandem anvertraut.

»Wenigstens gehörst du nich zu den Ehemännern, die allen was vormachen müssen«, erwiderte Antoney.

»Nein. Glücklicherweise nicht.«

»Hat’s dir denn gefallen?«

»Was?«

»Der Sex.«

»Ich bin nicht dafür gemacht, dass mir das gefällt.«

»Aber hat er? Manche mögen ja beides.«

»Es war – wie soll ich sagen, wärmend. Aber auch seltsam, als wäre das nicht ich.«

»Nichts ist so warm wie eine Frau. Carla ist warm«, schwärmte Antoney. »Und was ist mit Männern?«

»Was?«

»Warst du je mit einem Mann zusammen?«

»Du denn?«

»Ich? Scheiße, nein, da steh ich nicht drauf. Aber du? … Okay, okay, ich bring dich in Verlegenheit, tut mir leid.«

Es gab eine Pause. Riley fuhr sich durch sein dickes, welliges Haar. »Ja«, sagte er.

»Echt?«

Antoney glaubte ihm nicht. Riley äußerte sich nicht weiter, und Antoney drängte ihn nicht. »Ich glaube, ein Kerl würde dir guttun«, sagte er. »Dann wärst du nicht so allein.«

»Findest du denn, dass ich allein bin?«

»Ja, allerdings.«

Unter der Wirkung des Alkohols schlief Antoney einige Stunden lang tief und fest, doch dann weckte ihn ein Alptraum auf. Er wartete auf einer Brücke auf Carla. Als er nach unten ins Wasser schaute, sah er sie, sie schlug um sich und rief nach Lucas. Er sprang ins Wasser und suchte nach ihm, aber das Baby war ertrunken. An den Ufern ringsum erschienen Soldaten mit schweren Stiefeln. Er hörte Carlas Schreie nicht mehr, weil die Stiefel so sehr lärmten. Als er wach wurde, hörte er sie immer noch. Das Geräusch war um ihn herum, in der Dunkelheit. Zitternd stand er auf. Er hatte seit drei Tagen seine Medikamente nicht mehr genommen. Er fühlte sich auf entsetzliche Weise betrunken.

Riley hörte, wie er in der Küche den Wasserhahn aufdrehte, dann im Arbeitszimmer das Licht anschaltete. Er selbst lag seit einer Stunde wach. Die französischen Fenster wurden geöffnet. Es regnete. Die Regenmusik schläferte ihn ein, doch bald wurde er von einem Klopfen aus seinem flachen Dämmer gerissen. »Riley? … Riley, bist du wach?« Er reagierte nicht.

Antoney kam ins Zimmer und stellte sich an sein Bett. Riley war reglos vor Angst. »Bitte, wach auf.«

»Was ist denn?«, fragte er.

»Es geht nicht weg. Es lässt mich nicht los.«

»Was?«

»Das Marschieren.« Er weinte. »Es ist in meinem Kopf. Überall – selbst bei Regen. Ich halt das nicht mehr aus.«

»Hast du die Tabletten genommen?«, fragte Riley und schaltete das Licht ein. Antoney schüttelte den Kopf.

»Aha, verstehe.«

»Wenn ich jetzt eine nehme, kann ich gar nicht mehr schlafen.«

»Ich baue dir ein Bett auf dem Boden. Mach dich nicht verrückt, es wird schon alles gut.«

Antoney half ihm, Decken und Kissen auf dem Teppich am Bettende auszubreiten. Riley hatte das verwirrende Gefühl, dass er wieder in seinem Kinderzimmer stand und der Garten ein Stockwerk tiefer und nicht auf der gleichen Ebene lag. Der Schatten im Gras jagte wie toll seinem eigenen Schwanz nach. Das klare Hellblau des Himmels war von der Gardine verschleiert. Antoney war schreckhaft. Ständig sah er, während sie das Bett machten, zur Tür. Danach legten sie sich hin.

»Liest du mir was vor?«, fragte Antoney.

»Natürlich.«

Er las ihm einige Verse von Yeats vor, dann schaltete er das Licht aus:

Dort find ich etwas Frieden, dort tröpfelt Frieden stille,

Tropft von des Morgens Schleiern ins Gras, da singt die Grille;

Dort wird die Nacht ein Glitzern, der Mittag Purpurschein,

Der Abend ein Geräusch von Hänflingsflügeln sein.

Nun fand Riley keinen Schlaf mehr. Jedes Atmen, jede Bewegung, die vom Fußende herkam, bemerkte er, und dahinter den abklingenden Regen, einen einsam bellenden Hund, den nächtlichen Verkehr auf der Bayswater Road, das ferne Summen der Stadt. Antoney schnarchte leise. Die Luft war vom Regen feucht und schwer. Riley hatte das Gefühl, dass er sehr lange dort lag und zum Fenster sah – es war einen Spalt weit geöffnet, die Vorhänge schloss er nie. Seine Gedanken wurden allmählich bleich und gegenstandslos. Er dachte selten an Helen, nun aber stand sie ihm plötzlich vor Augen, wie damals, unter den Baumkronen des Buttermere-Walds, eine rote Jacke über den schmalen Schultern, der stets erwartungsvolle Blick, vorbei an den braunen Strähnen in ihrem Gesicht. Du bist heute so anhänglich, Edward. Er war berauscht von einem wundervollen ländlichen Frühling. So einen Frühling hatte er noch niemals erlebt, die Tümpel und Lichtungen strahlten unter dem frischen Laub, die kahlen Berge des Lake District lagen im Nebel. Als sie in ihr Hotel zurückkehrten, wurden sie von einer ebenso wundervollen Hochzeitsgesellschaft empfangen, die in den Bankettsaal einzog. Rileys Bruder hatte im Jahr zuvor geheiratet. Sag mir, warum du mich liebst. Im Knien konnte er die Berge und Lichtungen nicht sehen. Weil ich bei dir Ruhe finde, versuchte er es. Stattdessen sah er in ihre Nasenlöcher. Ach, Edward. Sie entwand sich. Du lügst doch. Als sie hinaus in den Korridor lief, kam eine warme Brise ins Zimmer. Es war viel zu warm, er trat die Laken beiseite. Jemand war bei ihm. Er hörte den Atem der anderen, spürte, dass er beobachtet wurde. Riley schlug die Augen auf. Antoney lag neben ihm, zusammengerollt wie ein Fötus.

»Es kommt zurück. Es wird immer lauter. Riley, ich hab solche Angst.«

Riley blieb wie gelähmt auf dem Rücken liegen, aber den Kopf wandte er Antoney zu.

»Beschreib es mir, ganz genau.«

»Soldaten, es sind Tausende, sie kommen von allen Seiten, in Wellen. Tausende Stiefel.«

»Was für Stiefel?«

»Armeestiefel, Schnürschuhe.«

»Versuch, dir das Gegenteil vorzustellen«, sagte Riley.

»Wie meinst du das?«

»Das Gegenteil. Stell dir Ballettschuhe vor.«

Antoney versuchte es, mit geschlossenen Augen. Eine Armee aus leisen, spitzentanzenden Ballerinas.

»Hilft es?«

»Ich glaub schon.«

»Gut.«

Riley sehnte sich danach, ihn in die Arme zu schließen und zu trösten, so wie seine Mutter es früher getan hatte, wenn er sich vor etwas gefürchtet hatte, aber er wagte es nicht. »Du musst dich entspannen«, sagte er. »Morgen wird es dir besser gehen. Wir machen gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang.«

Wieder wurde Antoneys Atem tiefer. Bevor er einschlief, die Ballerinas hatten die Soldaten verdrängt, murmelte er etwas, direkt aus dem Unterbewussten, unbelastet von Absicht und Überlegung.

»Du bist der Einzige.«

Riley kam der Gedanke, dass es womöglich besser wäre, wenn er aufstehen und im Wohnzimmer schlafen würde, um dem Aufruhr zu entfliehen, der in ihm tobte, aber dazu konnte er sich auch nicht überwinden. Es war so schön, das Gewicht dieses Körpers neben dem seinen zu spüren. Er hatte sich so oft gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, so neben ihm im Dunkeln zu liegen. Es stimmte nicht, was er zuvor gesagt hatte. Er war noch niemals mit einem Mann zusammen gewesen. Er hatte jedes Verlangen erstickt und sich davon zu überzeugen versucht, dass dies nicht war, was er wollte. Der Schatten schlich aus dem Garten, er kam langsam auf ihn zu, nun lauerte er über ihm. Je länger Riley auf dem Rücken liegen blieb, umso stärker lastete er, anklagend, auf ihm.

Er drehte sich auf die Seite, in die gleiche Richtung wie Antoney. Seine Bewegungen waren sehr steif, sein Körper ungewohnt schwer. Als er schließlich wieder ruhig dalag, waren seine Hände in dem kleinen Spalt zwischen ihren Körpern gefangen. Seine Knöchel berührten Antoneys Rücken. Der Atem strömte aus seinen Rippen und schwoll in der schläfrigen Hitze des Zimmers an. Antoney gab einen langen, lauten Seufzer von sich, und in Rileys Ohren klang er sinnlich. Er öffnete die Hand auf seinen Rücken, doch sie zog sich zögernd wieder in sich selbst zurück. Bevor er traurig in den Schlaf glitt, flüsterte auch er: »Du bist der Einzige.«

Mitten in der Nacht – eine Minute, eine Stunde später, er hatte kein Zeitgefühl – schlug er die Augen auf. Ihm war eingefallen, dass er etwas noch vor dem Morgen tun wollte, und ohne weiter nachzudenken, nahm er Antoney in seinem träumerischen Zustand in den Arm. Mit einem Mal war er frei. Der Schatten verschwand. Freude durchströmte ihn. Obwohl sich Zweifel sammelten, als ihm allmählich bewusst wurde, was er da tat, hatte er dennoch das Gefühl, dass er eine Schwelle übertreten hatte und es nun kein Zurück gab. Sanft fuhr er mit der Hand über Antoneys Oberarm und staunte, wie weich seine Haut war. Sein Herz raste so sehr, dass er glaubte, es müsse zerspringen. Er kam an die Taille, das weiche Baumwolloberteil wurde zu Antoneys weichem, erschlafftem Fleisch. Rileys Hand ruhte dort und fasste Mut. Antoney seufzte erneut, als Riley es wagte, seinen Bauch zu streicheln, seine Brust. Dies geschah über sehr lange Zeit, die Berührung war so langsam und zart, es gab sie kaum. Du bist einzigartig, ich liebe dich, dachte er. Mit einem Mal bewegte sich Antoney. Sein Atem wurde flacher und schließlich ganz leise, als ob er aufgehört hätte. Es war eine neue, eine reine, eine intensive Stille im Zimmer. Riley spürte, dass Antoney wach war. Er war ebenfalls still. Aber er schob ihn nicht weg. Antoney sprang nicht aus dem Bett, voller Entsetzen und Ekel. Er blieb bei ihm, warm und empfänglich. Und darum berührte Riley ihn weiter.

Während all dessen blieb Antoney reglos. Er tat, als würde er schlafen, als Riley sich unter sein Oberteil vorwagte, an seine Brustwarzen, ihn dort erregte. Selbst als die Hand tiefer wanderte, über das dichter werdende Haar, hielt Antoney sie nicht auf. Riley küsste seinen Rücken, ermutigt, zitternd. Antoney schien ihm sogar zu helfen, als er sich unter dem Bund der Pyjamahose an den heißen Ort in deren Innerem hindurchschob. Er rieb, zunächst sanft, dann fester, vorne über sein Bein, dann glitt die Hand nach innen, bis ihre Kante gegen den Ansatz des sich versteifenden Penis rieb. Riley spürte eine geschwollene Ader und hielt flüchtig inne vor Angst. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger die Ader entlang. Antoney drehte sich leicht, er öffnete sich. Doch als Riley ihn sanft und beinahe ganz in die Hand nahm, zog er rasch ein Bein hoch und sperrte sich. Riley stöhnte. Entsetzen und Schrecken überwältigten ihn. Seine Hand lag vereinsamt auf Antoneys Bein.

Beidseitige Beschämung ließ sich im Zimmer nieder. Die schleichende Dämmerung verriet es, lähmte sie beide. Als Riley endlich den Mut fand, seine Hand wegzuziehen und sich zurück auf den Rücken zu drehen, traf ihn ein brutaler Hass auf sich selbst, der ihn nie wieder verlassen sollte. Nie wieder würde er einen anderen so berühren. Nie wieder in seinem Leben sollte er den Mut dazu aufbringen. Die Frage, wie er Antoney am nächsten Morgen gegenübertreten sollte, machte ihn wahnsinnig, aber seine Nöte waren umsonst, denn am Morgen war Antoney fort. Riley wurde, weit nach zehn, in einem leeren Bett wach. Antoney hatte seinen Wäschebeutel gepackt und das Haus verlassen. Sie sollten sich niemals wiedersehen.

Am Sonntag, den 5. August, gingen Carla und Simone mit den Kindern zur Sommerkirmes von Shepherd’s Bush. Denise freute sich schon seit Tagen darauf und hatte beschlossen, ihr Lieblingsetwas zu tragen, obwohl es dafür eigentlich zu warm war: Carlas alte, rosafarbene Federboa, die hochzuhalten ihre Mutter sie immer wieder ermahnte, weil die Federn über den Boden schleiften und schmutzig wurden. Carla trug einen großen Sonnenhut aus Stroh und einen Faltenrock. Ihre Knöchel waren zurückgekehrt. Ihr Mund zeigte nur ein ganz klein wenig nach unten.

Sie stiegen an der Barlby Road in den Bus und fuhren über die Wood Lane. Simone nahm hin, dass ihre Gespräche in Gegenwart der Kinder umständliche Windungen nahmen – ihre Unterhaltung kreiste um den erstaunlichen Anblick einer riesigen Honigbiene auf einem Werbeplakat und die Tatsache, dass Lucas ständig sein Stoffbuch »Tiere auf dem Bauernhof« aus dem Kinderwagen fallen ließ. Er war ein schlechter Schläfer, später Geher und später Sprecher. Carla hatte es während der Wehen nicht rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft, ihre Mutter hatte die Rolle der Hebamme übernehmen müssen. Im Anschluss hatte Toreth gesagt, als Carla meinte, sie sollte Antoney das mit dem Baby vielleicht doch erzählen: »Es ist am besten für uns alle, wenn wir ihn fernhalten. Ich hab immer gewusst, dass das einer von den Typen ist, die eine Frau im Stich lassen.«

Als sie aus dem Bus stiegen, redete Carla weiter. »Allmählich genieß ich es. Es ist so anders. Und wenn ich Kind wäre, ich fänd es toll, auf einem Boot zu leben, du nicht? Einen Umzug kann ich mir in absehbarer Zeit sowieso nicht leisten.«

»Du solltest dir einen Job in einem dieser schicken Restaurants in der Stadt suchen«, sagte Simone. »Da wird man allein vom Trinkgeld reich.«

»Mami, guck mal, ein Rad! Rosa!«

»Ja, es ist rosa.«

»Das ist mein Rosa.« Denise beanspruchte Rosa ganz für sich, wie auch die Farbe Violett und den Buchstaben D.

»Im Café ist jedenfalls kein Geld zu verdienen«, sagte Carla. »Wie ist denn eigentlich das Vortanzen letzte Woche gelaufen?«

»Das Übliche. Wir rufen Sie an. Und weißt du, was das Schlimmste daran ist, Carla? Dass man nicht von dem, was man liebt, leben kann.«

»Aber das können doch ohnehin nur sehr wenige – Lucas … Ich nehm ihm das Ding gleich weg.«

»Dann gibt es wieder Geschrei.«

»Denise, heb es bitte auf.«

»Und«, fragte Simone neugierig, »gehst du am Donnerstag hin?«

»Ich denke darüber nach«, sagte Carla.

»Ich wusste es. Ich wusste, du würdest weich.«

»Er will doch nur reden, sagst du. Denise, was machst du denn da?«

Vor ihnen lockte der Jahrmarkt. Denise konnte sich nicht beherrschen und trat auf die Straße. »Willst du überfahren werden? Nimm die Hand von Tante Simone, oder wir gehen auf der Stelle nach Hause.« Denise gehorchte. Simone war ein ziemlich strenger großer Mensch, aber allmählich bauten sie ein Verhältnis zueinander auf. Sie führten eine aufregende Unterhaltung über das Riesenrad. »Da oben sind Leute.« »Ja, und die kreischen.« (Simone hatte Höhenangst.) »Ich kann auch kreischen.« Denise führte es vor. »Jetzt du.« »So gut wie du kann ich das nicht«, sagte Simone, worauf Denise sehr stolz war. Sie machte Simone darauf aufmerksam, dass deren rosa Oberteil zu ihrer Boa passte.

Es war drei Uhr nachmittags, die Wiese war voller Menschen. Kinderwagen, die mit Jacken, Sonnenhüten und Tüten beladen waren, hinterließen ihre Spuren im Gras. Jungs spazierten gruppenweise herum und checkten die Frauen ab, Paare stolperten aus dem Riesenrad und dem Kopfüberstand des Dive Bombers. Auf Augenhöhe hing ein Wolkenhimmel aus Zuckerwatte.

Als es ernst wurde, fand Denise das Karussell doch zu beängstigend, aber sie fuhr mit der Achterbahn drei Mal bis ganz oben und sauste hinunter, was Simone nicht fassen konnte. Und dann war da die Geisterbahn. Simone erduldete acht Minuten ersatzweises Muttersein, während Carla ihre Tochter durch die Geisterbahn schleuste. Lucas war nicht zu beruhigen, im Arm nicht und auch nicht im Wagen, bis Carla endlich zurückkam. Teddybären blickten sie mit starren schwarzen Pupillen von schiefen Tombolaregalen aus an. Simone gewann eine Plastikschlange.

Carla wollte so richtig wagemutig sein. Sie wollte sich die Seele aus dem Leib schreien, denn als Mutter muss man genau das manchmal tun. Also ging sie zum Dive Bomber, dessen Kabinen an ihren Gelenken kreisten, während sich das Hauptrad ebenfalls drehte – eine doppelte Drehung, dazu die Höhenangst. Die anderen, die auf dem Rasen warteten, sahen sie nicht, als sie kreischend durch die Luft sauste und ihren Hut verlor. Schwankend, aber glücklich kam sie wieder. Und wollte mehr. »Das ist, als wär man auf Drogen«, lachte sie. »Eine Schande, dass wir nicht zusammen auf so ein Ding gehen können.«

»Ich hab meine Schlange. Das reicht mir völlig«, sagte Simone.

»Du bist so ein Angsthäschen.«

»Mami, kann ich auch eine haben?« Denise wollte Zuckerwatte.

»Na gut, aber die teilen wir uns.«

Lucas bekam sein Fläschchen, Denise ihre Watte. Carla fragte Simone, ob es ihr etwas ausmachen würde, wenn sie auf die Walzerbahn gehen würde. »Na, mach schon.«

»Er ist bestimmt ruhig, er hat ja jetzt seine Milch.«

Wieder eine doppelte Drehung, doch diesmal blieb Carla am Boden. Die Wagen kreiselten und wogten über ein metallenes Auf und Ab. Carla entschied sich für den gelben Wagen mit dem Namen Super Dan. Als sie auf den Start wartete, beschloss sie, dass dies ihre letzte Fahrt würde, denn sie bekam leichte Kopfschmerzen. Simone hielt ihren Hut und Denise an der Hand. Nach den ersten Drehungen zog Denise Simone weg, an den Nachbarstand. Sie hatte eine riesige Sonnenblume aus Plastik entdeckt. Carla teilte ihren Wagen mit drei Fremden, einem Mann und zwei Frauen. Sie saß ganz außen.

Durch den Walzertanz auf den metallischen Schrägen schlängelte sich ein mickriger Kerl, dessen Job es war, die Wagen herumzuwirbeln. Er hatte einen ganz besonderen Dreh, und in seinen Händen lag die Macht, die Wagen mit viel Kraft anzustoßen, sodass die Passagiere gegen die Lederwände gepresst wurden. Er konzentrierte sich immer auf die Wagen mit den hübschen Mädchen darin. Er packte den Rand eines Wagens, spielte damit und ließ ihn als Auftakt zu einer stärkeren, richtigen Drehung einmal kreisen. Carla dachte, dass er ein sehr schwindeliges Leben führen musste, auf seiner ständig sich drehenden Welt. Jedes Mal, wenn er sich näherte, klammerte sie sich fester an die Silberstange, die die Passagiere sicherte (und irgendwie locker schien). Runde um Runde ging es herum. Ihr wurde immer schummeriger. Nun zeigte ihr Mister Dreher, wie schnell er drehen konnte. Carla schrie, es klingelte ihr in den Ohren. Sie trieb weg, weg aus dem Moment, weg von dem Schreien, hin zu dem Klingeln.

Irgendwann drehte Mister Dreher, mit seiner Kippe in der Hand, Super Dan mit solcher Macht, dass Carla ohnmächtig wurde und nach vorne über die Stange fiel. Ihr Sitznachbar versuchte, sie hochzuziehen, er wusste nicht, was geschehen war, aber er hatte Angst, dass sie aus dem Wagen fallen könnte. Ihr Kopf baumelte lose mal nach hier, mal nach da. Der Mann rief dem Dreher zu, er solle anhalten, aber er wurde erst nach mehreren Runden gehört. Erst als Mister Dreher Super Dan noch einmal zu packen bekam, bemerkte er, dass es da eine Ohnmacht gab. Er ließ anhalten. Carla blieb bewusstlos. Ihr Helfer versuchte, sie aus der Ohnmacht zu holen, und sie kam ganz kurz zu sich, dann aber versank sie gleich wieder. Er trug sie auf den Rasen. Als Simone vom Sonnenblumenstand zurückkam, stiegen die Leute gerade aus der Walzerbahn. Das war aber kurz, dachte sie und hielt Ausschau nach Carla. Auf dem Rasen bildete sich eine Menschentraube. Als sie darauf zuging, sah sie Carlas braunen Rock, ihre Beine, ein Schuh fehlte. Sie rannte los und vergaß für einen Moment die Kinder.

Carla kam etwa neun Minuten später wieder zu sich, da hatte schon jemand den Krankenwagen gerufen. Sie hatte das Gefühl, sie käme von ganz weit her. Als Simone sie ansprach, wusste sie erst nicht, wer das war. Sie setzte sich auf, aber eigentlich zog Denise, soweit sie das konnte, sie hoch. Der Jahrmarkt war ein fernes, farbiges Lärmen.

»Carla. Ist alles in Ordnung? Carla!«

Sie zog die Beine an sich, fasste sich an den Hinterkopf. »Wo ist mein Baby?« Ihre Stimme klang fremd und schlaftrunken.

»Im Kinderwagen. Was ist passiert, bist du ohnmächtig geworden? Der Krankenwagen ist unterwegs.«

»Hast du dir wehgetan, Mami?«, fragte Denise.

»Nein, Liebling, alles bestens.« Lucas wimmerte. »Gib ihn mir.«

»Setz dich sofort wieder hin! Du solltest auf den Krankenwagen warten und nicht gleich aufstehen«, sagte Simone.

Carla bekam das nicht mit. »Gott, das war vielleicht – seltsam.«

»Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt.«

Sie stand auf ruckartige, ungelenke Weise auf. Simone konnte sie nicht davon überzeugen zu warten. »Ich hab doch gesagt, alles ist bestens. Er muss aus dem Himmel raus, es ist viel zu heiß.«

»Zieh dir wenigstens deinen Schuh an, Frau. Ich hab diese Walzerbahn nie gemocht – da wird man zu sehr gequetscht. Warte. Du hast was im Haar.«

»Blumen! Blumen!«, sagte Denise. Carla schüttelte Simones Hand ab.

Sie wollte einfach nicht warten, nicht auf den Krankenwagen, nicht auf den Bus. Sie gingen den ganzen Weg zu Fuß zurück, die Wood Lane entlang, die Barlby Road hinauf. Denise hielt sich am Handgelenk ihrer Mutter fest und sah immer wieder zu ihr auf, als wäre sie mit ihr zufrieden. Diesmal war es Carla egal, dass die Boa schmutzig wurde, und auch, dass Denise klagte, weil der Weg so weit war. Sie selbst blieb manchmal ganz plötzlich stehen, löste den Griff vom Kinderwagen, ging jedoch weiter, sobald Simone Anstalten machte, ihn zu schieben. Die Sonne sank langsam tief. Ihre Hitze aber hatte noch Kraft. Als sie sich der Anhöhe der Barlby Road näherten, war es Carla so verdammt heiß, war alles in ihrem Kopf so seltsam zusammengepresst, dass die Beine unter ihr nachgaben und sie von Erschöpfung übermannt zu Boden sank. Es war keine Ohnmacht, aber Simone bestand darauf, den Krankenwagen wieder zu rufen. Er kam zwanzig Minuten später und nahm Carla mit. Sie hatte, während sich das ferne Klingeln wieder in den Ohren meldete, nur Angst, dass Simone die Milch für Lucas nicht auf die richtige Temperatur erwärmen würde.

Toreth erhielt einen Anruf aus dem Krankenhaus. Als sie dort eintraf, hatte Carla schon eine Blutung, eine verspätete Reaktion auf die Gehirnerschütterung durch heftige Beschleunigung. Toreth tilgte manches aus den Schilderungen, die sich Denise künftig anhören musste, in denen Toreth in dem weißlichen Zimmer die Gänseblümchen aus Carlas Haar zupfte: das Schwinden der Farbe aus Carlas Gesicht, das beängstigende Herabsinken des Mundes, die beiden fahlen Mondsicheln dort, wo die geschlossenen Lider nicht über die Augen reichten. Es gelang ihr nicht, all das in Worte zu fassen, was schließlich zu Carlas Ende geführt hatte, und auch nicht, dass der einzige Ort, an dem Toreth weiterleben konnte, die Lücke war, die in das Leben ihrer Enkelkinder gerissen wurde. Toreth hielt sie beide fest in der dunklen Nacht. Simone stand schweigend da, die Arme verschränkt, und schaute durch das neblige Fenster der Silver hinaus auf das Wasser. Denise sah ihre Mutter immer noch auf dem Rasen, mit nur einem Schuh an den Füßen, und fragte Toreth zwei Mal: »Wird sie wieder aufstehen und rumlaufen?«

Später entdeckte der Besitzer der Walzerbahn, dass die Haltestange an Super Dan tatsächlich defekt war, was möglicherweise dazu beigetragen hatte, dass Carlas Kopf während der Ohnmacht so stark hin- und hergebaumelt war. Die Stange wurde repariert. Am Donnerstag wartete Antoney zwei Stunden auf Carla, doch sie kam nicht.

Hinterher, als sie verstanden hatte, dass sie nicht wieder hineinkonnte, schaute Carla zu, wie ihre Mutter die restlichen Gänseblümchen aus ihrem Haar zupfte. Dann ging sie in Richtung Holland Park, zu den Blumenbeeten, und pflückte eine Tulpe für Denise. Sie lernte, dass auf dieser Ebene das Wesen der Zeit ein anderes war, dass Menschen älter oder jünger sein konnten, als sie eigentlich waren. Es war auch möglich, in Sekunden große Distanzen zu überwinden. Sie legte die Tulpe auf das Dach des Boots. Denise saß auf dem Deck, sie war älter als zuvor. Für Lucas hatte Carla nichts, nur einen Kuss, denn sie wusste noch nicht, in welche Richtung er leben wollte. Den Kuss hinterließ sie ebenfalls auf dem Dach. Dann ging sie kurz hinüber zum Hyde Park, sie hatte das Gefühl, dass sie jemanden vergessen hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern, wen. Der Klang einer Glocke lockte sie, sie bewegte sich darauf zu. Als das Läuten aufhörte, war sie auf dem Platz nahe der Champs-Elysées, an dem sie damals mit Bluey gewesen war. Sie trug das metallische Abendkleid, das ihr die Garderobiere geschenkt hatte. Bluey saß auf derselben Bank wie damals, an jenem Abend. Auf ihrer Bank. Als sie den Platz betrat, stand er auf.

Mensch, sagte Carla, als sie sich setzten. Das kam alles ganz schön überraschend.

Ich warte schon ewig auf dich, sagte Bluey.

Die Frau, die in jener Nacht eine Zigarette bei ihm geschnorrt hatte, war auch da. Sie verabschiedete sich bald schon mit einem Nicken, denn ihr Sohn hatte endlich seinen Platz bei seiner einzigen und wahren Liebe gefunden.