10
Alle vierzehn Tage besuchte Denise am Samstagmorgen das Grab ihrer Mutter. Es lag links vom Haupteingang des riesigen Friedhofs, bestand aus einem steinumfassten Beet, mit einem Kreuz aus Kalkstein an dessen Kopf. Denise ging, ihrem Turnus entsprechend, drei Wochen vor dem Karnevalsumzug ans Grab, im August, mit sorgsam ausgewählten Sommerblumen. Diesmal waren es Dahlien und Chrysanthemen. (Denise war nicht der gängigen Meinung, wonach Chrysanthemen als spießig galten.) Sie spülte zunächst die Vasen aus, entfernte mit einem Zweig eine Schnecke von der Grabeinfassung, wechselte die Blumen und reinigte Kreuz und Inschrift. (Toreth hatte darüber bestimmt: Carla Lillian Bruce, 1944 – 1974. Wir vermissen Dich, Gott segne Dich.) Im Anschluss setzte sich Denise auf die Steine und gab sich der Stille hin. Das Gras ringsum wurde viel zu selten gemäht. Die Halme reichten ihr fast bis ans Knie.
»Mir geht es, denke ich, gut«, sagte sie. »Aber um ihn mache ich mir Sorgen.«
Wenn sie ein Problem hatte, kam sie her und ließ es heraus. Wenn ein Baum im Wind rauschte oder die Sonne im richtigen Moment hinter einer Wolke hervorkam, brachte das Klarheit, manchmal sogar eine Lösung. Zwischen ihr und Lucas herrschte eine Pattsituation. Sie hatten seit vier Tagen nicht miteinander gesprochen. Er drückte aus Trotz die Zahnpastatube am selbstsüchtigen Ende aus, und Denise sagte nichts, weil sie den Brief ihrer Großmutter verbrannt und deswegen ein schlechtes Gewissen hatte. Das war doch richtig, oder?, fragte sie ihre Mutter im Geiste. Die Wahrheit würde ihn noch mehr aus dem Gleichgewicht bringen. Aber sie fragte sich trotzdem, wo das enden würde. Er kiffte Tag und Nacht, es machte keinen Unterschied mehr. Dabei musste doch sein ganzes Arbeitslosengeld draufgehen. Manchmal machte er sich nicht einmal mehr die Mühe, nach draußen zu gehen, und wenn sie nach Hause kam, roch die ganze Kajüte danach. Er widerte sie an, wenn er breit war. Sie widerte die Nutzlosigkeit an, die in seinen klebrigen rosa Augen stand, die unzusammenhängenden Worte, die schlaffen Arme. Er ging da einer gefährlichen Hoffnung in die Falle, wenn er jenseits seines Bewusstseins nach etwas suchte, was er andernorts nicht finden konnte, und sie war womöglich dafür verantwortlich, für die Alpträume und das verstörende Krächzen in den frühen Morgenstunden.
Die Sonne und der Wind hatten ihr nichts zu sagen. Denise wünschte sich, sie wäre nicht so alleine damit. Eine alte Wut stieg in ihr auf, sie haderte mit ihrem Schicksal.
Als Kind hatte Denise ihre Wut kanalisiert, indem sie in die Pflanzenwelt eintauchte. Vor Toreths Geschwafel war sie viele Stunden ans Ufer geflohen und hatte ihren Garten gehegt und gepflegt, sie hatte gepflanzt und gesät und mit einer sehnsüchtigen Hoffnung, etwas wachsen zu sehen, auf die Erde geschaut. Das tat sie auch heute noch. Denn könnte sie sehen, wie eine Pflanze wuchs, von alleine aufrecht stand und ihre Blüten öffnete – an der Vorstellung hielt sie nach wie vor fest –, wäre dies eine Versicherung ihrer eigenen Zukunft, ein Zeichen dafür, dass sie eines Tages von aller Last befreit wäre. Aber sie sah es nie. Wie sehr sie es auch herbeiwollte, die Pflanzen reagierten nie, zeigten nicht die kleinste Bewegung. Sie hatte damals gefolgert, dass dieses Wachstum geschah, wenn die Menschen schliefen, und so war sie eines Nachts mitten im Frühling, als Lucas und Toreth im Bett lagen, um halb elf ans Ufer gegangen, in der festen Absicht, falls es sein müsste, dort bis zum Morgengrauen auszuharren.
Den Friedhof im Rücken, brachte sie sich vor einer Reihe Tulpen in Position, ihren Lieblingsblumen. Sie war warm verpackt, unter ihr eine Decke, neben ihr eine Thermoskanne mit Tee, die Ausrüstung griffbereit (Taschenlampe, Lupe, Lineal, Notizbuch und Stift). Sie konzentrierte sich auf eine knospende weiße Tulpe. Es galt, keinen Moment zu versäumen. Wenn sie sich Tee einschenken wollte, musste sie trotzdem weiter hinschauen. Wenn ihr Hals steif wurde, bewegte sie den Kopf nach oben und unten, nach rechts und nach links, die Blume immer im Blick. Irgendwann, nach etwa drei Stunden, dachte sie, sie sähe etwas, eine winzige Bewegung im Stiel, ein Geheimnis, den Hauch einer Ahnung. Die Tulpe richtete sich auf. Denise nahm Maß, aber die Differenz war so gering, dass sie unsicher wurde und die Blume daraufhin weiter beobachtete. Schließlich ging ihr auf, dass sie womöglich gar nicht sehen sollte, wie sich die Tulpe aufrichtete, und deshalb zweifelte sie, ob sie es wirklich gesehen hatte. Vielleicht hatte sie es nur gesehen, weil sie es sehen wollte, so wie Toreth immer sagte, wenn Lucas lächelte, würde Carla lächeln. Bei Morgengrauen befand sie, sie hatte gar nichts gesehen. Wachstum, stellte sie enttäuscht fest, war etwas Unsichtbares.
Später, mit vierzehn, fand sie eine andere Möglichkeit, die Wut zu kanalisieren. Von einem wilden Verlangen nach Unabhängigkeit getrieben, wurde sie eine Minute lang kriminell und klaute einen Einkaufswagen. Dorthinein stellte sie Eimer mit ihren Eigenzüchtungen und schob den Wagen den Uferweg hinauf und um die Friedhofsmauern herum. Schließlich (es war Sonntag) kamen die Trauernden. Sie kauften Tulpen, Hyazinthen, Winterstiefmütterchen. Es war eiskalt, die vielen Stunden dort in der Kälte zu stehen, aber sie fühlte sich emanzipiert, befreit von Toreths Nutzlosigkeit, der Hausarbeit, von Lucas’ wachsender Abhängigkeit. Ihr wurde so kalt, ihr wäre beinahe das Gesicht abgefallen, aber als sie nach Hause kam, hatte sie zwanzig Pfund in der Tasche. In der folgenden Woche verdiente sie mehr. Sollte sich Toreth je aus der Wäscherei zurückziehen (und das würde sie bald), hatte Denise eine Möglichkeit gefunden, wie sie Essen auf den Tisch bringen konnte.
Ihr berufliches Interesse an Flora und Fauna war von da an nicht mehr zu bremsen. Alles, was wuchs, wurde bei seinem lateinischen Namen genannt, so etwa Knoblauch. (»Ich glaub, ich habe zu viel Allium sativum in die Sauce getan.«) Wenn es Lucas nicht gut ging, zwang sie ihn, faulig riechende Mixturen zu trinken. (Als er die Windpocken hatte, flößte sie ihm ein Ringelblumengebräu ein, mit dem man angeblich, und angeblich erfolgreich, die Pest bekämpft hatte.) Sie legte sich auch eine Mentorin zu, per Brieffreundschaft, Harriet, eine pensionierte Schriftsteller-Floristin aus Carlisle. Dies geschah im Rahmen einer Schulaufgabe, bei der sich ihre Klassenkameraden sämtlich für Sportler, Moderatoren oder angesagte Modedesigner entschieden. Sie korrespondierte regelmäßig mit Harriet über das unsichtbare Wachstum, über Pflanzennahrung und die medizinischen Eigenschaften von Rosen und Mimosen. Ihr Briefverkehr nahm einen philosophischen Ton an. Wenn Denise unter der Verantwortung litt, die Hüterin ihres Bruders zu sein, äußerte sie es Harriet gegenüber in einer Sprache, die sie beide verstanden. »Natürlich sollte man während der Wintermonate darauf achten, die Farbe der Büsche zu erhalten, doch man muss ja auch noch so viel harken und schneiden und planen und düngen. Manchmal wünschte ich, der Garten würde sich um sich selbst kümmern.«
Denise ging erst jetzt auf, als ihr Blick den Namen ihrer Mutter streifte, dass Lucas keinen Weg hatte, seine Sorgen zu kanalisieren. Er hatte nichts Festes, keinen Bezugspunkt. Vielleicht wäre er immer an diesen Punkt gelangt, an dem er die Notwendigkeit spürte, nach etwas zu suchen, etwas, woran er sich festhalten konnte. Wäre es ihm jetzt eine Hilfe?, fragte sie sich und ärgerte sich, dass der blaue Luftpostumschlag wieder vor ihrem geistigen Auge erschien. Würde ihn die Wahrheit voranbringen? Wie schlimm könnte es werden? Schlimmer als jetzt schon? Oder als es im nächsten Monat noch würde?
Aber nein. Es war vorbei. Tot, begraben, verbrannt, und dabei würde sie es belassen. Sie erhob sich. Auf ihr lastete das gleiche Gewicht, mit dem sie sich hingesetzt hatte, eine Erschöpfung, die sie niemals verlassen, die sie nach Hause begleiten würde, zu einer weiteren krächzenden Nacht, einer weiteren verdrießlichen Woche.
Bevor sie den Friedhof verließ, prüfte sie immer den Zustand des Grabs, um zu schauen, ob es Dinge gab, um die sie sich beim nächsten Besuch kümmern musste, eine gesprungene Vase oder eingefressener Schmutz. Erst da merkte sie, dass etwas anders war.
Im April hatte Denise in das Beet vor dem Kreuz Orchideenzwiebeln gesetzt. Sie ergänzte die Schnittblumen immer mit richtigen Pflanzen, damit man sah, dass das Leben irgendwie weiterging. Aber die Orchideen waren nicht aus der Erde gekommen. Bei jedem ihrer Besuche hatte sie nach ihnen gesehen, den ganzen Mai, Juni, Juli über – nichts. Eine widerspenstige Blume bekümmerte sie. Dafür gab sie sich die Schuld, irgendetwas hatte sie falsch gemacht. Dabei hatte Denise sie gegossen, gehütet, massiert, mit ihnen gesprochen, ohne Erfolg. Anfang August hatte sie die Orchideen aufgegeben, es jedoch auch nicht fertiggebracht, sie auszugraben und eine andere Blume zu setzen.
Jetzt aber sah sie auf das Beet und erblickte drei selbstbewusste, dunkelviolette Orchideen. Es verblüffte sie, dass sie die Blumen nicht gleich bei ihrer Ankunft bemerkt hatte – so, als hätten sie nicht bemerkt werden wollen. Ihr seid ja doch gewachsen, dachte sie. Von ganz alleine seid ihr gewachsen. Sie hatten ihr etwas zu sagen. Sie hatten auf den richtigen Moment gewartet. Denise hockte sich ins Gras und legte ihre Tasche ehrfürchtig nieder. Sie hielt das Gesicht nahe genug an die Blumen, um ihren Geruch wahrzunehmen, und lauschte.
»Ich sag es ständig, kopiert nicht immer die Amis. Nutzt doch, was ihr in den Genen habt, Mann. Ich bin diese halbgaren Tunes echt leid. Ich bin diese Bequemlichkeit leid. Ich mach das nicht mehr mit, ernsthaft. Guckt euch meinen Roots Manuva an. Der macht sein eigenes Ding, hat seinen eigenen Stil, und zwar deshalb, weil er bei sich selbst sucht, in seinem eigenen Laden, klar, und sagt, wie es ist – Lucas, jetzt klammer nich und gib den Pot schon weiter, Mann – aber versteht ihr, was ich meine? Funky DL is nicht aus New York, was soll dann der falsche Akzent?«
»Genau, wie Westwood.«
»Genau, Crow. Er ist ein Arsch – aber Westwood ist cool, der hat es drauf.«
Der Sitzsack war schwammig und flüsterte. Er enthielt eine Unmenge schwammiger Kügelchen. Wie viele Kügelchen waren in so einem Sack? Hatten die Kugeln Gedanken? Unterhielten sie sich flüsternd darüber, wie es da drinnen so war? Lucas ließ den Kopf in das große schwammige Etwas auf Jakes Boden sinken. Jakes Zimmer war ganz der Förderung von Musik gewidmet, zwei sperrige Mischpulte standen an der Tür, an einer Wand reihte sich die bedrohte Spezies Vinyl auf. Jake hielt die Tatsache, dass sein Studio (sein richtiger Job) nur wenige Häuser von dem Ort entfernt lag, an dem Bob Marley »Exodus« aufgenommen hatte, für mystische Vorhersehung. Es war Dienstagabend. Roots Manuva kam aus den Boxen. Es roch nach Toast. Wieso roch es nach Toast? Ich will das Leben eines überflüssigen Menschen leben, hatte Vaslav einst gesagt.
»Ich will den heimischen Sound, Leute, den heimischen Sound.« Jake war aufgestanden.
»Aber Biggie, der is cool. Pete Rock. Scarface!« (Wie hieß der Typ noch mal, der da grade sprach? Nigel? Deshalb roch es nach Toast. Der Typ machte Toast.)
»Hör zu«, sagte Jake. »Das Einzige, was uns die Yanks voraus haben, sind Geschichte und Idole.« Weiter ging’s. »Dabei sind wir, wir sind die Geschichte, kapiert? Wir sind das Schwarz und Weiß von morgen. Kannst du ruhig aufschreiben, wenn du willst, ich bin großzügig mit meinen Lyrics. Luke, Mann, her mit dem Pot.«
»Bro, was soll’s sein? Marmite oder Marmelade?« Nigel hatte ein entenartig hängendes Kinn und war der kleinste Typ, den Lucas jemals gesehen hatte. »Gib dem Kerl bloß kein Marmite«, sagte Jake. »Erwähn es nicht mal. Luke, nein, sag es nicht.« (Die übliche Ansage zum Thema Marmite lautete: Das salzige, schwarze Zeug da soll Sirup sein? Sirup ist süß, außerdem ist das eh was für blöde Kids, und außerdem fühl ich mich davon irgendwie leer, als ob man bei ner Erkältung auf Grütze rumkaut.)
»Was ist denn mit Marmite?«, fragte MC Crow, der in seinem Trainingsanzug auf dem Bett hockte und einen neuen Joint drehte, auf einem Plattencover – wie hatte Touch so richtig in seiner Hymne auf das gute alte Vinyl geschrieben? »Versucht mal, auf einer CD-Hülle einen Joint zu bauen.« Es gab Skunk, und das mochte Lucas nicht wirklich, denn bei den wenigen Malen, als er davon etwas geraucht hatte, war er regelrecht paranoid geworden, doch es gab nichts anderes, also dann, scheiß drauf! Formen, Gedanken, Kollisionen. War sein rechter Fuß etwa größer als der linke? Bewegten sich die Kügelchen in dem Sitzsack von selbst? War Riley zu Hause? »Oh ja, Marmelade«, sagte er.
Am Vortag hatte Denise das fünftägige Schweigen beendet. Sie hatte mit ihm gesprochen, kurz vor ihrem Aufbruch zur Arbeit, was üblicherweise gegen fünf Uhr morgens geschah, also hatte er es vielleicht nur geträumt. »Lucas«, hatte sie gesagt, und als er die Augen öffnete, hatte sie ihr Gesicht über seines gebeugt, »Lucas, frag Riley, ob er weiß, was in Jamaika passiert ist.« Dann war sie fort, bevor er noch etwas fragen, bevor er auch nur grunzen konnte. Was hatte sie damit gemeint? Woher wusste sie, was Riley wusste, was nicht? Machten die beiden gemeinsame Sache? Sprachen sie hinter seinem Rücken darüber? Es hatte keinen Sinn, Denise danach zu fragen. Sie würde gleich wieder zuschnappen, wie ein Essensaufzug, der losfuhr.
Er war am nächsten Tag mit Riley verabredet. Er hatte schon den ganzen Tag und den Tag davor darauf gewartet, ihn endlich zu fragen – Riley, spießig wie er war, mochte es nicht, wenn er unangekündigt bei ihm erschien, und der Mann hatte nicht einmal Telefon. Konnte er sich nicht wenigstens ein Telefon anschaffen, so wie jeder normale Mensch? »Frag ihn, was in Jamaika passiert ist.« – Was verdammt war in Jamaika passiert? Etwas stand in den Briefen, das wusste er. In den Briefen aus der grünen Lederschachtel, die so passenderweise verschwunden war. Riley hatte Lucas noch immer keinen einzigen Brief lesen lassen, und mittlerweile wurde er wahnsinnig vor Frust. Er würde gleich morgen früh hingehen und die Briefe verlangen, das war sein gutes Recht, ihm stand die ganze Geschichte zu. Er hatte genug von dem ständigen »Warten wir’s ab« und »Wenn der richtige Zeitpunkt kommt«. Jetzt war der Zeitpunkt, »Jetzt!«
»Was jetzt?«, fragte Jake.
»Was?«
»Du hast grade ›jetzt‹ gesagt.«
»Nichts, Mann, tut mir leid.«
Jake warf ihm einen komischen Blick zu. Zum Toast gab es Smarties und ein Gespräch über Traumfrauen. Für Nigel war es Hinda Hicks, die neue R&B-Braut. Crow sagte, Mica Paris. »Nicht dein Ernst«, sagte Jake. »Die ist doch ätzend.« »Die ist ein Vollweib«, sagte Crow und leckte das Blättchen an. »Was man von Hinda nicht sagen kann.« »Lauryn Hill«, warf Lucas leise ein, denn er hatte das Gefühl, er sollte sich beteiligen, aber die Adern in seiner Hand machten ihm Sorgen. Er spürte, wie sie pulsierten, was es schwierig machte, seinen Toast zu essen. »Oh ja, da stimm ich zu«, sagte Jake und legte A Tribe Called Quest auf. Sie begeisterten sich für die Eingangskomposition von The Low End Theory. Sie diskutierten die Zukunft von Snoop, die Vorzüge der orangefarbenen Smarties. Lucas verlor sich in der Heliumstimme von Q-Tip.
Als das Dope wieder zu Lucas kam, als er den Joint wieder anzünden wollte, war er vollkommen mit seinen Händen beschäftigt, übersah daher, dass der Filter abgefallen war, und zündete sich seine Nase an. Unter dem brüllenden Gelächter der anderen ging er zum Waschbecken, um sich die Nase zu kühlen. »Genau deshalb rauch ich das nicht«, sagte Nigel. »Der Onkel meiner Ex hat wegen ’nem Joint sein Haus abgefackelt, und außerdem wird man davon debil.«
»Ich bin nich debil«, sagte Crow, »ich bin noch voll dabei.«
»Das sagst du nich mehr, wenn’s dir erst mal dein Gedächtnis weggefressen hat. Genau so kriegt dich doch das System. Die lassen doch zu, dass du dich mit dem Gras selbst fertigmachst. Skunk ist echt übel.«
Jake sagte: »Das System macht bitte was? Ich hasse es, wenn Leute über das blöde System reden, als wärn wir Roboter, die in ’ner Maschine leben, als wärn wir nicht selbst für uns verantwortlich. Als hätten wir kein Hirn, Mann. Wir leben in einer Gesellschaft, klar, und die Gesellschaft hat eine Regierung, und die kontrolliert …«
»Genau. Das System.«
»… die kontrolliert die Infrastruktur, den Apparat, in dem wir uns bewegen, okay? Ich treff meine eigenen Entscheidungen, innerhalb von Parametern. Das will ich sagen.« Jake ging monologisierend im Zimmer auf und ab. »Ich hab die Kontrolle, nicht die. Tony Blair hat mir nie gesagt, dass ich was rauchen soll. Oder, Luke?« Aber als Jake sah, wie sich Lucas einen feuchten Lappen an die Nase hielt, brach er wieder in Gelächter aus. »Ich kann dich mit dem Ding an deinem Rüssel nicht ernst nehmen. Du hast dich selbst angezündet, Mann, wie kann denn so was passiern?«
Die anderen lachten auch; Lucas wurde von Feindseligkeit ihnen allen gegenüber ergriffen. Sie waren so pubertär. Er war es leid, die immer gleichen Visagen zu sehen, von Leuten, die Spaß daran hatten, sich gegenseitig zum Narren zu machen. »Wenn du das Teil ordentlich gedreht hättest, wär’s auch nicht auseinandergefallen, oder?«, sagte er zu Crow. »Du redest viel zu viel Scheiß, Homeboy.«
»Wen nennst du hier Homeboy?«
»Easy«, sagte Jake. »Wie bist denn du heut Abend drauf, Mann. Das kommt von dem ganzen Nijitsky-Mist, den du liest, das macht dich echt kirre.«
»Nijitksy wer?«, fragte Nigel.
»Nijinsky.«
»Du, lass mal, fang besser nich damit an.« Jake warf Lucas einen diskreten Blick zu. »Sagen wir einfach, er hat seine Nase ein bisschen viel in ein Buch gesteckt – hey, der Kalauer musste jetzt sein.« Crow kicherte.
»Meine Schwester ist auch so drauf«, sagte Nigel. »Die liest diese New-Age-Tussi Iyanla Vanzant, als wär’s die Bibel, Mann.«
»Nein! Meine Mum auch! Die zitiert das auch ständig«, sagte Crow.
»Ich sag’s dir.«
Ich könnte ja jetzt hingehen, dachte Lucas. Ich könnte an seine Tür klopfen und ihn zur Rede stellen.
»Also, einmal«, sagte Crow, »ist mein Alter so sauer geworden, weil sie ständig dieses spirituelle Gelaber von sich gibt, da hat er all ihre Iyanlas in den Müll geworfen. Sie hat ihm deshalb eine gescheuert.«
»Echt?«
»Meine Mum würd sich so was nicht bieten lassen.«
Er war so breit, sein Hals war so heiß. Die Kügelchen in seinem Sitzsack zischten. Sie verdunsteten unter ihm, der Boden löste sich auf, das Blut raste durch seine Hände. Einen kurzen Moment lang wurde seine Aufmerksamkeit wieder in das Gespräch gezogen. Eine Stimme, die nicht wie seine klang, fragte: »Und, hat er zurückgeschlagen?«
Crow runzelte die Stirn. Es wurde still. »Was willsten damit sagen? Mein Alter schlägt doch nich seine Frau.«
Für den Bruchteil einer Sekunde klang Crow genau wie Antoney. Es war, als wäre er plötzlich da, in diesem Zimmer. Lucas nahm einen kräftigen Zug. Alle schauten ihn an. »Das Zeug steigt mir in den Kopf, Bro«, sagte er. Sag nicht immer Bro, hörte er Denise vom Wasser her. Das passt nicht zu dir.
Er sah durch die Schwaden hindurch zu Jake, der am Fenster lehnte. Hinter ihm stand ein Schatten im Licht der Straßenlaterne, eine breitschultrige Gestalt, langer Hals, Filzhut, er stand da und schaute ihn an. Er trug Vaslavs Mantel.
»Luke. Alles cool?«, fragte Jake.
»Ich muss los.«
Draußen, auf der Straße, wurde es besser, wenn auch nur kurz. Die Passage, die zur All Saints Road führte, verängstigte ihn mit ihrem finsteren Grün. Er eilte voran und stolperte über eine zerbrochene Flasche. Er wollte gar nicht zu Riley, doch als er auf die Portobello Road kam, war ihm der Gedanke, nach Hause zu gehen, unerträglich. Seine Füße wandten sich von alleine nach links. Er ging an der Brasserie und dem Printshop vorbei, bog nach rechts auf die Elgin Road in Richtung Grenzhügel. An jeder Gestalt, die an ihm vorüberging, entdeckte er etwas von Antoney. Ein Frauenrock war aus dem gleichen Material wie sein langer Ledermantel; er stand inmitten der Nachtschwärmer, die vor den Bars ausharrten; die Tauben auf den Balkonen und in den Bäumen durchbohrten Lucas mit denselben wachsamen Augen. An der Kuppe des Hügels flog ein Taubenschwarm jählings aus einer gewaltigen Platane auf, Lucas stolperte vor Schreck auf die Straße, vor den nahenden 52er, der ihn nur knapp verfehlte. Als er Rileys Haus in der ruhigen, gewundenen Straße in Holland Park erreichte, war er vollkommen außer Atem. In ihm brodelte eine angstvolle Erwartung, dass das, was nun geschehen würde, ihm den Rest geben und er sich davon nie mehr erholen würde, aber zurück konnte er auch nicht. Es war die gleiche Angst, die er vor der Kassette verspürt hatte, nur um ein Vielfaches schlimmer.
Er stand vor dem Tor und sah auf das Haus. Das Flurlicht brannte, die Vorhänge waren geschlossen, ein Schein drang aus dem Wohnzimmer. Eine Viertelstunde lang hielt ihn seine Angst dort fest. Der Ärger über die Vorstellung, dass Denise und Riley gemeinsame Sache machten, trieb ihn schließlich voran. Der überwucherte Pfad war wilder als bei seinem ersten Besuch. Lucas hatte sich immer darüber gewundert, dass der Vorgarten im Vergleich zum Hauptgarten so vernachlässigt war, als ob er möglichst abweisend wirken sollte. Keine Reaktion auf sein Klopfen. Er klopfte erneut, beharrlicher. Als noch immer keine Antwort kam, klopfte er ans Fenster. »Lassen Sie mich rein! Riley, machen Sie die Tür auf!« Er ging über den Pfad zur Einfahrt an der Seite des Hauses.
Küchen- wie auch Badezimmerfenster waren verschlossen, er konnte also nicht hineinklettern. Am Ende der Einfahrt befanden sich zwei breite hölzerne Türen, die in Rileys Garten und den seines Nachbarn führten. Rileys Tür war von innen verriegelt und von oben mit weiteren Balken verbarrikadiert, aber die andere Tür, die ebenfalls verschlossen war, hatte oben ein Stück Maschendraht, an dem man sich festhalten könnte, wenn man an der Regenrinne über die Tür klettern würde. Das versuchte Lucas, rutschte jedoch beim ersten Versuch ab und verfing sich mit seiner Hose. Er hatte gehofft, auf diese Weise direkt in Rileys Garten zu kommen, war aber gezwungen, den Umweg über das Nachbargrundstück zu nehmen, eine Landschaft aus sorgsam arrangierten Büschen, Nachtlichtern und einer Kinderhütte am hinteren Ende. Vor dem Zaun stand eine Tonne, in der sich abgemähtes Gras häufte. Von den Nachtlichtern gepeinigt stahl sich Lucas rasch am Zaun entlang und kletterte über die Tonne hinüber in Rileys Garten, warf einen panischen Blick nach hinten auf die Fenster des anderen Hauses. Nichts wies darauf hin, dass ihn jemand bemerkt hatte. Rileys Rosenbusch leuchtete im Mondlicht. Eine der Türen zum Arbeitszimmer war angelehnt, ein Musselinvorhang hatte sich in dem Spalt verfangen. Das Zimmer selbst lag im Dunkeln. Er ging langsam darauf zu.
Die Briefe, so vermutete er, waren wohl in dem stets verschlossenen Zimmer, das rechts vom Arbeitszimmer lag, aus dem er nun kam. Um ganz sicherzugehen, dass Riley nicht doch zu Hause war, spähte Lucas noch rasch ins Wohnzimmer, dann ging er zu der verbotenen Tür. Zu seiner Überraschung war sie unverschlossen. Das Gefühl, dass Antoney anwesend, in seiner Nähe war, verstärkte sich noch, als er hineinging. Es war ein kleines Zimmer, ein unbezogenes Doppelbett, ein Schrank und Nachttisch standen darin. In dem fahlen Licht, das vom Korridor aus hereinfiel, war nichts sonst zu sehen, und so wagte es Lucas, das Licht anzuschalten, eine nackte Glühbirne.
Der Raum passte in keiner Weise zu der übrigen Wohnung. Er war vollkommen karg, nirgendwo eine grüne Schachtel, im Schrank hingen nur Bügel und ein einsamer Salz-und-Pfeffer-Mantel, auch unter dem Bett war nichts. Lucas ging zurück ins Wohnzimmer, um hemmungslos in den staubigen Schränken zu suchen, unter dem Sofa, hinter dem Fernseher, dann in den Küchenschränken, im Badezimmer. Wenn sie nicht im Arbeitszimmer und auch keinem der anderen Zimmer war, wo war sie dann? Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf Riley zu warten. Unruhig setzte er sich auf seinen Stammplatz, auf das eingesunkene Sofa; das Mondlicht warf seltsame Schatten durch die wehenden Vorhänge hindurch.
Lucas kannte inzwischen jeden Winkel dieses Zimmers, jedes Buch und jede angeschlagene Porzellanballerina auf den überladenen Borden, jedes Objekt und jedes Möbelstück, jede seltsame Paarung, die viktorianische Zeitungsablage, der brandneue Stuhl. Und er hatte niemals vergessen, was ihm Riley über die französischen Fenster gesagt hatte, dass dies der Platz sei, der die stärksten Erinnerungen an Antoney barg, der Platz, an dem er sich angelehnt hatte, von den wehenden Vorhängen umspielt. Lucas fand das alles sehr traurig, als er im Dunkeln wartete. Was bewog einen Menschen dazu, so lange an einem anderen festzuhalten? So wollte er nicht enden, alleine, in der Gruft eines toten Mannes, wie ein Fossil.
Der Schreibtisch war unordentlich, das kannte Lucas so nicht – sonst war er immer sauber und aufgeräumt. Zu beiden Seiten der Schreibmaschine lagen Papiere, lose Bögen, ein offenes Notizbuch, einige Akten lagen auf dem Boden neben dem Stuhl. In der Schreibmaschine steckte ein Blatt. Riley musste das Haus mitten während der Arbeit verlassen und vorgehabt haben, nach seiner Rückkehr fortzufahren. Angeblich schritt das Buch in letzter Zeit gut voran und stand kurz vor dem Ende. Der letzte Abschnitt, den Lucas lesen durfte, handelte von Antoneys Arbeit nach der Europatournee, und Riley hatte dabei auf ein Verhältnis mit einem obskuren Society Girl angespielt. Lucas kam in diesem Moment in den Sinn, dass die Antworten, die er suchte, womöglich schon geschrieben waren. Er stand auf, ging zum Schreibtisch und spähte auf das Dokument in der Schreibmaschine. Er konnte nichts entziffern. Er holte tief Luft und schaltete die Schreibtischlampe ein. Es waren nur wenige Zeilen. Sie waren mit »Der Sprung« übertitelt.
Er war gerade dreißig, das Midnight Ballet hatte sich lange schon aufgelöst, da war auch seine eigene Karriere an ihr Ende gelangt. Matheus hatte immer gehofft, solange er körperlich dazu in der Lage wäre, auf der Bühne zu stehen und sich danach auf die Choreografie zu konzentrieren. Er hatte davon geträumt, mit wichtigen Compagnien und Theatern zusammenzuarbeiten und anthropologische Expeditionen zu unternehmen, um seine Kenntnisse zu erweitern. Wir hätten womöglich erlebt, wie er mit weißem Haar und
Lucas setzte sich auf Rileys Stuhl und blätterte durch die anderen Seiten. Auf den Bögen neben der Schreibmaschine standen ähnliche Fassungen, aber jedes Mal endete der Einstieg mitten im Satz und wusste nichts Wesentliches zu berichten. Lucas schaute in das Notizbuch – Rileys Handschrift war klein und aufrecht –, es enthielt Listen und Informationen, stilistische Anweisungen eines Autors an sich selbst. Vielleicht gab es einen zweiten Notizblock? Eine Liste lautete »Lehrer, Carla, Witwer, Beaumont«. Was war Beaumont? Unter den Seiten der Eingangspassage stieß Lucas dann auf handgeschriebene, kleinere Blätter mit düsterer Schattierung, sie schienen vergilbt und aus einem Schulheft herausgerissen. Das war nicht Rileys Schrift. Die Buchstaben waren breit und geneigt und von unterschiedlicher Größe. Lucas nahm die Blätter scheu in die Hand und hielt sie eine Weile lang fest, er wagte kaum einen Blick darauf. Einmal sah er nach hinten. Schmetterlinge kreisten in seinem Bauch. Der Brief begann »Meinem lieben Riley«. Er stammte vom Oktober 1982. Mitten während der Lektüre hörte Lucas ein Geräusch und sprang vor Entsetzen fast aus dem Stuhl. Rileys grau-weiße Katze hatte sich aus dem Garten hereingeschlichen. Sie saß auf dem Teppich und beobachtete ihn.
Ich war sehr glücklich, dass du meinen Brief beantwortet hast, denn du sollst wissen, du bist mein Freund. Ich beruhige mich, wenn ich deine Stimme hörte. Ich weiß wieder, wer ich in meinem Innern bin und dass ich nicht tot bin. Ich rieche es um mich herum. Aber ich weiß, ich lebe. Ich bin lebendig. Ich bin kein Wahnsinniger, und ich möchte nicht, dass du wie meine Mutter glaubst, dass ich mich selbst nicht kenne. Sie schämt sich für mich, aber ich bin nicht böse. Ich bin nicht der Teufel. Ich erschaffe einen neuen Tanz und probe im Garten. Die anderen beobachten mich. Sie glauben, das ist eine Aufführung, ich springe für sie. Aber ich bin nicht wie sie. Wir sind nicht dasselbe. Ich sage kein Wort zu ihnen. Ich habe dem Arzt gesagt, ich bin ich. Meine Seele flüstert zu mir und sagt, was ich bin. Deshalb will ich nicht sprechen. Shango ist in mir und sagt, was ich bin. Er sagt, dass ich das Kreuz für meine Frau tragen soll, damit sie weiß, dass ich sie liebe. Ich liebe meine Kinder. Ich liebe meinen Sohn. Riley, wenn du meinen Sohn siehst, sag ihm, dass ich ihn liebe und dass ich ihn sehen will. Ich bin Antoney. Ich bin nicht Midnight, so wie mich die anderen nennen. Ich bin Antoney, und eines Tages werde ich von ihnen fortgehen, und das Kreuz werde ich tragen. Das ist nicht mein Heim, denn ich werde es hinaus durch das Tor tragen. Ich bin nicht Tod. Ich bin Leben. Ich bin über den Sternen. Ich weiß, dass du verstehst, was ich dir schreibe, weil du mir immer zuhörst, du immer weißt, was ich sagen will. Ich fühle, wie du mir zuhörst. Ich möchte, dass du mir in dem grünen Umschlag schreibst.
Dein Freund,
Antoney
Bei den Verweisen auf ihn und Denise hatte sich ein Film über Lucas’ Augen gelegt. Er konnte das Wesen dieses Briefes, diese stumpfen Sätze, diese eigenartige Sprache nicht mit seinem Vater in Einklang bringen. Das, was er daraus schließen musste, schuf Verwirrung und kaltes Entsetzen. Nun, wo sein Hunger nach Information gestillt war, hob er mechanisch die Ordner vom Boden auf, wie jemand, der in einem Vorhaben gefangen ist, dessen Ziel er längst nicht mehr erreichen will. Rileys Katze kam herüber und starrte ihn an, ein nutzloser Wächter. Er fand Zeitungsartikel und Fotografien, die er zum Teil noch niemals gesehen hatte. Zwei weitere Briefe, die noch in ihren Umschlägen steckten, waren dem vorherigen ähnlich, einer davon weniger klar. In einer Rubrik, die mit »Beaumont« überschrieben war, fanden sich kühle Antworten auf alle Fragen. Beaumont war eine psychiatrische Klinik in Jamaika. Es gab einen an Riley adressierten Brief mit dem Stempel des Krankenhauses. Er enthielt in strengster Vertraulichkeit die Dokumente, die Riley für seine Recherche erbeten hatte. Angehängt war ein ärztliches Bulletin, das über sechs Monate hinweg im Jahr 1983 Antoneys Fortschritte verzeichnete, seine Medikation, Lithium, Carbamazepin, was er aß, wann er nicht aß, wie er sich benahm, bei welchen Gelegenheiten er sprach. Die Diagnose lautete manisch-depressiv. Antoney glaubte, er hätte ein mannshohes Holzkreuz gebaut, das er umhertrug und eines Tages in einen Creek gestoßen hatte. Auf die Frage, warum er glaube, dies getan zu haben, sagte er: »Es gefiel mir nicht.« Der letzte Eintrag lautete: »Entlassen«. Es fand sich kein Hinweis darauf, was im Anschluss mit ihm geschehen war.
»Warum hast du nicht gewartet?«
Riley stand in der Tür, in der Hand eine Einkaufstüte aus dem Kiosk. Lucas war viel zu verwirrt, um Schuld oder Angst zu empfinden. Der alte Mann wirkte ungepflegt, so aschfahl und düster wie nie.
»Ich habe gewartet.«
»Nun, jetzt kannst du gehen. Ich heiße es nicht gut, wenn du hier eindringst und durch meine Sachen wühlst.«
»Sie hätten es mir sagen sollen«, erwiderte Lucas. »Sie wussten das doch die ganze Zeit. Warum haben Sie mir nichts gesagt?«
»Ich dachte, es wäre am besten, wenn du das in meinem Buch liest.«
»Das ist eine faule Ausrede.«
»Steh bitte von meinem Stuhl auf.«
Lucas gehorchte. Stehend schaute er zu, wie Riley die Papiere zu einem Stapel neben der Schreibmaschine ordnete; er wurde von einer heißen Wut gepackt. »Weiß meine Schwester Bescheid?«
»Ich kenne deine Schwester doch gar nicht.«
»Das glaube ich nicht.«
»Nun, wie auch immer«, sagte Riley, »jedenfalls wird das zu einer Belastung für mich. Du behandelst mein Haus, als wäre es eine Bibliothek oder ein Museum. Du kannst nicht einfach hier hereinkommen und in allem herumwühlen, wie es dir passt. Wie bist du überhaupt reingekommen?«
»Aber das ist ein verdammtes Museum«, sagte Lucas.
»Ich sage es jetzt noch ein Mal – raus, oder ich rufe die Polizei.« Riley hatte offensichtlich Angst, denn er spähte furchtsam zur Tür, als wäre ihm gerade aufgegangen, dass er gar kein Telefon besaß.
»Was, glauben Sie, werd ich tun?«
Die Kiff-Wunde hatte einen Flecken an Lucas’ Nasenspitze gebildet, was er bis zu diesem Moment vergessen hatte. Sie ließen sich nicht aus den Augen, Riley reckte den Hals. In seinem Gesicht stand die ganze Traurigkeit von Beaumont, all die Jahrzehnte, in denen er sich immer und immer wieder damit befasst hatte, die schreckliche Schlussfolgerung. In diesen wenigen Momenten fühlte sich Lucas dem alten Mann zum ersten Mal nahe, fühlte er, dass sie beide das Gleiche suchten.
»Wie lange war er da?«, fragte Lucas schon ruhiger.
»Etwa drei Jahre.«
Wieder scheute Lucas davor zurück, mehr zu erfahren, herauszufinden, weshalb er dorthin gekommen war. Ihn beschäftigte weit mehr die Hoffnung, die an dem Wort »entlassen« hing. »Wohin ist er dann gegangen?«
»Was meinst du damit?«
»Wohin ist er gegangen, als er rausgekommen ist?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Wie das denn? Sie sind doch angeblich fast fertig. Sie können doch nicht fertig sein, wenn Sie nicht wissen, was passiert ist.«
»Ich …« Riley wandte sich ab und zupfte an seinem Bart herum. »An der Stelle bemühe ich die künstlerische Freiheit.«
»Was?«
»Ich denke es mir aus.«
»Blödsinn, so was darf man bei Biografien doch nicht.«
»Ist das nicht ein wenig naiv, zu glauben, dass es dabei lediglich um Fakten geht, von Anfang bis Ende?«
Ein Luftzug blähte die Vorhänge ins Zimmer, er wehte Antoneys Geist herüber und machte sie beide nervös. Riley schloss die Türen.
»Aber er hat doch gesagt, er ist nicht tot«, sagte Lucas. »Im Brief steht, er ist nicht tot.«
»Das war bloß eine Umschreibung. Das war doch nicht wörtlich gemeint, und wie denn auch? Aber angesichts seines damaligen Geisteszustands müssen wir wohl …«
»Und wo ist er beerdigt? Wo ist der Grabstein?«
»Ich sagte doch, ich weiß nicht, was im Anschluss geschehen ist.«
Lucas fegte die Papiere mit einem Handstreich vom Schreibtisch. »Na schön, Herr Biograf. Welchen Mist haben Sie sich denn ausgedacht? Lebt er? Ist er in Jamaika, Frankreich, Putney oder wo? Ist er tot oder nicht?«
»Lucas, beruhige dich«, sagte Riley und gestikulierte wild.
»Erzählen Sie mir, was Sie sich über meinen Vater ausgedacht haben, über meine Familie, ohne mein Einverständnis. Erzählen Sie mir alles über die Lügen, mit denen ich aufgewachsen bin, na los! Sagen Sie mir, wie es ausgeht.«
»Es geht aus …«, begann Riley. »Lass meine Sachen da liegen, hör auf!«
Lucas hatte die Schreibmaschine vom Tisch geschleudert, sie prallte vom Stuhl ab und schlug auf den Boden auf. »Ich will wissen, wo er hingegangen ist!«
Riley hastete eine Antwort hervor, er stolperte über die Worte. »Ich hab noch einen Brief von ihm bekommen, darin stand, dass er nach Kuba wollte, darauf baue ich auf – da wollte er immer hin, weißt du noch? Er ist in den Osten gefahren, an einen Ort namens Baracoa, am Meer.«
»Weiter.«
Riley war nicht sicher, was er als Nächstes sagen sollte. Er stammelte eine Weile sinnloses Zeug, wie ein Schauspieler, der seinen Text vergessen hat. »Er ist mit dem Bus gefahren, von Guantánamo aus. Nach der Revolution wurde eine Brücke durch die Berge gebaut, er wollte seinen Vater und seine Großmutter suchen.«
»Ach ja?«
»Aber er hat sie nicht gefunden, und dann – dann hat er sich da niedergelassen. Es gibt eine Tanzschule in Guantánamo, dort gibt es auch Shows, und manchmal geht er …«
»Na was, dann ist er noch da?«
»In meiner Version – ja. So habe ich es mir ausgedacht. Ich sage nicht, dass es so ist.«
»Sie Lügner. Sie verdammtes Arschloch.«
»Um Himmels willen!«
Rileys Stuhl wurde umgeworfen, gemeinsam mit dem Schreibtisch, was einige Anstrengung kostete. Reihe um Reihe leerte Lucas die gebogenen Borde, riss eines aus seiner Verankerung. Bücher, Ballerinas und Fotografien schepperten, Glas zersprang. Er schleuderte die Schreibtischlampe gegen die französischen Fenster. Riley hatte noch versucht, ihm die Lampe zu entreißen, wurde aber weggestoßen. Als Lucas Flüche und Vorwürfe ausstieß und wie ein wildes Tier röchelte, floh Riley aus dem Zimmer, seiner Katze dicht auf den Fersen. Lucas war nicht bewusst, was er tat. Alles stürzte, und er stürzte mit. Unter ihm war kein fester Boden, nie mehr. Lucas war genau wie die Dinge, die er zerstörte, hohl, unverständlich, konstruiert. Ein überflüssiger Mensch. Ein Poltergeist.
Währenddessen klopfte Riley hysterisch an die Tür seiner Nachbarn. Als ihm das junge Paar endlich im Nachthemd öffnete, sah es noch, wie Lucas über den Pfad stolperte und davonstürmte.
In stürmischen Nächten, in wilden Nächten, in Nächten, in denen das Boot erzitterte unter den Blitzen, die krachend vom Himmel fuhren, und so stark schaukelte, dass vieles verrutschte, wenn der Regen gegen die Fenster trommelte und der Donner die Bäume und Kreuzdornbüsche schüttelte, in solchen Nächten erklang eine Stimme. Du brauchst keine Angst vor dem Gewitter zu haben, das ist nur die Nacht, die sich räuspert. Das ist nur Peterjohn, sagte die Stimme.
Lucas rannte, voller Sehnsucht nach ihrem Anisgeruch. Sie wurden in der Eile heimisch. Frackschöße peitschten im Wind. Vor Jahren, sagte Toreth dann immer und strich die Decke unter seinem Kinn glatt, lange vor deiner oder meiner Geburt, war die Portobello Road nur eine raue Landstraße. Kannst du dir vorstellen, über die Portobello Road zu gehen, zwischen Hopfenfeldern hindurch, und die Nachtigallen singen? Es war eine lange, stille, durchlöcherte Straße, staubig im Sommer und schlammig im Winter und, wie fast jedes offene Gelände in den Städten jener Zeit, war sie das Revier von Straßenräubern. Was ist ein Straßenräuber?, fragte Lucas dann immer, obwohl er die Antwort schon kannte. Das waren Männer mit schwarzer Maske und Umhang, die Uhren stahlen, wenn die Leute aus dem Haus waren. Hatten sie Waffen? Manchmal, erwiderte Toreth. Peterjohn aber nicht. Wer ist Peterjohn? Das will ich dir ja erzählen, aber du unterbrichst mich ständig. Die meisten Straßenräuber nämlich, Lucas, waren Trunkenbolde. Sie waren »dem Schnaps zugetan«, wie man es damals genannt hätte, sie waren vulgär, und sie stanken. Peterjohn aber war anders. Er hatte neun Kinder. Wirklich?, fragte Lucas. Ist das auch wirklich wahr? Natürlich ist das wahr – ich würde euch Kinder doch nie belügen! Glaub mir, neun Kinder, und er war zum Räuber geworden, damit er für sie sorgen konnte. Eines Tages wurde eines der Kinder krank, der jüngste Sohn, Peterjohns Liebling. Der Junge war sehr krank. Ein Gewitter kam auf, und Peterjohn stieg auf sein Pferd, um zu sehen, ob er etwas für seinen Sohn finden konnte, und weißt du, was dann mit ihm geschehen ist?, fragte Toreth. Nein, was ist denn geschehen? Nun, mein Schatz, unter einem Ahornbaum auf einem Heufeld traf ihn der Blitz. War er tot?, fragte Lucas. Nein, Lucas, er war nicht tot. Und in dem Moment, als der Blitz Peterjohn traf, setzte sich sein Lieblingssohn im Bett auf und war wieder gesund. Er wurde ein sehr, sehr großer Junge und kannte keine Angst vor Gewittern. Es hieß sogar, dass der Blitz immer noch in seinen Augen war. (Na gut, das am Schluss ist wohl doch ein wenig gelogen.)