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Alles begann mit Katherine. Sie kam und teilte sein Jahrhundert. Er sah sie weit unter dem Meer, mit Bändern in den Haaren. Fortan war er ein anderer.

Es war ein windiger Märztag im Jahr 1951, und am Nachmittag nahm Antoney mit seinem Vater Mr. Rogers den Goldtooth-Bus nach Kingston. Sie fuhren ins Carib Theatre, um sich eine afrikanisch-amerikanische Tanzcompagnie anzuschauen. Mr. Rogers hatte die Karten bei einem Handel mit einem befreundeten, finanziell glücklosen Saxofonspieler erworben, und Antoney durfte sie während der Fahrt halten. Er hielt sie mit beiden Händen, mit Daumen und den ersten beiden Fingern, seine Beine schwangen mit den Bewegungen des Busses hin und her, der hinauf, hinauf und dann hinunter, hinab in die Stadt fuhr. Es war eine kurvige, bergige Straße, auf der einen Seite waldige Täler und Pimentbäume, auf der anderen der Abgrund. Manch Passagier schaute lieber hinunter in seinen Schoß als hinaus aus dem Fenster. Nicht aber Antoney.

Er war schon einmal mit seiner Mutter Florence im Theater gewesen, bei einer Pantomime von Hans und die Bohnenranke, aber da er kein großes Interesse gezeigt hatte, war sie nie mehr mit ihm hingegangen. Inzwischen war er zu alt für die Pantomime – er war doch schon neun. Mr. Rogers sah das ebenso. Katherine Dunham (sie klang schon irgendwie kostbar) war eine weltberühmte Tänzerin, ein Broadway-Star. Sie hatte in Hollywoodfilmen mitgespielt, tourte mit ihrer eigenen Compagnie und brachte dabei zum ersten Mal afrikanische und karibische Tänze in großem Stil auf die Bühne. Zudem war sie Anthropologin, alles in allem war es die Mühe also wert. »Schön is sie auch«, sagte Mr. Rogers. Aber wichtiger noch war, dass sie aus dem Rahmen fiel, so wie Mr. Rogers selbst. Er war ein wendiger, femininer Mann mit ausgesprochen schmalen Händen, einem hübschen Gesicht, und er trug immer eine Blume am Hut. Er war mal da, dann wieder nicht, und alle, selbst Florence, nannten ihn Mr. Rogers.

Antoney hoffte, dass sie vorne sitzen würden. Er verkündete, dass er gerne in der ersten Reihe sitzen würde, aber Mr. Rogers erwiderte, das seien gar nicht die besten Plätze. »Ein paar Reihen weiter hinten ist es besser. Von da bekommt man viel mehr mit. Richtig gut ist ein Balkon. Von da kannst du in die Seiten sehen, die Kulissen, und wenn du den Hals ganz lang machst, kannst du ihre Gesichter sehen, wenn sie auf den Auftritt warten. Das ist faszinierend.«

»Wo hast du so was gesehen?«, fragte Antoney.

Mr. Rogers tippte sich ans Kinn und versuchte, sich zu erinnern. »Ach, das ist lange her, ich glaub, in Trinidad irgendwo.«

Antoney war eigentlich kein gesprächiges Kind. Er hatte sich bereits entschieden, müsste er je zwischen Körper und Stimme wählen, er würde den Körper wählen. Aber in Gegenwart seines Vaters war er oft gesprächig.

»An wie vielen Orten warst du, Mr. Rogers?«

An vielen, er hatte sie nicht gezählt. Amerika, Mexiko, und Kuba natürlich. Mr. Rogers war auf Kuba geboren und mit seiner Tante nach Jamaika gekommen, als er noch klein war. Seine Mutter war in der Heimat geblieben. Sie lebte in Baracoa, einer Stadt im Osten. »Wenn man zu lang an einem Ort bleibt, dann vertrocknet man«, sagte er zu Antoney. »Ab und zu braucht man ein Stück Meer zwischen den Zeiten, den Jahren und den Monaten.«

Sie naschten aus einem Beutel voll holziger Number-11-Mangos. Auf der einen Seite fegte der Wind zwei streunende Geißböcke vor sich her. Auf der anderen legte das Kliff den Himmel frei.

»Mr. Rogers?«, fragte Antoney ohne jede Scheu. »Wirst du öfter bei uns sein, wenn du mit Mama verheiratet bist?«

»Ich denke schon«, sagte sein Vater. Antoneys Beine schwangen bei dieser Antwort höher.

»Und wenn ihr verheiratet seid, was passiert, wenn du das Stück Meer brauchst?«

Mr. Rogers wurde nachdenklich. Langwierig pulte er einen Mangofaden aus den Zähnen. Zwischen den Schneidezähnen war eine große Lücke, wie auch bei Florence. Das, so fand Antoney, war der Beweis, dass seine Eltern füreinander geschaffen waren.

»Ich seh das so«, sagte sein Vater nach einiger Zeit. »Die See muss dir immer offenstehen, egal, wie die Dinge liegen. Wenn es in deiner Natur liegt zu schwimmen, dann musst du schwimmen, sonst wirst du krank. Deine Mutter weiß, was ich meine. Die Ehe ist kein Gefängnis, Sohn.«

»Nein«, stimmte Antoney zu. Er wusste nämlich, wie ein Gefängnis aussah. Es hatte kaum Fenster und war aus unbemalten Ziegeln gebaut, und das war ganz sicher nicht dasselbe wie die Ehe. »Du hast recht«, sagte er.

Am Steuer des Goldtooth-Busses saß ein gewisser Juicy. Sein rechter Arm hing aus dem offenen Fenster, und er lehnte sich mit Wonne in jede gefährliche Neigung entlang der gewundenen Straße. Niemand hatte ihn je gebeten, das Tempo zu drosseln. Das war zwecklos. Er war der Herrscher des Goldtooth. Er setzte zur langen Abwärtsfahrt nach Kingston an, wo sich die Tänzer schon in den warmen Hinterzimmern des Carib bereit machten.

Aber vielleicht hatte es früher noch begonnen. Vielleicht hatte es, wie so oft bei Träumen, im Schlaf begonnen, in einer geheimnisvollen Stunde tiefer Nacht.

Zwei Jahre vor Katherine hatte Antoney nämlich geträumt, dass er fliegen konnte. Wahrscheinlich war es ein sehr gewöhnlicher Flugtraum – plötzlich und wundersamerweise schwebt man –, nicht anders als andere Flugträume. Aber es ist die Wirkung, die der Flugtraum auf den Träumenden hat, die den einen vom anderen unterscheidet. Antoney wurde nicht am folgenden Morgen wach und begann seinen Tag, als wäre nichts geschehen. Er konnte den Traum, das Gefühl, nicht vergessen.

Es war so einfach. Er brauchte keine Flügel. Er stand da, in der wandelbaren Wogenwelt der Träume, im Wohnzimmer ihres kleinen, mandarinenfarbigen Hauses in Annotto Bay, St. Mary, und hörte eine Stimme, keine richtige Stimme, eher etwas, das sich in seinem Kopf niederließ. Es sagte: Na los, versuchen wir’s. Er streckte die Arme aus und wedelte mit den Händen. Dann schon mit mehr Kraft, er verspürte ein flatteriges Gefühl an den Fußsohlen, und tatsächlich ging es hinauf. Er hatte schon recht starke Arme und trudelte vergnügt unter der Zimmerdecke herum. Er lachte, er sagte zu der Stimme, die ihm half: Ich fliege! Ich fliege! Sieh nur, ich fliege!

Der Traum kehrte wieder und nahm an Gestalt und Größe zu. Antoney stieg hoch über das Haus, höher als die Palmenspitzen, so hoch er wollte, so lange er wollte, drehen wenden gleiten tauchen, die Arme ausgestreckt, der Körper vorgeneigt, wie ein richtiges Himmelswesen. Es war herrlich dort oben, wärmer und irgendwie kühler. Er wuchs über sich hinaus und wurde so viel mehr und weniger als nur ein kleiner Junge.

Antoney nahm diese Träume sehr ernst. Ihm waren sie real. Von ihnen erwarb er ein tiefes Misstrauen dem Begriff des Unmöglichen gegenüber. Alles ist Täuschung. Lass dich nicht blenden. Schau hinter die Maske der Täuschung.

In den wachen Stunden suchte er nach Arten und Weisen, dem Boden zu entkommen. Er ging nicht, er rannte, sprang von einem Ort zum anderen und traktierte die alte Seilschaukel über dem Schlammpfuhl. Er kletterte auf Leitern. Er verweilte hoch oben in Baumkronen. Er fragte sich, ob er eines Tages in einem Flugzeug fliegen würde. Das war am tollsten: rennen, springen, schweben, wirbeln. Es fiel ihm schwer, sich für längere Zeit in Innenräumen auf unbewegliche Objekte zu setzen, zum Beispiel auf Stühle, zum Beispiel in der Schule (was sich zum Kummer seiner Mutter in den Noten niederschlug). Er mochte es einfach nicht. Lieber saß er draußen auf dem grasigen Hügel bei Miss Enids Laden, wo er eines Tages, den Blick, wie es seine Gewohnheit war, in den Himmel gerichtet, einen tänzelnden rot-weißen Drachen sah, mit Schleifen am Schwanz. Antoney sah ihm lange Zeit zu, wie er kurvte und kreiste und tanzte, bis der Drachen den Himmel eilig über eine Diagonale hinab in die Bäume verließ.

Antoney begab sich sofort auf die Suche nach seiner Mutter. Er fand sie auf dem Rückweg von Mr. Chambers’ Heim in den Hügeln, wo sie die Hausarbeit machte. Dem folgte am späten Nachmittag eine Schicht in der Bar gleich neben Miss Enids Laden, in der Irish Moss, angeblich ein Aphrodisiakum aus Seetang, sehr beliebt war; der Seetang wurde an der weitläufigen Küste vor der Stadt aufgesammelt, gewaschen und zum Trocknen an Marktstände und Ladenfronten gehangen.

Antoney eilte auf seine Mutter zu und sagte: »Mama, ich will ein Drachen sein.«

Florence verstand nicht. Sie war streng mit ihrem Sohn und mochte sich nicht auf vage oder gedankenlose Gespräche einlassen. So etwas verlockte nur, führte ihn nur vom rechten Weg ab. »Was soll das heißen, du willst ein Drachen sein?«

Er hüpfte um sie herum, er strengte sie an. Das war Elizas Schuld, dass er so war. Eliza hieß der Hurrikan, der am Abend von Antoneys Geburt gewütet hatte – kein verhängnisvoller Sturm, nur einige Bäume und Zäune wurden gefällt, aber Florence erinnerte sich gut an das Gefühl, den Säugling in den Armen zu halten, während Eliza vorüberzog. Wie zart so ein Kind doch war, ein Blatt im Auge des Sturms! Florence glaubte, dass Eliza in Antoney noch immer wehte – sie war in ihn gefahren und hatte ihn wie einen brodelnden Kessel aufgewühlt, und darum konnte er nicht still sein.

Seine Arme schwangen nach links, nach rechts. Zwei Hüpfer, dann ein Sprung. »Ich will in der Luft sein«, erklärte er sich seltsam, »im Wind wehen. Und helle Farben tragen.«

»Das ist doch Blödsinn. Komm, Junge, lass das dumme Gequatsche.« Sie reichte ihm ihren Beutel, gemeinsam gingen sie den Pfad zum Haus hinauf. »Du wirst was Besseres«, sagte sie. »Arzt oder Apotheker. Wirst ordentlich verdienen. Und deshalb musst du dir in der Schule auch mehr Mühe geben.«

Neben seiner Mutter verzog Antoney heimlich das Gesicht. Er begriff, dass es zweierlei Menschen gab: solche mit Flugträumen und solche ohne.

Florences Hochzeitskleid wartete unter einer Plastikhülle, im Mandarinen-Haus. Es war das Kleid ihrer Tante Ivy und vor zwanzig Jahren bei deren Trauung mit einem Maurer zum Einsatz gekommen. Sie hatten durchgehalten. Sie lebten immer noch in seinem Haus am Fluss, und Tante Ivy bereitete ihm immer noch am Sonntagmorgen, bevor sie in die Kirche gingen, Ackee und Salzfisch zum Frühstück.

Es war ein gebrochen weißes Kleid mit Spitzensaum. Florence war nicht nur mit ihren siebenundzwanzig Jahren eine späte Braut, sie war auch zierlicher als Ivy seinerzeit, und daher musste das Kleid geändert werden. Es war nicht das Kleid, das Florence gewählt hätte, wenn sie in einem großen Haus mit Glastür leben würde, in Stony Hill oder in Fort George. Doch das tat sie nicht, noch nicht jedenfalls. Im Moment aber war nur wichtig, dass sie mit Mr. Rogers zum Altar schritt und ihn heiratete. Alles Weitere würde sich finden.

Sie glaubte, insgeheim, an sein Saxofon. Florence war eine von den Frauen, die anders wirkten, als sie wirklich waren. Wenn es selbst ihr so schien, als wollte sie das eine, dann wollte sie in Wirklichkeit das andere. Sie wollte das Unbekannte, obwohl sie glaubte, sie wollte Sicherheit. Sie wollte scharfes Jerk-Huhn, obwohl sie glaubte, sie wollte ein mildes Hühnercurry. Sie wollte einen Mann mit geziertem Seitenschlendergang und Blume am Hut, einen Mann, der den ganzen Tag im Garten seines Cousins Saxofon spielte, obwohl sie dachte, dass sie einen vernünftigen Mann wollte. Und daher glaubte sie Mr. Rogers auch, wenn er ihr sagte, dass ihn sein Saxofon eines Tages reich machen würde, äußerte aber das Gegenteil. Er sei ein Träumer, sagte sie. Er sagte, dass manche Jazzmusiker richtig viel Geld verdienten, und vielleicht würde er ja eines Tages so ein Musiker. Du hast einen Sohn, entgegnete sie, du musst für deine Familie sorgen. Und er antwortete mit Amerika, mit England, mit einem besseren Leben, das fern von Annotto Bay, fern der Bucht aus Bananenblättern wartete.

Von England war Florence nicht recht überzeugt, Stony Hill aber, ja, das wäre schön.

Nach Jahren des Hinhaltens hatte sich Mr. Rogers nun endlich in Richtung Ehe bewegt. Einen Antrag hatte er, im eigentlichen Sinne, nicht gemacht. Im Grunde hatte er bloß zugestimmt. Es war in einer sternenschimmernden Nacht, er war vom Rum berauscht gewesen, und Florence hatte, in einem hübschen Unterkleid, in der Tür gestanden, die hinaus auf die Veranda führte, einen Arm nach oben an den Türrahmen gelegt, die Augen so dunkel wie noch niemals zuvor, und dann hatte sie mit ihrer Zahnlücke gelächelt und gesagt: »Mr. Rogers, du hast mir gefehlt. Warum ruhst du dich nicht aus und legst deine Füße zu meinen?« Mr. Rogers hatte in diesem Moment, unter den Rumsternen, das tröstlich schöne Gefühl gehabt, dass dieses Mädchen auf immer sein Mädchen wäre, dass er bei diesem Mädchen gehen und kommen könnte und es immer etwas sagen würde wie: Leg doch deine Füße zu meinen, und da war ihm aufgegangen, wie schön und gut ein stetiges Familienleben, welche Freude es wäre, zu einem anderen heimzukommen, was für einen wunderbaren Sohn sie beide hatten, wie süß und bereichernd es wäre, den Hügeln von St. Mary (und der halben Welt) viele kleine Antoneys zu schenken. Fünfzig Minuten später, seine Füße bei ihren und seine Hüfte noch immer an ihre gedrückt, hatte er in das rechte warme Ohr dieser seiner Frau geseufzt: »Du bist die einzig Wahre«, woraufhin Florence den nicht ganz neuen Vorschlag zurückgeflüstert hatte: »Nun, Mr. Rogers, wir könnten ja heiraten.« Und in jener Nacht hatte Mr. Rogers Ja gesagt.

In zwei Wochen nun würde Florence das gebrochen weiße Kleid anziehen. Ihr einziges Silberarmband. Sie würde sich genauso eine Blume an den Hut stecken wie ihr einzig Wahrer und dann mit ihm gemeinsam vor dem Kreuz stehen.

Das Carib Theatre war das größte Bauwerk Jamaikas. Es war eiförmig und wollte den Eindruck vermitteln, dass man am Grund der Karibischen See stand. An Wänden und Decken hausten Meeresbewohner, Seesterne und Barrakudas, fedrige Seelilien, Haarsterne und Borstenwürmer, eine gewaltige Schildkröte und ein flachäugiger Fasanbutt, selbst ein Hai war dort. Antoney fand, dies wäre ein sehr guter Ort für einen Flugtraum. Als sie sich inmitten des Trubels auf ihre Plätze setzten und auf Katherine warteten, fragte er Mr. Rogers nicht zum ersten Mal, ob er jemals einen solchen Traum gehabt habe.

»Natürlich«, sagte sein Vater, wie immer. »Mehr als ein Mal.«

Sie saßen in der vierten Reihe. Der Goldtooth-Bus hatte alle Passagiere wohlbehalten nach Kingston befördert, und auf dem Weg zum Theater hatte Mr. Rogers ständig seinen Hut gelüftet. Antoney dachte immer, sein Vater wäre berühmt. Wo er auch hinging, kannten ihn Menschen jeden Alters. Die eleganten Fräulein, die bei Woolworth arbeiteten, hatten ihm zugewunken. An diesem Tag war die Blume an Mr. Rogers’ Hut rot und in der Mitte orange. Sein Hemd war dunkelviolett und glänzte am Kragenrand. Antoney trug eine dunkelblaue Hose (seine beste, von Florence zu Tode gebügelt) und ein rotes Hemd, das, obwohl es ihm ein wenig zu klein war, sich gut an seiner flinken, reifenden Taille machte. Sie boten einen bemerkenswerten Anblick. Antoney hatte das gute Aussehen seines Vaters geerbt, den sinnlichen, entschiedenen Mund, die gemeißelten Wangen und schelmischen Augenbrauen. Und die Augen – sowohl Antoney wie auch Mr. Rogers, beide hatten sie die wachen Augen von Sperlingen.

Die Plakate draußen vor dem Theater bestätigten Antoney, dass Katherine Dunham in der Tat eine Schönheit war: Das Bild war beim Tanzen aufgenommen, ihre Hüften stießen verspielt an die ihres Partners, die Arme schwangen in die Gegenrichtung. Aber nichts sollte Antoney auf den Eindruck vorbereiten, den sie auf ihn machen würde. Da Mr. Rogers so seine Beziehungen hatte, umgingen sie die Schlange vor dem Eingang und kamen schneller ins Theater. Und das war überhaupt nicht wie Hans und die Bohnenranke, unter einem Zinkdach in Richmond! Antoney verliebte sich in die Winkel und geheimen Nischen, den großen hallenden Raum. Er verliebte sich in die kühne Bemalung an den Wänden und die Aufregung, die in der Luft lag. Er hatte das Gefühl, dass hier eine andere Welt möglich war, dass man vor der Tür das eine, und wenn man hindurchging, etwas anderes sein konnte. Es war Magie, eine Zauberhöhle, ein verwunschener Ort. Von diesem Tag an, gleich, ob in London, Paris oder Kopenhagen, sollte es für Antoney immer so sein: In dem Moment, wenn man in das Theater geht, den Geruch betritt, und es ist derselbe Geruch in jedem Theater der Welt, der Geruch nach unendlichen Möglichkeiten und angehaltenem Atem, bleibt alles Irdische außen vor.

Er teilte seine Eindrücke nicht mit Mr. Rogers, der ständig Hände schüttelte und seinen Hut lüftete, ganz der Humphrey Bogart von Kingston. Antoney blieb ruhig und beobachtete still, wie sich die Sitze mit der plaudernden Menge füllten. Hier im Innern kamen ihm die Menschen weniger real als draußen vor, wie Kinder, selbst die älteren Leute. Sie alle sahen aus, als spielten sie Theater.

Die Bühne wurde von einem schweren, scharlachroten Vorhang mit schwarzen Quasten verhüllt. Als es draußen rasch Abend wurde, erhöhten die schummerigen Lampen an den Seiten des Zuschauerraums noch die Spannung auf das, was jenseits des Vorhangs lag. Gelegentlich war dort eine Bewegung zu sehen, was Antoney sehr aufregend fand. Wie gerne hätte er den geheimnisvollen Samt berührt.

»Wann geht es endlich los?«

»Bald schon«, sagte sein Vater. »Hab Geduld und warte.«

Mr. Rogers schlug die Beine übereinander, lehnte sich im Stuhl zurück, hob das Kinn und legte seine schlanken Hände übereinander in den Schoß. Antoney tat es ihm nach.

Kurz bevor sich die Dunkelheit über den Saal senkte, beugte sich Mr. Rogers hinüber und sagte: »Hey, vielleicht kann ich uns nachher hinter die Bühne bringen. Was meinst du?«

»Nein«, sagte Antoney völlig entsetzt. »Da will ich nicht hin!«

»Was? Du willst Miss Dunham nicht kennenlernen?«

»Nein, Mr. Rogers.«

Als sich die Dunkelheit schließlich über alles gelegt hatte, lehnte sich sein Vater wieder zurück. »Warten wir’s ab«, murmelte er. »Vielleicht doch.«

Der Zuschauerraum war nun vollkommen still, als ob jemand einen Zauberstab geschwungen und Schweigen geboten hätte. Als sich der Vorhang hob, nahm er Antoneys Magen mit. Antoney verschwand, Mr. Rogers verschwand, und mit ihnen das gesamte Publikum. Allein die Bühne blieb übrig, sie war schon in Bewegung, sanft vom Rampenlicht erhellt. Zu Trommelschlägen und kräftigem Gesang fegten Tänzer in Sidesteps über die Bühne, die Frauen in langen weißen Kleidern, die Männer mit entblößter Brust in weißen Kniehosen. Im Zentrum aber stand eine große, kraftvolle Frau mit einem breiten, gestreiften Band um den Kopf, das beim Tanzen flatterte. Sie hatte das leuchtendste Gesicht, das Antoney je gesehen hatte. Die Kraft war überall in ihr, nicht nur im Gesicht, sie war in den Beinen und Armen, den kreisenden Schultern, den Händen, die sich sorgsam formten. Ihre Augen strahlten berückend und verhießen sich und allen anderen, dass sie immer strahlen würden, und sie hatte einen hinreißenden, eigensinnigen Mund. Mr. Rogers flüsterte Antoney in der Dunkelheit zu: »Und das ist Katherine Dunham.«

Antoney konnte die Augen nicht von der Bühne lösen. Er war gefesselt von der Schönheit und dem Stolz der Tänzer, dem Schleifen, Gleiten und Springen der Füße. Er jagte sich selbst in ihnen nach, und schließlich fand er sich, mit einem glücklichen Keuchen, in einer Kampfszene, bei der zwei Männer in weiten, eiligen Sätzen übereinandersprangen, sie flogen, sie stürzten, sie wirbelten sich herum. Aber Katherine war die, der er am ergebensten folgte. Er verpasste keine Bewegung, manchmal tanzte sie wie eine Ballerina, manchmal einen Volkstanz, manchmal beides zugleich. Sie wand den Kopf und warf das Bein in die Luft. Ihr straffer Körper zuckte unentwegt. Sie trug ein weißes Rüschenkleid, ihr Rock war von allen der weiteste, und wenn sie sich hierhin und dorthin beugte, hielt sie den Rock zwischen den Fingern, sodass sie wirkte, als wäre sie Wind, als könnte sie zwei Geißböcke vor sich herwehen. Antoney wurde beim Beobachten rastlos, er musste etwas tun, er wollte auf der Stelle aufstehen und dieses Etwas tun, doch er wusste gar nicht, was es war. Diese Frau war aus einem anderen Stoff als er, sogar als Mr. Rogers. Sie war nicht von dieser Welt.

Antoney lernte in diesem Moment etwas Wichtiges, etwas, das ihn immer begleiten sollte. Er lernte, dass man beim Tanzen mehr sein kann als man selbst.

Katherine und ihre Truppe führten verschiedene Stücke auf, es war ein darstellender Tanz, der Geschichten erzählte. Die Geschichte, die Antoney am meisten mochte, handelte von einem Jungen, der in eine Schlange verwandelt wurde; das Stück hieß »Shango«. Als der Junge bei einem Opfer für Shango einen weißen Hahn tötete, fuhr ein böser Geist in ihn ein. Der Junge zischte und glitt in schlangenartigen Windungen über die Bühne, bis er von Shango selbst besessen wurde, und von da an wurden seine Bewegungen wild und wüst. Shango war von der Verführungsmacht der Superhelden, wie ihr die kleinen Jungen gern erliegen; er schüttelte den Kopf, stampfte mit den Füßen, schleuderte die Arme umher und trieb seine Anhänger zur Raserei. Auf dem Höhepunkt des Stücks stand der Junge mit weit ausgestreckten Armen auf dem Altar und ließ sich von der Menge anbeten. Antoney war wie hypnotisiert. So stark, so furchtlos wollte er sein. Er wollte eine Schlange in seinen Bann schlagen, und die Menschen sollten seinen Namen rufen.

»Na«, sagte Mr. Rogers, »möchtest du sie nicht doch kennenlernen?«

Das Publikum erhob sich und strömte zu den Ausgängen. Die Vorhänge waren geschlossen. Antoney brauchte einige ferne, verschwommene Momente, um sich zurechtzufinden und zu seinem Vater zurückzukehren.

»Was ist denn, Junge? Siehst ja aus, als wärst du vor eine Wand gelaufen.«

»Ich weiß nicht, ob ich sie kennenlernen will, Mr. Rogers.«

»Für mich sieht es so aus.«

»Aber sie kennt mich doch nicht. Das könnte peinlich sein.«

»Hör zu, ich weiß ganz sicher, dass sie eine sehr nette Lady ist – mach dich groß und komm mit.«

Sie gingen hinaus in die Lobby, wo Mr. Rogers auf den Theaterleiter stieß, mit dessen Hilfe er manchmal einen Auftritt arrangierte. Es war ein gewaltiger Mann mit ebensolcher Sonnenbrille. Mr. Rogers sagte ihm, dass sein Sohn gerne Miss Dunham kennenlernen würde. »Mein Junge is ständig in Bewegung«, sagte er. »Genau wie die Tänzer.« Der Manager lachte und sagte, ja, er habe auch so einen Sohn.

Sie mussten lange warten und standen in der Lobby neben der Tür zum Zuschauerraum. Der Vorraum leerte sich, es wurde spät. Antoney befürchtete allmählich, dass er Katherine nun doch nicht kennenlernen würde, denn auf einmal war es sein dringendster Wunsch. Es gab eine Frage, die er ihr unbedingt stellen musste, und diese Frage drängte all seine Angst vor Katherine in den Hintergrund. Wenn er diese Frage nicht stellen konnte, wüsste er nicht, wie es weitergehen sollte.

Schließlich führte sie der Theatermanager, immer noch mit Sonnenbrille, durch eine Seitentür hinter die Bühne. Mr. Rogers redete und scherzte mit ihm. (Wie konnte Mr. Rogers in so einem Moment nur so lässig, so gewandt sein?) Antoney schaute sich in der trüben Dunkelheit um. Dies also war, was hinter der Zauberkunst lag. Dies also war der Ort, an dem man das Kaninchen und den hohen schwarzen Hut holte. Hier sorgte der Zauberer dafür, dass er die Jungfrau nicht zersägte. Dies war ein so unordentlicher, staubiger, verschlungener, durchtriebener Ort, die Wände rauchschwarz, und so viel lag herum – Musikinstrumente, Leitern, ein Strohhut, ein englisches Teekleid an einem Bügel. Hier spürte man nichts von der Großartigkeit der Bühne, und doch machte dies hier die Bühne erst möglich.

Der Theaterleiter erzählte gerade, Miss Dunham wünsche, dass ihre Garderobe auf ganz bestimmte Weise hergerichtet wurde, dass sie Stoffe, Obst und Bücher um sich wollte, er hatte also einiges für sie vorbereiten müssen. Sie wusste genau, was sie wollte. Das Gespräch verschlimmerte Antoneys Verzagtheit noch. Als sie zu der Garderobe kamen, die am Ende einer schmalen Treppe lag, wäre er am liebsten davongelaufen. Aus dem Innern drangen laute Stimmen. Doch bevor ihm der Abgang glückte, die Frage war vergessen, öffnete Katherine Dunham persönlich mit sehr viel Schwung die Tür.

»Hast du meinen Slipper gesehen, den orangefarbenen?«

Sie wandte sich zurück in die Kammer, die voller Blumen war, und kniete sich neben eine Truhe, auf der »K. DUNHAM« stand.

»Miss Dunham«, sagte der Theaterleiter, »hier ist Mr. Rogers für Sie.«

»Mr. Rogers«, murmelte sie. »Mr. Rogers? … Ich glaube nicht, dass ich …« Sie stand auf, sie war fast so groß wie Mr. Rogers, und schaute ihn prüfend an. »Ich kann mich nicht erinnern, wo wir uns begegnet sind, aber Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. War das in den Staaten? Hier, nimm mal, ich zieh die an.« Sie beugte sich, schlüpfte in ein Paar hoher Sandaletten und seufzte vor Erleichterung.

Außer Katherine waren drei weitere Personen dort, zwei Frauen und ein Mann. Sie lehnten am Ankleidetisch, sehr selbstbewusst und breitschultrig, die Schlüsselbeine glänzten. Sie unterbrachen ihr Gespräch und musterten die Besucher.

Der Raum war mit lebhaften Stoffen und üppigen Behängen ausstaffiert, als ob sich die Bühne hier fortsetzen sollte. Am einen Ende des Ankleidetischs stand ein Korb mit frischem Obst. Mr. Rogers plauderte mit Katherine, ganz Charme und Lächeln, erwähnte beiläufig sein Saxofon und eine Show in Baltimore, und ob sie sich tatsächlich an ihn erinnerte oder auch nicht, das schien nach einer Weile ganz egal zu sein. Sie hatte offenkundig Gefallen an ihm, alle hatten Gefallen an ihm, und Antoney begriff, dass sein Vater aus diesem Grund berühmt war – er hatte Persönlichkeit. Der Raum füllte sich mit Gelächter und Stimmen. Zunächst versuchte Antoney, Katherine nicht unmittelbar anzublicken, doch sie war so herzlich und freundlich, dass es schwer war, sich vor ihr zu fürchten. Er hob den Kopf, sah auf in das berückende Gesicht mit den Strahleaugen und betrachtete sie ernsthaft.

»Und wer ist der hübsche junge Mann?«, fragte sie.

Mr. Rogers legte die Hand auf Antoneys Rücken und schob ihn vor. »Das ist mein Sohn, Antoney.«

Katherine setzte sich auf ihre Truhe. Sie hatte ihr Kostüm gegen Netzstrümpfe und ein Seidenkleid mit halblangen Ärmeln getauscht. Sie beugte sich zu ihm. »Nun, Antoney«, sagte sie. »Du bist ja schon jetzt eine Schönheit.«

Er verstand nicht wirklich, was sie damit meinte, dankte ihr aber dennoch.

»Hat dir die Show gefallen?«

»Oh ja, Miss Dunham. Das war viel besser als Hans und die Bohnenranke

Katherine lachte und legte ihm kurz die Hand ans Gesicht. »Das beruhigt mich. Bist du aus Kingston, Antoney?«

»Nein, aus St. Mary, auf dem Land. Da kann man mit dem Bus hinfahren.«

»Aha.«

Sie sah ihm herzlich und offen in die Augen, und er fasste Mut. Das war die Gelegenheit. Und wie oft hatte sein Vater schon gesagt, dass sich eine Gelegenheit womöglich nur ein Mal im Leben bot. Er holte also tief Luft und suchte nach seiner Stimme, weit hinten in der Kehle. Als er sie schließlich wiederfand, war sie leiser als sonst. »Miss Dunham?«

»Ja?«

»Was muss ich tun, um – um Tänzer zu werden … so wie Sie?«

Antoney spürte einen kurzen, intensiven Moment lang die Augen seines Vaters auf sich. Die übrigen Gespräche gingen weiter, es hatte sich kaum etwas verändert, und doch hatte Antoney das Gefühl, er stünde plötzlich ohne Kleider da. Könnte er doch mit Katherine allein sein, nur mit ihr, und ganz privat darüber sprechen.

Katherine lächelte bloß. Sie stellte einen Fuß auf die Truhe und schlang die Arme um das Bein. Sie sprach in klaren Worten, als wäre sie die Frage gewöhnt, und machte hin und wieder Pausen, damit er ihren Worten folgen konnte.

»Das erfordert Hingabe, Antoney, und sehr viel hartes Training. Verstehst du das Wort Hingabe? … Gut. Denn du musst dich dem Tanzen hingeben. Du musst jeden Tag üben, wann immer du kannst, damit dein Körper stark bleibt. Hör zu, setz dich zu mir. Willst du wirklich Tänzer werden?« Er nickte heftig. »In dem Fall«, sagte sie, »muss deine Hingabe so groß sein, dass es kaum etwas Wichtigeres als das Tanzen gibt. Und das ist nicht leicht. Du wirst müde werden, auf Schwierigkeiten stoßen, und manchmal willst du sicher aufgeben. Du bist ja selbst noch im Wachsen, daher wirst du mich verstehen, wenn ich sage, dass du das Tanzen wie etwas behandeln musst, was in dir heranwächst, wie ein Kind oder eine Pflanze. Du musst ihm Nahrung und Wasser geben. Verstehst du das?«

»Ja«, sagte er.

Sie machte eine Pause, und ein trauriger Zug glitt über ihren Mund. »Vor allem aber«, schloss sie, »darfst du nie Angst haben oder von deinem Weg abweichen.«

Sie saßen und sprachen sehr lange auf der Truhe, bis es schien, als wären sie allein. Katherine erzählte ihm, dass sie vor vielen Jahren nach Jamaika gekommen sei, um dort zu forschen, und eine Zeit lang in Accompong gelebt habe, einem Maroon-Dorf im Cockpit Country. Sie war auch auf Haiti, Kuba und Martinique gewesen, und von dort, so stellte sich heraus, stammte der Kampftanz der Männer, der Antoney, wie er ihr erzählte, so besonders gut gefallen hatte. Sie war an so vielen Orten gewesen, sagte sie, hatte so viele verschiedene Tanzstile gesehen, dass sie das Gefühl habe, sie bräuchte noch ein ganzes Leben, um all das zu verarbeiten und um noch mehr zu sehen und zu sammeln. Antoney hing an ihren Lippen, und eine zweite wichtige Frage kam in ihm auf.

»Miss Dunham«, wagte er sich vor, »wer ist Shango?«

»Shango? Hat dir Shango gefallen? Das gefällt nämlich vielen.«

Shango, erklärte sie, war ein sehr mächtiger Gott, ein Orisha aus der Yoruba-Folklore, der immer noch Anhänger auf der ganzen Welt hatte, in Kuba, Haiti und Brasilien. Ursprünglich war er eine Erdgottheit, doch eines Tages hatte sein Volk genug von ihm, und deshalb war er in den Himmel aufgestiegen und wurde zum Gott des Donners und des Blitzes. Während der Sklaverei waren den Afrikanern ihre Religionen verboten, und darum maskierten sie ihre Götter als katholische Heilige – Shango wurde zu Johannes dem Täufer. Er war wild und entschlossen, mit eisernem Willen. Rot war seine Farbe, und er trug eine doppelköpfige Axt, die seinem wilden, bedrohlichen Tanz Ausdruck verlieh. Mit so jemandem, sagte Katherine, legte man sich nicht an.

»Also lebt er noch?«

»Oh ja, aber gewiss«, lachte sie. »Das sagen zumindest manche, anderen wiederum ist er gleichgültig.«

Mittlerweile saßen sie sehr eng beieinander. Antoney nahm die anderen nicht mehr wahr, nicht einmal Mr. Rogers. Katherine drückte eine Hand gegen das untere Ende seiner Wirbelsäule, legte die andere unter sein Kinn und hob es an. »Mögest du Wolken berühren«, sagte sie. »Aufrecht und groß werden. Oh ja. Kein Zweifel, du wirst eines Tages sehr, sehr stark.«

Und Antoney, in seinem roten Hemd, wusste, dass sie recht hatte. Sie ergänzte, schon beinahe flüsternd: »Ich glaube, du wirst ein großartiger Shango.«

Entlang der zwei Meilen von Annotto Bay reihten sich vierzehn Kirchen auf, deren älteste die rote Backsteinkirche der Baptisten auf der Main Street war, die 1831 während der Weihnachtsrebellion von Sklaven zerstört wurde. Bei ihrem Wiederaufbau waren farbige Glasfenster von Hand gefertigt und Bibelzitate auf die gelbe Leiste an der Wand geschrieben worden. Ein braunhaariger, blauäugiger Jesus schaute hinab auf seine Jünger, die sämtlich der Meinung waren, es sei höchste Zeit, dass Florence und Mr. Rogers getraut würden.

Sie machten sich bereit, die Gläubigen. Ihre Häuser summten und brummten, und überall roch es nach Jerk und Gewürzen. Antoney erhielt letzte Anweisungen. »Kein Hüpfen, kein Laufen und kein Tänzeln. Du gehst langsam den Gang hinter mir und Mr. Rogers her, verstanden?«

»Ja, Mama.«

Sie schlüpfte in Tante Ivys Kleid, das an den Hüften immer noch ein wenig locker saß. Antoney stellte sich hinter sie und zog den Reißverschluss zu. Sie verweilten vor dem Spiegel. »Du siehst schön aus, Mama«, sagte er.

Er trug die dunkelblaue Hose, die er an Katherines Tag getragen hatte, diesmal mit einem steifen, frisch gebügelten weißen Hemd. Mr. Rogers war bei seinem Freund Martin und machte sich dort zurecht. Sie hatten verabredet, sich vor der Kirche zu treffen.

Auf dem Heimweg von Kingston, an Katherines Abend, hatte Mr. Rogers den Arm auf dem Rücksitz eines anderen, leeren Busses (es war der Rat Attack) um Antoney gelegt. Sie hatten den ganzen Bus für sich, Mr. Rogers hatte einen befreundeten Busfahrer gefunden, der in ihre Richtung fuhr und sie ohne Murren mitten in der Nacht in St. Mary absetzte. Sie kurvten Runde um Runde, die Berge hinauf und hinab. Hinter den Fenstern war nichts zu sehen, nur die Nacht und ein milchiger Halbmond, der verschwand und wiederkam. Sie sprachen über Mr. Rogers’ Mutter, und über sie sprach Mr. Rogers selten, denn es ging ihr nicht so gut. Manchmal aber sprach er über Kuba, erwähnte knappe, geografische Details, zum Beispiel Schatten, man könne, so sagte er dann, vom einen Ende der Insel zum anderen unter dem Schattendach von Bäumen hergehen, oder Entfernungen, man könne, wenn man in einer klaren Nacht an Kubas Ufer stand und hinaus auf die See schaute, die Lichter von Jamaika sehen.

Aber in dieser Nacht wollte Mr. Rogers über seine Mutter sprechen. Sie sei eine stille und katzenhafte Lady. »Was meinst du damit?«, fragte Antoney. Dass sie wie eine Katze sei, sagte Mr. Rogers. Sie bewegte sich so sanft, sie war kaum mehr als ein Hauch. Sie hatte eine Weile in Havanna gelebt, in Kubas Westen, nun aber lebte sie in ihrer Heimatstadt Baracoa. Keine Straße führte dorthin. Man kam nicht mit dem Bus dorthin. Der Ort war von der Welt abgeschnitten, umgeben von Bergen und einem Meer voller Haie. Mr. Rogers sprach leise und zögernd. Diesen Tonfall hatte Antoney noch nie gehört. Sein Vater erzählte ihm, dass er sich nicht mehr an die Stimme seiner Mutter erinnern könne, weil ihre Stimme so sanft gewesen sei, aber auch, weil sie ihre Stimme so selten gebrauchte. Als sie in Havanna gelebt hatte, hatte sie sich in einen Seemann verliebt. Der Seemann aber hatte die See geliebt. Wenn er Segel setzte, wartete Mr. Rogers’ Mutter am Malecón, der Uferstraße von Havanna, und ging dort auf und ab. Doch eines Tages blieb ihr Warten vergebens. Sie ging am Malecón auf und ab, sieben Tage lang, in einem langen Rock und alten Schuhen und hielt nach ihrer Liebe Ausschau. Sie trug sein Kind unter dem Herzen. Jeden Tag war sie dort, bis die Sonne sank und die Nachttiere aufflogen, und am siebten Tag setzte sie sich auf die Ufermauer und zog sich die Schuhe aus …

Hier verstummte Mr. Rogers. Antoney war dem Schlaf nahe und wartete mit seiner Großmutter auf den Seemann. Als er merkte, dass Mr. Rogers nicht mehr sprach, oder er ihn nicht mehr hören konnte, war es schon zu spät. Er lag mit seiner Großmutter auf der bleichen Mauer, dann schlossen sie die Augen und trieben fort ins Meer.

Florence und Antoney trafen um elf an der Kirche ein. Florence, mit einer Blume am Hut, hielt ihren Orchideenstrauß in der einen, den Rock in der anderen Hand. Sie stiegen die beiden kreisförmigen Stufen zur Tür hinauf. Im Innern sammelte sich die Gemeinde, fächelte sich Luft zu, glättete Kinderröcke, sicherte sich die besten Plätze und besprach die verheißungsvolle Zukunft der Familie Rogers. Antoney fand die Kirche beunruhigend. In ihren Mauern wurde aufgesprungen, geblinzelt, geweint, geklagt, geklatscht, hier hatte sich Tante Ivy verloren, und ein entsetzliches Gefühl überkam ihn angesichts der wartenden Menge. Da war auch schon Tante Ivy, am Eingang, und schloss Florence in die Arme. Ganz Annotto Bay, von hier bis Boot and Stocking Bridge, wartete im Sonntagsstaat. Auch das glänzende Holzkreuz, auf das seine Mutter und Mr. Rogers zugehen würden, wartete. Irgendjemand wärmte sich am Tamburin auf. Antoney wandte sich um und stellte sich nach draußen auf die Stufe. Er steckte die Hände in die Taschen und sah, wie sich eine dichte graue Wolke auf die Sonne zubewegte.

Hinter ihm sagte seine Mutter: »Antoney, komm her zu mir. Deine Tante will mit dir sprechen.«

Als Antoney neben Florence stand, nickte und nicht wirklich lauschte, malte er sich aus, wie sein Vater über die Main Street und zur Kirche ging. Er trug seine schwarzen Schuhe und ein weißes Hemd, genau wie Antoneys. Die Blume an seinem Hut war gelb. Er musste jeden Augenblick zu sehen sein. Dann würde er am Fuße der Stufen stehen und mit ganz neuer Bereitschaft in das Gesicht seiner baldigen Ehefrau blicken. »Florence«, würde er sagen, »du bist hinreißend, schöner, als wenn du siebzehn wärst.« Dann würde er zu ihr eilen, ihren Arm nehmen, und sie würden den Gang zum Altar beginnen. Es war ganz einfach.

»Siehst du deinen Vater?«, fragte Florence.

Er trat wieder hinaus auf die Stufen. Er blickte die Main Street auf und ab und kehrte nach innen zurück. »Nein, Mama.«

Sie lächelte. In ihrem Blick lag nur ein Hauch von Sorge.

»Ich hab ihm gesagt, er soll bloß pünktlich sein.«

Sie führte das Gespräch mit ihrer älteren Schwester fort, obwohl sie immer weniger zu sagen wusste und immer häufiger zur offenen Tür schaute. Antoney blieb dicht hinter ihr, ein Fuß in, ein Fuß außerhalb der Kirche.

Als immer mehr Zeit verstrich, rückte auch Florence näher zur Tür. Ihre Miene verdüsterte sich, und sie entzog sich der Unterhaltung. Sie fragte Antoney wieder: »Siehst du deinen Vater?« Sie warteten und warteten. Sie warteten, bis sie beide auf der runden, flachen Stufe vor der Kirche standen, mit dem Rücken zur Gemeinde. Die Stimmen hinter ihnen wurden immer leiser. Florence umkrallte die Orchideen, die Ellbogen ragten zur Seite. Sie war wie versteinert, wie die Ziegel der Gefängnismauern, unfähig, nach vorne zu gehen, die Stufen hinunter, unfähig, zurück in die Kirche zu gehen.

Tante Ivy kam in ihrem Blumenkostüm und mit glänzenden Wangen heraus, um sich über den Fortgang der Dinge zu äußern. »Oh mein Gott, Florence«, sagte sie. »Wenn Mr. Rogers ein rechtschaffener Mann ist, wird er in dieser Minute kommen und dich um Vergebung bitten, sobald seine Augen dich sehen. Er ist spät, sehr spät, aber nicht zu spät. Doch Gott steh mir bei, wenn er nicht bald kommt, kann er sich nie wieder in Annotto Bay blicken lassen. Warte kurz.« Sie lehnte sich zurück in die Kirche und griff nach einem schlaksigen Neffen. »Joseph, lauf zu Onkel Martin und sieh, ob sie schon los sind, und beeil dich, Junge, wir warten schon viel zu lange.«

»Ivy«, sagte Florence und hob den Kopf. »Joseph, bleib, wo du bist. Niemand wird Mr. Rogers herbringen. Mr. Rogers muss auf eigenen Füßen und aus eigenem Willen herkommen.«

»Mama«, flehte Antoney, »lass mich gehen, ich hole ihn.«

Florence wiederholte: »Niemand wird Mr. Rogers herbringen.«

Eine Viertelstunde später sank sie zu Boden. Mit langsamen, bewussten Bewegungen, als wären sie schon einstudiert. Ein Arm – bloß in der Sonne – legte die Orchideen auf den flachen roten Stufenring. Sie verharrte dort eine Weile und sammelte sich. Dann streifte sie das Kleid ab, richtete sich auf, blickte nach vorne und stieg allein die Stufen hinunter. Antoney prägte sich alles ein, die Hände, die Schultern, die Haltung des Kopfes.

Kurz darauf folgte er ihr.