6

Es war eines jener lindenverschatteten Häuser abseits der Holland Park Avenue, deren Vorgärten so lang waren, dass man sich auf dem Weg zur Haustür eine Rede ausdenken konnte. Lucas war schon lange nicht mehr durch das Viertel geschlendert, Toreth war hier mit ihm spazieren gegangen und hatte ihm erklärt, der einzige Unterschied zwischen den Leuten auf dieser Seite des Hügels und ihrer bestünde im Geld, und das sei als menschliches Verdienst ein Witz. Drüben, auf dem großen Boulevard, lagen die hervorragende Patisserie, die Top-Qualitätsreinigung und der schicke Burgertreff, zwei Straßen vom üppigen Stadtgarten entfernt. Das Haus selbst war jedoch nicht so schick wie manch anderes in seiner Nachbarschaft. Weder war es von einer gepflegten Hecke umgeben, noch gab es Beete, Blumenampeln oder Hängekörbe. Es wirkte mit seinem rostigen Tor und dem knöchelhohen Unkraut, das unentschieden um einen Pfad aus Trittsteinen herumstand, fast ein wenig heruntergekommen, unheimlich gar, mit seinen dreckigen Fenstern und dem Kletterefeu an der Wand. Erst hatte Lucas aus reiner Verzagtheit vor dem Tor gezögert. Er kaute auf einem Wrigley’s herum, weil er vor seinem Besuch noch ein Mittagspfeifchen für nötig befunden hatte. Je näher er der schwarzen Haustür kam, umso weniger konnte er sich an das erinnern, was er sagen wollte.

Er klopfte. (Wenn du deine Angst nicht bezwingst, dann wird sie dich bezwingen.) In seiner Umhängetasche warteten Notizblock und Diktiergerät, falls es tatsächlich zu einem Interview kommen sollte. Eine spätfrühlingshafte Hitzewelle hatte die Stadt im Griff. Lucas trug sein einziges weißes Hemd, um einen guten Eindruck zu machen – er hatte keinen Termin und auch keine Vorstellung davon, was, oder wer, ihn erwarten würde.

Auch das zweite Klopfen blieb unerwidert. Lucas spielte schon mit dem Gedanken, eine Nachricht zu hinterlassen, was die schwierige Lucas-oder-Louis-Frage aufwarf, da sah er aus den Augenwinkeln, wie eine Gardine zuckte. Eine grau-weiße Katze saß im Fenster und beobachtete ihn. Er versuchte es noch einmal und wartete gefühlte fünf Minuten, bis er eine Bewegung hinter der Tür vernahm. Sie ging vorsichtig auf, dahinter stand ein fahler, bärtiger, alter Mann mit freudlosen Augen, der ein schlecht sitzendes Cordjackett und Hausschuhe trug. Mit feindseliger Miene spähte er zu Lucas hinaus.

»Ich habe keinerlei Interesse«, sagte er. »Ich werde Ihresgleichen wegen Belästigung anzeigen, Sie stören meine Privatsphäre.«

So viel Zorn wäre gar nicht nötig gewesen, auch wenn Lucas der Gasmann oder eine Avon-Beraterin gewesen wäre.

»Ich verkaufe nichts. Ich bin auf der Suche nach … Mr. Edward Riley?«

An der Art, wie sich sein Gegenüber versteifte (als ob Lucas ihn wegen irgendetwas beschuldigt hätte), war offensichtlich, dies war sein Mann. Es verwirrte ihn. Lucas hatte nicht damit gerechnet, dass Mr. Riley so einfach an die Tür kommen würde.

»Und, was wollen Sie?«, fragte der Mann.

Nun mach nicht rum, jetzt komm zur Sache. Für Cynthia. Tu es, für Cynthia.

»Ich bin Journalist. Louis Miguel, vom West-Magazin.« Die ausgestreckte Hand wurde nicht ergriffen. »Ich wollte Ihnen schon eine Nachricht hinterlassen – worum es geht, ich wollte mit Ihnen über meine Recherchen sprechen, über das Midnight Ballet …«

»Wie?«

Lucas dachte, Mr. Riley hätte ihn nicht verstanden, darum sagte er etwas lauter: »Das Midnight Ballet. Ich habe Ihre Artikel gelesen.«

»Welche Artikel? Woher haben Sie die?«

Der Mann wirkte ausgesprochen verwirrt und leicht paranoid. Das linke, bleierne Auge zuckte. Als Lucas ihn an die Existenz öffentlicher Bibliotheken erinnerte, drehte Mr. Riley den Kopf ein wenig, als ob er etwas in der Dunkelheit hinter sich hören würde. Aufgrund des virtuosen Stils der Artikel hatte Lucas eine selbstbewusste, hochtrabende Erscheinung erwartet, vielleicht jemanden mit dickem Bauch und Bart, aber nicht diese kleine, angespannte, verwaschene Type vor ihm. Er umklammerte einen Füllfederhalter, den er gelegentlich in seiner Handfläche hin und her rollte. Die andere Hand lag auf der Tür, bereit, sie Lucas jeden Moment vor der Nase zuzuschlagen. In einem letzten verzweifelten Versuch, diese Tür offen zu halten, holte Lucas eine Ausgabe der West aus seiner Tasche und erwähnte das Feature, an dem er schrieb (seit seinem Treffen mit Simone waren vier Wochen vergangen, und trotz erheblicher Anstrengungen hatte er noch nichts Vorzeigbares produziert). Er war sicher, dass er nun seines Weges geschickt würde, aber dann sagte sein Gegenüber ernst, mit leicht argwöhnischem Unterton: »Wie gehen Sie es an?«

Lucas dachte rasch nach. »Retrospektiv.«

»Woher haben Sie meine Adresse?«

»Aus dem Internet.«

»Sie hätten mir erst einmal einen Brief senden sollen. Schreiberlinge ertrage ich nicht.«

Damit machte er Anstalten, die Tür zu schließen. Lucas zerbrach sich den Kopf nach einem anderen Zugang. Ihm fiel ein, was er empfunden hatte, als er in der British Library Rileys Schilderungen von Antoney und seiner Truppe gelesen hatte. In der Stille dieser hohen Säle, vor deren Fenstern das Leben auf der Euston Road pulsierte, hatte er beinahe gehört, wie die Tänzerinnen – Carla, Simone, Milly – atmeten und ihre roten Viskoseröcke rauschten. Die raschen Schritte seines Vaters hatten auf seinem Lesepult vibriert.

»Mir haben Ihre Worte gefallen«, sagte er in einem anderen, einem vertraulicheren Tonfall. »Seine ›typische, wild donnernde Drehung‹. Das ist eine tolle Beschreibung.«

Die Junisonne schien in Mr. Rileys Augen, die sich nicht zwischen Grau und Blau entscheiden konnten. Sie sagten: »Schmeichelei verfängt bei mir nicht, junger Mann.« Doch als diese Augen auf Lucas’ Gesicht verweilten, zitterten Mr. Rileys brandygerötete Lippen leicht. Offensichtlich fürchtete er sich vor etwas, aber auch nicht genug, oder vielleicht war er einfach zu neugierig, um die Tür zu schließen.

»Ich wollte gerade das Haus verlassen«, sagte er. »Viel Zeit habe ich also nicht.«

Das Haus war in zwei Wohnungen aufgeteilt, Mr. Riley hatte das Erdgeschoss. Als Lucas ins Innere trat, verschwand der Juni. Der Flur war düster, schummerig und roch nach Katze, die Atmosphäre war so schwer, dass er sich instinktiv duckte, wie auf dem Boot. Das Haus wirkte nicht eigentlich schmutzig. Doch sein gesamter Inhalt, der Teppich, die Wände, der Lampenschirm mit seinen Quasten, all das schien so alt, als hätte sich der Staub darin entschieden, für immer dazubleiben. Trotzdem, Lucas war zufrieden, dass er so weit gekommen war, und beglückwünschte sich zu guter Tür-Taktik. Mr. Riley führte ihn langsam einen breiten Korridor entlang, von dem mehrere Zimmer abgingen. Die erste Tür stand einen Spalt weit offen, die zweite offenbarte eine altmodische Formica-Küche, die dritte war verschlossen. An der Schwelle zum vierten Zimmer, am Ende des Korridors, blieb Mr. Riley stehen. Sein Gang war immer langsamer geworden, und während sie den Korridor durchschritten hatten, hatte er sich verstohlen umgeblickt. Sein Rücken war von den Jahren niedergedrückt, sein Kinn lag am Hals auf. Bedächtig sagte er zu Lucas: »Bitte fassen Sie im Arbeitszimmer nichts an.«

Sie betraten ein großes, hässliches Zimmer. Das bräunliche Achteckmuster der Tapete war ungewollt retro, der Teppich ein verblichenes Blau. Vor der gegenüberliegenden Wand stand ein klobiger Mahagoni-Schreibtisch, darauf eine altmodische Schreibmaschine, inmitten von leuchtenden Post-its, Tassenrändern, Büchern, Papieren, daneben eine Ansiedelung von Kartons und grünen Lederschachteln. In einer Ecke kauerte ein paisleygemustertes Sofa. Die durchgebogenen Regale vor der Wand verlangten verzweifelt nach einem Schreiner. Ein Bord war allein dekorativen Kultgegenständen gewidmet – Glaselefanten, angeschlagenen Porzellanfiguren in Tanzposen, Miniaturballettschuhen, Briefbeschwerern und gerahmten Fotografien. Der Inhalt des Zimmers hatte sich offenbar im Laufe von Jahrzehnten angesammelt – hier ein antiker Zeitungsständer, dort ein metallener Aktenschrank – unter der einzigen Maßgabe, die zum Zeitpunkt ihrer Anschaffung an sie gestellten Forderungen zu erfüllen. Für Lucas war dies eine Zeitreise, ein Ausflug in die Arbeitshöhle eines Menschen, der nur wenig Kontakt zur Außenwelt hatte. Das Zimmer roch, wie Mr. Riley selbst, nach feierlicher Melancholie. Lucas sah regelrecht vor sich, wie Mr. Riley endlose Stunden an diesem Tisch verbrachte und dort seine detailreichen, lyrischen Artikel schrieb, den Blick kaum vom Text gelöst, die Lippen geschürzt und trocken vor Einsamkeit. Einzig eine Reihe französischer Fenster, die auf den Garten blickten und das Arbeitszimmer heller als die übrige Wohnung wirken ließen, bot Linderung von dieser bedrückenden Atmosphäre. Eines dieser Fenster stand auf, eine warme Brise spielte mit einem Paar bodenlanger Musselinvorhänge.

Nach einem Augenblick der Unentschiedenheit wies Mr. Riley Lucas an, sich auf das Sofa zu setzen. Er beobachtete ihn, eine Hand in der Tasche, die andere spielte immer noch mit dem Füller herum. Erst stand er ein wenig zu nahe, dann wich er zum Schreibtisch zurück. Er musterte Lucas, als habe er gerade eine unbekannte Spezies entdeckt.

»Hier also arbeiten Sie?«, fragte Lucas in seinem Bemühen um eine normale soziale Interaktion.

Die Frage wurde ignoriert. »Was genau ist der Anlass für Ihren Text?«

»Nun«, sagte Lucas/Louis, »es ist Stück ungeschriebener Geschichte, unbekannter Lokalkultur. Und außerdem«, das hatte Simone erwähnt, »ist im Moment in der schwarzen Tanzszene einiges los, der Zeitpunkt ist also günstig.«

»Ah. Verstehe.«

Das Lügen wurde anstrengend. Lucas war nicht sicher, wie lange er in solch einer erdrückenden Situation undercover bleiben konnte. Ihm fiel ein, wie er mit Jake im Alter von fünfzehn Jahren in einen Pub in Maida Vale gegangen war. Sie hatten so getan, als wären sie aus Sheffield, bis sie ihre Ausweise zeigen mussten – der falsche Akzent war zerbröselt, als sie dem Barmann einreden wollten, sie seien alt genug zu trinken. Lucas sagte Mr. Riley, dass er sich mit Simone de Laperouse getroffen hatte, und zumindest das war keine Lüge. Als Lucas ihm berichtete, was Simone über das Midnight Ballet erzählt hatte, über dessen Aufstieg, so eigene Formensprache und exotischen Reiz, wurde die Miene seines Gegenübers noch besorgter. Mr. Riley kam bedrohlich näher. »Exotisch! Lachhaft!«, er schrie beinahe. »Das war eine ernst zu nehmende Compagnie mit einem überzeugenden Repertoire. Mit handwerklich gelungener und intelligenter Choreografie. Das war eine der wichtigsten Compagnien ihrer Zeit, nicht irgend so eine affige Cabaret-Nummer.«

»Äh, sicher«, sagte Lucas. Hier, in seinem Arbeitszimmer, wirkte Mr. Riley plötzlich groß und energisch, raubtierhaft geradezu. Seine aschfahle Nähe war beunruhigend.

»Ich verbiete Ihnen dieses Wort.«

»Sie meinen affig?«

»Exotisch!« Eine kurze Pause entstand. »Es ist sehr wichtig, sie nicht falsch darzustellen.«

Die Art, wie Mr. Riley »sie« sagte, war seltsam. Mr. Riley hatte dabei zur Tür geschaut, als ob er das Midnight Ballet samt seiner Kostüme, Instrumente und Seesäcke im Korridor vermutete. Die Vorstellung war so mächtig, dass Lucas ebenfalls zur Tür sah. Er entschied sich, auf den Punkt zu kommen.

»Simone hat ja eine ziemlich eigene Meinung über den künstlerischen Leiter der Truppe«, sagte er. »Wir fokussieren besonders auf ihn – war offenbar ein interessanter Typ. Kannten Sie ihn gut?«

Mr. Riley sagte leise (er hatte sich wieder hingesetzt): »Allerdings.«

»Können Sie mir sagen, woran Sie sich am ehesten erinnern? Falls es Ihnen nichts ausmacht? Gibt es irgendeine Besonderheit, an die Sie sich erinnern?«

Lucas holte seinen Notizblock heraus. Mr. Riley blieb vollkommen reglos, beobachtete Lucas, die verblichenen Hände lagen sorgsam auf den Knien. Wieder diese anklagende Miene. Er vermittelte Lucas ein intensives Gefühl von Abneigung. Nach einem langen, unangenehmen Schweigen sagte er:

»Seine Stimme.«

»Seine Stimme.«

»Sie war ängstlich. Raunend.«

Um sich Mr. Rileys Blicken zu entziehen, senkte Lucas den Kopf und schrieb.

»Er neigte manchmal ganz plötzlich den Kopf, als würde er seltenen Vögeln nachlauschen. Finden Sie diese Beschreibung auch so toll?«

Als Lucas wieder aufsah, blickte er in Augen voller Hass. Er verstand nicht, warum Mr. Riley so feindselig war. Er wollte gerade etwas erwidern, doch sein Gegenüber war noch nicht fertig.

»Wieso meinen Sie, dass Sie hier so einfach reinplatzen können? Mich Dinge fragen können, die Sie gar nicht verstehen?«

»Hören Sie, ich wollte nicht …«

»Meinen Sie, nur weil Sie ein paar Artikel gelesen haben, wären Sie Experte? Könnten Sie fremde Erinnerungen stehlen und daraus Ihre eigenen machen?« Lucas stand langsam auf. Mr. Riley stand mit ihm auf. »Ich sollte Sie wohl darüber informieren, dass ich seit Jahren an einem Projekt arbeite, gegen das Ihres ein abgenagter Knochen ist. Antoney Matheus war ein vielschichtiger …«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür auf geradezu geisterhafte Weise, dann schlüpfte die Katze ins Arbeitszimmer. Lucas entsetzte sich. Der Schweiß brach ihm aus. Denise hatte recht. Es wäre besser, das alles zu vergessen und nach vorn zu schauen. Es wurde unheimlich. Die gepflegte und wohlgenährte Katze ignorierte beide Männer, ging zum Regal und rieb sich mit erhobenem Schwanz daran. Und genau da fiel Lucas’ Blick auf eine Fotografie seines Vaters, die einige Reihen höher, inmitten der Reliquien stand.

Dort standen sogar zwei Fotografien, und keine der beiden hatte er je zuvor gesehen. Eine zeigte Antoney, auf einer Straße, mit einem Streichholz zwischen den Lippen – das Bild war wohl an einem Wintertag aufgenommen, angesichts des schweren Mantels und der vielen Schichten darunter. Auf seiner Stirn waren zwei tiefe Falten. (Was hast du getan, als du an den Punkt gekommen bist, wo du nicht mehr wusstest, wohin?) Das andere Foto zeigte Antoney mit Anzug und Hut, er wirkte jünger, lehnte in einem Türrahmen neben einem anderen, zierlicheren Mann, ebenfalls im Anzug, über ihnen das Schild Bühnentür. Beide wirkten glücklich, zufrieden, hatten die Arme auf gleiche Weise verschränkt, die Köpfe einander freundschaftlich zugeneigt. Sie wirkten, als könnten sie die Welt aus den Angeln heben und nach ihren Wünschen gestalten.

Mr. Rileys Redefluss verstummte, als die Katze schnurrend um seine Beine strich. Lucas ging zum Bücherregal.

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, hörte er Mr. Riley. »Bitte gehen Sie jetzt, und fassen Sie nichts an.«

»Sind Sie das?«

»Wer?«

»Auf dem Bild hier.«

Der Mann neben Antoney wirkte vital, mit strahlenden Augen, dichtem, lockigem hellbraunem Haar und einem schmalen Kinn. Er trug eine apricotfarbene Krawatte. Er war von einer gewissen Eleganz, einer Eleganz, die Lucas auch an Riley bemerkt hatte, als er sich das erste Mal in seinen Stuhl gesetzt hatte. »Sind Sie das in jüngeren Jahren?«

Mr. Riley stellte sich hinter ihn. Sie sahen gemeinsam auf das Bild. Die Atmosphäre entspannte sich.

»Neunzehnhundertachtundsechzig«, sagte Mr. Riley. »Er war gerade für einen Choreografie-Preis nominiert worden.«

»Davon hab ich gelesen.«

»Da war er auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Sehen Sie nur, wie glücklich er wirkt.«

»Ja, das stimmt.« Lucas drehte sich zur Seite, damit er Mr. Riley ins Gesicht sehen konnte. »Mr. Riley«, sagte er, »was ist ihm widerfahren?«

»Ich dachte, Simone de Laperouse hätte Ihnen alles erzählt?«, höhnte er.

»Nicht die ganze Geschichte.«

»Er – na ja – er hat uns verlassen.« In seiner Stimme klang ein ferner, zärtlicher Unterton mit.

»Wollen Sie es mir nicht erzählen?«

Mr. Riley schwieg, er wurde wieder ernst. »Seien Sie bitte ehrlich. Treibt Sie dabei ein persönliches Interesse, das Sie mir gegenüber noch nicht erwähnt haben?«

Endlich sagte Lucas es. »Er war mein Vater.«

Das Projekt, von dem Riley gesprochen hatte, sollte sich zu einem Buch mit dem Titel »Antoney Matheus und das Midnight Ballet« entwickeln, ein langwieriges Unterfangen, das der Vollendung nun aber nicht mehr fern war. Es war als Vermächtnis der Compagnie und Antoneys Biografie gedacht. Die vielen Schachteln neben dem Schreibtisch lagen voller Manuskriptseiten, Skizzen und Quellenmaterial wie Konzertprogramme, Fotografien und Plakate. Riley verfügte über Kopien eines jeden Artikels und einer jeder Besprechung, die über die Compagnie erschienen waren, wobei eine beträchtliche Menge aus seiner eigener Feder stammte. Die Bücherregale bargen eine regelrechte Tanzbibliothek, mit der Mr. Riley jede Prämisse, jede noch so marginale Tatsachenbehauptung kontextualisieren und stützen konnte. Er erklärte all dies recht leidenschaftlich; man müsse sein Terrain, so sagte er, bis ins Letzte beherrschen. Dieser Raum hütete das Archiv eines vergessenen historischen Moments, und Mr. Riley sah sich als Einzigen befähigt, dieser Geschichte zu ihrem Recht zu verhelfen. Er erlaubte Lucas noch immer nicht, irgendetwas auch nur anzufassen, aber schließlich, im Laufe der langen nun folgenden Unterhaltung, zeigte er ihm einige Seiten aus seinem Buch. Ganz zum Schluss erwähnte er, mit einer gewissen Zurückhaltung, noch einen Gegenstand, den letzten Beweis für sein Insider-Wissen: eine grüne Lederschachtel voller Briefe, die ihm Antoney geschrieben hatte.

Riley hatte Antoney im Juni 1968 bei einem Pressetermin kennengelernt, nachdem er ihn schon oft hatte tanzen sehen. Kurz darauf machte er mit ihm ein Interview für Dancing Eye, und sie wurden gleichsam auf der Stelle zu Freunden. Noch bevor sie sich persönlich begegnet waren, hatte Riley geglaubt, Antoney schon zu kennen, schon in seine Seele geblickt zu haben, denn ein Tänzer, der gut ist, trägt sein Herz auf dem Körper. Sie waren eins, diese beiden. »Ich will damit sagen«, erklärte er Lucas, »dass wir zwar sehr unterschiedlich waren, uns aber vollkommen verstanden haben.« Antoney hegte einen besonderen Respekt für Riley, weil er als einziger Kritiker ein wirkliches Empfinden für seine Arbeit hatte. Der Erfolg der Compagnie war gleichsam über Nacht gekommen, und ihre Auftritte wurden überall besprochen, doch zu viele Journalisten legten zu viel Gewicht auf ihre Ethnizität, ihren »Exotismus«, auf ihre Schönheit und Lebendigkeit. Natürlich wollte Antoney etwas Schönes erschaffen, aber er wollte auch ernst genommen werden. Er wollte, so hatte er sich einmal geäußert, nicht als bunter Hund oder Einhorn gelten. Der Umzug nach England habe ihn übermäßig dafür sensibilisiert, wie sehr die Hautfarbe vom Wesentlichen ablenken könne. In Jamaika, als kleiner Junge, habe er eine viel deutlichere Sicht auf die Dinge gehabt. »Schwarz ist so viel mehr als schwarz«, sagte er immer. »Das Leben ist doch so viel mehr.«

Er wurde zum »dunklen Adonis«. Die Frauenpresse fand besonders großen Gefallen an ihm. »Shango Storm ist eine stürmische Show!« – »Elektrisierend!«, schrieb She. Mehr noch: »Wann hat man so etwas Hinreißendes zuletzt auf einer britischen Tanzbühne gesehen?« Simone de Laperouse wurde wegen ihrer technischen Meisterschaft bewundert, Milly Afolabi wegen ihrer knisternden Energie, Ekow wegen seines Charmes – aber Antoney war eindeutig der Star. Im Kulturteil der Londoner Tagespresse, in den Untergrund-Magazinen der aufblühenden Schwulenszene erschienen kurze, locker-flockige Interviews. Ein Times-Kritiker erkor ihn zu Englands Alvin Ailey mit Karibik-Flair. Nicht alles, was geschrieben wurde, war grenzwertig, trotzdem hatte Riley es auf sich genommen, in Dancing Eye lange Besprechungen zu Antoneys Ehrenrettung zu verfassen, die sich auf das Handwerkliche und den Ausdruck der Compagnie konzentrierten, auf Antoneys frühe Meisterschaft als Choreograf. Schon damals hatte er es fast als eine Mission betrachtet – denn etwas Seltsames war geschehen, als er Antoney zum ersten Mal tanzen sah. Etwas, was ihm niemals zuvor geschehen war, bei keiner der hundert Aufführungen, die er besprochen hatte. Die Regel lautete, die Augen bleiben oben, der Stift bleibt unten. Das, was man sieht, was sich in einem Oberkörper ereignet, wie nuanciert Armhaltungen sind, Drehungen, das Hintergrundgeschehen, all das wird in einer Art sensorischem, unleserlichem Gekritzel niedergeschrieben, das man erst im Nachhinein entziffert. Man sieht nie nach unten. Solange der Vorhang oben ist, wird geschrieben. Als aber Antoney zum ersten Mal auf der Bühne des Ledbury Theatre als Shango erschien, in roter Weste und rotem Rock – nachdem Riley ihm nur wenige Minuten lang zugesehen hatte, hörte er zu schreiben auf. Sechs oder sieben Minuten lang. Er erklärte es Lucas mit einem Zögern. Der Wortfluss stockte. Jeder Kritiker braucht einen Engel, um ihn aufrecht zu halten, sagte er. Vielleicht war ihm ja seiner in jenem Moment erschienen.

Riley hatte selbst einst zu den Schreiberlingen gehört. Er hatte in den Fünfzigerjahren als Nachrichtenreporter gearbeitet, doch ihm hatte die dafür nötige Forschheit gefehlt. Er stellte die falschen Fragen, und wenn er sie stellte, war es zu spät. Als Kind hatte ihn seine Mutter einmal im Monat mit in ein Theater im West End genommen (seine Großmutter war Ballerina, auf dem Dachboden ihres Hauses in Finchley lagen pastellfarbene Tutus und eine Volantkrinoline aus Satin). Er hatte auf den dunklen Samtbänken Feigen gegessen und zugesehen, wie die Schwäne mit ihren Ballettfüßen den See überquerten, wie der Nussknacker gegen das Heer des Mäusekönigs kämpfte, und irgendwann, besonders während der Duos, hatte sich das Gefühl in ihm eingenistet, dass irgendetwas fehlte, dass irgendetwas dazukommen musste, zusätzlich zu den Feigen. Das Gefühl war in die Fingerspitzen gewandert und hatte sie zum Kribbeln gebracht. Um das Kribbeln zu besänftigen, hatte er Stift und Papier mit ins Theater genommen. Aus Kritzeleien wurden Worte, aus Worten wurden Sätze, über die himmelsgleiche Bühne und die geflügelten Wesen, die sie ihr Eigen nannten.

Diese frühe Begeisterung für den Tanz hatte Riley niemals verlassen. Während einer Schicht im Newsroom hatte er einem Reporter gegenüber einmal erwähnt, dass er gerne Tanzkritiken schreiben würde. Sein Kollege, der für seine Taktlosigkeit berühmt war, hatte erwidert, dass Riley ganz sicher nicht als Kritiker geeignet sei, weil man dafür nämlich wissen müsse, was man meint, »und Sie wissen ja nicht, was Sie meinen. Sie sind ein durchschnittlicher Mann mit durchschnittlichem Verstand. Nichts für ungut, aber Sie haben zu keinem Thema wirklich was zu sagen.« Bald darauf verließ Riley die Zeitung, um sich seinen Lebensunterhalt auf die mühsame Weise des Freiberuflers zu verdienen. Er schrieb für die Tanzpresse. Er saß bei drei oder vier Aufführungen pro Woche auf den Presseplätzen, bei Alvin Ailey sogar drei Reihen von Antoney und Oscar entfernt. Er entwickelte ein eigenes Notizbuchsystem, ordnete seine Kritzeleien aus dem Dunkel nach Alphabet und Farbe, entsprechend Genre und Compagnie. Immer, wenn er schrieb, war er auf Reisen. Es war, als säße er in einem Zug, als würden Dächer, Schafe, gelbes Gras an ihm vorüberziehen, und schließlich kam er irgendwo an, mit klarem Kopf. Man muss überhaupt nicht wissen, was man denkt, hätte er seinem Kollegen gesagt, wenn er die Gelegenheit dazu bekommen hätte. Das findet man erst später raus. Es reicht, wenn man die Richtung kennt.

Angesichts all dessen, was Riley schon vor seiner Begegnung mit Antoney über das Midnight Ballet geschrieben hatte, und wenn es ebenso zutraf, dass Autoren ihr Herz auf der gedruckten Seite trugen, konnte man wohl mit gleichem Recht behaupten, dass auch Antoney bereits Riley kannte. Riley war zehn Jahre älter. Er wurde zu Antoneys Vertrautem und Ratgeber, wenn es um kreativen Zweifel, sein Verhältnis zu den anderen Tänzern oder den Umgang mit seinem plötzlichen, verstörenden Ruhm ging. Sie führten lange Gespräche in einem spanischen Café gegenüber des 20th Century Theatre auf der Westbourne Grove, in deren Verlauf sie von Kaffee zu Brandy wechselten. Ihr Lieblingstisch stand neben einem farbigen Glasfenster, auf das sie beide schauten, wenn sie nachdachten. Antoney war der Redselige. Riley der Zuhörer, der stille Betrachter. Er wurde bei den Proben der Compagnie willkommen geheißen, und so lernte er die anderen Mitglieder der Truppe kennen, Ekow, den zwanghaften Fürsprecher, die larmoyante Simone, den misstrauischen Bluey und Carla (»deine Mutter machte sich einen Spaß daraus, mich mit dem Nachnamen anzureden«). Im Herbst 1968 folgte Riley ihnen auf einer Tour durch Großbritannien, im Hinterkopf schon sein künftiges Buch. Es war bemerkenswert, in welch kurzer Zeit sie so erfolgreich geworden waren, doch für die damalige Zeit war das nicht ungewöhnlich. Einen Monat nach dem Ledbury hatten sie einen Auftritt im Jeannetta Cochrane Theatre in Holborn, dann folgten Shows im Commonwealth Institute und Sadler’s Wells. Riley hatte zusehen können, wie ihre Aufführungen dichter, perfekter wurden, ihre Verbeugungen gesammelter und weniger panisch. Die experimentelle Szene, die in jenen Jahren den zeitgenössischen Tanz prägte, nahm sie mit offenen Armen auf, aber auch das breitere Publikum schätzte sie. Bereits ein Jahr nach ihrem Debüt zogen sie landesweit auf respektablen Bühnen große Zuschauermengen an. Es waren für alle, nicht zuletzt für Riley, turbulente und großartige Zeiten. Fahrten in rostigen Zügen durch Englands Süden, sonnenbeschienene Spaziergänge, Diamanten, die auf Wellen hüpften. An manchen dieser Orte, Cardiff, Oxford, Devon, wurden die Tänzer wie reisende Würdenträger behandelt. Sie stiegen in einem idyllischen Gästehaus oder schicken Hotel ab, sie, die lärmende Truppe mit ihrem rauem Showbizglamour, ihre Poster hingen in Lobbys, Bibliotheken und Geschäften, zum Frühstück gab es die besten Eier. Sie genossen es in vollen Zügen. Es gab Einladungen zu Partys, Kleinstadtmädchen flatterten nach dem Vorhang zur Bühne, ihre Bilder waren in der Zeitung. Antoney und Ekow marschierten wie Rockstars an der Spitze ihrer Entourage in die Theater. Die Bühnentür, von der Antoney einst nur geträumt hatte, war nun der alltägliche, allabendliche Durchgang.

»Dein Vater glaubte, dass ihn das Schicksal begünstigt habe«, erzählte Riley Lucas. »Er hatte das Gefühl, er sei auserwählt – der Mond-Bus, die Flugträume. Er liebte das Zitat von Albert Einstein, wonach Tänzer die Athleten Gottes sind.« Entsprechend schwer war es ihm gefallen, nach einer Show wieder auf den Boden zu kommen. Das war sein bestes Selbst, dort oben auf der Bühne. Er wollte, dass der Applaus ewig weiterbrandete, und musste die Stille, die folgte, mit seinem eigenen Gerede übertönen. In der Garderobe sprach er endlos über Höhepunkte und Fehler eines Abends. Er trat als Erster durch die Tür der nächstgelegenen Kneipe, wo er in der Aufmerksamkeit der Gäste badete, die unvermeidliche Pall Mall an der Lippe, den Hut in den Nacken geschoben. Am nächsten Morgen war er distanziert und launisch, nur wild auf den nächsten Auftritt, und oft war der einzige Mensch, mit dem er dann zusammen sein wollte, Riley.

Im Anschluss an die Rückkehr nach London arbeiteten Ekow und Oscar, der sich um die verwaltungstechnischen Angelegenheiten der Truppe kümmerte, bereits Pläne für eine neue Tournee aus, diesmal auf dem europäischen Festland. Eine Einladung von einem Pariser Theater lag bereits vor. Sie schickten Angebote nach Holland, Dänemark und Belgien, an Orte, wo parallel und zahlreich über sie berichtet worden war. Antoney begab sich in der Zwischenzeit daran, ein neues Ballett zu kreieren. Inspiriert war es von einer Diskussion mit Riley über die Frage, ob der Tanz versuchen sollte, seine Musik zu werden. Antoney wollte damit experimentieren, dass einzelne Körperteile einzelne Instrumente wiedergaben. Konnte der Bauchnabel zum Klavier werden? Konnten die Schultern die Reinheit von John Coltranes Tenorsaxofon erreichen? Doch er hatte Mühe mit dem Stück. Es ließ sich nicht fassen. »Bei jedem neuen Stück ist es am Anfang dasselbe«, offenbarte er Riley bei ihrem ersten Interview in dem Café. »Ich fühle mich total unfähig und völlig verängstigt. Ich sehe etwas, eine Beugung, eine Begegnung von Körper und Musik, aber ich weiß nicht, was daraus wird. Ich suche, ich fühle es, aber ich finde es nicht. Es macht mir Angst.« (Riley hatte Antoney in diesem Moment genau beobachtet, wie er innehielt, wie er den Kopf schräg nach oben in Richtung des farbigen Glasfensters neigte, wie ein Vogel, der lauscht.) »Wenn ich es dann endlich habe«, fuhr Antoney mit blitzenden Augen fort, »wenn ich es ein Stück weit vorangetrieben habe, hab ich das Gefühl, ich hätte ein ganzes Tagespensum erledigt, sollte meinen Mantel holen und ein Bier trinken gehen. Die ersten Schritte sind die reine Perfektion. Sie strahlen. Ich wünschte, ich könnte sie den Leuten so zeigen, so ganz für sich, bevor der ganze Rest das dann zerstört.«

Ekow tat die Idee für das neue Ballett als schlicht und prätentiös ab. Antoney erwiderte, das ginge ihn nichts an. Oscar hatte schon lange auf Antoney eingeredet, damit er Ekow auch einmal an die Choreografie ließ, aber Antoney sperrte sich. Es widerstrebte ihm, selbst Oscar ein Mitspracherecht zu gewähren. Er wollte sich beweisen, dass er es alleine schaffen konnte. Die Truppe trat immer noch regelmäßig in Londons Umgebung auf, es war eine willkommene Ablenkung von dem, was sich zu einer kreativen Blockade auswuchs, aber die Feindseligkeit zwischen Antoney und Ekow nahm nur noch zu, da Antoney sich weigerte, auch nur ein kleines Stück Kontrolle abzugeben. Die Beleuchtungsprobe und der Soundcheck wurden zu Zweikämpfen, denn nun wollte Ekow wenigstens hier das Sagen haben. Vor einem Auftritt in Greenwich warf Antoney in einem Wutanfall die Scheibe aus dem Blues-House-Stück quer über die Bühne und verfehlte nur knapp einen Techniker. Auch die Proben waren von Konflikten geprägt. Simone schlug sich auf Ekows Seite, unterstützte all seine Vorschläge und zog Antoneys Worte in Zweifel. Sie beklagte sich laut über die mageren Summen, die die Tänzer erhielten, und befeuerte damit die allgemeine unterschwellige Unzufriedenheit über die Diskrepanz zwischen dem Erfolg der Compagnie und den Einkünften ihrer Mitglieder. Simone war, Rileys Meinung nach, ein bösartiges, hinterhältiges Wesen, und er fand auch Benjamin sehr unangenehm. Riley hatte miterlebt, wie er Antoney einmal des Diebstahls bezichtigt hatte. »Sag du mir die Wahrheit. Du hast nie mal in die Kasse gegriffen, um dir einen Burger oder ein Fläschchen Rum zu besorgen?« Milly verließ während dieser Probe den Raum, sie war es leid, dass ständig gestritten wurde. Hätte es nicht die stabilisierenden Elemente innerhalb der Gruppe gegeben – Oscar, The Wonder, Carla –, wäre die ganze Sache an diesem Punkt womöglich in sich zusammengefallen.

Rileys Ablehnung Simone gegenüber wuchs, je besser er sie kennenlernte. Immer wollte sie im Mittelpunkt stehen, und wenn sie etwas wollte, tat sie alles dafür, auch wenn das hieß, dass sie ihre Freunde verraten musste. Antoney war, ungefähr einen Monat vor der Europatournee, mit seinem Coltrane-Tanz noch nicht über die ersten Schritte hinausgekommen, da war Riley in der Kirche Zeuge eines Zwischenfalls zwischen Antoney und Simone geworden.

Er war zum Powis Square gegangen, weil Antoney nicht wie verabredet in dem Pub nahe des Notting Hill Gate erschienen war. Riley hatte sich wie immer auf die gemeinsame Zeit gefreut und war enttäuscht. Es war ein ungewöhnlich warmer, ruhiger Märzabend. Riley schlenderte die Portobello Road entlang, in der Hoffnung, Antoney würde ihm dort begegnen, und als es auf zehn Uhr zuging, wandte er sich in Richtung Kirche. Die Tür war angelehnt. Er schlüpfte ins Innere. Jazzmusik lief, Coltranes »A Love Supreme«. Riley wollte gerade in den Proberaum gehen, als über die Musik hinweg Stimmen erklangen, erst die Stimme einer Frau, dann Antoneys. Die Frau sagte: »Ich dachte ja nur, du hättest vielleicht gern ein wenig Gesellschaft. Nun sei nicht so schroff.« Das war Simone. Riley spähte in den spärlich beleuchteten Flur, er sah sie von hinten, sie stand an einem Fenster, nur wenige Meter von Antoney entfernt, in einem kurzen Häkelkleid und einem Paar hochhackiger Riemchenpumps, die ihre strammen, muskulösen, geölten Waden betonten. Sie war angezogen, als wollte sie zu einer Party, während Antoney mit bloßem Oberkörper, barfuß und nur mit seiner dünnen Tanzhose bekleidet dastand. Auf seiner Haut lag eine zarte Schweißschicht. Riley verharrte auf der Schwelle und lauschte.

»Nimm dir ’nen Drink, wenn du willst«, sagte Antoney. »Ich bin nicht der Schroffe hier.«

»Warum vergessen wir das nicht einfach alles?«

Simone nahm sich einen Plastikbecher vom Tisch, der neben einer Flasche Rum stand, den Blick fest auf Antoney geheftet. »Weißt du eigentlich«, sagte sie, »dass du viel besser aussiehst, wenn du ohne Oberteil tanzt? Du solltest immer so tanzen, deine Fans würden wahnsinnig … Gibt es hier was zum Verdünnen?«

»Siehst du hier eine Bar?«

»Egal, ich lass es. Es macht nur keinen Spaß, allein zu trinken.«

»Ich bin sowieso fertig. Ich war auf dem Weg nach draußen.«

»Arbeitest du immer noch an diesem Coltrane-Stück?«

»Was willst du, Simone?«

»Ich weiß, dass du damit Probleme hast.«

Antoney durchquerte den Raum und hob ungeduldig sein T-Shirt vom Boden auf. »Das wird schon.«

»Es wär doch schön, wenn es für Paris fertig wäre, oder? Oh, bitte, meinetwegen musst du dich nicht anziehen«, sagte Simone in einem, wie Riley fand, ziemlich verruchten Tonfall. »Es ist ja nicht so, als hätt ich diesen Anblick nicht schon mal genossen.«

Sie stelzte aufreizend im Catwalk-Gang auf ihn zu, ließ den Fuß in der Luft kreisen, setzte einen vor den anderen. Riley sah nun, dass ihre Lippen mit Gloss bestrichen waren, die Wangen scharf mit Rouge konturiert. Er fand sie so abstoßend, wie eine Frau nur sein konnte. Die Schlüsselbeine stachen an den dünnen Schultern hervor, ein so viel geringerer Anblick als der von Antoneys geschmeidig ebenen Wüsten. »Nicht«, sagte sie und fasste ihn am Arm, berührte den weichen Stoff des T-Shirts.

»Warum nicht?«

»Weil ich es nicht will.«

Dann war Schweigen, sie sahen einander nur an. Riley ergötzte sich an Antoneys prachtvollem rostbraunem Rücken, eine Kette um den Hals, als er auf Simone hinabsah. Vielleicht flüsterte sie ihm etwas zu, Riley war nicht sicher. Aber er sah, dass sie eine Hand auf Antoneys Taille legte. »Ich hab immer eine Schwäche für dich gehabt, das weißt du.« Und während ihre Finger tiefer wanderten, sagte sie: »Ich hoffe, Carla zeigt sich – sagen wir, so dankbar für ihre Privilegien … wie ich es wäre?«

»Hey, komm, hör mit dem Blödsinn auf«, sagte Antoney und schob sie fort.

»Findest du nicht auch, dass sie in letzter Zeit ein wenig launisch ist? Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Sie spricht kaum noch mit mir.«

»Vielleicht liegt das an deinem Benehmen.«

»An meinem Benehmen?«

»Du und Ekow, ihr zwei macht nur Ärger.« Zu Rileys Erleichterung zog Antoney sein T-Shirt an. Sie sprachen eine Weile über Ekow, Simone sagte, sie könne ja versuchen, ihn zu etwas mehr Zurückhaltung zu bewegen – schließlich wolle sie nur das Beste für die Truppe –, aber Antoney sei manchmal wirklich sehr eigensinnig. Es schien, als würde er ihr zustimmen.

Coltrane bewegte sich auf das abschließende »Psalm« zu, Antoneys Lieblingsstück. Simone sagte, und dabei schlich sich die Verführerin wieder in ihre Stimme: »Warum zeigst du mir nicht, woran du heut Abend gearbeitet hast? Vielleicht überrasche ich dich. Vielleicht kann ich etwas beitragen, etwas Besonderes. Etwas, was kein anderer Mensch auf der Welt dir geben könnte.«

Sie näherte sich Antoney erneut, diesmal glitten ihre unwürdigen Hände an seinen Armen empor und schlossen sich hinter seinem Hals. »Wir könnten gemeinsam daran arbeiten«, schlug sie vor und presste ihren Körper gegen seinen. Sie fühlte sich offenkundig nicht wohl dabei, sich ihm so anzubieten – sie wirkte peinlich. Riley hätte sie am liebsten verscheucht, wie eine Fliege von einem rohen Steak.

Antoney schien amüsiert. »Simone«, sagte er, »du machst dich zum Narren. Ich steh nicht auf dich.«

Sofort schnellte ihr Kopf zurück – eine Hand rieb über den anderen Ellbogen, als ob sie sich gestoßen hätte –, sie machte einen grazilen Schritt in Richtung Tür, Riley wich zurück. Dann aber fuhr sie zornig herum. Alles Verführerische war fort. Das war Simone de Laperouse, wie man sie kannte, hochmütig, fordernd und selbstsüchtig.

»Antoney«, sagte sie. »Ich bin die einzige ausgebildete Tänzerin in dieser Truppe. Ich bin gut genug für Rambert, aber ich habe dich gewählt. Ich trainiere härter als alle anderen, ich gebe bei jeder Show, bei jeder Probe mein Bestes – ich verdiene den Status der Haupttänzerin. Du hast verdammtes Glück, jemanden wie mich an Bord zu haben, und das weißt du. Warum also, Herr Künstlerischer Leiter, haben Sie mir noch immer kein Solo gegeben?«

»Ein Solo?«

»Ja, ein Solo.«

»Das also willst du? Ein Solo?«

»Ich werde mir wohl kaum selbst eins choreografieren«, sagte sie beleidigt.

Antoney lachte. »Und warum sagst du das nicht einfach, Mädchen? Hättest dich nicht rausputzen müssen, als wolltest du zu den Marshall-Brüdern.«

Er lachte wieder über die Musik hinweg, er bog sich vor Lachen vor und zurück, eine ganze Weile lang. Riley wäre beinahe mit eingefallen.

»Du weißt wirklich, wie man einer Frau schmeichelt, was?«

»Keine Sorge, Baby«, sagte er, beruhigte sich wieder und nahm einen ordentlichen Schluck aus einer Tasse. »Ich schreib dir eines Tages ein Solo. Du hättest mich ganz einfach fragen können. Das machen wir, ich versprech’s dir.«

Sie warf ihm einen obszönen Blick zu, die kleine Adlernase in der Luft, dann machte sie den gleichen grazilen Schritt in Richtung Tür, die Hand am Ellbogen. Und plötzlich war Antoney, so sollte er es Riley an jenem Abend später noch erklären, von ihrem Profil, der leichten Höckernase, dem empörten Mund vollkommen gefesselt. Um sie herum leuchtete alles, wurde lebendig, vor allem zu ihren Füßen und um den Hals herum. Antoney hatte das seltsame Gefühl, dass sein Blut heißer strömte, dass alles in ihm beschleunigt, in Aufruhr war. Coltranes Saxofon im Hintergrund. Die Frau, der Vogel, sie verschmolzen mit dem Saxofon. Wie durch ein Wunder erschienen ihm die ersten Schritte ganz deutlich vor Augen. Er ging auf Simone zu, zittrig, wie ferngesteuert.

»Es muss nicht einmal ein Saxofon sein«, murmelte er. »Etwas anderes ginge auch.«

»Was?«, raunzte sie.

»Mach das noch mal. Was du gerade getan hast.«

Lucas hörte all das in der Senke auf Rileys altem Sofa. Seine Fragen wurden immer zugespitzter, immer karger. Hatte Carla das jemals herausgefunden? Warum war sie so launisch? Wie hatte Antoney seinen Kaffee getrunken? Die Notizen blieben aus, als Louis Miguel endlich seinen Griff lockerte und Lucas, Sohn von Antoney, in die Geschichte seines Vaters eintauchte. Es war das erste Mal, seit er den Kirschholzschrank geöffnet hatte, dass er sich selbst darin sah, in Antoneys Rastlosigkeit und Unsicherheit, in den melancholischen Morgenstunden. Rileys Arbeitszimmer verwandelte sich von einer geschmacklosen Rumpelbude in einen köstlichen Schrein; hier hatte Antoney einst geschlafen, hier, auf diesem Sofa, hier hatte er einst gestanden, dort drüben bei den Fenstern, wo Rileys Erinnerungen an ihn am stärksten waren. Die weißen Vorhänge blähten sich im Wind, umwehten seinen großen, starken Körper. Für Lucas war es, als hätte er endlich festen Boden unter den Füßen. Und Riley legte all seine Feindseligkeit ab, er war nett und zuvorkommend, regelrecht glücklich, sein Wissen mit jemandem teilen zu können, der all dem so nahestand. Er servierte Lucas Tee, in einer angeschlagenen Tasse, und bot ihm sogar trockene Bourbon-Kekse an. »Es ist bemerkenswert, dass du gerade jetzt erschienen bist«, sagte er. »Ich durchlebe gerade selbst so etwas wie eine schöpferische Blockade.« Dabei zupfte er sich ständig, es schien ein nervöser Tic zu sein, am Bart herum. Obwohl er sich geöffnet hatte, strahlte er immer noch eine unüberwindbare Distanziertheit aus.

Riley schrieb dieser Tage nur wenig für die Tanzpresse. Das Dancing Eye war 1982 eingestellt worden. Stage schickte ihn gelegentlich nach Euston, ins The Place mit seinen unbequemen Sitzen, aber Rileys Fingerspitzen kribbelten nicht; seine Seiten wurden immer leerer. Er war zu dem Schluss gelangt, dass sich ein Leben auf mehr als ein paar Seiten in einem Magazin oder ein paar Textspalten in einer Zeitung belaufen sollte. Er arbeitete vorwiegend an seinem Buch, und das nun schon seit siebzehn Jahren. Einen Verleger hatte er bislang nicht, hoffte aber auf Interesse, wenn das Projekt erst einmal beendet war. Nach außen hin schien es, als besäße Riley keines der Accessoires, die das Alter mit sich bringt, keine tote Frau, keine Kinder, keine Enkel. Er hatte seit den Sechzigern in derselben Wohnung gelebt und diese offenbar nie renoviert. Auf die Frage, warum er so lange für das Buch benötigte, sagte er einfach, und damit meinte er Antoney: »Er will nicht vergessen werden.«

Lucas sah sie vor sich, Antoney und Riley, zwei Männer, die die Welt nach ihren Vorstellungen formen konnten. Sie gingen bis zum höchsten Punkt der Ladbroke Grove in jener warmen, stillen Nacht des März 1969. Es war vier Uhr morgens. Riley hatte die Kirche unbemerkt verlassen und war nach Hause gegangen, wo ihn Antoney, mit einem smaragdgrünen Wildledercape aus dem Kostümfundus und einem flackernden Lächeln, in den frühen Morgenstunden weckte. Er bat ihn, mit ihm und »den Geschöpfen der Nacht« spazieren zu gehen. Riley fühlte sich wie ein Kind, an dessen Seite ein Zauberer wandelt. Sie gingen stundenlang umher, den Holland Park Boulevard entlang, um den großen Kreisverkehr von Shepherd’s Bush, die Wood Lane hinunter bis nach Harlesden. Antoney sprach unentwegt von »Bird«, seiner ersten, ureigenen Schöpfung. Ihm sei nie zuvor aufgegangen, wie beschwörungsmächtig Simone war. Er musste sie nur beobachten. Sie tat genau, worum er sie bat, und doch tat sie so viel mehr, indem sie einfach nur sie selbst war. »Es war, als ob der Tanz auf uns gewartet hätte, und wir mussten nur noch gemeinsam hineingehen.« Antoney tanzte auf die Straße, um eine Sequenz vorzuführen. Es wirkte mit seinem Cape vollkommen albern und wurde nur knapp von einem Auto verfehlt. Er war leichtsinnig, entflammt. Er würde Europa erobern. Das Leben war grenzenlos.

An der Spitze des Hügels blieben die Männer stehen. Sie sahen hinab auf violett schlafende Straßen, die Äste noch beinahe bloß unter der ersten Frühlingsblüte, auf Armeen von Kaminen und bernsteinfarbenen Laternen. Antoney legte den Arm um Rileys Schulter und kam mit seinem Gesicht sehr nahe.

»Siehst du das Schimmern da draußen, Riley, da hinten am Rand der Erde? Diesen leuchtenden Streifen? Diese geheime Macht? Das Schimmern? Da draußen?«

»Meinst du die Lichter?«, fragte Riley.

»Ja«, sagte Antoney lächelnd. »Das Licht. Das liebe ich so an dir. Du weißt immer, wovon ich spreche.« Sie standen schweigend in der Stille, Rileys Herz klopfte, Antoney sah auf den Horizont und dessen fernes, gelbliches Leuchten. »Das da draußen«, sagte er, »das verleiht mir den Glauben an mich selbst.«

Du Versager, dachte Denise. Du Drückeberger, fauler, selbstsüchtiger Penner.

Sie wartete auf Lucas. Er hätte um halb fünf da sein und ihr beim Transport für das Mittagessen der Heilsarmee helfen sollen. Jetzt stand sie da in ihrer Zimmermannshose und den vernünftigen Schuhen, während die Ware in einem Kistenstapel auf dem Boden darbte, die Sonnenblumen in schmalen Metalleimerchen vor dem Stand warteten, die Orchideen nahe bei Denise. Sie hielt in der Ferne Ausschau, rechnete aber eigentlich nicht mehr mit ihm. Ein Heer von Kaufwilligen zupfte an den Ständen herum, befingerte afrikanischen Schmuck, gebatikte Strampelanzüge und Secondhand-CDs. Denise hatte an diesem Tag bereits einen versuchten Raubüberfall und einen Mann aus Nigeria überstanden, der vergeblich nach einer schwarzen Blume verlangt hatte. Wirklich schwarze Blumen gibt es nicht, hatte sie ihm erklärt, nur die Illusion von Schwarz, wie bei Stockrosen oder Calla, die aber hatte sie nicht. Es missfiel ihr, wenn sie den Wunsch eines Kunden nicht erfüllen konnte. Alles in allem war sie sehr mieser Stimmung.

Morgens war sie wie üblich um vier Uhr aufgestanden, als Lucas noch schnarchte. Sie hatte ihr Kissen geschüttelt und ihr kompliziertes Bad genommen, sich dann auf den Weg zum New Covent Garden Blumenmarkt gemacht, der allerdings nicht in Covent Garden, sondern einer Lagerhalle auf der anderen Seite des Flusses lag. Dort, in Battersea, begann, wenn es noch dunkel war, der Tag von Denise. Sie fuhr mit ihrem taufeuchten, senffarbenen Auto die Park Lane entlang und ließ sich vom Zauber der Morgenröte betören. Das war ihr einziger Moment der Zerstreuung, und in diesen fiel auch der Anblick ihres Lieblingsbaums, derjenige draußen vor dem Dorchester, mit den vielen Lichtern. Dieser Baum strahlte durch seine Haltung eine ganz besondere Überzeugung aus. Es war immer Weihnachten in diesem flüchtigen Moment am Beginn ihres Arbeitstages, in der Gegenwart dieses Baumes.

Wenn sie am Markt ankam, im Anorak aus der düsteren Tiefgarage auftauchte, das Haar – sie war erst neunundzwanzig, doch es wurde schon grau – streng gescheitelt und zu zwei Zöpfen geflochten, verblich alles andere. Sie näherte sich den schweren Gummitüren und stieß sie mit der ihr eigenen verborgenen Verve auf. Die Blumenköpfe strahlten sie an. Wiesen aus Gelbtönen, eine Palette an Rosa, der unverkennbare Geruch weit gereister Rosen. Sie tauchte ein in ihr schönes Metier. Als Händlerin musste sie auf alles vorbereitet sein. Sie musste sich jede Gelegenheit vorstellen können, eine Hochzeit, ein Begräbnis, einen Liebhaber, den Schenkenden ebenso wie den Beschenkten. Sie musste die Blume vorhersehen, die der alte, nun einsame Mann kaufen würde, um sie auf das Grab seiner toten Frau zu legen, musste ahnen, wie der letzte Romantiker im November seine Leidenschaft ausdrücken oder was die Schwester der Braut wollte, die Weiß hasste. Denn solche Menschen gibt es. Es gibt Menschen, die um neun Uhr morgens zu Denise an den Stand kommen und eine Blume ohne Blattwerk wollen, am besten ohne Stiel. Sie musste für alles gerüstet sein. Und so eilte sie jeden Morgen mit einem Wagen durch die Lagerhalle und sammelte ihre wohlüberlegten Güter ein, beobachtet allein von den Reihen gläserner Gartenzwerge – Lucas hatte einmal versucht, ihr einzureden, sie wären lebendig –, dann fuhr sie die Park Lane zurück zu ihrem Platz unter den weißen Markisen auf der Portobello Road, einem guten Standort im Herzen des Marktes. Neben ihr befand sich ein Händler mit algerischen Seidentüchern, der jeden Tag Falafel aus dem Falafel King an der Ecke aß und ihr immer die Orange schenkte, die es dazu gab. Denise war ruhiger als Em. Denise war keine Marktschreierin. Sie war auf kühle Weise aufmerksam, beriet, wo es nötig war, ließ aber sonst ihre Blumen sprechen.

Wo verdammt war er? Sie hatte Lucas den ganzen Tag noch nicht gesehen. Donnerstags ging er doch immer »arbeiten«, aber selbst dann entdeckte sie ihn meist irgendwann vor Honest Jon’s und schleppte ihn für eine halbe Stunde an ihren Stand, damit er ihr half. Nicht, dass er eine große Hilfe wäre. Er war nicht gut im Einwickeln und verschwendete so viel braunes Papier wie eine unfähige Imbiss-Kraft, aber zumindest war er dann mit etwas Nützlichem, etwas Einkommensbezogenem beschäftigt. Das Essen der Heilsarmee war Denises erster großer Auftrag, und sie glaubte, dass sie schon jetzt einen schlechten Eindruck gemacht hatte. Sie musste die Blumen wohl selbst dort hinbringen. Dabei sollte Lucas das doch tun! Er war wie ein Kind, und es wurde immer schlimmer mit ihm. Er rauchte zu viel von diesem modrig riechenden Zeug. Das würde sie in Zukunft auf dem Boot nicht mehr dulden, dann musste er es draußen rauchen, auf dem Pfad. Er hatte keine Richtung, keinerlei Ehrgeiz. Er hinterließ Kekskrümel auf der Küchentheke. Er drückte die Zahnpasta am oberen, selbstsüchtigen Ende aus. Hielt er sie für seine Mutter? Glaubte er im Ernst, dass er den Rest seines Lebens auf ihre Kosten leben könnte? Selbst wenn sie seine Mutter gewesen wäre, hätte sie ihrem Sohn solche Freiheiten nicht zugestanden. Von nun an gab es kein Geld mehr. Sie würde ihn schon zwingen, endlich selbständig zu werden, anstatt durch diesen verdammten Schrank zu wühlen, durch diese alten Dinge, als wäre er Rentner oder Hobbyarchäologe. Wahrscheinlich hörte er, wie so oft in jüngster Zeit, gerade Sam Cooke oder Nina Simone statt seinem üblichen Hip-Hop-Gebrüll und hockte in diesem Schrank. Denise hasste Hip-Hop. In ihren Augen war Hip-Hop aggressiv, arrogant und testosterongetränkt. Sie hatte überhaupt keine besonderen musikalischen Vorlieben, ihr war die Stille noch am liebsten. Aber wenigstens lebte Scarface, oder wer auch immer gerade angesagt war, im Hier und Jetzt. Revolverschüsse im Hintergrund waren vermutlich die bessere Option, wenn man bedachte, worauf Lucas nun verfallen war. Fragen. Jeden Tag Fragen. Seltsame Fragen. Wie alt war »Antoney«, als er ertrank? Hatte sie Erinnerungen an gemeinsame Momente ihrer Eltern? Hatte sie die Adresse ihrer Großmutter auf Jamaika? »Als ich gesagt habe, du solltest dir einen Job suchen, hatte ich nicht an den MI5 gedacht«, hatte Denise erst vorige Woche erwidert. Er rüttelte an ihrem Fundament, löste dessen sorgsam platzierte Steine. Er machte dumme, klischeehafte Bemerkungen wie »Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wohin er geht« und »Der Mensch kennt sich selbst nicht genügend, wenn er nichts von seiner Vergangenheit weiß«. Stand er davor, der Nation of Islam beizutreten? War er für Sekten anfällig? Sie wusste es nicht. Selbst sein Gang regte sie auf.

Doch wenn sie ganz ehrlich war, machte sie sich Sorgen. Nein, seine Mum war sie nicht, aber seit jenem Tag im Jahr 1986, als sie sechzehn, Lucas zwölf und Toreth in das Pflegeheim gekommen war, hatte sich Denise für ihn verantwortlich gefühlt – und wie eine Mutter ihr großes, dem Spielzeug entfremdetes Kind nie wirklich als Erwachsenen sehen kann, sah auch Denise, trotz ihrer Wut, ihrer Erwartungen, ihren Bruder immer nur so, wie er an jenem Tag gewesen war, als stangendünnen zwölfjährigen Jungen.

Denise hatte das schmale Gesicht und die auffälligen Augen der Bruce-Seite, in ihrer Art aber war sie Florence ähnlich, an die sie sich vage als eine harsche, scharfzüngige Frau erinnerte. Sie hatte mit ihrer Großmutter väterlicherseits nie viel zu tun gehabt. Sie hatte von Toreth erfahren, dass Carla sie mit den Kindern zu streng fand. Sie war vermutlich inzwischen tot, so wie alle anderen auch. Der Tod hatte Denise ein Leben lang begleitet, es begann mit dem Tod ihrer Mutter, als Denise vier war und zum ersten Mal gespürt hatte, dass sie irgendwie für Lucas verantwortlich war. Hinter ihrem Schutzschild aus Blumenfolie hatte Denise sehr wohl verstanden, dass das Leben beschwerlich war.

Es gab da einige markante Bilder, die wie ungeliebte Möbel in ihren Erinnerungen herumstanden. Das markanteste war das ihrer Mutter, sie lag im Gras, mit Gänseblümchen im Haar, und trug nur einen Schuh. Toreth hatte mit Denise oft, wenn sie beide allein waren, über die Gänseblümchen gesprochen. Lucas war noch ein Baby, als Carla »verschied«, wie Toreth es ausdrückte, und so blieb er verschont. Toreth schilderte Denise immer in diesem merkwürdigen, schwafeligen Tonfall, der Denise so unangenehm war, wie Toreth in dem weißlichen Krankenzimmer gestanden und die feuchten Blumen aus dem Haar ihrer Tochter gepflückt hatte. Toreth stammte aus einer anderen Haarwelt, und darum hatte sie Carlas Korkenzieher, ihre üppige weiche Fülle immer geliebt. »Ich hab mir immer vorgestellt, darin wie in einem Wald herumzuspazieren«, erzählte sie, »und so hat es sich auch tatsächlich ein wenig angefühlt, als ich die Stiele herausgerupft habe: als ob ich in einem Wald umherginge und es sehr still wäre. Es ist erstaunlich, Denise, wie viel man von seinem Kind versteht, wenn es dahinscheidet. Das ist der Moment, in dem man es ganz und gar kennt, besser als je zuvor. Begreifst du das, Liebes?«

»Nein«, sagte Denise geradeheraus. »Dafür bin ich zu jung.«

Toreth hatte also die Gänseblümchen herausgezupft, und sie waren auf den desinfizierten Boden gefallen, dann hatte sie wieder nach den Kindern gesehen, denn in solchen Situationen müssen Mutter und Tochter die Rollen tauschen, sie wissen ja, wie die andere alles handhabt. Toreth wusste beispielsweise, dass Carla ihren Kindern jeden Tag etwas beibrachte, etwa den Namen der Kreuzdorn-Büsche mit ihren blauen Beeren, die am Uferweg wuchsen, oder die genaue Entfernung bis nach Dominica. Sie wusste auch, dass Carla, wenn Denise keine Vitamine essen wollte, diese zu einem Nichts schnitt oder karamellisierte, damit Denise wenigstens die Seele von Gemüse zu sich nahm. Aber es war nicht dasselbe, nicht für Denise. Sie weinte auch nicht bei der Beerdigung, weil sie immer noch überzeugt war, dass ihre Mutter aufstehen und wieder laufen würde, auch wenn man sie in eine Kiste gelegt hatte. Stattdessen tröstete sie Lucas und hob ihn irgendwann in ihre Elfenarme.

Ihr Vater kam nicht zur Beerdigung, wohl aber Florence. Sie wohnte damals in der Silchester Road, und Denise erinnerte sich, dass sie dorthin mitgenommen wurde. Florence stand an einem Baum, ein wenig von der Trauergemeinde entfernt. Sie hatte einen Schleier an ihrem schwarzen Hut, der das Gesicht zum Teil verdeckte. Bevor sie den Friedhof verließ, ging sie zu Toreth. Sie wechselten kein Wort, nur einen langen Blick, beide waren kalt und mitfühlend. Ich versuche ja zu verstehen, schien Toreth zu sagen, aber das ist nicht der richtige Moment, du blöde Kuh. Als Antoney einen Monat später die Böschung herunterkam, war Toreth weniger zugänglich. Auch das war ein markantes Bild in Denises Gedächtnis, die plumpe Gestalt ihrer Großmutter, die mit einem kleinen Küchenmesser in der Hand die Kajütentür öffnet. Toreth hatte Gemüse klein geschnitten und in Seelen verwandelt. Sie hatte gesehen, wie Antoney den Hang herunterkam, und als er klopfte, war sie ohne argen Hintergedanken zur Tür gegangen. Sie hatte ihm lediglich sagen wollen, er solle sich niemals wieder bei ihr blicken lassen. Doch als sie in sein Gesicht schaute, fand sie die Worte nicht. In seiner unerwünschten Gegenwart sah sie nur eines, die unabänderliche Abwesenheit ihrer Tochter, und das Haar, das nicht mehr wuchs. So hob sie den Arm, mit fremdem, vagem Ausdruck, und fuhr ihm mit dem Gegenstand, den sie zufällig in der Hand hielt, durchs Gesicht.

Dies war das letzte Mal, dass Denise ihren Vater sah. Frühere Erinnerungen an ihn waren spärlich. Er war eine Andeutung in den Augenwinkeln, ein reizbarer Schemen hinter den weichen Armen ihrer Mutter. Toreth gab diesem vagen Umriss Farbe, indem sie seinen Charakter schrittweise diffamierte. Er sei »eine üble Saat«, »eine üble Brut«, niemals hätte sie zulassen dürfen, dass sich Carla mit ihm einließ, und überhaupt sei er der Grund, warum sie ihnen vor der Zeit genommen worden war. Denise hatte oft den Eindruck, dass ihrer Großmutter nicht wirklich bewusst war, was sie bei ihren Monologen von sich gab oder zu wem sie sprach. Denise wollte nicht über das waldige Haar ihrer Mutter oder die verkommenen Gene ihres Vaters sprechen. Sie wollte überhaupt nicht sprechen, und schließlich rettete sie sich in ihren Garten.

Soweit sie wusste, war Antoney in den Siebzigerjahren mit seiner Mutter nach Jamaika zurückgekehrt. Toreth und Florence hatten über die Jahre einen lockeren Kontakt gehalten, bei dem es sich um die Kinder drehte. Manchmal sprach Toreth über Florence, sie habe ein hartes Leben gehabt und verdiene deshalb Mitleid. Eines Tages, Denise war zwölf, Lucas acht, setzte Toreth sie beide in die Essecke und verkündete, sie habe von Florence gehört, ihr Vater sei gestorben – nicht »verschieden«, sondern gestorben – er sei bei einem Bootsunfall ertrunken. Danach entstand eine verwirrte Stille. Lucas war wie stets der drängendere Frager. Was für ein Boot?, wollte er wissen. Eine Fähre oder ein großes Schiff? Konnte er nicht schwimmen? Gab es da Haie? Toreth sagte, sie wisse nichts Genaues, aber es sei doch sehr wahrscheinlich ein kleines Boot gewesen, denn wenn es ein Dampfer gewesen wäre, hätten sie davon in der BBC gehört. »Seid nicht traurig«, sagte sie. »Das ist keine einzige Träne wert.« Nun sei auch dieses Kapitel endlich abgeschlossen und sie könnten in Frieden weiterleben.

Denise hatte beobachtet, wie Lucas die Geschichte in seinen mageren Händen umhertrug. Sie nach seinem Sinn und Vermögen gestaltete. Es war in Jamaika, die Nacht war dunkel. Am Himmel Regenwolken. Ein Mann stieg in ein Boot. Er war ein guter Schwimmer, aber gegen das Gewitter hatte er keine Chance. Er segelte hinaus, und als er weit draußen auf dem Meer war, begann es zu regnen. Oh nein, dachte der Mann. Es regnete und regnete und regnete, und dann kam der Donner. Der Mann war klatschnass. Er verlor eines der Ruder. Dann kam eine große Sturmwelle und warf sein Boot um. Er schwamm beinah zwanzig Minuten lang, bis er nicht mehr konnte, und schließlich sank er auf den Grund des Meeres und wurde nie wieder gesehen. Wenigstens gab es dort keine Haie. Für Denise hingegen war die Neuigkeit kaum mehr als ein Wassertropfen auf einer fremden Insel.

Es wäre ihr vermutlich sogar gelungen, Antoney ganz zu vergessen, wären da nicht Toreths letzte Worte gewesen. Zwei Tage, bevor ihre Großmutter verstarb, besuchten Denise und Lucas sie im Pflegeheim. Sie saß in ihrem Rollstuhl. Der zweite Schlaganfall hatte ihre rechte Seite gelähmt, doch an jenem Tag schien es ihr nicht schlechter als sonst zu gehen, abgesehen davon, dass sie Seltsames von sich gab. Sie wolle, so sagte sie, die Llandudno-Hügel sehen, die weite, endlose See. Sie sagte: »Ich kann den Mann nicht aufhalten. Er kommt schon seit Langem auf mich zu, aber er bleibt immer wieder stehen, weil ihn etwas am Wegesrand ablenkt.« Lucas hielt ihre Hände. Toreth weinte. Als sie aufbrachen, rief Toreth Denise noch einmal in ihr Zimmer, zu einem letzten intimen Monolog. Dies jedoch war kein Monolog. Es war kurz, dafür umso schwerer, wie immer, wenn es zu viel zu sagen gibt.

»Denise«, sagte sie mit nahem, abgestandenem Atem, mit ihrem kränklichen Anisgeruch. »Schreib deiner Großmutter in Jamaika und frag sie nach deinem Vater.«

Das war alles. Ein halbes Jahr später schrieb ihr Denise. Weitere Monate vergingen, bis Florence schließlich antwortete, mit einem blauen Luftpostbrief und dem Poststempel aus St. Mary. Der Brief war in dem harschen Ton gehalten, den Denise in Erinnerung hatte: »Dein Vater ist von uns gegangen«, schrieb sie. »Am besten, ihr vergesst ihn und lebt euer Leben.« Dann aber offenbarte Florence noch etwas. Denise ließ den Brief daraufhin einige Momente nach unten sinken, bevor sie ihn schließlich zu Ende las. Sie hatte sich nie überwinden können, diese Information an Lucas weiterzugeben, und so hatte sie den Brief zwischen ihren Arbeitsunterlagen versteckt und nie wieder in die Hand genommen. Sie hatte sich, wie zuvor auch, um ihren Bruder gekümmert, und das Kapitel blieb, wie zuvor schon, abgeschlossen.

Der Brief war noch da, er war an das Ende der Schublade unter dem Bett gerutscht. Als Denise an ihrem Stand auf Lucas wartete, kam ihr auf einmal der panische Gedanke, dass er ihn womöglich gefunden hatte. Vielleicht stellte er deshalb so viele Fragen. Vielleicht war er deshalb auch nicht gekommen. Vielleicht hatte er ihn entdeckt und seinen Inhalt nicht verdauen können und hatte – aber was? Sie wusste es nicht. Sie musste nach Hause. Sie bat den Algerier, ihren Stand im Auge zu behalten, während sie die Blumen zur Heilsarmee fuhr, dann machte sie so schnell wie noch nie zuvor Feierabend. Eilig trug sie alles zum Auto: die Eimer, die Ausgedienten, die Orchideen, die Einnahmen. Sie fuhr eine Abkürzung und umging den Verkehr auf der Ladbroke Grove. Sie war nicht mehr wütend, nur unruhig, und das war selten der Fall.

Lucas war nicht zu Hause. Denise eilte durch die Kabine zum Schlafzimmer und zog die Schublade auf. Sie hetzte durch die Papiere, befühlte das Holz am Boden, in den Ecken, an den Seiten. Sie fand ihn nicht und hätte beinahe geweint. Erst, als sie die Schublade ganz leer geräumt hatte, erst dann sah sie ihn. Ja, dort war er, ganz hinten, in seinem blauen Luftpostumschlag. Ein offenes Kapitel. Ein Anlass zu Verstörung. Eine Reise in die Vergangenheit. Es gab eines nur zu tun. Denise stand auf und nahm ein Streichholz.