9

Carla erfuhr das mit Bluey auf hässliche, beiläufige Weise. An einem kalten Novemberabend des Jahres 1971 saß sie mit Antoney in ihrem seetüchtigen Wohnzimmer, Carla rechts im Sessel ihrer Mutter, der da noch nicht die Beine spreizte, Antoney links in seinem Tal aus dreizehn marokkanischen Kissen, die er günstig in der Golborne Road erworben hatte. Carla nahm in regelmäßigen Abständen eine silberne Schere vom Schrank, sie zog eine Kordel durch die Ärmel an Denises Mantel. Antoney war mit einem anderen Projekt beschäftigt, dem Entwurf eines Codes, um seine Ballette aufzuzeichnen. Gelegentlich langte er zum Plattenspieler und setzte die Nadel an einer bestimmten Stelle auf einer LP der Maytals auf. Er trug zwei Pullover übereinander.

Carla sagte: »Leg doch Candi Staton auf, ich mag ihre Stimme so sehr.«

Er war auf die Rückwärtsbeuge mit ausgestreckten Armen im zwölften Takt von »Blues House« konzentriert, für die er ein neues Kürzel erfinden musste. »Lass mich das hier noch grade beenden. Ihre Stimme lenkt mich nur ab«, sagte er.

»Oh ja, hab ich vergessen.«

Sie trug ein marineblaues Leinenkleid, das sie gerne zu Hause anzog, unter einer dicken, pflaumenvioletten Jacke, deren Farbe ihr ausgesprochen gut stand. Die Schwangerschaft hatte sie äußerlich kaum verändert. Sie hatte nur sehr wenig zugenommen und die Kilos gleich nach der Geburt wieder verloren. Ihre Knöchel waren auch nicht angeschwollen. Der einzig sichtbare Unterschied war die Erschöpfung unter den Augen, und es war ihr nicht mehr so wichtig, auf Schritt und Tritt coole Klamotten zu tragen. Sie gefiel Antoney in diesem reiferen, entspannteren Selbst. Er kam gerne zu dieser Carla nach Hause und küsste ihre warme Wange – auch wenn er nicht jeden Tag so empfand. Sie legte den Kindermantel auf den Schoß und befestigte die Kordel von innen. »Gehst du morgen zu Oscar? Wir könnten ja später vorbeikommen.« Beim Klang seines Namens lag immer noch eine kurze, scharfe Spannung in der Luft, aber die Kirche anders zu nennen, schien auch nicht richtig. Antoney hatte nichts von ihm gehört und die Hoffnung inzwischen aufgegeben.

»Ich geh um zwei zu Riley. Er will mit mir ein Interview für seine …«

»Große Güte«, fiel ihm Carla ins Wort. »Wenn Riley nicht so gehemmt wäre, könnte er glatt als Talkmaster arbeiten.«

Antoney fuhr unbeirrt mit seiner Arbeit fort. Er hatte an diesem Tag etwas Wichtiges erfahren und bisher vergessen, es Carla gegenüber zu erwähnen. Sie stand auf, ging zur Theke und machte sich einen heißen Tee. Er lehnte dankend ab. Als sie mit dem Geschirr ihrer Mutter herumklapperte, war es mit seiner Konzentration endgültig vorbei. Toreth nahm einen festen Platz in ihrem Alltag ein, sie war durch Geschenke präsent (eine Wanduhr, eine Tischdecke für die Essecke, Wäsche) oder ihre Besuche, bei denen sie es nie versäumte, darauf hinzuweisen, dass man ein Kind ja wohl nicht auf einem Boot großziehen könne. Es nervte Antoney, dass man in das Leben Fremder verstrickt wurde, nur weil man deren Kinder geheiratet hatte. Da hatte er sich endlich seiner eigenen Mutter mit ihren Sticheleien und Klagen entzogen – Florence hatte für die Sache mit dem Boot auch kein Verständnis und kam selten an Bord –, um dann im Dunstkreis einer anderen Mutter zu landen. Er war am nächsten Tag nicht mit Riley verabredet, aber Carla wollte den Tag mit ihrer Mutter verbringen, und Antoney ertrug deren Anwesenheit im Studio nicht. Er legte sein Notizbuch auf die Seite und lehnte sich in die Kissen zurück. Nun fiel ihm auch wieder ein, was er an diesem Tag erfahren hatte. Nervös sah er zu Carla. Wieder sprach sie zuerst, mit erzwungener Beiläufigkeit: »Und, siehst du Simone diese Woche?«

»Das fragst du mich jetzt schon zum zweiten Mal. Und wie ich schon sagte, Freitag.«

»Ist sonst noch jemand dabei?«

»Warum kommst du nicht mit und passt auf?«

Sie senkte duldsam den Kopf und rührte in ihrem Tee, den sie, im Gegensatz zu ihrer Mutter, nicht zudeckte, damit er schneller abkühlte. Ihre Mutter legte immer einen Teller darauf, sodass er heiß blieb, falls sie ihn einmal vergaß. Antoney hatte gehört, wie sie sich deswegen gezankt hatten.

»Sie kann Kinder nicht leiden«, fuhr Carla fort. »Deshalb kommt sie ja auch nie hierher. Ich hasse, wie sie Denise angurrt. So falsch.«

»Angurrt?«

»Ja, sie gurrt.«

Aus dem Schlafzimmer kam ein Husten. Im Sommer war das Leben auf dem Wasser wunderbar, dann lagen sie an Deck und hatten eine Sonne ganz für sich allein. Es war schön, fort von den dreckigen Straßen zu sein, dem Müll, den überfüllten Cafés, in einem anderen Zeitmaß zu leben und mit anderen Bootsbesitzern, die vorbeifuhren oder eine Weile in der Nähe anlegten, entspannt zu plaudern. Es war ein friedliches Nirgendwo. Aber im Herbst, im Winter lebten sie in einem eisigen Durchzug. Denise war oft krank. Sie schnieften und niesten sich durch die Wintermonate. Noch dazu fürchtete sich Carla vor den unaussprechlichen Spinnen, die sich in Massen hinter den Schallplatten drängten. Das Husten wiederholte sich nicht.

»Was hattest du gesagt?«, fragte sie.

»Ich bin heut Morgen Ric begegnet.«

»Echt? Wie geht’s ihm?«

Ein zweites Husten. Eine Pause, eine Hustenlawine, dann ein Weinen. Carla sah Antoney erwartungsvoll an, doch sie war schon auf den Beinen. »Ich gehe.« Zehn Minuten Trösten, Murmeln, klagende Geräusche, dann trat sie wieder durch den Vorhang, mit Denise auf dem Arm, ihrer unbändigen, dickbeinigen Zweijährigen, die bei der Geburt ein ganzes Orchester dirigiert hatte.

An jenem bemerkenswerten Sonnenuntergangabend anno 1969, nachdem Antoney die Silver ohne jede Vorwarnung von Greenford weggesteuert und gegenüber der Kensal Green Gaswerke festgemacht hatte, hatte Denise, als sie im Krankenhaus in Carlas Armen lag, als Erstes heftig gezuckt und mit den winzigen Händchen in der Luft herumgewirbelt. Carla kannte die Bewegung, sie hatte sie in ihrem Bauch gefühlt. »Hallo, kleines Geheimnis«, hatte sie fassungslos geflüstert, Antoney an ihrer Seite. »Wie seltsam es ist, dich endlich zu sehen.« Sie schauten sie an, die Augenlider violett und verdrießlich dünn, das pechschwarze Haar von Carlas Vater. Jedes Strampeln, jedes Zucken der Mundwinkel, das Heben und Senken der Brust, wenn das Baby schlief, waren ein Abenteuer, ein Ereignis. Seine Gedanken, das konnte Carla spüren, waren milchweiß. Carla liebte es, diesen neuen, zarten Rücken in ihren Händen zu halten. Als Denise drei Monate alt war, war ihr Lieblingsspielzeug ein seltsamgesichtiger, fliederfarbener Teddy, den sie sich mit Begeisterung auf den Mund schlug, während sie mit den Beinchen strampelte. Antoney hatte väterlichen Enthusiasmus gezeigt, bis Denise ungefähr vier Monate alt war. Er verstand nämlich nicht, warum sich Kinder benahmen, wie sich Kinder benehmen. Er verstand nicht, warum Denise Joghurt essen und gleichzeitig ihren Fuß in den Mund stecken wollte.

»Nimm sie mal eine Minute, ich hol grad ihre Arznei.« Carla reichte ihm das Kind nach unten. »Dann fängt sie doch gleich wieder an zu weinen«, sagte er.

»Ja, mag sein. Aber sie schläft halb, nun nimm sie einfach.«

Vater und Tochter gingen eine unverfängliche Umarmung ein. Denise weinte erneut.

»Reib ihr über den Rücken. Tröste sie!«

»Versuch ich ja.«

»Gib sie schon her.« Carla ließ die Arznei auf dem Schrank stehen und zog Denise wieder in ihren warmen, pflaumenvioletten Hort. Die Arznei war etwas Süßes, Bemerkenswertes. Denise seufzte und lümmelte sich auf dem unruhigen Schoß ihrer Mutter.

»Weiß Bluey eigentlich, wo wir wohnen?«, fragte Carla aus heiterem Himmel.

In genau diesem Moment ging – wenig hilfreich – die Schallplatte der Maytals zu Ende.

Antoney setzte an: »Genau das wollte ich …«

»Er fehlt mir. Ich versteh einfach nicht, wieso er …«

»Kannst du mich verdammt noch mal ausreden lassen?«, sagte er. »Ich will dir etwas erzählen und komm nicht zu Wort. Ricardo hat mir erzählt, dass Bluey tot ist. Er hat sich überfahren lassen, mit Absicht.«

Eine Weile sah sie Antoney sprachlos an. Bei seinen Worten hatte sie die Arme reflexartig fester um Denise geschlungen.

»Mit Absicht? Was soll das heißen? … Willst du damit sagen – nein. Bluey? Nein, das ist nicht wahr.«

»Das hat Ric auch gesagt. Dass es vielleicht gar nicht wahr ist.«

Carla sah, wie so oft seit jenem Tag, Bluey im Wintergarten vor sich. Sein ungepflegtes Haar und seine dreckige Kleidung, seine düstere Miene, als sie Nein gesagt hatte, das widerliche Gefühl seiner kratzig kleinen Hand an ihrem Knie. Ricardo hatte die Wahrheit gesagt. Vor ihrem geistigen Auge erschien ein grässliches Bild, Bluey auf dem Asphalt zerquetscht. Ihr Entsetzen floss in Tränen der Schuld und des Bedauerns, und Antoneys unverbrämte Schilderung hatte auch nicht geholfen. Er ging zu ihr und versuchte, sie zu beruhigen. Dass sie so aufgelöst war, erstaunte ihn.

»Wann ist das passiert?«, fragte sie nach gefühlt sehr langer Zeit.

»Letztes Jahr, hat er gesagt.«

»Oh, der arme Bluey. Es ist zu spät, zu spät.« Seine Hand, die an ihrem Rücken auf und ab fuhr, hoch an ihren Hals, brachte überhaupt keine Linderung. »Und wann hast du davon gehört?«

»Erst heute. Ich wollte es dir ja schon früher sagen, aber …« (das gab Ärger, das war klar) »… nun, es war mir entfallen.«

»Es war dir entfallen? Wie kann – dir so etwas entfallen?« Sie schüttelte ihn ab, stand mit Denise im Arm auf, deren klebrige Hand an ihrem Ohr ein viel größerer Trost war. »Und der Gedanke, dass ich das sofort erfahren wollte, ist dir nicht gekommen?«

»Ich sag’s dir ja jetzt, oder nicht?«, erwiderte er wütend.

»Ich begreife dich nicht«, sagte sie. »Manchmal begreife ich dich wirklich nicht, Antoney«, und dann stieb sie mit Denise durch den Vorhang.

Ohne Oscar war es in der Kirche zu still. Ohne die Schüler, den Unterricht. Fremde Echos meldeten sich. Antoney hatte die Proben hinunter in das Souterrain verlagert, weil er sich in der Halle im Erdgeschoss, neben dem zerbrochenen Fenster und der angrenzenden, betürmten Kammer, einsam und unbedeutend vorkam. Er arbeitete immer noch auf dem Bau, umso mehr, da er nun eine Familie ernähren musste. In seiner Freizeit kam er hierher, in das Studio mit den hohen Fenstern, an den Ort, der ihn aufgerichtet hatte, übte alleine zu Musik vom Band und experimentierte mit neuen Ideen. Aber ihm fehlten die Abfederung, die Stimulierung durch die anderen Tänzer, ihre Körper, die Instrumente. Er blickte mit Wehmut zurück auf die einstige Größe der Compagnie und machte für deren Zusammenbruch jeden verantwortlich, nur nicht sich selbst. Er war überzeugt, dass sich ein solcher Erfolg nicht wiederholen ließe – ein, mit neunundzwanzig Jahren, verfrühtes Schicksal. Er kam schlecht mit seiner Enttäuschung zurecht, und oft nahm er sie mit nach Hause, war schnippisch und gereizt.

Nach der Tour hatte er sich um Auftrittsmöglichkeiten bemüht, aber London war wankelmütig, wie es die großen Städte nun einmal sind, und hatte das Midnight Ballet offenbar längst vergessen. Es war, als ob Oscar, Ekow und die anderen Abtrünnigen das Feuer mit sich fortgetragen hätten und die Theater das spürten. Ein Intendant hatte ihm zu verstehen gegeben, seine Art zu tanzen, mit dem Getrommel und so, sei doch recht begrenzt und inzwischen längst passé. Dieser Tage wolle das Publikum lieber Klassisches sehen. In jüngster Zeit hatten sich für ihn nur sporadische Möglichkeiten aufgetan, in Surrey oder auf der Isle of Wight, bei schlammigen Open-Air-Festivals, als einer unter vielen. Entsprechend dankbar war Antoney, als ihm ein obskures Theater nahe der Edgware Road einige Abendtermine anbot; endlich bekam er die Chance, der Truppe zu ihrem einstigen Status zurückzuverhelfen. Die Auftritte waren für den kommenden Mai geplant. Antoney arbeitete während des ganzen Frühlings mit Simone an einem neuen Duo, begleitet von The Wonder und einem Ersatztrommler. Ricardo und Rosina sollten ebenfalls tanzen.

Die Premiere war nicht gut besucht, aber am zweiten Abend lief es besser, obwohl Antoney zuvor die Absage auf seinen Förderantrag erhalten hatte. Damit fehlten ihm nun die nötigen Mittel, die Truppe zu finanzieren. Er tanzte dennoch gut, gestärkt von einer entsprechenden Menge Rums, dem er sich, nach einer längeren Unterbrechung, wieder ergeben hatte. Wie üblich verließ ihn seine Stimme eine Viertelstunde vorher.

Als die Show vorüber war, folgte ihm die Niedergeschlagenheit bis in die Garderobe. Er glaubte, bei den anderen die gleiche Melancholie zu spüren. Niemand wollte mit ihm etwas trinken gehen. Simone zog sich rasch um und eilte mit The Wonder zum Bus, die anderen folgten bald darauf, und so blieb er alleine mit seiner Schminke, die er nicht abwischen wollte, vor dem Spiegel sitzen. Auf seiner Stirn sah er zwei Furchen. Er hatte überhaupt kein Verlangen danach, heim zu dem gestrandeten Boot zu gehen – sie waren lediglich einmal bis Camden und zur Limehouse Marina gekommen und hatten den Anker nun schon seit einem Jahr nicht mehr gelichtet. Er setzte seinen Hut auf, zog eine erschlaffte Nylonjacke an, missbilligte, was er im Spiegel sah, und ging allein durch die Welt, die hinter der Zauberkunst lag, zur Bühnentür. Er wusste nicht, wohin, außer vielleicht zu Riley. In der grauen Seitenstraße zündete er sich eine Zigarette an. Die Luft duftete frisch und parfümiert, obwohl zwei Häuser weiter die Küche eines chinesischen Schnellimbisses dampfte. Als seine Pall Mall die Flamme fraß, hörte Antoney eine Stimme.

»Mr. Matheus.«

Kokett. Selbstbewusst.

Er sah auf, sie wandte sich ihm zu.

Sie hatte lockendes Aprikosenhaar. Sie trug ein grünes Kleid, in einem satten, besonderen Grün mit großen, gleichfarbigen, stoffbezogenen Knöpfen, die auf halber Schenkelhöhe in einem Schlitz endeten. Heraus schaute ein langes Bein. Üppige grüne Rüschen, die sich an den Ärmeln bauschten und den Rocksaum umspielten, sprachen für eine unerwachsene Lust auf Spaß, wie auch das Täschchen in Goldfischform, das an ihrem angewinkelten Arm hing. Ihre Sandalen waren ebenfalls golden. Die intensiven Farben ließen ihre sehr blasse Haut überheblich scheinen, deren kühler Rosaton die Beine hinaufglitt, im Schlitz des Kleides verschwand und an der Halsgrube wieder zum Vorschein kam, wo sich die Abendschatten in der Lichtung ihrer Haare sammelten. Sie reckte ihm ein breites, maskulines Kinn entgegen. Die Mundwinkel schwangen nach oben, zu einem sanften Grinsen, unter dem Druck voller, bemalter, leicht geöffneter Lippen, die zur Mitte hin anschwollen und schimmerten. Um ihre kleinen, aufmerksamen Augen herum war hellblauer Lidschatten aufgetragen, der die kühle Rötung ihrer Haut noch zusätzlich betonte. Sie war perfekt zurechtgemacht. Eine strenge, sorgsam komponierte Schönheit.

»Audrey Callaway.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Kennen wir uns?«

»An mich würden Sie sich erinnern.«

Sie lehnte an der Häuserwand, halb im Licht der Straßenlaterne, ihr Haar schimmerte zur Hälfte golden. Es war verwirrendes, hinreißendes, lebendiges Haar, es hatte Fasson und Wellen, es tanzte auf ihren Schultern.

»Obwohl«, sagte sie, »ich Sie schon oft habe tanzen sehen, also vielleicht kenne ich Sie. Guter Shango übrigens.«

»Danke.« Er sah unangenehm berührt zur Seite. »Warten Sie auf jemanden?«

Sie musterte ihn, sie feixte.

»Möchten Sie zu meiner Party kommen?«

»Wann ist die denn?«

»Jetzt.«

»Und was machen Sie dann hier?«, fragte er amüsiert.

»Sie holen.«

Sie war nicht wie die Mädchen, die sonst in den Lobbys warteten. Von ihr kam keine Nervosität, keine Verlegenheit, keine Bitte um ein Autogramm. Sie war von einem anderen Schlag, und etwas an ihr erregte ihn. Aber für seinen Geschmack wirkte sie ein wenig zu selbstsicher.

»Vielleicht ein andermal«, sagte er.

»Ach kommen Sie, das wird großartig. Wir können von hier aus zu Fuß gehen.«

Und schon ging sie los, wehte mit ihrem Duft an ihm vorbei, wandte sich zurück, um ihn zu locken, das goldene Täschchen baumelte hin und her. »Hier entlang. Sie sind mein Ehrengast – und wir können die anderen doch nicht enttäuschen.«

Er hatte wirklich nichts Besseres vor. Und dann folgten ihr seine Füße, unfähig zu widerstehen.

Sie gingen durch die Praed Street, vorbei an dem Krankenhaus, in dem Denise zur Welt gekommen war, dann durch Seitenstraßen zum Lancaster Gate. Sie hatte einen kühnen steten Schritt, dank ihrer Schuhe zehn Zentimeter über dem Boden. Sie hatte die Aufführung, so erzählte sie ihm, durch ihre neuen Operngläser gesehen. Sie benutzte im Theater immer Operngläser, weil sie gerne auf Details fokussierte. »Sie haben dort einen sehr attraktiven Muskel«, sagte sie und wies darauf. »Dort, an der Hüfte. Sehr ausgeprägt, muss ich sagen. Möchten Sie mal sehen?« Die Operngläser kamen aus der Tasche. Sie waren mit Schmetterlingen geschmückt. Sie hatte sie in einem Antiquitätenladen in Kensington entdeckt. Sie sammelte sie. Antoney sehnte sich nach einem Drink und war nicht sonderlich an dem Thema interessiert, aber ihm gefiel Audreys Gang, ihr Haar. Sie hatte eine klare, selbstbewusste Stimme. »Es ist nicht mehr weit. Ich habe reichlich zu trinken im Haus. Haben Sie sich immer schon so bewegt?«

Gegen halb eins kamen sie zu einem stattlichen Apartmentblock an der Bayswater Road mit Blick auf den Hyde Park. Der Aufzug fuhr in die siebte Etage, und kaum waren sie ihm entstiegen, schlugen ihnen Stimmen und Musik entgegen. Die Wohnungstür war angelehnt. Sie tauchten in eine rauchige Menge ein, Feiernde begrüßten sie zu beiden Seiten, eine betrunkene Frau in einem durchsichtigen Oberteil schlang die Arme um Audrey. »Aber Gwen, deine Wimperntusche ist ja verschmiert«, sagte sie. »Sieh mal, wen ich mitgebracht habe!« Sie zog Antoney in ein türkisfarbenes Zimmer, das drei Mal so groß wie die Silver und voller Menschen war, die auf Sesseln und Kissen lagen oder zu den Yardbirds tanzten. Ein kleiner, stämmiger Mann mit Rüschenhemd und Spitzenschal eilte herbei.

»Audrey«, sagte er (mit amerikanischem Akzent), »ist er das wirklich? Nein, das fasse ich nicht. Das ist ja traumhaft!«

»Lass ihn in Ruhe, er gehört mir.«

»Von Nahem sieht er ja noch besser aus! Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mr. Matheus, solch eine unglaubliche Ehre.«

Antoney gefiel nicht, wie über ihn gesprochen wurde. Er grüßte lauwarm zurück und überlegte, wie er wieder rauskam. Ein Drink, und dann nichts wie weg. Der Mann schüttelte unentwegt seine Hand. Antoney entzog sie ihm.

»Diese sexbesessene Queen. Beachten Sie Harvey einfach gar nicht«, sagte Audrey und zog Antoney zum Tisch mit den Getränken. »Was möchten Sie? Bier? Was Stärkeres?«

»Rum.«

Sie reichte ihm eine Flasche und lachte laut, weil sie nicht an ein Glas gedacht hatte. Wahrscheinlich war sie irgendwie drauf, dachte Antoney, aber vielleicht lag es auch nur an der Atmosphäre, dem ganzen Getöse. Er schenkte sich ein Glas ein und stellte die Flasche zurück. »Kennen Sie all diese Leute?« Er nahm einen üppigen, ergiebigen Schluck und spürte mit Behagen, wie ihm die Hitze die Kehle hinunterlief.

»Zur Hälfte«, rief sie. »Sie sind alle vollkommen durchgeknallt – Sehen Sie das Mädchen in dem Batikkleid? Mit ihr bin ich zur Schule gegangen. Sie hat einen Schauspieler geheiratet, letzten Monat war die Scheidung, sie ist am Boden zerstört. Das da drüben ist Francesca, die mit der albernen Maske.« Sie senkte die Stimme. »Und der Typ neben Ihnen hat früher für Mick die Drums gespielt.«

»Mick?«

»Jagger.« Antoney musterte ihn gründlich, ein Typ mit Pony, in einem Samtjackett. Antoney sah über die vielen Köpfe hinweg keinen anderen farbigen Mann. Ein paar Mädchen zwar, eine erinnerte ihn an Carla, aber keinen Typen. Später, im Kiff-Zimmer gleich nebendran, stieß er doch noch auf einen, aber sie hatten sich nicht viel zu sagen.

»Stört es Sie nicht, lauter Fremde in der Wohnung zu haben, wenn Sie noch nicht mal zu Hause sind?«

»Was soll mich da stören? Das ist doch alles bloß Zeug hier. Das kann man alles ersetzen.« Sie strich ihm über die Taille, nahe des besagten Muskels. »Was mir wirklich wichtig ist, das schließe ich in meinem Schlafzimmer ein.«

Er bewegte sich vorsichtig weg von ihr und kippte seinen Drink herunter. Er wollte noch einen, sie wusste es. »Ich sollte gehen.« »Oh nein, nein, wir sind doch gerade erst gekommen! Na komm, tanz mit mir«, und schon zog sie ihn mit seinem überschwappenden Glas voller Rum in das Balkonzimmer, wo die Gäste hin und her wogten. Beim Tanzen wirkte sie ziemlich albern, was überraschend war, denn sie hatte so einen schönen Gang. Sie machte komische, anzügliche Bewegungen mit den Fingern und hüpfte unnötig viel, noch dazu baumelte der Goldfisch an ihr herum. Dann versuchte sie, ihn nachzumachen, und das war noch schlimmer. Aber ihr Haar! Harvey kam dazu und wedelte beim Tanzen mit seinem Schal herum; einmal fuhr er Antoney damit übers Gesicht, was ihn kurze Zeit echt sauer machte. Er holte sich einen weiteren Drink.

Es war eine wilde Party. Die Gäste waren vollkommen high, Mädchen und Jungs lagen knutschend in den Ecken herum. Die Zeit verschwand. Im Kiff-Zimmer war tiefste Nacht und die Atmosphäre gelassen. Es war wohl eigentlich so etwas wie ein Esszimmer, mit tiefen Fensterbänken. Als Erstes, wenn man das Zimmer betrat, sah man ein leuchtend rotes Sofa in Lippenform – man setzte sich auf die Unter- und lehnte sich gegen die Oberlippe. »Ist das Ding da ein Sofa?«, fragte Antoney. »Das ist mein Prachtstück«, erwiderte sie. »Wenn jemand das klauen würde, den würde ich vor Gericht bringen. Habt Ihr das auch alle gehört?« »Aud, jetzt komm und setz dich, du Schlampe«, erklang eine Stimme.

»Paul, wie redest du mit mir vor meinem Ehrengast! Bleib bei mir und dir wird nichts geschehen«, flüsterte sie Antoney zu. »Ziehst du dir gern mal ’ne Linie?«

»Linie?«

»Du weißt schon. Charlie

»Ich nehm keine Drogen.«

»Aber einen Joint magst du, oder? Das ist nicht anders, nur noch besser. Kann ich bitte mein Sofa wiederhaben?« Die anderen rutschten zur Seite, Antoney setzte sich neben Audrey, inmitten von Fremden. Ihm wurde ein Joint angeboten. Er konnte sich nicht erinnern, ob er schon die ganze Flasche getrunken hatte. Eigentlich rauchte er nicht gerne mit Fremden Gras, das machte ihn paranoid, aber hier waren alle bekifft, und wen kümmerte es? Er nahm einen Zug und reichte den Joint weiter. »Was machen Sie denn beruflich?«, fragte das Mädchen zu seiner Linken. »Weißt du nicht, wer das ist?«, rief Audrey. »Nein«, sagte das Mädchen mit der glänzenden Knopfnase. »Das ist Antoney Matheus, der beste Tänzer der Welt, du Dummchen!« »Sie übertreibt«, sagte Gwen, die auf dem Boden lag. »Immer, immer übertreibt sie.« Audrey zog eine Linie. Das Mädchen mit der glänzenden Nase fragte ihn, was er denn tanze, und er erklärte, Modern, mit karibischen und afrikanischen Einflüssen. »Cool«, sagte es und reichte den Joint zurück. »Ich hab Alvin Ailey mal gesehen. Ist das so ähnlich?« Die Worte gerieten ihm durcheinander, als er den Unterschied erklären wollte. Er klang nicht wie er selbst. Er sah hinüber zu dem anderen schwarzen Typen. Er lachte.

Eine kleine Menge sammelte sich um ihn herum. Der Mick-Jagger-Typ saß in einer Fensternische und unterhielt sich leise. (»Beim Sex muss man bereit sich, sich überwältigen zu lassen«, sagte Gwen, als hätte sie das schon häufig gesagt. »High zu sein, ist die Bestätigung für die Wahrheit allen Seins«, sagte ein anderer.) Der Typ im Fenster drehte sich nach ihm um. Antoney spürte, dass über ihn gesprochen wurde. Alles, was er sagte, wurde seziert, befingert. »Sie sind aus Jamaika? Wow!« Plötzlich, ohne jeden Anlass, sah er Bluey vor sich, wie er das erste Mal bei ihnen erschienen und in die Halle gespäht hatte. Er wurde still. Sein Puls raste. Er wollte nicht sprechen, aus Angst, dass seine Stimme eine fremde wäre, und auch nicht lachen, aus Angst, ein grässliches, schrilles Geräusch zu machen, das den ganzen Raum zum Schweigen und Starren bringen würde. Er glaubte, er hätte Blueys Glocke, Carlas Stimme gehört. Er wollte weg. Das grün-goldene Mädchen flüsterte ihm genau im richtigen Moment ins Ohr: »Ich habe Lust auf einen Spaziergang. Hast du auch Lust auf einen Spaziergang, Matheus?«

Endlich ließ sie den Goldfisch los. Die frühe Morgenluft strich ihm kühl übers Gesicht. Vor ihnen erstreckte sich endlose Weite. Sie liefen durch den dahintreibenden, blühenden Park und hielten sich an den Händen wie Kinder, lachten wie Kinder. »Ich habe das Gefühl, ich kenne dich schon ewig«, sagte sie, und die Bühnentür lag Monate hinter ihm. Ihr Haar hüpfte und federte, sie sah aus, als stünde sie in Flammen, ihr Grün verschmolz mit dem Gras, die Sandalen waren fort. Sie liefen und liefen, bis sie zu einer schattigen Stelle aus duftenden Sträuchern kamen, und dort zog er seine allererste Linie. Er verlor sich, sie küssten sich, er war nicht bei der Sache, er war viel zu high, doch ihre Lippen waren weich wie Treibsand, und das Gefühl, als sie diesen Muskel massierte, war gut. Sie wollte ihm noch näher sein und glitt mit ihren kühlen Porzellanhänden unter sein Hemd, öffnete seinen Reißverschluss; sein Herz raste. Du bist berauschend, zischelte sie, berausche mich, Matheus, du bist perfekt, oh bitte. Und so ging er in sie, es war ein herrlicher, perfekter Moment, während eine Stimme im Innern sanft protestierte. Sie durchtränkte ihn, sog ihn in sich ein. Er schloss die Augen. Doch der Moment verging. Die Büsche rochen plötzlich übel, wie ein gewöhnlicher Ort für einen schnellen Fick. Ihre Münder waren voller Partyrauch. Heb mich hoch, stöhnte sie. Sie war überraschend schwer. Sie schlang ihre fleischigen, arroganten Beine um ihn und atmete heiß an seinen Hals, doch sie wurde so schwer, dass sie auf den Boden sanken, wo er augenblicklich aus ihr hinausglitt. Das hab ich nicht gewollt, dachte er. Das hab ich echt nicht gewollt.

Als Carla eines Nachts alleine mit Denise zu Hause war, wurde sie von einem Schrei in der Nähe geweckt. Sie ging ans Fenster, trat aufs Deck, um nachzuschauen, was los war. Es war niemand zu sehen. Als sie wieder nach innen kam, nahm sie Denise aus ihrem Bettchen und legte sie zu sich. Du solltest bei mir sein, sagte sie im Geist zu Antoney. Du solltest richtig bei mir sein. Zwei Tage später stand in der Zeitung, dass im Ladbroke Grove ein Mord geschehen war, am Ufer des Grand Union Canal. Das Opfer war eine junge Frau, die auf dem Heimweg von der Arbeit ans Wasser gezerrt und dort vergewaltigt worden war.

Antoney sah Audrey Callaway einige Wochen lang nicht und hoffte schon, er würde sie niemals wiedersehen. Die Shows in der Edgware Road hatten kein weiteres Interesse erregt. Im Juli wartete sie wieder auf ihn, diesmal in der Lobby des Sphinx in Earls Court. Er war dort mit einem Solostück aufgetreten, im Rahmen eines Modern-Dance-Abends mit mehreren Tänzern. Diesmal trug sie eine weiße, duftige Bluse, die an der Taille von einem roten Gürtel zusammengehalten wurde, kombiniert mit roter Handtasche und passenden Schuhen. Riley war zu Antoneys moralischer Unterstützung ebenfalls zu der Show gekommen. Audrey schlenderte heran, als sich die beiden gerade unter die Menge mischten.

»Matheus«, strahlte sie. »Wie schön, dich wiederzusehen.«

Das Gespräch erstarb. Riley hatte gerade mit einem Kollegen über Antoneys Musikauswahl diskutiert, die, so fand Riley, in eine neue, interessante Richtung wies. Antoney stimmte dem zu und wollte sich gerade ausführlich darüber äußern, doch als er Audreys Stimme hinter sich hörte, verlor er den Faden. Er erstarrte wie ein Reh, das den Jäger spürt.

»Habe ich Sie gestört? Das tut mir leid. Ich wollte diesem begabten jungen Mann nur zu seiner hervorragenden Leistung gratulieren. Dem stimmen Sie doch sicherlich zu?«

Der andere Kritiker versuchte es erneut mit einer Bemerkung über die Musik, danach verfielen alle wieder in Schweigen. Riley setzte ein prekäres, albernes Lächeln auf und schaute gespannt zu Antoney, während Audrey mit wachsendem Amüsement zwischen beiden hin und her sah und dringend darauf wartete, dass Antoney sie miteinander bekannt machte. Schließlich musste sie sich selbst vorstellen, erst Riley, dann seinem Kollegen.

Antoney hielt es nicht aus. »Riley, ich rufe dich an«, sagte er. »Wir müssen ein paar – werbetechnische Dinge besprechen.« Audrey fuhr sich durchs Haar. »Ich weiß, es ist furchtbar, dass ich ihn einfach entführe. Aber das Showbiz hat nie Pause.«

Er führte sie mit festem Griff am Ellbogen fort. »Was willst du?«, fragte er, als sie draußen waren.

»Was ist denn das für ein Empfang?«

»Mich so in Verlegenheit zu bringen – was für ein Scheißspiel treibst du da, Mädchen?«

»Antoney, du bist so barsch, du willst mich doch nicht verletzen. War das ein Freund von dir? Ich wage die Behauptung, dass er in dich verknallt ist. Eindeutig schwul. Kann es ihm nicht verübeln. Wie geht’s dir? Du fehlst mir.«

»Hör zu …«

»Habe ich dir denn gar nicht gefehlt?«

»Nein.« Er zog sie weiter die Straße hinunter. »Ich hab an dem Abend total neben mir gestanden, okay? Es ist nie passiert. Ich war vollkommen high.«

»Ja, ich weiß.« Sie klang enttäuscht.

»Also belassen wir es dabei. Und jetzt geh ich nach Hause zu meiner Frau.«

»Aber vorher trinkst du noch etwas mit mir.«

»Nein.«

»Nur ein kleiner Abschiedstrunk. Als Freunde, versprochen. Ich kenne da eine nette Bar.«

Was hatte sie an sich? War es nur ihr Haar? Besaß sie die magische Gabe der Überredung? Oder war es der einzige Weg, sie loszuwerden?

»Nur ein Drink«, sagte er. »Mir ist es ernst.«

Eine Kellerbar. Weiße Hocker, rotes Licht. Audrey war so perfekt auf die Umgebung abgestimmt, als hätte man die Bar für sie eingerichtet. Es war ja nur ein freundschaftlicher Drink. Und sie benahm sich. Sie war weniger hochmütig, sogar ein wenig unterwürfig, wenn man bei ihr überhaupt von Unterwürfigkeit sprechen konnte. Sie erzählte ihm von ihrer Familie, sie hatte vier Onkel, allesamt Geschäftsmänner, einem gehörten einige Nachtclubs in Soho. Dempsey war angeblich ihr Lieblingsonkel. Manchmal durfte sie ihm bei der Innenausstattung helfen, sie fand es toll, das Ambiente für einen fantastischen Abend außer Haus zu gestalten.

Ihre Gesellschaft konnte ziemlich angenehm sein, wenn man nicht allzu viel Tiefgang erwartete. Man konnte locker und gut mit ihr plaudern. Als das Gespräch auf privatere Themen zusteuerte, vertraute Antoney ihr sogar an, welche Schwierigkeiten er damit hatte, die Compagnie noch einmal zum Leben zu erwecken, dass die Vertreibung aus der Kirche drohte, dass eine Familie für einen Mann in seinem Metier oftmals eine große Belastung war.

»Das klingt wirklich hart«, sagte Audrey. »Ich weiß sowieso nicht, wie du das machst, so von der Hand in den Mund. Was würde geschehen, wenn du die Kirche verlierst?«

»Ich könnte nirgendwo proben, neue Tänze entwickeln. Ich kann keine Miete zahlen. Das ist mein Reich. Es wäre das Ende.«

Sie wurde nachdenklich und spielte mit dem Strohhalm zwischen den Eiswürfeln in ihrem Cocktail herum. »Also, Dempsey hat ja eine Schwäche für Kirchen. Er mag Sakralgebäude und alte Ruinen. Heilige Bauten, wie er sie nennt. Wie sieht die Kirche denn aus?«

»Schön. Sie hat eine Tür wie Notre-Dame.«

»Vielleicht sollte er sich die Kirche einmal ansehen.«

Als Kind hatte Dempsey nämlich davon geträumt, Priester zu werden, erzählte sie.

Er hatte Priester für die mächtigsten Menschen auf Erden gehalten – bis er begriffen hatte, wie viel Geld man mit Alkohol verdienen konnte. Sollte ihm die Kirche gefallen, könnte es gut sein, dass er sie als Investition in Betracht ziehen würde, »womit er zu deinem Förderer oder so was würde, oder nicht? Würde dir das die Schweinehunde vom Hals halten?«

»Das würde helfen«, erwiderte Antoney.

An jenem Abend kehrte er sehr beschwingt heim und gab Carla wie auch Denise, die gemeinsam im Bett lagen, einen Kuss. In letzter Zeit bot sich ihm, wenn er spät nach Hause kam, immer das gleiche Bild, sie lagen Bauch an Rücken, obwohl Carla früher entschieden die Meinung vertreten hatte, ein Kind solle so früh wie möglich lernen, in seinem eigenen Bett zu schlafen. »Ich fühle mich sicherer, wenn sie bei mir ist«, hatte sie ihm anvertraut. »Es ist so dunkel da draußen auf dem Uferweg.«

Dempsey schickte Audrey vor, um das Gebäude zu inspizieren. Sie war pünktlich und professionell, erschien in violetten Schlaghosen, mit einer strengen Falte in der Mitte. Sie fuhr in einem offenen Sportwagen mit pfirsichfarbenen Polstern vor. Die Sonnenbrille nahm sie erst im Innern ab.

»So, das also ist sie. Ich verstehe, was du mit der Tür meinst.«

Antoney lächelte zustimmend, doch ihre Anwesenheit war ihm nicht wirklich geheuer. Was hätte Oscar gesagt, wenn jemand wie sie die Stufen heruntergekommen wäre, mit ihrem teuren Parfum und ihrer Kokainwolke? Es war nicht richtig. Hoffentlich ging es schnell.

»Wer sind all die Leute?«, fragte sie und sah auf das Foto von Katherine.

»Hauptsächlich Tänzer.«

»Oh, schau, da ist Gene Kelly.«

»Jo.«

Den Petruschka-Nijinsky über der Tür fand sie schauderhaft.

Sie ging herum, sah auf die Decken. »Hier riecht es komisch.« Um seine Chancen nicht zu gefährden, sagte er nichts, als sie auf ihren hohen Absätzen ins Studio ging und den Boden malträtierte. Helles, entschiedenes Morgenlicht fiel durch die Fenster, drapierte sich über Oscars Brett und Seitpferde, die respektvoll in einer Ecke gehortet wurden. Auch sein Unterrichtshocker war dageblieben. Antoney bemerkte erstaunt, dass sich der Raum in Audreys Gegenwart viel leerer anfühlte, als wenn er dort alleine war. Der Raum wirkte trostlos, trotz des vielen Lichts. Wie ein Ort, der seine besten Zeiten hinter sich hatte, an dem nichts Großes mehr geschehen würde. Die Vorstellung, dass er hier getanzt, gearbeitet und gelebt hatte, ohne diese Trostlosigkeit je zu bemerken, stimmte ihn traurig. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass womöglich Audrey diesen Eindruck erzeugte.

Sie fand Gefallen an der Spiegelwand. »Das habe ich immer gedacht, das muss toll sein, wenn man tanzt – man kann sich stundenlang selbst betrachten. Was sagst du dazu, stimmt es, dass alle Tänzer eitel sind? Manchen, glaube ich, fehlt es wirklich an Persönlichkeit. Sie sind viel zu sehr im Körper.«

»Ich hab dazu eigentlich keine Meinung«, sagte Antoney. Sie feixte. Sie wurde ihm wieder unangenehmer.

»Ich glaube, Dempsey wird begeistert sein«, sagte sie, hob das breite Kinn und ging zur Rückwand. »Das hier hat was, Atmosphäre. Mir gefällt es besonders hier unten, im Souterrain.«

»Das hier unten ist mein Reich, wie ich schon sagte. Oben kann dein Onkel machen, was er will.«

»Dein Reich, ach ja?« Sie kam langsam zu ihm zurück. »Mach dir keine Sorgen, Darling. Er wird vermutlich gar nichts damit tun, zumindest nicht sofort. Ich habe auch nur gesagt, mir gefällt es hier unten, hier, wo du dich so viel bewegst … Und natürlich hatte ich gehofft, da ich so hilfreich bin, einen besonderen Ausweis oder so etwas in der Art zu bekommen.«

»Einen Ausweis? Wovon sprichst du?«

Panik stieg in ihm auf; Audrey stellte sich hinter ihn, fuhr ihm mit der Hand über die Hüften und besah sich das Ganze im Spiegel. »Sei schön lieb, Matheus. Du bist viel interessanter, wenn du lieb bist.«

»Verdammt, bekommst du das nicht in dein Hirn? Ich will nichts mit dir zu tun haben! Wir waren uns doch einig!«

»Richtig, und jetzt sind wir uns eben uneinig.« Sie plusterte sich das Haar auf und stolzierte an ihm vorbei in die Eingangshalle.

»Bist du nun interessiert oder nicht?«, sagte er, als er ihr nachging. »Wenn nämlich nicht …«

»Ich bin mir da nicht mehr so sicher«, sagte sie. »Vielleicht entspricht es doch nicht seinem Geschmack. Er kann ziemlich eigen sein, und dann ist da dieser Geruch. Wann ist hier zuletzt renoviert worden?«

»Ist noch nicht lange her.«

»Ach komm, diese Wände haben seit Jahrzehnten keine frische Farbe gesehen.«

Antoney sank auf eines der Sofas. So viel Unverfrorenheit fasste er nicht. Sie machte ihn fertig. Er war dieser Frau nicht gewachsen. Er wollte, dass sie verschwand, aber da immer noch der Hauch einer Chance bestand, dass dies gut für ihn ausgehen könnte, brachte er es auch nicht fertig, sie rauszuschmeißen. »Sag Dempsey doch, dass er es sich selbst ansehen soll.«

»Das tue ich. Da tue ich ganz bestimmt.« Sie setzte sich neben ihn. »Kein Grund, so missmutig zu sein. Es wird alles gut.« Dann fing sie an, über Geld zu reden. Hatte er eine Vorstellung, wie viel das Gebäude wert war? Dempsey war angeblich stinkreich, er könne jede Summe verschmerzen. Er suchte immer nach Möglichkeiten, sein Geld loszuwerden. Sie holte eine Zigarette aus ihrer Handtasche.

»Du musst draußen rauchen. Hinter der Kirche«, sagte er ihr.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Natürlich ist das mein Ernst.«

»Aber ich rauche niemals im Freien. Ich rauche nur drinnen

»Nun, hier musst du draußen rauchen.«

»Antoney. Du darfst nicht so furchtbar pingelig sein, wenn das hier Formen annehmen soll. Verdirb es dir doch nicht selbst. Habe ich schon erwähnt, dass ich Dempseys Lieblingsnichte bin?«

»Nein. Du hast gesagt, dass Dempsey die Kirche gefallen würde. Du hast gesagt, dass er davon geträumt hätte, Priester zu werden.«

»Richtig. Ich habe gesagt, dass sie ihm gefallen würde – dass er sie kaufen würde, habe ich nicht gesagt. Das muss er selbst entscheiden, wenn er denn herkommt.«

Sie schlug die Beine in seine Richtung übereinander und fuhr ihm mit der Hand über den Hinterkopf, wie bei einer Katze, ihr Gesicht sehr nahe bei seinem.

»Mach langsam«, sagte er schwach.

»Darling, langsamer geht es kaum. Ich hoffe so sehr, du wirst hier nicht rausgeworfen. Das wäre echt eine Schande, wie du selbst sagst.«

Sie zündete ihre Zigarette an, die Hand nun fest auf sein Bein gedrückt. »Ich glaube, der Gestank kommt von den Sofas«, sagte sie, als sie den Rauch ausstieß. »Leder altert schlecht. Ich mag es sowieso nicht.«

Ihr Schlafzimmer also. Es beherbergte eine Büste der Freya (einer Liebesgöttin, so Audrey) und einen großen, aufwendig gerahmten Spiegel, dessen Messingwirbel und -schnörkel sich bei näherer Betrachtung als winzige Fische und Seepferdchen erwiesen, die ihre Köpfe zum Glas hin neigten. Er wich seinem Bild darin aus. Nicht so Audrey. Kleider standen ihr besser als Nacktheit. Wäre ihr Haar nicht, so stellte er fest, sähe sie ziemlich durchschnittlich aus.

Einmal in der Woche ging er dorthin, er blieb nie über Nacht, denn er wollte dringend nach Hause. Bei Carla fand er zu sich selbst zurück, obwohl er ungewohnt scheu mit ihr war. Sie liebten sich selten in jener Zeit, und wenn, konnte er ihr dabei kaum in die Augen sehen. Audrey gab ständig Partys, die Einladungen lehnte er ab. Manchmal kamen, wenn er dort war, die Gwens und Harveys vorbei und nahmen ein Näschen im Wohnzimmer. Nach etwa drei oder vier Monaten gingen sie gelegentlich, er widerwillig, sie versprach Diskretion, in einen von Dempseys Clubs, tranken Cocktails und sahen den Stripteasetänzern zu. Einmal beugte sich Audrey zu ihm und sagte betrunken: »Das wär doch auch etwas für dich, mit deinem Körper.«

»Warum zur Hölle sollte ich so was tun?«

Die Affäre ging ihren unbestimmten Gang. Er betrachtete Audrey irgendwann nur noch als gewaltige Unannehmlichkeit, die der Beruf mit sich brachte, doch er war sich auch der Tatsache bewusst, dass er sich nur in dieser Lage befand, weil er zu schwach, fragwürdig, blöde, feige, verzweifelt und billig war, um sich daraus zu befreien. Wenn er wütend auf sie war, sagte sie bloß: »Aber Darling, was würde Dempsey wohl sagen?«, und dann erinnerte er sie mit immer größerem Nachdruck daran, dass sich ihr Onkel die Kirche noch immer nicht angesehen hatte. »Er hat im Moment so viel zu tun«, erwiderte sie. »Sobald er einen Augenblick Zeit hat.« Das einzig Gute, was in seinem Leben geschah, war, dass ein weiterer Auftritt nahte, an zwei Abenden, wieder im Ledbury, im März ’73. Er stürzte sich in die Vorbereitungen, überarbeitete die Ballette und initiierte mit Simones Hilfe eine große Werbekampagne. Er und Simone waren nun die einzigen Tänzer – die Zwillinge hatten das Interesse verloren –, und daher verkauften sie sich als Duo. Die beiden Stars des Midnight Ballet kehrten an das Theater zurück, an dem ihr Stern einst aufgegangen war.

Als der Sommer in den Herbst überging und Antoney nur noch arbeitete, beschlich Carla immer stärker die Vermutung, dass er eine Affäre hatte, und zwar mit Simone. Sie konnten in der vielen Zeit nicht bloß proben, und als sie ihrer Freundin zufällig auf der Straße begegnete, glaubte Carla, in Simones Benehmen etwas Verräterisches zu sehen, etwas Selbstgefälliges. Ging das womöglich schon seit Paris so? Sie konfrontierte Antoney nicht mit ihrem Verdacht, sondern beobachtete und wartete ab.

Als sie an einem Dezembernachmittag mit ihrer Mutter durch Holland Park spazieren ging, fragte sie: »Mum, warst du dir bei Dad eigentlich immer sicher?«

»Wobei sicher?«, fragte Toreth. Sie schob den Kinderwagen, nachdem sie ihn, wie immer, von Carla erst einmal loseisen musste. Denise war beschäftigt. Sie versuchte, drei benutzte Make-up-Schwämmchen in einen Beutel zu stecken, und hatte Mühe mit der Kordel. Sie näherten sich dem Blumengarten.

»Warst du dir immer sicher, dass er dich geliebt hat?«

Toreth sagte, nein, anfangs gar nicht. »Es hat Zeiten gegeben, in denen ich mir nicht sicher war. Aber dann hab ich das mit dem Lichtstrahl entdeckt. Ein Lichtstrahl kann eine Ehe tragen.«

»Was soll das denn heißen, Mum?« Carla reagierte in letzter Zeit ziemlich gereizt auf ihre Mutter. Während der Geburt hatte sie nämlich begriffen, dass ihre Mutter eine Lügnerin war. Diesen Schmerz vergaß man nicht.

»Ich hab einmal einen Film gesehen«, (sie sagte »Fillem«) »über einen Speerwerfer, der bei einem Unfall einen Arm verloren hatte«, erzählte Toreth. »Er war mit einer wunderbaren Frau verheiratet, die ihn die ganze Zeit über gepflegt hat, ich mein, sie hätte Charlotte geheißen, und als es ihm besser ging, hat sie ihn ermutigt, es wieder mit dem Werfen zu versuchen, mit dem anderen Arm … Setzen wir uns doch ein wenig.« Denise wurde aus dem Wagen befreit. »Aber er wollte nicht, der arme Mann war am Boden zerstört. Sein Name war Bobby. Er war gebrochen, am Ende. Das war ein amerikanischer Film.«

»Würdest du bitte auf den Punkt kommen?«

»Mache ich ja. Haben wir heute unseren schnippischen Tag?« Toreth drückte an ihrem Wollschal herum und klemmte ihn sich unters Kinn. »Na jedenfalls, Bobby wollte nicht«, fuhr sie fort. »Er wollte es nicht einmal versuchen. Er hat sich geweigert, monatelang – Denise, nicht die Blumen abpflücken! –, bis, und jetzt komme ich auf den Punkt, Charlotte eines Tages zu ihm gesagt hat, dass die Erinnerung an seinen fliegenden Speer für sie wie ein Lichtstrahl war. Und das hat gewirkt. Daraufhin hat Bobby wieder trainiert. Er hat gelernt, mit dem linken Arm zu werfen, und sogar wieder Preise gewonnen! Ach, das war so ein rührender Film, das hättest du sehen sollen.« Toreth verfiel in Schweigen.

»Ich sehe den Zusammenhang nicht«, sagte Carla.

»Ich bin noch nicht ganz fertig«, erwiderte Toreth. »Ich spreche jetzt über deinen Vater und mich. Denn nachdem ich diesen Film gesehen hatte, habe ich die Liebe, die wir zueinander empfunden haben, als Lichtstrahl verstanden. Die Tage ziehen dahin. Ich hab seine Socken gewaschen. Er hatte furchtbar viele Socken, und das hat mich wütend gemacht. Dann hatte er auch noch seine Fußnägel auf dem Boden verstreut, gleich neben dem Abfalleimer, und meine Gefühle waren dahin.« Sie legte Carlas Hand auf ihren Schoß, als ob sie sie mit ihren besseren Handschuhen wärmen wollte. »Aber das Gefühl, dieses ganz besondere Gefühl, ist immer zurückgekommen. Und jedes Mal habe ich zu mir gesagt: Ah, da ist er ja, der Lichtstrahl. Solange er wiederkommt, Liebes, und wenn es nur für eine halbe Stunde an einem Dienstagmorgen ist, solange du ihn in seinen Augen sehen kannst, weißt du, dass er dich noch liebt. Dann weißt du, dass es das noch wert ist.«

Carla beobachtete, wie ihre Tochter am Rand eines Tulpenbeets kauerte, mit ihrem Fäustling die Blüten befühlte und den Fäustling dann auszog. Dort also begann es, in diesem Moment, als Denise drei war, nachdem man sie in ihrem Kinderwagen zu Milchshake geschüttelt und sie hergebracht hatte, damit sie das Königreich der Blumen schaute, in dem jede Farbe lebendig war.

»Wie lange sollte man warten?«, fragte Carla.

»Worauf?«, fragte Toreth.

»Wie lange sollte man längstens warten, bis der Lichtstrahl wiederkommt?«

Toreth dachte angestrengt nach. »Auf diese Frage«, sagte sie nach einer Weile, »gibt es wohl keine Antwort.«

Es begann zu regnen, sie eilten zur Orangerie. »Ist alles in Ordnung«, fragte Toreth unter dem großen Schirm, »zwischen dir und Antoney?«

Am 8. Oktober 1973, am Morgen nach dem ersten der beiden Auftritte, die Simone und Antoney im Ledbury hatten, veröffentlichte Bunty Tate eine Kritik in der Times:

Lange ist es her, dass wir das wunderbare Midnight Ballet in seiner Bestform erleben durften, und leider ändert die aktuelle Show im Ledbury Theatre an dieser Feststellung nichts. Als die Compagnie vor sechs Jahren Englands Bühnen betrat, brachte sie mehr als nur frischen Wind in die hiesige Szene. Sie revolutionierte den Modern Dance mit einer Hinwendung zu den tänzerischen Formensprachen und Traditionen Afrikas, und die Musiker, die bei den ebenso gelungenen wie komplexen Choreografien von Antoney Matheus den Takt vorgaben, begeisterten kaum weniger. Mittlerweile aber beschränkt sich die Truppe auf einen Musiker und zwei Tänzer, Matheus und die stets virtuose Simone de Laperouse. Beide verfügen nach wie vor über eine große Bühnenpräsenz. Wenn de Laperouse ihr weiß gefiedertes Solo »Bird« tanzt, ist der Zuschauer beinahe elektrisiert, und Matheus’ leicht gekürzter »Shango Storm« ist gleichermaßen energisch. Die beiden neuen Duos aber bleiben kraftlos und unbefriedigend. Aus den beiden Tänzern wird keine Einheit. »Leaving«, das erste Duo, wirkt mit seinen vielen Drehungen und den Solopartien, die aus dem Paar beinahe Rivalen machen, geradezu gekünstelt – das Stück gefällt sich zu sehr in seiner bemühten Intensität. Das zweite, eine Überarbeitung von »Blues House«, ist nur noch ein müder Abklatsch seiner früheren Form. Nichts ist übrig von der spektakulären Abfolge ebenso rascher wie überzeugender Vignetten (auch wenn die Produktion damals sehr an das Alvin Ailey American Dance Theatre mit seinen »Revelations« erinnerte). In jener Zeit wurde Matheus zu Recht »Englands Antwort auf Alvin Ailey« genannt. Wenn es ihm aber nicht gelingt, sich über das jetzige Maß hinaus zu steigern, muss man ihn wohl, so fürchte ich, als »Alvin für Arme« bezeichnen.

Antoney las die Kritik beim Mittagessen mit Riley im Westbourne Grove Café. Er reagierte, so sollte Riley es später Lucas beschreiben, mit Schweigen. Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch, neben seine Tasse, aber ihm war deutlich anzusehen, dass ihn das Urteil vernichtet hatte. Seine Augen funkelten vor Verletzung. Er presste die Lippen zusammen und schaute wortlos auf das farbige Glasfenster. Es war nicht die erste schlechte Kritik, die er hatte einstecken müssen (aber keine war bisher so böse gewesen). Noch vor vier Jahren hätte er die Zeitung weggeworfen, hätte der Autorin jegliche Kompetenz abgesprochen und wäre hochmütig seiner Wege gegangen. Doch die Arroganz war dahin, nun herrschte Traurigkeit, Untergangsstimmung. Es war der befürchtete Fingerzeig, dass seine Bemühungen um ein Weiterleben der Compagnie vergebens waren.

»Denken die Leute wirklich, dass ich ein ›Alvin für Arme‹ bin? Ihn bloß nachahme?«

»Natürlich nicht. Sie reizt den Vergleich doch nur aus, mehr nicht«, sagte Riley. »Das ist nicht einmal gut geschrieben. Man arbeitet sich nicht einfach an einer Liste ab.«

Er versuchte nach Kräften, Antoney davon zu überzeugen, dass die Adaption von »Blues House« gelungen sei, dass von Nachahmung nicht die Rede sein könne, das Stück originell und bezwingend sei. Insgeheim aber war auch er der Meinung, dass Antoney und Simone als Duo nicht überzeugten, das jedoch äußerte er nicht. Stattdessen sagte er, dass das neue Duo aufregend und intelligent sei und »Shango« als reines Solostück sogar noch stärker.

»Schwachsinn, Riley. Ohne die Mädchen ist das Stück tot. Meine Kraft allein reicht dafür nicht, nicht mehr.«

»Aber das ist überhaupt nicht wahr! ›Shango‹ ist dein bestes Stück – darin hast du nie enttäuscht.«

Antoney bestellte sich einen Brandy. Riley konnte sagen, was er wollte, er drang nicht zu Antoney durch. Auf jedes ermunternde Wort fand Antoney eine Erwiderung. Dann stieg er auf Rumcocktails um. Nachdem er besonders lange geschwiegen hatte, sagte er: »Hab ich dir jemals von Babalu erzählt, Riley? Babalu Aye, einer aus Shangos Kreis. Er hatte Lepra, lauter Wunden am Körper, er ging auf Krücken, hatte verkrüppelte Hände, trug Sackleinen. Sein Tanz ist ein Stolpern. Er bildet im Grunde die Gegenfigur zu Shango, er ist schwach, machtlos und krank – auch das könnte ich sein.« Er sah in die Ferne und drückte seine Zigarette aus. Am Tisch machte sich eine unheimliche Stimmung breit.

»Du solltest so früh noch nicht durcheinander trinken«, sagte Riley. »Du musst doch heute Abend tanzen.«

Riley sah Antoney dann erst wieder im Ledbury, als er im Shango-Kostüm auf die Bühne kam.

Simone erschien um fünf im Theater, die Worte spukten ihr ständig im Kopf herum. »Beinahe elektrisiert« – beinahe? Antoney tauchte weder zum Licht- noch zum Soundcheck auf, so fand beides in Absprache mit ihr und The Wonder statt. Obwohl die Show verrissen worden war, setzte Simone große Hoffnungen in den Abend. Schließlich war nicht ihr Tanzstil kritisiert worden, sondern Antoneys Choreografie. Sie würde es ihnen schon zeigen, und das war der richtige Ort dafür. Sie liebte das vertraute Interieur des Ledbury, den plüschigen Zuschauerraum und die Tropfenlampen, vor allem aber barg es die Erinnerung an ihre ersten Schritte zum Ruhm. Dies würde das große Finale, ihr Sprungbrett, denn Simone hatte sich still und leise entschieden, ihren Weg künftig alleine zu gehen. Das Midnight Ballet war tot. Antoney Matheus hatte seine Anziehungskraft verloren. Sie aber würde an diesem Abend so hell strahlen wie noch niemals zuvor.

Antoney fand sich schließlich um sieben Uhr ein – eine halbe Stunde später sollte sich der Vorhang heben – mit wackeligem Gang und einer Alkoholfahne. Simone schimpfte auf ihn ein, während er sein Kostüm anlegte. Als er seine Socken auszog, hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren, und aus dem Eyeliner wurden zwei dicke verschmierte Balken, die seine Lider niederdrückten. Sein Blick war scheußlich.

»Antoney, denk an die Minute«, sagte The Wonder, aber diesmal blieb kaum eine. In den Sekunden, bevor die Lichter erloschen, stritt Antoney noch mit Simone. Erst inmitten von »Shango« ging es ihm auf. Dass dies ein Ding der Unmöglichkeit war, er nicht wie üblich, eine Viertelstunde zuvor, verstummt war – dass er zum ersten Mal, seit es das Midnight Ballet gab, nicht seine Stimme verloren hatte.

Carla saß verabredungsgemäß im Zuschauerraum. Auch Ekow war anwesend, zu Simones moralischer Unterstützung. Sie liefen sich in der Lobby in die Arme, inmitten einer beachtlichen Menge von Zuschauern, die größtenteils aus dem Viertel stammte und die Compagnie am letzten Abend auf heimischer Bühne empfangen wollte. Ekow hatte Carla lange nicht gesehen und bemerkte als Erstes, wie verunsichert sie wirkte. Ihr Gruß war scheu und flüchtig, als ob sie Ekow kaum kennen und auch nicht erwarten würde, dass er sich mit ihr unterhalten wollte. Als sie mit einem gemeinsamen Bekannten sprachen, fiel es ihr sichtlich schwer, Blickkontakt zu halten – sie starrte mehr, als dass sie schaute, bis ihr Gegenüber unangenehm berührt zur Seite sah. Das bestürzte Ekow sehr, denn Carla war im Umgang mit anderen immer so unbefangen gewesen. Sie saßen nebeneinander in der vierten Reihe.

Rileys Platz war ziemlich weit hinten. Er sah sofort, dass Antoney betrunken auf die Bühne kam, obwohl es wahrscheinlich nicht jeder bemerken würde. Er wirkte kraftlos, gewöhnlich. Er war schwerfällig. Seine chamäleonhafte, charismatische Leichtigkeit war dahin und die typische, wild donnernde Drehung ein getrampelter Kreis. (»Was ist denn mit Antoney los?«, flüsterte Ekow Carla zu.) Riley setzte sich instinktiv in seinem Sitz vor und versuchte, Antoney eine telepathische Botschaft zu senden, eine Kraft oder Konzentration. Doch als Antoney aufging, dass er seine Stimme nicht verloren hatte, vergaß er seine Schritte, überspielte unbeholfen die Fehler und wäre einmal beinahe gestolpert. Riley sehnte das Ende des Stücks herbei. Der Applaus war verhalten. Doch es wurde noch schlimmer. Beim nächsten Stück gab es ein Problem mit dem Licht, und zu Simones unverhohlener Beschämung brach Antoney den Tanz ab und wandte sich über das Publikum hinweg an den Beleuchter. »Erst das blaue, klar?«, rief er offensichtlich verärgert, die Augen gegen das Licht geschützt. »Okay, wir fangen noch mal an.« Er und Simone gingen von der Bühne und begannen den Tanz von Neuem.

In der Pause ging es hoch her. »Man unterbricht doch nicht die Show, niemals!«, fauchte Simone und mühte sich wutentbrannt in ihre Federn. »Was immer passiert, die Show muss weitergehen. Weißt du das denn nicht? Hast du den Verstand verloren? Das war der peinlichste Moment in meinem ganzen Leben!« Währenddessen setzte Antoney seinen Flachmann an den Mund und ließ eine wütende Schimpftirade auf The Wonder los, als dieser versuchte, ihm den Alkohol zu entreißen. Mittlerweile hatten Audrey Callaway und Gwen das Theater erreicht.

»Bird« stellte das Vertrauen des Publikums wieder her, und auch Carlas. Als Simone ihren zierlichen Kopf mit so viel Sanftmut und Unschuld zu The Wonders Flötenspiel bewegte, kam Carla zu der Überzeugung, dass sie sich das mit der Affäre nur einbildete. Sie schämte sich für ihren Argwohn und kämpfte während des andauernden Applauses gegen die Tränen an. Doch bei »Blues House« kehrte das Misstrauen wieder. Das Stück war flach und unbeholfen, ein mühsam gestückeltes Grabschen. Simone hatte keine Chance gegen Antoney, obwohl sie ihr Bestes gab und versuchte, die Schwächen auszugleichen. All das aber spielte für Carla keine Rolle. Sie sah nur, dass Simone und Antoney etwas zusammen tanzten, was Antoney einst zu Carla zurückgeführt hatte, wenn er verschwunden war. Ihr Herz brach, als er Simone in das rote Licht hob, eine wackelig erkämpfte Bewegung, doch auch das spielte keine Rolle. Dort sollte sie sein, nur sie. Ihr kamen die Tränen. Simones Taille, ihr Brustkorb so nahe an seinem Gesicht. Sein wundervoller Arm glitt an Simones Körper entlang. Carla konnte es nicht mehr ertragen. Sie schlüpfte an den Zuschauern in der vierten Reihe entlang und lief hinaus auf die Straße.

So versäumte sie das Zittern. Simone und Antoney zitterten gemeinsam, kurz, bevor er sie fallen ließ. Es war ein unglücklicher Sturz, bei dem Simone auf der Spitze ihres linken großen Zehs landete und sich der Zehennagel in die Nagelhaut bohrte. Sie schrie auf vor Schmerz. Antoney beugte sich, als ob er sie wieder heben und fortfahren wollte, aber dann richtete er sich schlagartig auf und schaute wie trunken ins Publikum. Als er erneut nach ihr griff, stürmte Simone von der Bühne, soweit das überhaupt ging. Antoney tanzte die beiden restlichen Minuten von »Blues House« allein.

Oscar hatte immer gesagt, und darin gab Riley ihm recht, dass jeder Improvisation eine Idee vorausgehen sollte, dass die Improvisation als solche trivial sei und nicht auf die Bühne gehörte. Und Antoneys zweiminütigem Schlusstanz ging keine Idee voraus. Sinnlos, kopflos bombardierte er das Publikum mit wilden Drehungen, lautem Getrampel und Sprüngen, die immer nur höher wollten. Die Füße hatten alles vergessen, das Gesicht war verzerrt und verzweifelt. Die Arme wedelten hektisch herum, als wollten sie Fliegen verscheuchen. Die Knie wackelten bei jeder Landung. Wäre Fansa Zeuge gewesen, er hätte es mit einer Kumina-Zeremonie in St. Thomas verglichen, bei der eine Frau, die sich an die Geister der ausgehöhlten Baumtrommeln verloren hatte, den Kopf eines Huhns abgebissen und bis in die Spitze einer Palme geklettert war. Ein Rampenlicht ging entzwei. Der Scheinwerfer irrte über die Bühne, hinter Antoney her. Als die Musik endete, war das Theater vollkommen still. Antoney war verwirrt, weil keine Zwiebeln in der Pfanne zischten. Verunsichert verbeugte er sich, richtete sich wieder auf und wartete. In dieser Haltung schloss sich der Vorhang vor ihm.

Eine der vielen Erinnerungen, die neuerdings Denise wieder einholten, spielte sich an jenem Abend ab, gleich, nachdem Antoney aus dem Theater gekommen war. Carla wartete mit ihrer Entscheidung auf ihn. Vieles hatte sie vorgehabt, als sie nach Hause geeilt war – seine Sachen zu packen, seine Schallplatten in den Kanal zu werfen und seine Notizen zu vernichten –, doch ihr war nur eines gelungen (nachdem sie endlich ihre besorgte Mutter losgeworden war). Sie hatte die Haut seiner Djembe mit einem Taschenmesser zerschlitzt. Es war viel unbefriedigender und auch anstrengender, als sie gedacht hatte.

Simone war von Ekow aus dem Theater eskortiert worden, nach einem längeren Kreischanfall, der von einer Schuhattacke eingeläutet worden war, just, als Antoney die Garderobe betrat – ihre Schuhe flogen, seine, The Wonders Turnschuhe. Simone fluchte eigentlich nie, und The Wonder wurde sehr traurig. »Du hast mich fallen lassen, du Schwachkopf, du hast mich fallen lassen! Verdammte Scheiße! The Wonder, hast du’s gesehen? Hast du das gesehen? Ich glaub’s einfach nicht, er hat mich fallen lassen. Du verdammter beschissener Säufer! Das habe ich nicht verdient, Antoney. Ich habe etwas Besseres verdient! Ich habe mehr verdient!« Gut möglich, dass Simone die Schuhe zuvor schon neben sich aufgebaut hatte, denn ihr Fuß lag auf der Kommode, und sie schien in ihrer Bewegung recht eingeschränkt. Antoney zeigte sich trotz ihrer Verletzung feindselig und uneinsichtig, gab sogar einige der Beleidigungen zurück, sodass Simone in dem Moment, als Ekow erschien, die Wasserschüssel, die ihren Fuß kühlen sollte, nach Antoney warf, seinen Kopf jedoch um wenige Zentimeter verfehlte und die Garderobe unter Wasser setzte.

Nachdem die Wunde gereinigt und versorgt worden war, gingen Simone und Ekow langsam durch die Dämmerung der Kulissen zum Ausgang. Antoney hatte sich vor der Garderobe auf die Holzkiste gesetzt, die ihn an Katherines Truhe erinnerte, und lauschte ihren vertrauten Stimmen nach.

The Wonder packte die Kostüme, zusammen mit einigen Requisiten, in eine Reinigungstüte. In seinen Gesten lag etwas Endgültiges. Antoney verfolgte sein Tun wie ein kleines Kind, das seine Eltern beobachtete. The Wonder riet ihm, nach Hause zu seinem Mädchen zu gehen, und beim Gedanken an Carla wurde Antoney gleich viel leichter ums Herz, dann aber, als ihm Audrey einfiel, wurde es schwer. Er setzte den Flachmann an die Lippen.

»Lass das«, sagte The Wonder. »Für heute ist es genug. Geh nach Hause.«

»Was hast du denn so vor?«

»Ich gehe auch nach Hause.«

»Und danach?«

»Danach? Werde ich wohl wieder eine Busreise machen. Aber diesmal fahr ich an einen ruhigen Ort.«

»Für mich gibt es keinen anderen Ort, The Wonder«, sagte Antoney. »Mein einziges Zuhause ist …«

»Nein, denk an das andere Bild.«

The Wonder ließ die Tüte auf der Kommode liegen und schwang sich den Rucksack um. Er blieb auf der Schwelle stehen und betrachtete Antoney mit seinem milden, freundlichen Gesicht. »Mein Freund«, sagte er in einem beschwingteren Ton, »wir haben vieles getan. Wir werden, wenn wir alt sind, nicht unsere Kinder enttäuschen, so wie die alberne Baronesse. Wir können viele Geschichten erzählen. Wir haben etwas Sensationelles getan.«

Als The Wonder fort war, erschien Audrey, eine gemeine, teuflische, grün gestiefelte Audrey. Ihr Anblick erregte eine gewalttätige Neigung in ihm.

»Ich warte schon ewig auf dich«, sagte sie, »ich, mit deinem Freund, diesem Kritiker. Du hast ja eine Show abgeliefert, heute Abend. Sehr, hm, beeindruckend.«

»Verpiss dich.«

Sie schnappte nach Luft. »Kein Grund, ausfällig zu werden – du meine Güte!«

»Hast du mit meiner Frau geredet? Hast du sie vorhin etwa angesprochen?«

»Nein … natürlich nicht, wofür hältst du mich? Wo warst du überhaupt? Ich habe dich schon drei Wochen lang nicht mehr gesehen. Werde ich dir langsam zu viel, Darling?«

Antoney sammelte seine Besitztümer ein, leerte den Flachmann und warf ihn in die Tüte, zu den übrigen Sachen. Dann sagte er Audrey, dass er sie nie wiedersehen wolle, sie mit ihrem Parfum nicht einmal in seine Nähe kommen solle, nicht in diesem oder einem anderen Leben, und wenn er ihre Gegenwart auch nur erahnen würde, würde er sie an den Haaren packen und in die Hölle schleifen. »Gott, wie unspaßig«, erwiderte sie.

Sie schaute ihm hinterher, wie er mit seiner ärmlichen Tasche in die Dunkelheit schritt, und rief: »Falls du deine Meinung änderst, du weißt, wo du mich findest. Meine Tür steht dir immer offen.« Sie schnupperte in die Garderobe, rümpfte die Nase, zog rasch eine Linie auf der Kommode, dann ging auch sie.

Carla hörte seine Schritte auf dem Uferweg, spürte, wie das Boot schaukelte, als er an Deck kam. Sie stand auf, sie wurde unsicher. Ihr Gefühl riet ihr, die Tür von innen zu verriegeln. (Du solltest vor deinem Typen nicht so ’ne Angst haben.) Doch als sie die Tür erreichte, war es zu spät. Als er über die Schwelle trat, stand Carla direkt vor ihm, was er voller Erleichterung als Ausdruck ihrer Liebe interpretierte. Er versuchte, sie in die Arme zu nehmen. Sie schob ihn weg. Ihr wurde übel von seinem Anblick, seinem verschwitzten Gesicht, dem verschmierten Make-up, und trotzdem weckte seine Nähe noch immer die gleiche Hitze in ihr, in diesem Moment womöglich noch mehr, da es vorbei war. »Ich will, dass du gehst«, sagte sie.

Denise schlief tief und fest und träumte von Rosa. Sie wurde wach, als die Stimmen immer lauter wurden, und ängstigte sich rosa, bis es zu viel wurde.

»Hältst du mich wirklich für so blöd?«, schrie Carla. »Glaubst du, ich wüsste nicht, was ich sehe?«

Im ersten Moment vermutete Antoney, dass Audrey gelogen, Carla doch im Theater angesprochen und ihr alles erzählt hatte. Er stritt es ab. Er war treu. Die einzige Frau, die er wollte, war sie, und nur sie. Er flehte sie an, doch sie glaubte ihm nicht.

»Wie konntest du mir so etwas antun? Sie war meine beste Freundin!«

»Sie war – was? Reden wir über Simone

Carla lachte sarkastisch. »Gibt es etwa noch mehr?«

»Baby«, sagte er, »zwischen mir und Simone, da läuft nichts.«

»Du lügst!« Während des Wartens hatte sie eine kleine Schnapsflasche im Küchenschrank entdeckt und sich glücklos am Sorgen-Ertränken versucht. Nun flog ihm die Flasche entgegen. Kopfschmerzen kündigten sich bei ihm an. Er wollte keiner von den Männern sein, denen Frauen Dinge an den Kopf werfen wollten. »Ich ertrage nicht, wie du mit mir sprichst!«, brüllte sie. »Du meinst, du wärst etwas Besseres, aber das bist du nicht. Du bist nicht besser als Fansa, du rennst doch allem nach, was dir zuzwinkert.«

»Du irrst dich …«

»Komm mir bloß nicht zu nahe. Du schläfst mir ihr. Ich weiß es, ich weiß es, ich weiß es!«

Denise hatte den Knall gehört, als die Flasche gegen die Wand schlug. Das Boot schwankte unter ihren Bewegungen. Rosa war schon lange vorbei. Es gab ein entsetzliches Krachen, immer und immer wieder; Denise kletterte in ihrem Schlafanzug aus dem Bett und ging zitternd zum Vorhang, um bei ihrer Mutter zu sein. Sie sah, wie ihr Vater eine Faust in die Wand neben dem Schrank rammte, so als wollte er ein Loch machen, um Make-up-Schwämmchen oder andere Dinge darin zu verstecken, aber wie er das machte, war komisch. Ihre Mutter schrie, er solle das lassen. »Du tust dir doch weh!« In dem Moment hörte Carla, dass ihre Tochter hinter ihr weinte und rief. Denise klammerte sich an den Vorhang. Carla fuhr herum. Plötzlich glaubte sie Antoney. Sie wandte sich von ihm ab, beruhigte und wiegte das Kind auf der Hüfte.

Als sie sich wieder umdrehte, hielt er das Taschenmesser in der Hand. Carla hatte es auf der Theke liegen lassen, nachdem sie seine Djembe zerschnitten hatte. Er hielt es zur Seite, es wies nach rechts. Er sah sie voller Liebe an, seine Augen leuchteten – der Lichtstrahl. Ihre Beine lösten sich auf. Er kam auf sie zu. Er hatte etwas Dringendes zu erledigen, aber erst wollte er sie küssen, was er tat, gleich neben die Augenbrauen, erst Carla, dann Denise. Er ging wieder hinaus auf die Ladbroke Grove.

Ihr flammendes Haar. Ihre orgasmische feuchte Grimasse. Ihre Freya, ihr Seepferdchenspiegel und ihr böses, schmetterlingsgeflügeltes Opernglas. Er würde es ein für alle Male beenden. Ein Schwarm dunkler Wolken jagte über den Himmel, in seine Richtung, trieb ihn voran. Die Kälte spürte er nicht. Ihr Gesicht, wenn er zustechen, wenn er das Messer ansetzen würde. Die Macht, die er bei jedem einzelnen Stich spüren würde.

»Darling! Bin ich froh, dass du deine Meinung geändert hast.«

Sie war barfuß und vollkommen high. Gwen war da, sonst niemand. Als er die Wohnung betrat, spürte er eine siedend heiße Erregung, doch zugleich war er vollkommen klarsichtig, leichtfüßig. Er schwebte, wie früher. Die beiden Frauen folgten ihm durch den Korridor. »Matheus will spielen, Matheus will spielen«, sang Audrey und hüpfte in ihren Strümpfen auf und ab. »Sieh dir das an, der benimmt sich, als wär das hier sein Zuhause«, sagte Gwen. Als er ins Esszimmer kam, holte er ruhig das Taschenmesser hervor.

»Willst du eine Linie?«, fragte Audrey. »Hey, was ist denn mit deiner Hand passiert?«

Gwen schrie, als sie die Klinge sah.

»Der ist irre. Ich hab es immer gewusst, der ist irre.«

»Leg das Ding weg«, sagte Audrey.

»Gleich. Komm her.«

Er packte sie am Handgelenk und zog sie zum Sofa. »Hör auf. Hör auf oder ich lass dich einsperren!«

Falls sie Angst hatte, zeigte sie es ihm nicht. Das sah ihr ähnlich, bis zum allerletzten Moment hart zu bleiben. Erst, als er das Messer ansetzte, gab sie einen fuchtelnden, entsetzten Schrei von sich.

Zuerst die Unterlippe, der Teil, auf dem man saß, er zerschnitt sie, der Länge nach. Dann die Oberlippe, die Arm- und Rückenlehne. Er stieß Audrey fort, als sie ihn hindern wollte. Dies war ein köstliches Werk, und er wollte nicht gestört werden. Die Füllung quoll ihm entgegen, wie Badeschaum, wie Gischt.

»Gwen, ruf die Polizei!« Doch Gwen kauerte sich in einer Nische zusammen. »Dafür wanderst du in den Knast, du schwarzes Stück Scheiße.«

Als er seine Tat vollbracht hatte, steckte er das Taschenmesser wieder ein. Er hatte seine Sache gut gemacht.

»Ladys«, sagte er, »es war mir ein echtes Vergnügen.«

Am nächsten Morgen kehrte er frisch geduscht heim, nach einer Nacht auf Rileys Sofa. Carla hielt sein Gesicht in den Händen. »Ich liebe dich«, sagte sie, »wirklich, das tue ich«, und gab ihm einen scharfen, trockenen Kuss. »Aber warum ist es so schwer, dich zu lieben?«

Im Mai jenes Jahres legten sie ab. Sie steuerten die Silver westwärts ins Landesinnere und entdeckten ganz neue Spielarten der Stille. Lange, sonnengesprenkelte Spaziergänge mit Denise. Gelächter am Morgen. Zum ersten Mal erlag Antoney den reinen Freuden des Familienglücks, es genügte ihm, als wäre er endlich befreit von dem, was sich ihm in den Weg gestellt hatte. Er warf Denise inmitten einer Wildblumenwiese in die Luft. Abends hörte er mit Carla Musik, und manchmal tanzten sie auf dem Deck. Sie sagte, dass sie umziehen wollte. Sie fühlte sich nicht wohl auf dem Kanal, und sie sorgte sich um Denise. Er versprach es ihr.

Der Drang nach Bewegung jedoch blieb. Er trainierte zwei Stunden am Tag und verschwand stundenlang auf einem Leihfahrrad. Wenn sich seine Stimmung verdüsterte, wenn er klagte, dass er nicht tanzte, sagte Carla etwas in der Art von: »Hast du den Vogel gesehen, der gerade vorübergeflogen ist? Mein Geliebter, du solltest mehr aus dir hinaus in die Welt schauen. Vielleicht entdeckst du ja etwas ganz Neues.«

In jenem Sommer wurde Lucas gezeugt.