Ray (18)
Der weitere Weg verlief
ereignislos, auch wenn die Straße unheimlich vereinsamt wirkte.
Natürlich erwartete man kein großes Verkehrsaufkommen in einer so
abgeschiedenen Gegend, aber seit dem Streifenwagen war Chris und
Ray kein einziges Fahrzeug mehr begegnet. Monterey selbst schien
ebenfalls wie ausgestorben. Die Stadt bestand zwar nicht aus viel
mehr als der Route 250 mit einigen Nebenstraßen, aber nirgends
waren Menschen zu sehen. Für einen normalen Werktag war das selbst
für eine Kleinstadt unnormal. Wenigstens fiel es Chris und Ray
leicht, den Supermarkt ausfindig zu machen. An der Kreuzung zur
Mill Alley befand sich ein kleiner Laden, dessen Parkplatz
ebenfalls wie leergefegt war. Zumindest hatte der Laden geöffnet,
die Eingangstüren standen offen. Als die beiden Männer ausstiegen
und sich dem Geschäft näherten, hörten sie Stimmen aus dem
Inneren.
„Scheint ja doch noch jemand da
zu sein“, meinte Chris.
Auch Ray wirkte erleichtert. „Vielleicht
wissen die Leute hier ja, was eigentlich los ist. Und wo die
nächste Polizeistation mit richtigen Polizisten ist.“
Der Supermarkt bestand lediglich aus zwei Gängen, die Kasse war gerade nicht besetzt. Die Stimmen kamen aus einem Zimmer am hinteren Ende des Gebäudes.
Ray drückte Chris einen Korb in die Hand. „Hol du schon mal das wichtigste an Verpflegung. Brot, Konserven, Wasser. Schau außerdem nach Schmerzmitteln für Greg. Ich spreche mit den Leuten.“
Chris nickte und macht sich daran, den Korb aufzufüllen. Ray ging in Richtung der Stimmen aus dem Hinterzimmer. Vorher musste er aber noch etwas anderes erledigen. Er schaute sich kurz um, um sicherzugehen, dass Chris nicht hinsah, und steckte sich einen Flachmann Jack Daniels ein. Nur für alle Fälle. Er hatte jetzt seit zwei Tagen nicht mehr getrunken, trotz des ganzen Stresses mit dem Flugzeugabsturz. Diese Kleinigkeit hatte er sich verdient. Gerade als er das Zimmer erreichte und anklopfen wollte, merkte er, dass die Tür nur angelehnt war.
Moment
mal… die Stimme kenne ich doch? Langsam schob Ray die Tür auf. Dann bestätigt sich sein
Verdacht: Im Hinterzimmer, das anscheinend als Büro diente, lief
ein Fernseher.
Immerhin haben die hier Empfang, dachte er. Was ihn allerdings mit Sorgen erfüllte, war
das Programm, das da gerade über den Bildschirm flimmerte. „Chris,
das musst du dir ansehen… Chris?“
Chris eilte mit dem halb gefüllten Einkaufskorb herbei. „Schon da. Was gibt’s?“
„Schau selbst.“
Die beiden setzten sich auf ein kleines Sofa gegenüber des Fernsehers.
„… unter anderem auch unseren geschätzten Präsidenten. Diese Vorkommnisse ereigneten sich unseres Wissens nach nahezu zeitgleich in allen Großstädten der Vereinigten Staaten. Der Virus scheint durch Körperflüssigkeiten übertragen zu werden, daher meiden Sie bitte jeden Kontakt zu Infizierten. Bleiben Sie wenn möglich zu Hause und warten Sie auf weitere Anweisungen. Sämtlicher Flug- und Reiseverkehr ist mittlerweile eingestellt worden. Trotz dieser Ausnahmesituation bitte ich alle Bürger, Ruhe zu bewahren. Das Militär tut alles in seiner Macht stehende, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Es ist völlig unklar, warum die Kommunikationsnetze in weiten Teilen des Landes zusammengebrochen sind, aber diese werden hoffentlich in den kommenden Tagen wieder zur Verfügung stehen. Sobald es Neuigkeiten gibt, werden wir Sie informieren. Gott segne Amerika.“
Egal auf welchen Sender Ray schaltete, die Ansprache des Vizepräsidenten lief in Endlosschleife. In einem Newsticker am unteren Bildrand wurde den Zuschauern außerdem mitgeteilt, dass der Präsident gestern dem Virus zum Opfer gefallen sei.
Ray setzte sich an den Büro-PC. Als er den Browser öffnete, leuchteten ihn sechs Buchstaben an, die er nicht erwartet hatte: Google. Das Internet funktionierte. Als Erstes loggte sich Ray in seinen E-Mail-Account ein. Bis auf einige wenige Werbemails gab es keine Nachrichten. Er schrieb direkt eine Mail an Melissa, in der er ihr die Ereignisse der vergangenen zwei Tage schilderte und sich nach ihr und den Kindern erkundigte. Chris schrieb ebenfalls eine Mail, an seinen Bruder Gregory.
„Versuchs mal über Skype“, schlug Chris vor.
Ray loggte sich in seinen Skype-Account ein, allerdings waren weder Melissa noch die Kinder online. Auch Chris hatte kein Glück. Trotzdem hinterließen beide auch dort Nachrichten.
Die
nächste Stunde verbrachten die beiden damit, die verschiedensten
Newsseiten und Internetforen zu durchforsten, immer in der
Hoffnung, neue Informationen zu finden. Allerdings warf diese Suche
mehr Fragen auf, als sie Antworten lieferte. Die
unterschiedlichsten Theorien und Vermutungen waren im Umlauf, von
einem biologischen Angriff bis hin zur göttlichen Bestrafung.
Wirklich fundierte Informationen hatte kaum jemand. Das einzige,
was man mit Bestimmtheit sagen konnte, war, dass sich das gesamte
Land im Ausnahmezustand befand. Das Virus verbreitete sich am
schnellsten in dicht besiedelten Gebieten, insbesondere die großen
Metropolen waren betroffen. Aber
anscheinend auch Polizisten hier am Arsch der
Welt, dachte Ray.
Die Symptome waren stets die
gleichen: Vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit und Verwirrtheit
der Erkrankten, die dann in brutale Aggression umschlug. Jegliche
medikamentöse Behandlung schien bislang vergeblich. Eine Unmenge an
Videos auf YouTube zeigte mitunter grausame Szenen von Übergriffen
der Infizierten. Das Militär hatte anscheinend zunächst durch
Sperrzonen und Evakuierungen die Lage unter Kontrolle gebracht, nur
um dann durch Infektionen in den eigenen Reihen selbst ins Chaos zu
fallen. Plünderungen und Panik waren allgegenwärtig. Das war
zumindest die Quintessenz der Masse an ungenauen, unbestätigten und
zum Teil widersprüchlichen Informationen, die Ray und Chris
herausfilterten.
„Wir sollten langsam zurück zum See“, meinte Chris schließlich. „Die anderen werden sich bereits Sorgen machen.“
Ray checkte nochmals seine E-Mails und den Skype-Account. Keine Antwort. „Und was dann? Wir können schlecht zurückkommen und ihnen sagen, dass die Welt zugrunde geht. Wir brauchen einen Plan. Und ich habe bislang noch keinen.“
„Noch länger hier im Internet surfen wird uns jedenfalls auch nicht weiter bringen“, sagte Chris. „Außerdem braucht Greg die Schmerzmittel. Im Haus sind wir sicher.“
„Und ohne Internetanschluss“, erinnerte ihn Ray. „Chris, ich muss wissen, wie es meinen Kindern geht. Außerdem kann sich stündlich etwas Neues ergeben bezüglich der Infektion. Ich bleibe hier. Bring du den anderen die Vorräte und Medikamente. Dann holst du mich heute Abend ab. Bis dahin gibt es vielleicht neue Infos. Und ich überlege mir etwas.“
Chris fühlte sich sichtlich unwohl mit dem Vorschlag. „Glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, alleine hier zu bleiben? Vielleicht sind die Besitzer auch noch hier. Rechtlich gesehen ist das Hausfriedensbruch.“ Chris merkte selbst, wie dämlich er sich anhörte.
„Chris, ich sag es dir nur ungern, aber ich habe das Gefühl, dass seit zwei Tagen jegliche Vorstellungen von Recht und Unrecht eine ganz neue Dimension angenommen haben. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was wir eben gelesen haben, dann ist mein Aufenthalt in diesem Büro eine verschissene Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was da draußen noch abgeht.“
Chris wusste, dass Ray Recht hatte. „Okay. Bitte check meine Mails ebenfalls.“ Er schrieb ihm die Login-Daten auf einen Zettel. „Und stöbere nicht in meinen Mails. Jegliche Porno-Abonnements sind Spam.“
Ray grinste. Auch wenn er Chris erst seit gestern kannte, mochte er den Kerl. „Verschwinde endlich. Ich warte hier.“