Ray (9)

 

Gerade als Martha White sich von oben bis unten nach allen Regeln der Kunst eingeschissen hatte, krachte die Boeing 737 rund vierzig Meter von ihr entfernt in den Gifford Lake. Der Herzinfarkt knallte ihr Lebenslicht aus wie ein Überspannungsschaden einen Schutzschalter.
   Ray wusste nicht, ob Gott, das Universum oder die letzten Reste seines gesunden Menschenverstandes zu ihm gesprochen hatten, aber er merkte, dass er Luft brauchte, wenn er hier noch etwas retten wollte. Er zog die Maske über, die aus der Cockpitdecke herunterhing. Frischer Sauerstoff durchströmte seine Lungen. Er kontrollierte den Höhenmesser. In rund zwanzig Sekunden würden sie auf dem Boden aufschlagen. Das Flugzeug durchbrach die graue Wolkendecke und Ray checkte hektisch die Umgebung. Nichts als Bäume.
   Dann nahm er im Osten ein Glitzern wahr. Er schaltete die Turbinen ab und fuhr die Landeklappen aus, um den Fall der Boeing zu bremsen. Es schien kaum einen Unterschied zu machen, die Baumkronen näherten sich immer noch in Rekordgeschwindigkeit. Ohne zu wissen, wie es den Passagieren mittlerweile ging, funkte Ray über den Bordlautsprecher das Notsignal: „Schwimmwesten unterm Sitz! Brace! Brace! Safety Position!“
   Ray zog die Maschine nach Steuerbord und flog im Steilflug eine langgezogene Rechtskurve. Er hatte Recht gehabt. Das Glitzern zwischen den Bäumen war die Wasseroberfläche eines riesigen Sees. Nicht ideal, aber besser als Bäume. Trotzdem waren sie immer noch viel zu schnell. Ray entschied, dass es keine Alternative gab. Er musste es versuchen. Der Großteil der Passagiere hatte sich im vorderen Teil der Maschine befunden, daher zog Ray die Nase der Boeing leicht hoch, so dass der hintere Teil des Flugzeuges zuerst auf dem Wasser aufsetzte. Die unglaublichen Kräfte, die auf den Rumpf einwirkten, ließen die Maschine direkt entzweibrechen. Als der vordere Teil auf den See klatschte, barsten die Scheiben des Cockpits. Sofort füllte sich der Innenraum mit Wasser. Ray spürte einen stechenden Schmerz im rechten Knie, aber er war bei Bewusstsein. Das Flugzeug sank bereits. Er löste seinen Gurt und humpelte Richtung Passagierbereich. Viele der Menschen waren tot. Die, die überlebt hatten, schrien ununterbrochen. Das Wasser stand bereits knöchelhoch.
   „Cathy!“  Ray hatte seit dem Start nichts mehr von ihr gehört. Sie sanken weiter. Vor dem Notausgang schnallte ein Familienvater seine zwei Kinder los. „Sir, die Tür – ziehen Sie den Hebel!“
   Zu Rays Verwunderung war der Mann bei erstaunlich klarem Verstand. Er nickte Ray kurz zu und öffnete dann die Notausgangstür. Sofort schoss weiteres Wasser herein, aber der Mann schob seine zwei Kinder nach draußen und kletterte dann hinterher. Weitere Passagiere folgten seinem Beispiel. Andere versuchten über die Bruchstelle in der Mitte der Maschine zu entkommen. Das Wasser stand mittlerweile kniehoch. Als Ray glaubte sicher zu sein, dass kein Überlebender mehr im Inneren war, zog er sich ebenfalls nach draußen und löste seine Schwimmweste aus. Die Boeing sank immer weiter. Im Film hörten die Überlebenden an dieser Stelle die Sirenen der Rettungsfahrzeuge – hier draußen in der Wildnis war damit nicht zu rechnen.
   Auch wenn solche Ausnahmesituationen während der Pilotenausbildung besprochen wurden, war jegliche Simulation eine Farce. Nichts konnte einen auf eine reale Notlandung und das damit einhergehende Chaos vorbereiten. Das Wasser war eiskalt. Überall auf dem See waren Flugzeugtrümmer verteilt, die überlebenden Passagiere versuchten sich an das rund hundert Meter entfernte östliche Ufer zu retten. Neben Ray trieb eine Kinderleiche in einem rosafarbenen Kleid vorbei. Er merkte, wie sich seine Eingeweide zusammenzogen und ihn ein Gefühl der Ohnmacht zu überkommen schien. Das konnte alles nicht wahr sein. Die Kälte des Wassers lähmte die Durchblutung seiner Gliedmaßen. Er musste hier raus. Ray drehte sich um und begann, hinter den anderen Passagieren her, in Richtung Ufer zu kraulen.