Ray (6)
Rays Verstand arbeitete
auf Hochtouren. Er versuchte eine Verbindung zur Flugsicherung zu
bekommen, aber die Leitung schien gestört. Wenn Scheiße, dann Scheiße mit
Schwung, dachte Ray. Er checkte die
Navigation und suchte nach einer passenden Landemöglichkeit. Die
Boeing befand sich immer noch nicht auf Reiseflughöhe, sondern erst
bei rund fünftausend Metern. Er hatte keinen Blick mehr auf den
Untergrund, daher musste er sich darauf verlassen, was sein Radar
sagte: Nichts als Bäume. Sie überflogen momentan den Gifford
Pinchot National Forest. Verflucht. Der
nächstliegende Flughafen war rund zwanzig Minuten entfernt. Es
handelte sich um einen kleinen Militärflughafen, westlich vom Mount
Evans. Er musste es versuchen.
Gerade als er die Koordinaten
eingeben wollte, ertönte neuerliches Gekreische aus dem
Passagierbereich. Ray drehte sich um und sah Nick vor sich stehen.
Oder besser gesagt das, was früher einmal Nick war. Er wusste nicht
was das Hünen-Ding für eine Krankheit hatte, aber allem Anschein
nach war sie hoch ansteckend. Nicks Blick wies einen Wahnsinn auf,
wie Ray ihn bei seinem sonst so ruhigen Kollegen noch nie gesehen
hatte. Eine kurze Zeit starrten sich beide an und die Zeit schien
still zu stehen. Dann brach die Hölle los.
Martha White spazierte an diesem bewölkten Sonntagnachmittag gemütlich ihre tägliche Runde um den Gifford Lake. Die rüstige Rentnerin lebte in einem der vereinzelten Ferienhäuser in der Nähe. Sie war in Gedanken versunken, denn sie konnte sich einfach nicht entscheiden, ob sie einen Apfel- oder Pflaumenkuchen backen sollte. Später würden ihre Freundinnen Rita und Laura zu Besuch kommen und die Kuchenwahl war ein sehr brisantes Thema zwischen den Dreien – jede hielt sich für die beste Bäckerin. Insbesondere Ritas herablassende Kommentare konnten einen auf die Palme bringen. Martha überlegte gerade, ob sie Ritas Kuchenstück nicht mit ein wenig Abführmittel garnieren sollte, als sie das Dröhnen wahrnahm, das immer lauter wurde. Sie schaute sich um, konnte den Grund für den Lärm aber nicht erkennen. Ihr Blick wanderte zum Himmel, da der Krach von oben zu kommen schien. In der grauen Suppe aus Wolken war nichts zu sehen, aber das Dröhnen wurde so schmerzhaft, dass Martha sich die Ohren zuhielt. Dann geschah es. Die alte Dame traute ihren in die Jahre gekommenen Augen nicht, als sie sah, was sich dort oben abspielte: Aus den Wolken schoss mit halsbrecherischer Geschwindigkeit ein weißes Flugzeug, das sich im Sturzflug auf den See befand. Alle Gedanken an das Kuchenessen waren verflogen. Martha dachte nicht einmal mehr daran, sich in Sicherheit zu bringen. Die Boeing, die genau auf sie zusteuerte, hatte die gleiche Wirkung auf sie, wie das Abführmittel auf Rita hätte haben sollen – sie verlor die Kontrolle über ihre Ausscheidungsorgane und stieß einen schrillen Schrei aus.
Im Flugzeug herrschte
das totale Chaos. Auf dem Boden des herrenlosen Cockpits lag der
(nun wirklich) leblose Körper von Nick. Zumindest der Teil bis zum
Hals. Der Kopf lag auf der anderen Seite der Cockpittür, wo Ray
sich gerade aufrappelte. Nachdem Nick ihn anfallen wollte, hatte
Ray ihn an den Schultern gepackt und ins Cockpit geschleudert.
Dabei waren einige Instrumente zu Bruch gegangen. Ray wusste, dass
er auf engem Raum gegen den wie besessen um sich schnappenden Nick
keine Chance haben würde, daher sprang er in den Vorraum. Mit
bemerkenswerter Geschwindigkeit wirbelte Nick herum und wollte
seinen ehemaligen Captain anfallen. Ray handelte gedankenschnell
und rammte die Cockpittür zu, als Nick den Kopf nach ihm
ausstreckte. Immer und immer wieder schlug Ray die Tür auf und zu.
Nicks Kopf machte dabei immer wieder Geräusche wie eine Tomate, die
von einem Auto überfahren wird. Mit dem letzten Ruck schlug Ray die
Tür so fest zu, dass er Nick den Kopf abtrennte. Dabei verkantete
sich die Tür so unglücklich, dass er sich selbst ausgesperrt
hatte.
„FUUUUCK!“ Ray war voller
Adrenalin. Er schaute sich im Flugzeug um und bemerkte erst jetzt,
dass sie sich im Sturzflug befanden. Die Schreie der Passagiere
wurden durch die Masken gedämpft, die aufgrund des Druckabfalls aus
der Kabinendecke gefallen waren. Eine solche Situation stellte eine
Luftnotlage dar, da je nach Flughöhe akute Erstickungs- und
Hypothermiegefahr sowohl für die Flugbesatzung als auch für die
Passagiere bestand. Als Ray das Hünen-Ding auf dem Gang und den
Kopf von Nick – oder das was davon übrig war – vor sich liegen sah,
dachte er, dass es für tollwütige Fluggäste oder
Besatzungsmitglieder keinerlei Hinweise im Pilotenhandbuch
gab. Passiert das hier gerade
wirklich?
Ray musste ins Cockpit,
ansonsten waren Erstickung oder Hypothermie die kleinsten Probleme
für alle Anwesenden. Ihm selbst wurde aufgrund des Höhenverlustes
bereits schummerig. Vergeblich versuchte er die Tür zu öffnen.
Während seiner verzweifelten Versuche schaute ihn ein Augapfel aus
Nicks Gesichtsresten spöttisch an. „Fick dich!“, schrie Ray. „Fick
dich, fick dich, fick DIIIICCCHHH!“
Mit einem Urschrei löste er die
Verkantung und riss die Tür auf. Ray handelte wie auf Autopilot.
Das war auch gut so, denn der Autopilot des Flugzeugs war
ausgefallen. Sie flogen aus rund viertausend Metern Höhe mit knapp
fünfhundert km/h Richtung Boden. Ray blieben folglich noch dreißig
Sekunden. Er wusste, dass eine normale Landung unmöglich war,
selbst eine erfolgreiche Notlandung war mehr als unwahrscheinlich.
Dann tat er etwas, dass er seit Jahren nicht mehr gemacht hatte.
Ray Thompson betete.