Josh (3)
Mein Gott! Das ist die
Mutter aller verdammten Montage... dabei ist heute
Sonntag.
Es war auf jeden Fall einer
dieser Tage, der es eigentlich verdient hatte, ein Montag zu sein.
Zumindest aus der Sicht von Josh Pelletier. Mit Anfang zwanzig zog
er von Zuhause aus und begann an der University of Maine Medizin zu
studieren. Er wohnte in einer schlichten, kleinen Wohnung mit einem
Typen Namens Karl.
Eine friedliche Stille
herrschte in Joshs Zimmer, die nur zwischendurch durch sein eigenes
zufriedenes Schnarchen unterbrochen wurde. Dann hämmerte es zwei
Mal an der Tür. „JOSH! Alter, dein Chef ist dran!“ Sein Mitbewohner
Karl steckte den Kopf zur Tür rein und warf ihm den Mobilteil des
Telefons auf das Bett, das von der Matratze federte und mit einem
dezenten Klatschen direkt an seiner Wange landete.
„Was zur... bist du
bescheuert?“
„Sorry man, aber geh besser
dran – klingt voll angepisst.“
„Wer? Fuck! Wie spät ist es?“
Josh blickte sich suchend nach seinem Wecker um.
Verdammte Unordnung! Irgendwo in dem Chaos seines Zimmers musste dieses blöde
Ding doch stehen. Er traute seinen Augen nicht. 8:10 Uhr. Immer
noch nicht ganz aus dem Reich der Träume erwacht, griff Josh nach
dem Hörer. Es war sein Kollege Tom.
„Ja?“
„SCHAFF DEINEN VERDAMMTEN ARSCH
HIER RÜBER! Du solltest mich vor zehn Minuten ablösen! Ich hab 'ne
Vorlesung und der Boss kommt um halb!“, brüllte Tom am anderen
Ende.
„Mist, gib mir fünf
Minuten“, antwortete Josh. Der Rest einer aufbrandenden
Schimpftirade ging unter, da er bereits aufgelegt hatte. Er
hechtete aus dem Bett, warf das Telefon auf das Sofa und zog sich
auf dem Weg zur Tür sein Arbeitsshirt über. In seiner Hektik rammte
Josh seinen kleinen Zeh gegen die Kante seines Bettpfostens, was
sich in schlaftrunkenem Zustand ähnlich anfühlte, als würde jemand
den Zeh mit einem glühenden Fleischhammer schlagen. Sah man es
positiv, so war sein Puls wenigstens so kurz nach dem Aufstehen auf
Hochtouren und er war wach. Als würde das noch nicht ausreichen,
riss sich Josh beim Verlassen der Haustür einen Schnürsenkel seiner
roten Chucks ab. Man, heute ist
wirklich mein Tag. Es blieb ihm also
nichts anderes übrig, als sich mit den warmen Winterstiefeln auf
den Weg zu machen, die er von seinem Dad zum Geburtstag geschenkt
bekommen hatte. Er gab ein fantastisches Bild ab: kurze grüne
Shorts, grünes T-Shirt und flauschig gefütterte, braune
Wanderstiefel. Ich sehe aus wie ein
verdammter Weihnachtself im Sommerurlaub. Scheiß drauf, nachher habe ich zum Glück einen Kittel
an, und im Kiosk sieht mich kaum jemand.
Josh verließ gehetzt die
Wohnung. Er sprang die Stufen im Treppenhaus hinab und lief aus dem
Haus. Er überquerte die Straße, bog um die Ecke und konnte schon
die rot-weiß gestreifte Marquise des Kiosks sehen, in dem er seit
Jahren arbeitete. Zu spät, wie immer. Tom blickte ihn finster an,
als er hereinkam.
„Pelletier, du blöder
Arsch! Immer dieselbe Scheiße mit dir. Ich habe eine verdammte
Vorlesung. Ich überziehe meine Schicht für dich und bekomme einen
Scheißdreck dafür. Kannst froh sein, dass ich dich
mag.“
Josh entschuldigte sich mit
tief hängendem Kopf, auch wenn Tom ihm diese bereits zu Perfektion
einstudierte Szene nicht abnahm. Dann machte sich Tom auf den Weg
zur Uni.
Der Rest des Vormittages
verlief weitestgehend ereignislos. Kunden kamen und gingen. Joshs
Boss tauchte etwa fünfzehn Minuten, nachdem Tom verschwunden war,
auf. Er war also gerade noch rechtzeitig erscheinen, um den
Eindruck eines fleißigen Mitarbeiters aufrecht zu erhalten. Als er
sich davon überzeugt hatte, dass der Laden brummte, verließ der
Boss ihn genauso schnell wieder wie er aufgetaucht war. Es war eine
Menge zu tun an diesem Vormittag. Geschäftiges Treiben am Flughafen
in der Nähe, wie so oft am Wochenende, aber das war nicht anders zu
erwarten gewesen und machte Josh nichts aus. Aber dann tauchte er
auf, dieser eine Arsch von Tausend, der einen zur Weißglut
bringt.
In Joshs Fall handelte es sich
dabei um so einen unverschämten Typen in Pilotenuniform.
Typischer Pflegefall, dachte Josh. Er betrat den Kiosk, steuerte
zielgerichtet auf die Spirituosen zu und griff sich zwei kleine
Glasflachmänner mit Whiskey. Die eine leerte er noch auf dem Weg
zum Tresen, die andere steckte er sich in die Innentasche seiner
Uniform Der ganze Stolz der Augusta
Airline. Hoffe, der fliegt heute
höchstens noch auf die Fresse, aber keine Passagiermaschine
mehr, dachte Josh.
„Zwölf Dollar, Sir.“
Während des Bezahlens zitterte der vermeintliche Promillepilot so
stark, dass er sein gesamtes Kleingeldfach beim Öffnen des
Portemonnaies in den Süßigkeiten vor der Theke verteilte. Er warf
einen zusammengeknüllten Zehner auf die Theke und nuschelte: „Den
Rest musst du zusammensuchen, Kleiner.“
„Recht vielen Dank, Sir", sagte
Josh übertrieben freundlich.
Der Besoffene lallte ihm
als Abschied noch ein „Leck mich, Arschloch“
hinterher.
Immer wieder gerne Blödmann! Was für ein Scheißtag! Ist
ja nicht so, als müsste ich gleich direkt
weiterarbeiten. Oh Moment, muss ich ja doch.
Aufgrund seines mangelndem Sinn
für Planung hatte er sich den Beginn seines Praktikums für die Uni
direkt auf den heutigen Tag gelegt, so dass er nahtlos von einem
Job zum anderen wechseln musste. Wenigstens würde ihm dort niemand
Widerworte geben oder ihn nerven. Tote redeten nicht.
Joshs Praktikum führte
ihn wie letztes Semester in die Pathologie des Maine Medical
Center. Es war zwar die Anweisung der Uni, berufsspezifische
Erfahrungen mit noch atmenden Patienten zu sammeln, aber noch hatte
niemand Einwände erhoben, dass er mit toten Patienten
arbeitete.
Josh gefiel die Arbeit in der
Pathologie wesentlich besser als die Arbeit auf einer
Station. Hey, diese Typen waren
mausetot. Es waren Fleischsäcke, wenn
man so wollte. Bei Toten flossen die Körpersäfte nicht mehr so
intensiv wie bei Lebenden und Josh hatte so seine Probleme mit
Blut. Tatsächlich, ein Arzt dem
schon mal die Knie weich werden konnten, wenn er Blut sah.
Eigentlich würde man sagen „Job verfehlt“. Allerdings hatte sich Josh bei seiner Berufswahl nicht
gegen seine Mutter durchsetzen können. Sie war eine hervorragende
Unfallchirurgin und hatte Josh nicht nur an die Universität
gebracht, sondern auch zu einem Praktikumsplatz in der Pathologie
bei Doktor Stevenson verholfen. Er mochte Doc Stevenson. Der
Pathologe war ein Mittfünfziger, dem man sein Alter nicht im
Geringsten ansah. Er hatte ein riesiges Fachwissen und eigentlich
immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Was Josh jedoch mit
Abstand am besten gefiel, war die Tatsache, dass er in der
Pathologie schalten und walten konnte, wie es ihm beliebte. Doktor
Stevenson schien ihm zu vertrauen und das merkte man. Der
Name seiner Mom öffnete ihm scheinbar Tür und Tor. „Wenn du
Margaretes Sohn bist, dann hast du bei der Besten gelernt“, hatte
ihm der Doktor einmal gesagt.
Josh war froh darüber, dass
Doktor Stevenson die Sache so sah. Dummerweise entsprach das nicht
der Wahrheit. Er selbst betrachtete sich allenfalls als
Durchschnittsstudenten. Die ersten Semester verbrachte er mehr mit
dem Erforschen neuer Gebiete oder Dungeons in Online-Videospielen
als mit dem Erforschen medizinischer Fachbücher. Wenigstens im
letzten Jahr hatte er sich ein wenig mehr ins Zeug gelegt. Er
hatte, nach seinem ersten Besuch in der Pathologie, mehr Interesse
für sein Studienfach entwickelt und sogar einige weitere Praktika
absolviert.
Alles in allem war er aber
froh, dass das Semester geschafft war. Die Ferien begannen bald und
er musste nur in den ersten drei Wochen seinen Pflichtteil als
Praktikant im Maine Medical Center ableisten. Im Vergleich zum
Vormittag war ihm hier bis jetzt noch niemand auf die Nerven
gegangen. Er hatte schlicht und einfach seine Ruhe.