Josh (4)

 

Die Pathologie befand sich im dritten Untergeschoss des Krankenhauses. Ein großer, mit grünen Fliesen ausgekleideter Saal mit drei Obduktionstischen und einer Unmenge an Schubfächern. Die teilweise übereinander angelegten Metallfächer boten Platz für fünfzig Leichen.
   Josh war gerade damit beschäftigt, den Leichnam einer älteren Dame zu reinigen. Das kalte Licht der Neonröhren verlieh ihr eine gewisse Anmut. Josh fand, es sah bei den meisten Toten, die im Krankenhaus verstarben, so aus als würden sie nur friedlich schlafen.
   Mit einem Schwamm in der Hand und dem unverkennbaren Gesang von ACDC Frontmann Brian Johnson in den Ohren, legte Josh gerade ein Luftgitarrensolo der Extraklasse hin. Deshalb bemerkte er auch zunächst nicht, dass die rote Fahrstuhlleuchte über der metallenen Aufzugtür Besuch ankündigte. Als er darauf aufmerksam wurde, stöpselte er einen Kopfhörer aus seinem rechten Ohr und horchte. Durch den Fahrstuhlschacht konnte er hören, wie ein paar Stockwerke höher etwas in den Fahrstuhl gerollt wurde.
   „Madame, nächster Halt: U3 – oder wie ich zu sagen pflege: Shawns Metallmatratzenparadies für alles, dass nicht mehr kreucht, fleucht oder atmet.“
   Oh Mann, das ist der Doc. Und es hätte so schön ruhig werden können.
   Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung und die Spannung stieg. Mal sehen, was es heute auf den Tisch gibt, dachte Josh.
   Rumpelnd kam der Aufzug zum Stehen. Die Doppeltür schob sich langsam zu den Seiten auf. Noch bevor die Tür ganz geöffnet war, hörte er eine Frauenstimme in mahnendem Ton: „Joshua! Hast du da etwa Straßenstiefel an?“
   Was zum Teufel? Allerdings erkannte Josh das penetrante Organ sofort.
   „Hallo Mom...“
   „Spar dir dieses 'Mom', komm lieber her und sei nützlich.“
   „Es ist auch sehr nett dich zu sehen, Mutter“ stichelte Josh und umarmte sie. „Was haben wir denn da, Doc?“
   Doc Stevenson lächelte. „Autounfall – männliche, weiße Person, circa dreißig,  bestimmt dreihundert Pfund. Soll angeblich auf der Second Street blindlings auf einen Pkw zugelaufen sein. Schweres Schädelhirntrauma, der rechte Fuß mehrfach gebrochen. Ist auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Deine Mom war so nett und hat schon den Tod bestätigt. Hilf uns hier mal schieben, Josh, der ist ein echter Brocken.“
   Na kein Wunder, der hat mehr Fett am Doppelkinn als ein ausgewachsener Elefantenbulle am Arsch! Josh ging auf den Aufzug zu. „Steht seine Identität fest, Doc?“
   „Ein gewisser Michael Galetti und er aß anscheinend gerne Spaghetti“. Josh quittierte den schlechten Witz mit einem schiefen Lächeln.
   „Was habt ihr mit seinem rechten Schuh angestellt?“
   „Gute Frage, ist wohl nicht mitgekommen. Egal, komm rüber und pack mit an“. Josh und Doc Stevenson zogen die Rolltrage rückwärts aus dem Aufzug.
    „Wenn ihr mich hier nicht mehr braucht, dann bin ich wieder oben. Ich hab kurz bevor wir runter gefahren sind von noch einem Unfall gehört. Seit 16 Uhr scheinen die Leute hier lebensmüde geworden zu sein. Kaffee und Kuchen bekommen wohl nicht jedem. Glücklicherweise habe ich sofort Feierabend und kann heimfahren.“
   „Alles bestens, danke Margarete“, sagte der Doc.
   Bei diesen Worten drückte seine Mutter bereits den Knopf für das Erdgeschoss und die Tür glitt lautlos wieder zu. Margarete Pelletier sah die beiden an und ihre Mundwinkel zuckten leicht.
   „Hat Sie gerade etwa tatsächlich versucht uns anzulächeln? Ich wusste gar nicht, dass sie zu so etwas fähig ist“, flüsterte Josh.
   „Sei nicht so fies zu deiner Mom. Du weißt genau, dass sie ihre Strenge dir gegenüber nur aufrechterhält, damit ihr niemand Vetternwirtschaft vorwerfen kann. Außerdem will sie dich damit motivieren. Sie meint es nur gut mit dir.“
   „Dein Wort in Gottes Ohr, Doc.“ Josh winkte ab.
   „Ab auf den Tisch mit dem Burschen und dann kannst du ihn gleich schon einmal seiner Kleidung entledigen. Ich muss nochmal rauf. Wenn ich zurück bin, dann schauen wir uns das kleine Schleckermaul zusammen genauer an.“
   „Geht klar, Doc, ich mach vorher noch Mrs. Miller fertig.“
   Die beiden hievten den schweren Toten gemeinsam unter einigen Schwierigkeiten von der Rolltrage auf den rechten der drei metallenen Obduktionstische. Kein leichtes Stück Arbeit. Wäre ihnen der Leichnam heruntergefallen, hätten sie vermutlich oben nach Hilfe fragen müssen. Zum Glück blieb den Beiden diese Peinlichkeit erspart, auch wenn es nicht das erste Mal passiert wäre.
   „Hier kann er erst einmal bleiben und auf uns warten.“ Doc Stevenson ging wieder Richtung Aufzug und betätigte den Fahrstuhlknopf. Dieser setzte sich aus einer der höheren Etagen in Bewegung.
   „Ich bin maximal eine halbe Stunde weg. Schaffst du es in der Zeit deine Arbeit an der netten Dame abzuschließen?“
   „Klar Doc, kein Problem. Bin hier gleich fertig und danach zu allen Schandtaten bereit“, erwiderte Josh.
   „Sehr gut, dann bis später.“ Der Doktor betrat den Fahrstuhl und fuhr aufwärts.    Also wieder alleine mit meinem Date. Josh stöpselte sich seine Kopfhörer zurück in die Ohren.
   Stairway to Heaven, wie passend. Josh widmete sich erneut Mrs. Miller. Die alte Dame war gestern verstorben, nachdem die Ärzte versucht hatten, einen Tumor am Hirn zu entfernen. Sie sieht so friedlich aus.
   Als Josh an der Hand angekommen war, fiel ihm auf, dass Mrs. Miller vier Muttermale an der rechten Hand hatte, welche ein perfektes Quadrat bildeten. Als er die Hand ergriff und diese genauer inspizierte, nahm er rechts von sich eine Bewegung war. Er schaute rüber zu der Liege mit dem dicken Neuankömmling. Nichts. Na, wirst du etwa paranoid? Er schaute noch einen kurzen Moment rüber, bevor er sich wieder seiner Arbeit widmete.
   Nur noch den linken Arm, dann kann ich mir den Neuen schon einmal ansehen. Bin gespannt, was der Wagen mit seinen Knochen angestellt hat. Josh beendete pflichtbewusst seine Arbeit an Mrs. Miller und legte sorgsam ein Leichentuch über sie. Danach schlenderte er hinüber zu dem anderen Toten.
   So Fettsack, dann schauen wir doch mal, wie es dir so geht. Er kniff ihm beherzt in das massive Doppelkinn. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Wie lange soll der schon tot sein? Er wirkt noch unnormal warm. Josh stützte sich mit der linken Hand auf das Brustbein des Toten, beugte sich quer über ihn und versuchte mit der rechten Hand den Totenschein in die Finger zu bekommen, welcher sich am Kopfende befand. Josh versuchte das befestigte Papier zu erreichen. In diesem Moment öffnete der Tote die Augen.
   Josh schrie auf und stolperte rückwärts vom Tisch. „HEILIGE SCHEISSE!“
   Wie gelähmt sah er, dass sich der Mund des Toten öffnete. Ein langgezogenes Stöhnen erfüllte den kleinen Raum. Josh war wie paralysiert und konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Der Tote erhob langsam den Oberkörper und drehte den Kopf zu Josh. Trübe Augen fixierten ihn und starrten ihn an.
   Der Tote bewegte nun auch seine Beine und rollte sich seitlich vom Obduktionstisch. Josh hörte das schmatzende Geräusch der nackten Füße als diese auf die kalten Fliesen aufsetzten. Der Mann belastete den mehrfach gebrochenen Fuß offenbar zu stark und fiel träge zu Boden. Die Schockstarre, die Josh in diesem Moment gefangen hielt, schien sich langsam zu lösen als er realisierte, dass dies alles offenbar wirklich passierte. Er stieß sich mit den Füßen nach hinten, war jedoch nicht in der Lage aufzustehen. Er schaffte es allerdings sich auf dem Boden ein kleines Stück rückwärts zu bewegen und so immerhin die Distanz zwischen sich und dem Toten zu vergrößern.
   Der Mann grunzte nur und hob den Kopf. Wieder fixierte er Josh mit seinen Augen. Er zog sich auf den Fliesen mit seinen fleischigen Armen erstaunlich kraftvoll vorwärts in Joshs Richtung. Zwischendurch schnappte er wie ein tollwütiger Hund und stieß gurgelnde Geräusche aus. In Josh stieg erneut die Panik auf und er bewegte seine Beine schneller strampelnd, fand jedoch wenig halt auf den Fliesen. Er bemerkte, wie er mit seinem Rücken an einen der Obduktionstische anstieß. Mit seiner rechten Hand griff er nach oben. Er bekam die Tischkante zu fassen und zog sich daran hoch. Es gelang ihm tatsächlich sich aufzurichten. Doch auch der Untote kam schwankend hoch. Er stand erneut mit seinem vollen, durchaus beeindruckenden Körpergewicht auf dem zerschmetterten Fuß. Dieses Mal gelang es ihm allerdings, die Balance zu halten. Josh flüchtete sich zunächst hinter den Tisch und suchte nach einem Ausweg. Doch der einzige Weg hinaus führte an dem Untoten vorbei zum Aufzug. Wie auf ein Zeichen ging die rote Fahrstuhlleuchte an. Der Doc kommt wieder.
   „DOC! HILFE!“, schrie Josh. Es war allerdings klar, dass ihn niemand gehört hatte. Josh überlegte, wie er an dem Fleischberg vorbeikommen sollte, ohne in seine Reichweite zu kommen. Zwar war dieser offenbar nicht sonderlich gut zu Fuß, allerdings bewegten sich seine Arme unerwartet schnell in Joshs Richtung, sobald er versuchte den Tisch zu umrunden. Der Aufzug war nun fast unten.
   Dann kam Josh der erste wirklich klare Gedanke. Das Leichentuch!
   Er schnappte sich das Leichentuch, das auf Mrs. Miller lag und schmiss es dem Untoten über den Kopf. Ein Grunzen entfuhr dessen Mund. Der Körper torkelte unkontrolliert herum. Es wirkte fast so, als ob er nicht verstand, warum es plötzlich dunkel geworden war.
   Der Aufzug kam an und die Türen öffneten sich. Josh entschied, dass jetzt seine Chance war und rannte in Richtung Aufzug. Er passierte gerade den Körper des Toten als unter dem Leichentuch eine Hand hervorschnellte und den Kittel über Joshs Hüfte zu packen bekam. Wie in einem Schraubstock wurden der Kittel und die Haut darunter gepackt und die Hand bildete mit unglaublicher Kraft eine Faust. Josh schrie vor Schmerz auf. Er fing an auf den Körper des Toten einzuschlagen, was diesen jedoch nicht sonderlich beeindruckte.
   Doktor Stevenson stellte sich diese Situation jedoch etwas anders dar, da er von Joshs vorherigem Kampf nichts mitbekommen hatte. Als die Fahrstuhltür sich öffnete, sah er seinen Studenten, der von einem fetten Gespenst festgehalten wurde und sich offensichtlich nicht befreien konnte. Der Doktor wusste die Situation nicht einzuschätzen und machte ungläubig große Augen.
   Josh versuchte mit aller Kraft sich loszureißen. Doktor Stevenson hatte sich indes besonnen und stürzte aus dem Aufzug. Er griff nach der Hand unter dem Tuch und drückte gleichzeitig Josh mit dem Unterarm weg. Irgendwie gelang es ihm, die beiden zu trennen. Josh wollte nur so schnell wie möglich aus der Reichweite dieses Monsters entkommen. Er rannte auf den Aufzug zu.
   Doktor Stevenson schien den Ernst der Lage nicht zu begreifen. „Was zur Hölle geht hier vor, Josh?“
   Noch bevor Josh eine Warnung ausstoßen konnte, sah er wie das Leichentuch herabrutschte und der Untote den Doktor am Hals zu fassen bekam. Ein erstickter Aufschrei des Doktors war das letzte was Josh wahrnahm. Der Mund des Untoten schnellte vorwärts und riss dem Doktor die Hälfte der Kehle heraus. Der Doc startte Josh aus glasigen Augen an und hatte seinen Mund halb geöffnete. Das Blut sprudelte ihm aus dem Hals und auf die Fliesen. Sein untoter Angreifer zog ihn hinter einem Obduktionstisch zu Boden und die beiden verschwanden aus Joshs Sichtfeld. Dieser hatte den Aufzug erreicht und hämmerte wahllos mit der Faust auf die Etagenwahlknöpfe. Der Fuß des Doktors zuckte noch hinter dem Tisch. Die Tür glitt zu.