Scott (13)
Scott fuhr die Straße
entlang zum Haus seiner Eltern. Darauf standen bereits mehrere
Autos quer oder lagen auf der Seite. Teilweise waren die Türen
aufgerissen und ausgeweidete Körper lagen darin. Er wollte nicht
hinsehen, ob sie sich noch bewegten. Am liebsten hätte er seine
Augen ganz geschlossen, um dem elenden Anblick zu entgehen, den
seine Heimatstadt mittlerweile bot, aber er musste sich auf die
Straße konzentrieren.
Ben und Martha Gerber wohnten
nicht allzu weit entfernt. Ihr Haus befand sich am Stadtrand.
Scott hatte sein Ziel binnen einer Viertelstunde erreicht. Es war
ein Haus aus massivem Blockholz mit einem roten, steinernen
Kaminschacht. Scott erinnerte sich daran, wie sein Vater das Holz
ausgesucht hatte. Die Gerbers hatten ein Faible für Holz. Er
rauschte in die Einfahrt und sprang mit seiner Axt in der Hand aus
dem Auto. Vor dem Haus stand bereits eines der Monster. Scott
rammte ihm wortlos den Axtknauf ins Gesicht und die Bestie ging zu
Boden. Diese Zeit nutzte er, um zur Eingangstür zu gelangen. Ekel
stieg in ihm auf. Dieser Wahnsinn
nimmt einfach kein Ende.
Scott schlug mehrere Male mit
der Faust gegen die Haustür. „Mom! DAD? WO SEID IHR? MACHT DIE
VERFLUCHTE TÜR AUF!“
Die Tür öffnete sich und seine Mutter
zog ihn herein. „Mom, oh dem Himmel sei Dank!“ Scott warf die Axt
zu Boden, riss seine Mutter an sich und umarmte
sie.
Tränen rannen über ihr Gesicht.
Sie wiederholte immer wieder seinen Namen und weinte. Auch er hatte
feuchte Augen. „Was ist nur los hier, Junge? Ich habe den ganzen
Morgen Schreie gehört und in unserem Garten geht dieses … Ding auf
und ab. Das Telefon ist auch tot. Ich konnte niemanden
erreichen.“
Plötzlich sagte sie etwas, dass
ihm die Luft aus den Lungen trieb. „Irgendetwas ist mit Dad nicht
in Ordnung. Er hat mich angegriffen. Ich musste ihn im Schlafzimmer
einsperren.“
Scott schluckte. „Mom, bist du
verletzt?“
Seine Mutter lächelte ihn
tapfer an. „Nein, kaum der Rede wert, Junge, ist wirklich nur ein
kleiner Kratzer an der Schulter“.
„Wie lange ist das her?“
presste Scott erstickt hervor.
„Es ist erst gerade eben
passiert, kurz bevor du hier warst.“
„Jetzt hör mir zu und denk genau
nach“, flehte Scott. „Hat er dich gebissen?“ Scott Gerber hatte
Angst vor der Antwort seiner Mutter. Er schlug sich die Hände an
die Schläfen und rieb sie, versuchte sich aber schnell zu
beruhigen, da er ahnte, dass ihnen vielleicht nur Minuten
blieben.
„Ich bin auf die Schulter
gestürzt, dein Vater hat mich nicht gebissen“, sagte Martha. Erklär
mir bitte, was los ist.“ Scott fiel eine zentnerschwere Last vom
Herzen, auch wenn er gleichzeitig zerrissen war aus Sorge um seinen
Vater, Jane und Sam.
„Mom, ich erkläre dir gleich,
was ich weiß. Aber zuerst, wo sind Jane und Sam? Geht es ihnen
gut?“
Seine Mutter sah ihn an. „Ich
weiß es nicht. Sie sind mit dem Auto gefahren, als es draußen
losging. Den ganzen Morgen war Bewegung auf der Straße. Die
Menschen fielen übereinander her und zerrissen sich gegenseitig,
wie Tiere. Dein Vater war draußen und wollte helfen. Als er wieder
reinkam, hielt er sich den Arm.“
Martha schluckte. Man sah ihr
an, dass ihr die Geschichte zu schaffen machte. „Jane hat ihn nach
oben begleitet. Ben war schwindelig und schlecht. Ich habe Sam
gesagt, er solle hier unten warten.“
Scott unterbrach sie nicht,
obwohl er es kaum aushielt.
„Wir wollten uns um Ben
kümmern, aber auf einmal fing er an zu zucken und schnappte nach
uns. Wir haben ihn im Schlafzimmer eingesperrt und es
abgeschlossen.“
„Er versuchte also euch zu
beißen, hat es aber nicht geschafft?" hakte Scott
nach.
„Ja, mein Junge“, antwortete
Martha traurig. „Jane hat so oft versucht, dich zu erreichen, aber
das Netz war tot. Sie und Sam haben sich große Sorgen um dich
gemacht.“
Scott ging auf seine Mutter zu,
legte den Arm auf ihre Schulter und drückte sie. Sie legte eine
Hand auf seinen Arm.
„Wir wussten doch nicht, was
wir tun sollten. Jane sagte, sie wolle dich holen und nahm Sam mit.
Ich sagte ihr, dass das zu gefährlich sei, aber sie wollte nicht
hören. Sie sind auf ihre Räder gestiegen und einfach losgefahren.
Einfach so. Ich sah sie noch am Ende der Straße verschwinden. Sie
flohen vor den Kranken. Die kranken Menschen konnten sie nicht
einholen.“
Waren das überhaupt noch
Menschen?, dachte Scott.
„Wir haben wirklich den ganzen
Morgen versucht, dich anzurufen.“ Seine Mutter fing an zu weinen,
als würde sie sich schämen. Scott nahm sie in den Arm und tröstete
sie.
„Ich weiß, Mom, ich weiß. Ich
finde die beiden. Jane ist clever, sie wird sich verstecken und du
weißt, wie stark die Gerbers sind. Sam wird seine Mom
beschützen.“
Er wollte gerne selbst daran
glauben, was er seiner Mutter gerade erzählte. Innerlich schlug
sein Herz jedoch bis zum Hals. Scott überlegte, wie er weiter
vorgehen sollte. Wie sollte man seiner Mutter sagen, was ihrem
Ehemann widerfahren ist? Vielleicht
gibt es ja noch Hoffnung. Wenn ich Dad nur zu einem Arzt bringen
könnte. Er erzählte seiner Mutter die
Geschichte mit Betty Wilkes und was sich auf der Straße zugetragen
hatte. Bei seiner Nachbarin hatte es ungefähr zwanzig Minuten
gedauert, bevor sie sich verwandelt hat. Ganz genau wusste er das
aber nicht.
Martha Gerber wurde aschfahl.
Vielleicht ahnte sie bereits, dass der Zustand ihres Ehemannes
keine normale Krankheit war. Sie stand vor ihrem Sohn und blickte
ihm in die Augen.
„Junge, dein Dad und ich waren,
soweit ich das beurteilen kann, unser gesamtes Leben bemüht, gute
Menschen zu sein. Dein Dad ist ein frommer Christ. Er würde mir
oder Jane nie absichtlich etwas zu leide tun.
Scott wusste, wie sich sein
Vater verhalten haben musste. Vermutlich konnte seine Mutter nicht
nachvollziehen, was gerade geschah, aber wie sollte sie auch? Seine
Nachbarin und die Bestien draußen schienen nur noch fressen und
töten zu wollen.
„Du musst dich um deinen Vater
kümmern. Wir müssen ihn irgendwie zu einem Arzt
schaffen.“
Scott nickte.
Als er zur Treppe kam,
hörte er bereits ein Scharren an der Schlafzimmertür. Was sollte er
jetzt tun? Vermutlich würde sein eigener Vater auch ihn gleich
anfallen. Er nahm die Axt zur Hand und ging nach oben. Seine Mutter
folgte ihm in sicherer Entfernung. Scott legte die Axt auf den
Boden vor die Tür und drehte den Knauf.
Das Schlafzimmer wirkte warm.
Die Tagesdecken lagen ordentlich auf dem Ehebett. Die Fotos, die an
der Wand hingen, waren eine Momentaufnahme glücklicher Zeiten. Auf
dem Nachttisch lag die Bibel. Er wusste, dass es die seiner Mom
war. Das alles kannte Scott noch gut aus seiner Kindheit. Wenn er
als Kind nicht schlafen konnte, war er oft rüber geschlichen und
hatte sich zu seinen Eltern ins Bett gelegt. Manchmal hatte seine
Mutter ihm dann noch vorgelesen, wenn er Angst hatte. Es war ein
schrecklicher Anblick, in diesem Raum jetzt seinen Vater zu sehen,
der anscheinend zu einem dieser Ungeheuer geworden war. Ben Gerber
stand am Fenster in Richtung des Gartens. Blut lief aus seinem
Mund. Aus leeren Augen starrte er Scott an und stieß ein
kesselndes, pfeifendes Geräusch aus. Es erinnerte an die Drohlaute
einer Schlange oder einer Eidechse. Scott betrachte ihn eine
Sekunde lang. Er hatte unverkennbar die Gene seines Vaters. Ben
Gerber war annähernd zwei Meter groß und trotz seiner
neunundsechzig Jahre noch in guter Form. Aber es war nur noch sein
Körper, der dort stand. Die Krankheit, oder was auch immer es war,
hatte ihn völlig aufgezehrt. Falls er seinen Sohn erkannte, so
konnte man ihm das nicht anmerken. Er zuckte unkontrolliert, als
würde ein sadistischer Marionettenspieler ihm andauernd Stromstöße
versetzen.
Ben lief auf seinen Sohn zu.
„Dad?“, fragte Scott. „Dad, kannst du mich hören?“ Scott erhielt
keine Antwort. Mit weit aufgerissenem Mund spuckte sein Vater Blut
auf den Fußboden. Seine Hände hielt er klauenartig verrenkt vor dem
Körper. Gerade als Ben mit verzerrten Gesichtszügen kurz vor seinem
Sohn stand und ihn beißen wollte, warf sich Scott auf ihn. Beide
landeten hart auf dem Holzboden. Scott liefen Tränen über das
Gesicht. Er hielt seinen Vater fest umklammert. Ihm wurde klar,
dass es seinen Vater, wie er ihn gekannt hatte, nie wieder geben
würde.
„Danke, dass du mit mir fischen
warst, Dad. Danke, dass du mich zum Football mitgenommen hast. Und
danke, dass du Mom nicht verraten hast, dass du mich mal beim
Rauchen erwischt hast. Ich liebe dich, Dad.“
Scott schnellte hoch und rannte
aus der Tür. Sein Vater erhob seinen Oberkörper und kam langsam
wieder auf die Beine. Scott sah seine Mutter an, die auf der Treppe
stand und sich die Hände vor den Mund hielt.
„Mom, bitte bleib zurück. Geh
nach unten, weg von der Treppe.“ Er ging zurück ins Schlafzimmer,
um seinen Vater zu locken. Ben Gerber folgte ihm hinaus. Auf einmal
machte Ben Gerber einen unkontrollierten Ausfallschritt auf Scott
zu, um diesen zu packen. Scott verlor das Gleichgewicht und fiel
rückwärts um. Sein Vater torkelte auf ihn zu und stürzte sich auf
ihn. Scott schrie laut und rollte sich ein. Er dachte, es sei um
ihn geschehen. Allerdings konnte sich sein Vater ebenfalls nicht
mehr halten. Sein Körper stürzte die Treppe hinunter und er schlug
unkontrolliert mit dem Gesicht auf den Fliesen
auf.
Blut spritze umher und bedeckte
Teile der Fliesen. Ben Gerber lag am Boden und bewegte die Beine,
als wolle er weiterlaufen. Scott schoss sofort vom Fußboden hoch
und rannte hinunter. Dann sah er es. Sein Vater starrte ihn an,
obwohl er auf dem Bauch lag. Sein Kopf hatte sich beinahe um
hundertachtzig Grad gedreht. Er hatte sich bei dem Sturz das Genick
gebrochen und versuchte dennoch, weiter seinen Sohn anzugreifen.
Martha Gerber hatte sich abgewandt, als sie ihren Mann so daliegen
sah. Sie weinte und kniete sich zu Boden, das Gesicht in den Händen
vergraben.
Scott konnte seinen Blick nicht
abwenden. Was passierte gerade bloß
auf dieser Welt? Sein Vater zappelte
immer noch wie ein Fisch an Land und versuchte sich
aufzurichten.
„Mom, geh sofort raus“, befahl
Scott.
„Aber Scott, wenn wir nur…“,
schluchzte Martha.
„Mom, sofort. Bitte.“ Sie
verließ den Raum.
Scott sah, wie jämmerlich
verrenkt die Wirbelsäule seines Vaters war. Kein normaler Mensch
hätte so etwas überlebt. Er war kein Arzt oder Sanitäter, aber er
konnte sehen, dass Teile der Wirbelsäule ein Stück aus dem Hals
ragten, wie bei einem offenen Bruch am Bein. Die Axt lag fest in
Scotts Hand. Gibt es denn keine
Möglichkeit irgendetwas zu tun? Ihm
wollte nichts einfallen. Aus dem Mund seines Dads war immer noch
dieses widerliche Stöhnen und Schmatzen zu hören. Es machte ihn
beinahe verrückt. Immer wieder versuchte Ben Gerber auf die Beine
zu kommen, doch sein körperlicher Zustand ließ es nicht mehr zu.
Scott ging zu seinem Vater und legte eine Hand auf seinen Kopf.
Fast hatte er das Gefühl, dass dieser sich einen kurzen Augenblick
beruhigte. Dann holte er aus und schlug seinem Vater die Axt in den
Kopf. Dieser hörte auf sich zu bewegen. Scott schloss seine Augen.
Tränen liefen über sein Gesicht. Er verließ den Raum und ging zu
seiner Mutter. Seine Hände zitterten mit der Axt darin. Das
Axtblatt triefte vom Blut.
„Nimm Abschied, Mom, ich werde
Dad im Garten beerdigen“, sagte er bitter.
Sie betrat den Raum, kniete
sich vor die Leiche und betete einige Minuten. Dann drückte sie die
Hand ihres Ehemannes und verließ den Raum.