16
Tage, hatte Pendel zu Osnard gesagt. Ich werde ein paar Tage brauchen. Tage gegenseitiger Rücksichtnahme und ehelicher Regeneration, in denen Pendel der Ehemann und Liebhaber die eingestürzten Brücken zur Gemahlin wieder aufbaut und sie rückhaltlos in seine geheimsten Sphären einführt und zur Vertrauten macht, zur Gefährtin und Mitspionin im Dienst seiner großen Vision.
Wie Pendel sich für Louisa neu geschaffen hat, so erschafft er jetzt Louisa für die Welt. Es gibt keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen. Sie teilen alles Wissen, sie wirken endlich zusammen, Kontaktmann und Quelle, einander und Osnard verpflichtet, ehrliche und feste Partner in einem großen Unternehmen. Sie haben so viel gemeinsam. Delgado ist ihre gemeinsame Informationsquelle, was das Schicksal des tapferen kleinen Panama betrifft. London ist ihr gemeinsamer anspruchsvoller Auftraggeber. Die angelsächsische Zivilisation steht auf dem Spiel, es gilt die Kinder zu schützen, ein Netzwerk hervorragender Quellen zu pflegen, eine heimtückische japanische Verschwörung zu vereiteln, einen gemeinsamen Kanal zu retten. Welche Frau, die etwas taugt, welche Mutter, welche Erbin der Konflikte ihrer Eltern würde diesem Ruf nicht folgen, würde nicht zu den Fahnen eilen, zum Schwert greifen und die Usurpatoren des Kanals nach Strich und Faden ausspionieren? Von nun an wird die große Vision ihrer beider Leben vollständig beherrschen. Alles wird sich dieser Vision unterordnen, und in den himmlischen Bildteppich wird jedes beiläufige Wort und jede zufällige Begebenheit eingewebt werden, alles, was Jonah wahrnimmt und Pendel restauriert, aber fortan mit Louisa als Vestalin. Louisa, unterstützt von Delgado, wird davorstehen und tapfer die Lampe halten.
Und wenn Louisa auch nicht direkt von ihrem neuen Status weiß, kommt sie zumindest nicht umhin, von den damit verbundenen kleinen Vorteilen beeindruckt zu sein.
Abends, nachdem er unwichtige Termine abgesagt und den Clubraum geschlossen hat, eilt Pendel nach Hause; dort umhegt und beobachtet er seine diensttuende Agentin, studiert ihre Verhaltensweisen und trägt die Details ihres beruflichen Alltags zusammen, mit Schwerpunkt auf den Beziehungen zu ihrem verehrten, hochgesinnten, angebeteten und – für Pendels eifersüchtigen Blick – maßlos überschätzten Chef Ernesto Delgado.
Bis jetzt, fürchtet er, hat er seine Frau nur als Ideal geliebt, als ein Muster an Geradlinigkeit, als Ergänzung seiner komplizierten Persönlichkeit. Nun gut, von heute an wird er die idealistische Liebe beiseite lassen und in ihr nur noch sie selbst sehen. Bis jetzt hat er, wenn er an den Gitterstäben der Ehe rüttelte, nur zu entkommen getrachtet. Von nun an trachtet er hineinzukommen. Keine Einzelheit ihres Alltags ist ihm zu gering: Er registriert jede Bemerkung über ihren unvergleichlichen Arbeitgeber, über sein Kommen und Gehen, seine Telefonate, Termine, Konferenzen, Launen und Eigenheiten. Die kleinste Abweichung von seinem Alltagstrott, Name und Rang jedes noch so zufälligen Besuchers, der auf dem Weg zur Audienz bei dem großen Mann Louisas Büro passieren muß – all die Bagatellen, denen Pendel bis jetzt nur höflich mit halbem Ohr gelauscht hatte –, all diese Dinge werden für ihn nun zu Angelegenheiten von so heftigem Interesse, daß er seine Neugier stark bezähmen muß, um nicht ihren Argwohn zu erregen. Aus dem gleichen Grund fertigt er seine fortlaufenden Notizen unter Einsatzbedingungen an: in seinem Zimmer hockend – muß ein paar Rechnungen schreiben, meine Liebe – oder auf der Toilette – ich weiß auch nicht, was ich da gegessen habe, meinst du, es könnte der Fisch gewesen sein?
Und am Morgen eine persönlich abgelieferte Rechnung für Osnard.
Ihr gesellschaftliches Leben fasziniert ihn fast so sehr wie das Delgados. Die lahmen Treffen mit den Zonenbewohnern, die jetzt Exilanten im eigenen Land sind; ihre Mitgliedschaft bei einem Radikalen Forum, das Pendel bis jetzt etwa so radikal vorgekommen ist wie warmes Bier, eine Kooperative Christliche Gruppe, der sie aus Treue zu ihrer verstorbenen Mutter angehört – all das interessiert ihn plötzlich sehr, ihn und sein Schneider-Notizbuch, in dem er das alles in einem unergründlichen selbsterfundenen Kode verzeichnet, einer Mischung aus Abkürzungen, Initialen und absichtlich schlechter Handschrift, die sich nur dem geübten Auge erschließt. Denn von ihr selbst unbemerkt, ist Louisas Leben jetzt untrennbar mit dem Mickies verflochten. In Pendels Kopf, sonst freilich nirgendwo, sind Frau und Freund schicksalhaft verbunden, während die Stille Opposition ihre geheimen Grenzen weiter vorschiebt und systemkritische Studenten, christliches Bewußtsein und sympathisierende Panamaer von der anderen Seite der Brücke zu sich heranzieht. Eine Gruppe ehemaliger Zonenbewohner formiert sich unter größter Geheimhaltung, man trifft sich zu zweit oder dritt nach Einbruch der Dunkelheit in Balboa.
Wenn sie getrennt sind, ist Pendel ihr nie so nahe gewesen, und nie so entfremdet, wenn sie zusammen sind. Manchmal erschreckt ihn sein Gefühl der Überlegenheit ihr gegenüber, bis er darin etwas ganz Natürliches erkennt, denn er weiß so viel mehr über ihr Leben als sie selbst und ist ja tatsächlich der einzige Beobachter ihrer anderen magischen Rolle als unerschrockene Geheimagentin mitten im feindlichen Hauptquartier, die auf die Ungeheure Verschwörung angesetzt ist, zu der die Stille Opposition mit ihrem Netzwerk aufopferungsvoller Agenten den Schlüssel hält.
Gewiß, manchmal läßt Pendel die Maske fallen, und die künstlerische Eitelkeit geht mit ihm durch. Er sagt sich, daß er Louisa einen Gefallen tut, wenn er alles, was sie tut, mit dem Zauberstab seiner heimlichen Kreativität berührt. Er rettet sie. Nimmt ihre Last auf sich. Schützt sie physisch und moralisch vor Betrug und all seinen furchtbaren Folgen. Bewahrt sie vor dem Gefängnis. Erspart ihr die tägliche Schinderei vielschichtigen Denkens. Läßt ihre Gedanken und Handlungen sich frei zu einem gemeinschaftlichen, heilsamen Leben zusammenschließen, statt sich in einzelnen verriegelten Kammern wie der seinen abzuschuften und allenfalls im Flüsterton miteinander zu reden. Doch hat er die Maske wieder zurechtgerückt, sieht er in ihr einmal mehr seine unerschrockene Agentin, seine Waffengefährtin im verzweifelten Kampf für die Erhaltung der Zivilisation, wie wir sie kennen, notfalls unter Anwendung ungesetzlicher, um nicht zu sagen unsauberer Mittel.
Gepackt vom überwältigenden Gefühl des Dankes, den er Louisa schuldet, bringt Pendel sie dazu, sich von Delgado für einen Tag beurlauben zu lassen, und unternimmt mit ihr ein frühmorgendliches Picknick: nur wir zwei, Lou, ganz allein, wie damals vor den Kindern. Er bittet die Oakleys, die Kinder zur Schule zu bringen, und fährt mit ihr nach Gamboa, zu einem Hügel namens Plantation Loop, den sie früher, als sie noch in Calidonia lebten, oft und gern besucht hatten; die Straße, eine gewundene Schotterpiste der amerikanischen Armee, führt durch dichten Wald auf einen Bergrücken, der ein Teil der Kontinentalscheide zwischen Atlantik und Pazifik ist. Das Symbolhafte seiner Wahl entgeht ihm nicht: wir, die Hüter des Isthmus, die Schutzengel des kleinen Panama. Es ist ein unirdisches, wechselvolles Fleckchen Erde, gezaust von widrigen Winden und näher dem Garten Eden als dem einundzwanzigsten Jahrhundert, trotz der schmutzigen, zwanzig Meter hohen cremefarbenen Kugelkopfantenne, derentwegen die Straße damals gebaut worden ist: Ursprünglich dort aufgestellt, um Chinesen, Russen, Japaner, Nicaraguaner und Kolumbianer abzuhören, ist die Antenne jetzt offiziell für taub erklärt worden – was freilich nicht bedeutet, daß sie, aus einem überlebenden Instinkt für Intrigen, ihr Gehör nicht reaktivieren könnte, wenn zwei englische Spione zu ihr kommen, die nach der Mühsal täglicher Aufopferung ein wenig Trost brauchen.
Am farblosen, unbewegten Himmel über ihnen kreisen Schwärme von Geiern und Adlern. Durch eine Lücke zwischen den Bäumen blicken sie in ein Tal mit grünen Hängen, das sich bis zur Bucht von Panama hinzieht. Es ist erst acht Uhr morgens, dennoch sind sie schweißüberströmt, als sie zum Geländewagen zurückgehen, um sich an Eistee aus der Thermoskanne und Hackfleischpasteten gütlich zu tun, die Pendel am Abend zuvor zubereitet hat, weil Louisa sie so gerne mag.
»Besser kann das Leben nicht sein, Lou«, versichert er tapfer, als sie nebeneinander und händchenhaltend vor dem Geländewagen sitzen, dessen Klimaanlage auf Hochtouren läuft.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine unser Leben. Alles, was wir getan haben, hat sich ausgezahlt. Die Kinder. Wir. Es geht uns bestens.«
»Solange du zufrieden bist, Harry.«
Pendel befindet, die Zeit sei reif, sie mit seinem großen Plan bekanntzumachen.
»Neulich im Laden habe ich eine komische Geschichte gehört«, sagt er im Tonfall amüsierter Erinnerung. »Es ging um den Kanal. Dieses alte japanische Projekt, von dem früher so viel die Rede war, steht angeblich wieder auf der Tagesordnung. Ich weiß nicht, ob dir bei der Kommission was davon zu Ohren gekommen ist.«
»Was für ein japanisches Projekt?«
»Eine neue Rinne. Auf Meereshöhe. Unter Einbeziehung der Caimito-Mündung. Es ist von Investitionen in Höhe von hundert Milliarden die Rede, falls ich das richtig mitbekommen habe.«
Louisa reagiert ungehalten. »Harry, ich verstehe nicht, warum du mich auf einen Berg schleppen mußt, wenn du mir bloß von Gerüchten über einen neuen japanischen Kanal erzählen willst. Dieses Projekt ist unmoralisch und ökologisch verheerend, es ist gegen Amerika und gegen den Vertrag gerichtet. Und deshalb erwarte ich von dir, daß du demjenigen, der dir diesen Unsinn erzählt hat, den guten Rat gibst, nicht weiter solche Gerüchte zu verbreiten, die die Zukunft unseres Kanals nur noch schwieriger machen.«
Für eine Sekunde überkommt Pendel ein schreckliches Gefühl des Scheiterns, und er bricht beinahe in Tränen aus. Dann überkommt ihn Empörung. Ich habe es versucht, ich habe sie mitnehmen wollen, aber sie will nicht. Sie bleibt lieber im alten Trott. Weiß sie denn nicht, daß die Ehe etwas Gegenseitiges ist? Entweder man stützt einander, oder man fällt hin. Er nimmt einen arroganten Tonfall an.
»Nach dem, was ich gehört habe, wird diesmal nur hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen, und deshalb überrascht es mich nicht sonderlich, daß du noch nichts davon gehört hast. Die höchsten Kreise Panamas sind daran beteiligt, aber natürlich bewahren sie Stillschweigen und treffen sich nur heimlich. Wenn es um den Kanal geht, sind die Japsen für Argumente nicht zugänglich. Dein geliebter Ernie Delgado ist angeblich auch mit von der Partie, was mich weitaus weniger erstaunt, als es eigentlich sollte. Ich habe mich nie so mit Ernie anfreunden können wie du. Und euer feiner Präsident steckt bis zum Hals mit drin. Was meinst du, was er in den fehlenden Stunden seiner Fernostreise getrieben hat?«
Lange Pause. Eine ihrer längsten. Anfangs vermutet er, sie verarbeite die Ungeheuerlichkeit seiner Mitteilung.
»Unser feiner Präsident?« fragt sie.
»Ganz recht.«
»Von Panama? Wie redest du von diesem Mann? Du sprichst ja wie Mr. Osnard. Harry, ich begreife nicht, warum du Mr. Osnard alles nachplappern mußt.«
»Sie ist kurz davor«, gab Pendel noch am selben Abend telefonisch durch; er sprach sehr leise, für den Fall, daß die Leitung abgehört wurde. »Es ist eine schwere Entscheidung. Sie fragt sich, ob sie dem gewachsen ist. Es gibt Dinge da draußen, die sie lieber nicht wissen möchte.«
»Was für Dinge?«
»Das hat sie nicht gesagt, Andy. Sie ringt mit dem Entschluß. Sie macht sich Sorgen wegen Ernie.«
»Hat sie Angst, daß er sie durchschauen könnte?«
»Nein. Daß sie ihn durchschauen könnte. Ernie hält die Hand auf wie alle anderen, Andy. Sein Saubermann-Image ist doch bloß Fassade. ›Ich möchte da lieber nicht so genau hinsehen‹, hat sie gesagt. Wortwörtlich. Sie muß ihren ganzen Mut zusammennehmen.«
Osnards Rat befolgend, führte er sie am nächsten Abend ins La Casa del Marisco zum Essen aus; sie nahmen der Tisch am Fenster. Zu seiner Verblüffung bestellte sie Hummer Thermidor.
»Harry, ich bin doch nicht aus Stein. Ich habe Launen Ich verändere mich. Ich bin ein fühlendes menschliches Wesen. Möchtest du, daß ich Garnelen und Heilbutt esse?«
»Lou, ich möchte, daß du dich auf jeden Fall so entfaltest, daß du dich wohl fühlst.«
Sie ist soweit, befand er, als er sah, wie sie sich den Hummer schmecken ließ. Sie ist in die Rolle hineingewachsen.
»Mr. Osnard, Sir, es freut mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, daß der zweite, von Ihnen sehnlich erwartete Anzug fertig ist«, verkündete Pendel am nächsten Morgen, diesmal am Telefon in seinem Zuschneidezimmer. »Schön gefaltet und in Seidenpapier verpackt in einer Schachtel. Sie können ihn abholen, sobald ich Ihren Scheck erhalten habe.«
»Großartig. Wann treffen wir alle uns dann mal? Ich würde mich zu gerne darin blicken lassen.«
»Das wird leider nicht gehen, Sir. Jedenfalls nicht wir alle. Das ist nicht im Angebot. Wie gesagt. Ich nehme Maß, ich schneide, ich mache die Anprobe, ich mache alles allein.«
»Was soll das heißen?«
»Daß ich auch zustelle. Ohne Mitwirkung anderer. Jedenfalls nicht direkt. Nur Sie und ich, keine direkte Beteiligung Dritter. Ich habe immer wieder mit ihnen geredet, aber sie wollten nicht nachgeben. Die Sache läuft entweder über mich oder gar nicht. Davon wollen sie nicht abweichen, auch wenn wir das noch so bedauerlich finden.«
Sie trafen sich in Coco’s Bar im El Panama. Pendel mußte schreien, um die Band zu übertönen.
»Wie gesagt, Andy, sie hat eine strenge Moral. Da läßt sie nicht mit sich spaßen. Sie achtet Sie, sie mag Sie. Andererseits ist für sie bei Leuten wie Ihnen Schluß. Den Ehemann in Ehren halten und ihm gehorchen ist eine Sache; eine ganz andere ist es für sie als Amerikanerin, ihren Arbeitgeber für einen britischen Diplomaten auszuspionieren, selbst wenn der Arbeitgeber seine heilige Pflicht verrät. Ob Sie das nun Heuchelei nennen oder typisch Frau, ist gleichgültig. ›Erwähne Mr. Osnard nie wieder‹, hat sie gesagt, und es war ihr sehr ernst damit. ›Bring ihn nicht mehr hierher, laß ihn nicht mit den Kindern reden, er verdirbt sie sonst noch. Sag ihm nie, daß ich bereit bin, diese schreckliche Sache für dich zu machen, oder daß ich der Stillen Opposition beigetreten bin.‹ Ich sag’s Ihnen ohne Umschweife, Andy, so schmerzlich es auch sein mag. Wenn Louisa sich auf die Hinterbeine stellt, kriegt man sie höchstens noch mit einem Kran vom Fleck.«
Osnard nahm sich eine Handvoll Cashewnüsse, legte den Kopf zurück, gähnte und warf sie sich in den Mund.
»Das wird London aber gar nicht gefallen.«
»Die werden sich damit abfinden müssen, Andy.«
Osnard dachte kauend darüber nach. »Ja, das müssen sie«, stimmte er zu.
»Und sie wird auch nichts Schriftliches liefern«, setzte Pendel noch nachträglich hinzu. »Mickie ebenfalls nicht.«
»Kluges Mädchen«, sagte Osnard, immer noch mampfend. »Sie bekommt ihr Gehalt rückwirkend ab Anfang dieses Monats. Und rechnen Sie sorgfältig ihre Spesen ab. Auto, Heizung, Licht, Strom, alles mit Datum. Möchten Sie noch so einen oder lieber einen Schnaps?«
Louisa war rekrutiert.
Als Harry Pendel am nächsten Morgen aufstand, fühlte er sich gespaltener als je zuvor in all den Jahren seines Strebens und Fantasierens. Noch nie war er so viele Personen auf einmal gewesen. Einige davon waren ihm fremd, andere kamen ihm vor wie Wärter und alte Knastbrüder, die ihm aus früheren Zeiten bekannt waren. Aber alle waren auf seiner Seite, marschierten mit ihm in dieselbe Richtung und teilten seine große Vision.
»Sieht aus, als hätten wir eine schwere Woche vor uns, Lou«, rief er zur Eröffnung des neuen Feldzugs seiner Frau durch den Duschvorhang zu. »Eine Menge Hausbesuche, neue Aufträge im Anrollen.« Sie wusch sich die Haare. Das machte sie seit einiger Zeit häufig, zuweilen zweimal am Tag. Und die Zähne putzte sie sich mindestens fünfmal täglich. »Gehst du heute abend zum Squash, Schatz?« fragte er absolut beiläufig.
Sie drehte die Dusche ab.
»Squash, Schatz. Ob du heut abend spielen gehst?«
»Soll ich?«
»Heute ist Donnerstag. Club-Abend im Laden. Ich dachte, du gehst donnerstags immer Squash spielen. Feste Verabredung mit Jo-Ann.«
»Möchtest du, daß ich mit Jo-Ann Squash spielen gehe?«
»War nur eine Frage, Lou. Kein Wunsch. Eine Frage. Du willst dich doch fit halten. Und es wirkt ja auch, wie man sieht.«
Bis fünf zählen. Zweimal.
»Ja, Harry, ich habe in der Tat vor, heute abend mit Jo-Ann Squash zu spielen.«
»Na also. Großartig.«
»Wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, ziehe ich mich um, fahre zum Club und treffe mich mit Jo-Ann zum Squash. Wir haben von sieben bis acht einen Court gebucht.«
»Na, dann grüß sie von mir. Sie ist eine nette Frau.«
»Jo-Ann spielt am liebsten zweimal eine halbe Stunde hintereinander. Eine, um ihre Rückhand zu trainieren, und eine für ihre Vorhand. Für ihre Partner gilt dabei natürlich jeweils das Gegenteil. Falls man nicht Linkshänder ist, aber das bin ich ja nicht.«
»Aha. Verstehe.«
»Und die Kinder sind bei den Oakleys«, setzte sie ihre Bekanntmachung fort. »Dort essen sie Chips, von denen sie dick werden, trinken Cola, wovon sie Karies kriegen, sehen gewaltverherrlichende Sendungen im Fernsehen und kampieren auf dem unhygienischen Fußboden der Oakleys, alles im Interesse der Versöhnung unserer Familien.«
»Na schön. Vielen Dank.«
»Keine Ursache.«
Die Dusche ging wieder an, sie schäumte sich noch einmal die Haare ein. Die Dusche ging aus.
»Und nach dem Squash widme ich mich, denn heute ist Donnerstag, meiner Arbeit; ich muß noch Señor Delgados Termine für die nächste Woche planen und aufeinander abstimmen.«
»Das hast du bereits gesagt. Offenbar hat er ja einen reichlich vollen Terminkalender. Sehr beeindruckend.«
Den Vorhang aufreißen. Ihr versprechen, daß er sich künftig nur noch an die Realität halten werde. Aber Realität war längst nicht mehr Pendels Thema, falls es das je gewesen war. Auf dem Weg zur Schule sang er alle Strophen von »My object all sublime«; die Kinder dachten, er sei wahnsinnig gut gelaunt. Als er seinen Laden betrat, wurde er zum verzauberten Fremden. Die neuen blauen Läufer und das elegante Mobiliar überraschten ihn, ebenso die Sportabteilung in Martas Glaskasten und der glänzende neue Rahmen um Braithwaites Porträt. Wer hat das bloß alles angeschafft? Ich selbst. Der Duft von Martas Kaffee, der von oben aus dem Clubraum wehte, entzückte ihn ebenso wie der Anblick eines neuen Berichts über studentische Protestaktionen in der Schublade seines Arbeitstischs. Bereits um zehn Uhr begann verheißungsvoll die Ladenglocke zu läuten.
Als erstes mußte er sich um den amerikanischen Geschäftsträger und seinen blassen Adjutanten kümmern und ihm den neuen Smoking anprobieren, den der Geschäftsträger einen Tuxedo nannte. Vor dem Laden stand sein gepanzerter Lincoln Continental, in dem ein finsterer Fahrer mit Bürstenschnitt wartete. Der Geschäftsträger war ein komischer, wohlhabender Bostoner, der sein Leben damit verbracht hatte, Proust zu lesen und Krocket zu spielen. Sein heutiges Thema war das verflixte Thanksgiving-Grillfest der amerikanischen Familien samt anschließendem Feuerwerk, eine Angelegenheit, die auch Louisa alljährlich Kopfschmerzen bereitete.
»Wir haben keine kultivierte Alternative, Michael«, beteuerte der Geschäftsträger mit seinem Bostoner Akzent, während Pendel mit Kreide eine Linie auf den Kragen zog.
»Genau«, sagte der blasse Adjutant.
»Entweder behandeln wir sie wie stubenreine Erwachsene, oder wir bezeichnen sie als böse Kinder, denen wir nicht trauen können.«
»Genau«, wiederholte der blasse Adjutant.
»Die Leute mögen es, wenn man sie respektiert. Wenn ich davon nicht überzeugt wäre, hätte ich nicht meine besten Jahre der Komödie der Diplomatie gewidmet.«
»Wenn wir freundlicherweise ein wenig den Arm beugen würden, Sir«, murmelte Pendel, die Handkante sacht an die Innenseite des geschäftsträgerlichen Ellbogens legend.
»Die Militärs werden uns verabscheuen«, sagte der Adjutant.
»Beult das Revers auch nicht aus, Harry? Sieht mir ein wenig zu üppig aus. Was meinen Sie, Michael?«
»Einmal bügeln, und das Problem ist ein für allemal behoben, Sir.«
»Sieht doch großartig aus«, sagte der blasse Adjutant.
»Und die Ärmellänge, Sir? Etwa so, oder ein klein wenig kürzer?«
»Ich weiß nicht so recht«, sagte der Geschäftsträger.
»Wegen der Militärs oder wegen der Ärmel?« fragte der Adjutant.
Der Geschäftsträger wedelte mit den Handgelenken und beobachtete sich dabei kritisch.
»So ist es gut, Harry. Genau so. Wenn es nach den Jungs von Ancón Hill gehen würde, Michael, würden zweifellos fünftausend von ihnen in Kampfausrüstung die Straße bewachen; die würden sich in Panzerwagen dort hin- und wieder abtransportieren lassen.«
Der Adjutant lachte grimmig auf.
»Aber wir sind schließlich keine Barbaren, Michael. Nietzsche ist nicht gerade das richtige Vorbild für die einzige Supermacht der Welt auf dem Weg ins einundzwanzigste Jahrhundert.«
Pendel drehte den Geschäftsträger halb herum, damit der seinen Rücken besser bewundern konnte.
»Und die Rocklänge, Sir, ganz allgemein? Darf’s ein wenig länger sein, oder sind wir so zufrieden?«
»Harry, wir sind zufrieden. Erstklassige Arbeit. Verzeihen Sie, wenn ich heute etwas zerstreut bin. Wir versuchen gerade, einen Krieg zu verhindern.«
»Bei solchem Bemühen können wir Ihnen nur Erfolg wünschen, Sir«, sagte Pendel ernst, als der Geschäftsträger und sein Adjutant, von dem katzbuckelnden Fahrer begleitet, die Treppe hinabschritten.
Er hatte es kaum erwarten können, daß sie endlich gingen. Himmlische Chöre sangen ihm in den Ohren, als er die heimlichen hinteren Seiten seines Schneider-Notizbuchs aufschlug und hastig notierte:
Die Spannungen zwischen US-Militärs und diplomatischem Personal haben nach Ansicht des US-Geschäftsträgers einen äußerst kritischen Punkt erreicht; Zankapfel ist die Frage, wie mit der Studentenrevolte umzugehen sei, falls diese ihr häßliches Haupt erheben sollte. Nach den unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit dem Informanten mitgeteilten Äußerungen des Geschäftsträgers …
Was hatten sie ihm mitgeteilt? Wertloses Zeug. Was hatte er gehört? Erstaunliche Neuigkeiten. Und das war erst die Probe gewesen.
»Dr. Sancho«, rief Pendel und breitete entzückt die Arme aus. »Lange nicht mehr gesehen, Sir. Señor Lucullo, welch ein Vergnügen. Marta, wo haben wir das gemästete Kalb?«
Sancho: plastischer Chirurg, Besitzer diverser Kreuzfahrtschiffe, verheiratet mit einer reichen Frau, die er nicht ausstehen konnte. Lucullo: Friseur mit guten Karriereaussichten. Beide aus Buenos Aires. Letztesmal ging es um Mohairanzüge mit zweireihigen Westen für Europa. Diesmal brauchen wir unbedingt weiße Smokingjacken für die Yacht.
»Und an der Heimatfront ist alles ruhig?« begann Pendel oben bei einem Gläschen, sie kunstfertig auszufragen. »Nirgendwo ein großer Putsch in Planung? Ich sage immer, Südamerika ist der einzige Ort der Welt, wo es passieren kann, daß man heute einem Gentleman einen Anzug schneidert und morgen seine Statue damit bekleidet sieht.«
Keine großen Putsche, bestätigten sie kichernd.
»Aber, Harry, haben Sie gehört, was unser Präsident zu Eurem Präsidenten gesagt hat, als die beiden sich unbelauscht glaubten?«
Pendel hatte es nicht gehört.
»Also, drei Präsidenten sitzen in einem Zimmer, ja? Panama, Argentinien, Peru. ›Nun‹, sagt der Präsident von Panama. ›Ihr habt es gut. Ihr werdet für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Aber bei uns in Panama ist eine Wiederwahl durch die Verfassung verboten. Das ist doch einfach nicht fair.‹ Worauf unser Präsident ihm antwortet: ›Tja, mein Lieber, vielleicht liegt das daran, daß ich zweimal machen kann, was Sie nur einmal machen können!‹ Und dann sagt der peruanische Präsident …«
Doch was der peruanische Präsident sagte, hatte Pendel nicht mitbekommen. Wieder sangen himmlische Chöre in seinen Ohren, als er pflichtgemäß in sein Notizbuch eintrug, daß der ebenso hinterhältige wie heuchlerische Ernie Delgado seiner bewährten Privatsekretärin und unentbehrlichen Assistentin Louisa, auch als Lou bekannt, im Vertrauen mitgeteilt habe, der pro-japanische Präsident von Panama verfolge insgeheim die Absicht, seine Macht ins einundzwanzigste Jahrhundert auszudehnen.
»Gestern abend haben die Schweine von der Opposition eine Frau in die Sitzung geschickt, die mich geschlagen hat«, berichtet Juan Carlos von der Gesetzgebenden Versammlung stolz, während Pendel die Schulterpartie seines Tagesanzugs mit Kreidelinien markiert. »Ich hatte das Weibsbild vorher noch nie gesehen. Löst sich aus der Menge und läuft mir strahlend entgegen. Fernsehkameras, Zeitungsreporter. Und ehe ich mich versehe, hat sie mir auch schon einen rechten Haken verpaßt. Was soll ich da wohl machen? Ihr vor den Kameras auch eine reinhauen? Juan Carlos, der Frauenschläger? Wenn ich nichts tue, werd ich als Weichei ausgelacht. Wissen Sie, was ich getan habe?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen« – die Taille nachmessen und einen Zoll hinzufügen, damit Juan Carlos bei seinem Aufstieg zum Ruhm auch weiterhin genügend Platz hat.
»Ich habe sie auf den Mund geküßt. Ihr meine Zunge in den dreckigen Schlund gesteckt. Grauenhafter Mundgeruch. Jetzt beten sie mich an.«
Pendel perplex. Pendel außer sich vor Bewunderung.
»Was ist eigentlich an den Gerüchten Juan Carlos, daß Sie Vorsitzender irgendeines besonderen Sonderausschusses werden sollen?« fragt er ernst. »Demnächst werde ich Sie wohl noch für die Amtseinführung als Präsident einkleiden müssen.«
Juan Carlos brach in schallendes Gelächter aus.
»Besonders? Der Armutsausschuß? Ausschuß! Das kann man wohl sagen! Kein Geld, keine Zukunft. Wir sitzen da und glotzen uns an; wir sagen, das ist schon ein Jammer mit der Armut; und dann gehen wir erstmal anständig was essen.«
In einem weiteren vertraulichen, hinter verschlossenen Türen geführten Gespräch unter vier Augen mit seiner bewährten persönlichen Assistentin machte Ernesto Delgado, treibende Kraft der Kanalkommission und engagierter Vorderer des streng geheimen Japanisch-panamaischen Abkommens, die Bemerkung, daß man dem Armutsausschuß bzw. Juan Carlos eine gewisse Geheimakte über die Zukunft des Kanals zur Kenntnisnahme zukommen lassen sollte. Auf die Frage, was denn der Armutsausschuß mit der Kanalpolitik zu tun habe, antwortete Delgado mit vielsagendem Grinsen, man dürfe in dieser Welt nicht alles nach dem äußeren Anschein beurteilen.
Sie saß an ihrem Schreibtisch. Er sah es genau vor sich, als er ihre Durchwahlnummer wählte: den eleganten Flur oben im Hauptquartier mit seinen Türen, deren Belüftungsklappen die Luft in Umlauf hielten; ihr großes luftiges Büro mit der Aussicht auf den alten Bahnhof, der entweiht war von einem McDonald’s-Logo, das sie jeden Tag auf die Palme brachte; ihren hypermodernen Schreibtisch mit dem Computerbildschirm und dem flachen Telefon. Ihr kurzes Zögern, ehe sie den Hörer abnimmt.
»Möchte nur wissen, ob du heut abend irgendwas Bestimmtes essen willst, Liebste.«
»Warum?«
»Dachte, ich könnte auf dem Heimweg noch über den Markt gehen.«
»Salat.«
»Jaja, nach dem Squash lieber was Leichtes, stimmt’s?«
»Ja, Harry. Nach dem Squash brauche ich was Leichtes, Salat zum Beispiel. Wie immer.«
»Viel zu tun heute? Der alte Ernie rotiert mal wieder?«
»Was willst du?«
»Ich wollte nur deine Stimme hören, Liebes.«
Ihr Lachen machte ihn nervös. »Na, dann beeil dich mal, denn in zwei Minuten wird diese Stimme für eine Abordnung von Hafenmeistern aus Kyoto dolmetschen müssen, und diese Leute sprechen kein Spanisch und auch nur wenig Englisch und wollen bloß den Präsidenten von Panama kennenlernen.«
»Ich liebe dich, Lou.«
»Das will ich auch hoffen, Harry. Und jetzt entschuldige mich.«
»Aus Kyoto, ja?«
»Ja, Harry. Aus Kyoto. Bis dann.«
KYOTO notierte er überschwenglich in Großbuchstaben. Was für eine Quelle. Was für eine Frau. Was für ein Volltreffer. Und wollen bloß den Präsidenten kennenlernen. Und das werden sie auch. Und Marco wird zur Stelle sein und sie in die heiligen Gemächer Seiner Herrlichkeit einführen. Und Ernie wird seinen Heiligenschein aufsetzen und sie begleiten. Und Mickie wird, dank seiner hochbezahlten Quellen in Tokio, Timbuktu oder wo auch immer er seine Schmiergelder investiert, davon erfahren. Und Superagent Pendel wird Wort für Wort darüber berichten.
Pause, die Pendel nutzt, um in der Abgeschiedenheit seines Zuschneidezimmers die örtlichen Tageszeitungen zu durchforsten – neuerdings liest er sie alle; er schlägt das tägliche Hofbulletin auf, Überschrift: Heute zu Gast beim Präsidenten. Kein Wort von seriösen Hafenmeistern aus Kyoto, überhaupt keine Japaner auf der Speisekarte. Ausgezeichnet. Ein inoffizielles Treffen. Ein heimliches Geheimtreffen. Marco läßt sie durch die Hintertür ins Haus, eine Gruppe schmallippiger japanischer Banker, die sich als Hafenmeister ausgeben und angeblich kein Spanisch sprechen, tatsächlich aber doch. Das Ganze ein zweitesmal mit Zauberfarbe überpinseln und das Ergebnis mit Unendlich multiplizieren. Wer war sonst noch dabei – außer dem verschlagenen Ernie? Guillaume natürlich! Der gerissene Franzose! Und da steht er auch schon vor mir und zittert wie Espenlaub!
»Monsieur Guillaume, Sir, ich grüße Sie, pünktlich wie immer! Marta, ein Glas von dem Schottischen für den Monsieur.«
Guillaume stammt aus Lille. Ein umtriebiger Mann. Geologischer Gutachter, der Bodenproben für Spekulanten untersucht. Er ist gerade von einem fünfwöchigen Aufenthalt in Medellin zurück, und in dieser Zeit war die Stadt, wie er Pendel atemlos berichtet, Schauplatz von zwölf bekanntgewordenen Entführungen und einundzwanzig bekanntgewordenen Morden. Pendel macht ihm einen rehbraunen Alpaka-Einreiher mit Weste und einem zweiten Paar Hosen. Kunstvoll lenkt er das Gespräch auf die Politik der Kolumbianer.
»Ehrlich gesagt, ich begreife einfach nicht, wie deren Präsident es überhaupt noch wagen kann, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen«, bemerkt er kritisch. »Bei all den Skandalen und Drogengeschäften.«
Guillaume nimmt einen großen Schluck Scotch und zwinkert ihm zu.
»Harry, ich danke Gott jeden Tag, den ich leben darf, daß ich bloß Wissenschaftler bin. Ich fahre da hin. Untersuche den Boden. Schreibe mein Gutachten. Fahre wieder nach Hause. Gehe was essen. Schlafe mit meiner Frau. Ich lebe.«
»Und Sie kassieren ein fettes Honorar«, erinnert Pendel ihn freundlich.
»Und zwar im voraus«, bestätigt Guillaume, der sich soeben mit Hilfe des hohen Spiegels vergewissert, daß er überlebt hat. »Als erstes bringe ich das Geld zur Bank. Damit man weiß, daß es sich nicht lohnt, mich zu erschießen.«
Der einzige andere Teilnehmer an dem Treffen war der äußerst zurückhaltende französische Topgeologe und freie internationale Gutachter Guillaume Delassus; er hat gute Verbindungen zur politischen Entscheidungsebene des Medellin-Kartells und gilt in gewissen Kreisen als Drahtzieher ersten Ranges und als einer der fünf gefährlichsten Männer Panamas.
Die anderen vier Auszeichnungen werden demnächst verliehen, nahm er sich beim Schreiben vor.
Ansturm zur Mittagszeit. Heftige Nachfrage nach Martas Thunfisch-Sandwiches. Marta selbst überall und nirgends, mit Bedacht Pendels Blick ausweichend. Dichter Zigarettenqualm und lautes Männerlachen. In Panama hat man gern seinen Spaß, auch bei P & B. Ramón Rudd hat einen schönen Knaben mitgebracht. Bier aus dem Eiskübel, Wein aus bereiften Flaschenkühlern, lokale und ausländische Zeitungen, effektvoll benutzte Handys. Pendel dreifach in seinem Element als Schneider, Gastgeber und Meisterspion: zwischen Anprobe- und Clubraum hin und her eilend, trägt er ab und zu mit Unschuldsmiene etwas hinten in sein Notizbuch ein, hört mehr, als gesagt wird, und erinnert sich an mehr, als er gehört hat. Die alte Garde mit neuen Rekruten im Schlepptau. Man spricht von Skandalen, Pferden und Geld. Man spricht von Frauen und gelegentlich auch vom Kanal. Die Eingangstür fliegt auf, der Geräuschpegel sinkt und schwillt an, man ruft »Rafi!« und »Mickie!«, als die Abraxas-Domingo-Show ihren wie immer imposanten Einzug hält: das berühmte Playboy-Duo, wieder einmal versöhnt, Rafi geschmückt mit Goldkette, goldenen Ringen, goldenen Zähnen, italienischen Schuhen und einem knallbunten Jackett von P & B, das er locker um die Schultern gehängt hat, denn er haßt Einfarbiges, er haßt Jacketts, die nicht ausgesprochen geschmacklos sind, und er liebt das Lachen, die Sonne und Mickies Frau.
Mickie wirkt finster und unglücklich, aber er klammert sich an Rafi, als ob sein Leben davon abhinge, als ob Rafi sein letzter Strohhalm wäre, nachdem er alles andere im Rausch verloren hat. Die zwei Männer schreiten ins Getümmel und gehen auseinander; während Rafi die Anwesenden um sich schart, begibt sich Mickie in den Anproberaum und zieht zum zigstenmal den neuen Anzug an, der besser und bunter, teurer und kühler und verführerischer als der von Rafi sein soll – Rafi, wollen Sie am Sonntag den Goldpokal der First Lady gewinnen?
Dann reißt das Stimmengewirr plötzlich ab, und man hört nur noch einen Sprecher: Mickie, der niedergeschlagen aus dem Anproberaum kommt und der versammelten Mannschaft lauthals verkündet, sein neuer Anzug sei der letzte Scheiß.
Er sagt das erst so, dann mit anderen Worten Pendel direkt ins Gesicht: eine Provokation, die er lieber an Domingo richten würde, aber da er das nicht wagt, muß Pendel eben dran glauben. Dann sagt er dasselbe mit anderen Worten ein drittesmal, denn inzwischen wartet sein Publikum schon darauf. Und Pendel, versteinert einen halben Meter vor ihm stehend, wartet ebenfalls. An jedem anderen Tag wäre Pendel der Attacke ausgewichen, hätte einen freundlichen Scherz gemacht, Mickie einen Drink angeboten und ihm vorgeschlagen wiederzukommen, wenn er besserer Laune wäre, hätte ihn die Treppe hinunter geleitet und in ein Taxi gepackt. Die Zellengenossen haben solche Szenen auch durchgestanden, und Mickie hat es ihnen tags darauf mit teuren Geschenken vergolten: mit Orchideen, Wein, kostbarem Huaka-Schmuck und kriecherischen, persönlich überreichten Dank- und Entschuldigungsschreiben.
Aber wer dergleichen heute von Pendel erwartet, rechnet nicht mit der schwarzen Katze, die jetzt die Leine zerreißt und sich mit Klauen und Zähnen auf Mickie stürzt, um mit einer Wildheit auf ihn loszugehen, die kein Mensch in Pendel vermutet hätte. Alle Schuldgefühle, die ihm jemals gekommen waren, weil er Mickies Schwäche ausgenutzt, ihn verleumdet, ihn ausgebeutet, ihn verkauft, ihn in der Grube seiner plärrenden Unterwürfigkeit aufgesucht hatte – das alles hat sich in Wut verwandelt und schießt jetzt in einem einzigen Schwall aus ihm hervor.
»Warum ich nicht Anzüge wie Armani machen kann?« sagte er dem verdutzten Mickie mehrmals ins Gesicht. »Warum ich keine Armani-Anzüge machen kann? Gratuliere, Mickie. Du hast soeben tausend Dollar gespart. Also tu mir einen Gefallen. Geh zu Armani und kauf dir einen Anzug und verschon mich mit weiteren Besuchen. Weil nämlich Armani bessere Armani-Anzüge macht als ich. Dort ist die Tür.«
Mickie rührte sich nicht von der Stelle. Er war wie gelähmt. Wie käme ein Mann von seinen gewaltigen Ausmaßen dazu, sich einen Armani-Anzug von der Stange zu kaufen? Aber Pendel konnte sich nicht mehr bremsen. In seiner Brust tobte ein nicht mehr beherrschbares Chaos aus Scham, Wut und schrecklichen Vorahnungen. Mickie, mein Geschöpf. Mickie, mein Versager, mein Mitgefangener, mein Spion – kommt in mein eigenes sicheres Haus und macht mir Vorwürfe!
»Mickie, weißt du was? Ein Anzug von mir, der wirbt nicht für den Träger, der definiert ihn. Vielleicht willst du dich nicht definieren lassen. Vielleicht hast du nicht genug, das man definieren könnte.«
Gelächter aus den Sitzgruppen. Mickie hatte so viel, daß man ihn mühelos mehrfach definieren konnte.
»Ein Anzug von mir, Mickie, das ist nicht das Gebrüll eines Betrunkenen. Das ist Linie, das ist Form, das ist meisterliche Intuition, das ist Kontur. Das ist das Understatement, das der Welt verkündet, was sie über dich wissen muß, und sonst gar nichts. Der alte Braithwaite nannte das Dezentheit. Wenn jemand einen Anzug von mir bemerkt, ist mir das peinlich, denn dann muß ich was falsch gemacht haben. Meine Anzüge sind nicht dazu da, deine äußere Erscheinung zu verbessern oder dich zum elegantesten Mann im Zimmer zu machen. Meine Anzüge wollen keine Vergleiche provozieren. Sie deuten an. Sie geben zu verstehen. Sie machen den Menschen Mut, auf dich zuzugehen. Sie helfen dir, deine Lebensqualität zu steigern, deine Schulden zu bezahlen, Einfluß auf die Welt zu nehmen. Wenn die Reihe an mir ist, dem alten Braithwaite in die himmlische Tretmühle zu folgen, möchte ich nämlich glauben können, daß Leute, die hier unten auf der Straße in meinen Anzügen herumlaufen, eben deshalb eine bessere Meinung von sich haben.«
Das mußte jetzt einfach raus, Mickie. Wurde Zeit, etwas von der Last bei dir abzuladen. Er holte Luft, schien sich jedoch, wie ein schluckaufartiges Geräusch andeutete, zurückhalten zu wollen. Und dann kam ihm Mickie glücklicherweise zuvor.
»Harry«, flüsterte er. »Ich schwöre bei Gott. Es geht nur um die Hose. Sonst nichts. Ich sehe darin aus wie ein alter Mann. Vorzeitig gealtert. Verschon mich mit diesem philosophischen Gefasel. Das weiß ich doch alles selbst.«
Dann muß in Pendels Kopf ein Signal ertönt sein. Er blickte um sich in die erstaunten Gesichter seiner Kunden; er sah Mickie an, der ihn anstarrte und krampfhaft die umstrittene Alpaka-Hose festhielt, genau wie er selbst einmal die viel zu große orangefarbene Hose seiner Gefängniskluft festgehalten hatte, als habe er Angst, man könnte sie ihm wegnehmen. Er sah Marta, reglos wie eine Statue, ihr zerstörtes Gesicht spiegelte zugleich Mißfallen und Beunruhigung. Er ließ die Fäuste sinken und richtete sich zu voller Größe auf, um schließlich eine bequemere Haltung einzunehmen.
»Mickie. Die Hose wird tadellos sitzen«, versicherte er in einem verbindlicheren Ton. »Ich war gegen das Hahnentrittmuster, aber du hast darauf bestanden, und du hast recht daran getan. In dieser Hose wird dir die ganze Welt zu Füßen liegen. Das gilt auch für das Jackett. Mickie, hör mir zu. Irgend jemand muß für diesen Anzug die Verantwortung übernehmen, du oder ich. Also, wer soll’s sein?«
»Meine Güte«, flüsterte Mickie und schlich an Rafis Arm davon.
Der Laden leerte sich, Zeit für den Nachmittagsschlaf. Die Kunden gingen, sie mußten Geld verdienen, Geliebte und Ehefrauen beschwichtigen, Geschäfte machen, auf Pferde setzen, Gerüchte austauschen. Auch Marta war verschwunden. Sie mußte studieren. Den Kopf in ihre Bücher stecken. Pendel war im Zuschneidezimmer und hatte Strawinsky aufgelegt; er räumte die Schnittmuster aus braunem Papier, Stoff, Kreide und Scheren vom Tisch. Dann schlug er die hinteren Seiten seines Schneider-Notizbuchs auf und strich es an der Stelle glatt, wo seine kodierten Eintragungen anfingen. Falls die Attacke auf seinen alten Freund ihn ernüchtert hatte, gestattete er sich nicht, daß ihm das bewußt wurde. Die Muse rief ihn.
Aus einer Ringkladde mit Rechnungsvordrucken zog er ein Blatt linierten Papiers mit dem königlich anmutenden Hauswappen von Pendel & Braithwaite im Briefkopf; darauf stand in Pendels gestochener Handschrift eine an Mr. Andrew Osnard ausgestellte Rechnung in Höhe von zweieinhalbtausend Dollar, adressiert an dessen Privatwohnung in Paitilla. Nachdem er die Rechnung auf dem Arbeitstisch ausgebreitet hatte, nahm er einen alten Füller, den die Legende Braithwaite zuschrieb, und fügte in einer altmodischen Schrift, die er seit langem für geschäftliche Mitteilungen gebrauchte, die Worte »ich bitte höflich um pünktliche Begleichung« hinzu, was verschlüsselt besagen sollte, daß diese Rechnung mehr bedeute als nur eine Geldforderung. Dann entnahm er einer Mappe aus der mittleren Schublade seines Schreibtischs ein Blatt weißen, unlinierten Papiers ohne Wasserzeichen, das aus dem ihm von Osnard ausgehändigten Paket stammte, und schnüffelte daran, wie er es immer tat. Es roch nach nichts Bekanntem, allenfalls sehr entfernt nach Desinfektionsmitteln, die in Gefängnissen gebraucht werden.
Getränkt mit magischen Substanzen, Harry. Kohlepapier ohne Kohle, zum einmaligen Gebrauch bestimmt.
Und was machen Sie dann damit, wenn Sie es bekommen?
Es entwickeln, Sie Esel, was haben Sie denn gedacht?
Wo, Andy? Wie?
Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mist. In meinem Badezimmer. Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.
Er legte das Kohlepapier auf die Rechnung, nahm den H2-Bleistift, den Osnard ihm zu diesem Zweck gegeben hatte, und begann unter schallenden Strawinsky-Klängen zu schreiben, bis Strawinsky ihm plötzlich auf die Nerven ging und er ihn abschaltete. Der Teufel weiß immer die besten Lieder, pflegte Tante Ruth zu sagen. Er legte Bach auf, aber für Bach schwärmte Louisa, also schaltete er Bach wieder aus und arbeitete in für ihn ungewohnter freudloser Stille. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen, die Zungenspitze zwischen den Lippen, Mickie entschlossen aus den Gedanken verbannt, und kam allmählich in Fahrt. Sein Ohr horchte auf verdächtige Schritte, auf das verräterische Rascheln eines feindlichen Lauschers hinter der Tür. Sein Blick wanderte unablässig zwischen den Hieroglyphen in seinem Notizbuch und dem Kohlepapier hin und her. Erfinden und verbinden. Sortieren und ausbessern. Vervollkommnen. Bis zur Unkenntlichkeit vergrößern. Verzerren. Aus Chaos Ordnung schaffen. So viel zu sagen. So wenig Zeit. Hinter jeder Ecke ein Japaner. Unterstützt von den Festlandchinesen. Pendel in Hochform. Mal über seinem Stoff schwebend, mal ihm unterworfen. Mal Schöpfergeist, mal sklavischer Bearbeiter seiner Eingebungen; Herr seines Wolkenkuckucksheims, Fürst und Knecht zugleich. Die schwarze Katze immer an seiner Seite. Und wie üblich stecken die Franzosen auch irgendwie mit drin. Ein Ausbruch, Harry, mein Junge, ein Ausbruch der Natur. Ein rasendes Machtgefühl, ein Anschwellen, ein Loslassen, ein Freisetzen. Ein Beherrschen der Welt, ein Erweis der Gnade Gottes, ein Begleichen von Schulden. Ein sündhafter Taumel der Schöpferkraft, des Plünderns und Stehlens, des Entstellens und Neuerfindens, vollführt von einem verzückten, ekstatisch sich hingebenden, zornberauschten Erwachsenen, dessen Buße noch aussteht. Und die Katze schlägt mit dem Schwanz. Nimm ein neues Blatt, zerknüll das alte, schmeiß es in den Papierkorb. Lade nach und feure noch einmal aus allen Rohren. Reiß die Seiten aus dem Notizbuch, verbrenn sie im Kamin.
»Möchtest du einen Kaffee?« fragte Marta.
Der größte Verschwörer der Welt hatte vergessen, die Tür abzuschließen. Im Kamin hinter ihm schlugen die Flammen hoch. Verkohltes Papier wartete, zusammenzufallen.
»Einen Kaffee nehm ich gern. Danke.«
Sie machte die Tür hinter sich zu. Steif und ohne zu lächeln.
»Kann ich dir helfen?«
Ihr Blick wich ihm aus. Er holte Luft.
»Ja.«
»Wie?«
»Angenommen, die Japaner würden in aller Stille den Plan verfolgen, einen neuen Kanal auf Meereshöhe zu bauen, und sie hätten heimlich die panamaische Regierung gekauft, und die Studenten hätten davon Wind bekommen – was würden sie dann machen?«
»Die Studenten von heute?«
»Deine. Die, die mit den Fischern reden.«
»Einen Aufruhr veranstalten. Auf die Straße gehen. Den Präsidentenpalast angreifen, die Gesetzgebende Versammlung stürmen, den Kanal blockieren, einen Generalstreik ausrufen, sich Unterstützung von anderen Ländern der Region holen, in ganz Lateinamerika einen antikolonialistischen Kreuzzug führen. Ein freies Panama fordern. Außerdem würden wir alle japanischen Geschäfte niederbrennen und die Verräter aufhängen, den Präsidenten als ersten. Reicht das?«
»Danke. Das macht sich bestimmt ganz ausgezeichnet. Die Leute von der anderen Seite der Brücke würdet ihr natürlich auch dazu aufrufen«, fiel ihm noch ein.
»Selbstverständlich. Die Studenten sind ja nur die vorderste Reihe der proletarischen Bewegung.«
»Das mit Mickie tut mir leid«, murmelte Pendel nach einer Pause. »Ich konnte mich einfach nicht beherrschen.«
»Wenn wir unseren Feinden nicht schaden können, schaden wir unseren Freunden. Hauptsache, man erkennt das.«
»Das tue ich.«
»Der Bär hat angerufen.«
»Wegen seines Artikels?«
»Von dem Artikel hat er nichts gesagt. Er will dich unbedingt sehen. Bald. Er wartet am üblichen Ort. Es klang beinahe wie eine Drohung.«