3

Es war, wie Pendel später meinte, vollkommen angemessen, daß Osnards Eintreffen bei P & B von einem Donnerschlag mit, wie Onkel Benny gesagt haben würde, allem Drum und Dran begleitet wurde. Bis dahin war es ein funkelnder panamaischer Nachmittag in der Regenzeit gewesen, mit einem freundlichen Spritzer Sonnenschein und zwei hübschen Mädchen vor dem Schaufenster von Sallys Geschenkboutique auf der anderen Straßenseite. Und die Bougainvillea im Garten nebenan war so wunderschön, daß man hätte hineinbeißen können. Dann kommt, um drei Minuten vor fünf – Pendel hatte aus irgendeinem Grund nie bezweifelt, daß Osnard pünktlich sein würde –, ein brauner Ford Kombi mit einem Avis-Aufkleber auf der Hecktür vorgefahren und hält auf dem für Kunden reservierten Parkplatz. Und dieses unbekümmerte Gesicht mit dem schwarzen Haarschopf, das wie ein Halloween-Kürbis hinter der Windschutzscheibe hing. Wieso Pendel plötzlich an Halloween denken mußte, konnte er sich selbst nicht erklären, aber so war’s. Es muß an den runden schwarzen Augen gelegen haben, sagte er sich später.

In diesem Augenblick gehen in Panama die Lichter aus.

Und das kommt lediglich von dieser einen scharf umgrenzten Regenwolke, die sich, kaum größer als Hannahs Hand, vor die Sonne schiebt. In der nächsten Sekunde klatschen faustgroße Regentropfen auf die Eingangsstufen, Blitz und Donner lösen sämtliche Autoalarmanlagen in der Straße aus, die Kanaldeckel platzen aus den Fassungen und rutschen wie Diskusscheiben in dem reißenden braunen Strom die Straße hinunter, Palmwedel und Mülltonnen vervollkommnen das unschöne Spektakel, und die schwarzen Burschen in Umhängen, die bei jedem Wolkenbruch aus dem Nichts auftauchen, kommen an die Autofenster und verhökern riesige Regenschirme oder bieten an, für einen Dollar den Wagen auf höheres Gelände zu schieben, damit der Verteiler nicht naß wird.

Und einer dieser Kerle setzt auch schon dem Kürbiskopf zu, der fünfzehn Meter vorm Eingang in seinem Auto sitzt und wartet, daß der Weltuntergang vorüberzieht. Aber der Weltuntergang läßt sich Zeit, denn es geht kaum ein Lüftchen. Der Kürbiskopf versucht den Schwarzen zu ignorieren. Aber der läßt nicht locker. Schließlich gibt der Kürbiskopf nach, greift in sein Jackett – er trägt eins, was in Panama nicht üblich ist, es sei denn, man ist Jemand, oder man ist ein Bodyguard –, zückt die Brieftasche, entnimmt besagter Brieftasche eine Banknote, steckt besagte Brieftasche in die linke Innentasche zurück, kurbelt das Fenster weit genug auf, daß der Schwarze den Schirm in den Wagen schieben und der Kürbiskopf ein paar Höflichkeiten mit ihm austauschen und ihm zehn Dollar geben kann, ohne völlig durchnäßt zu werden. Ende des Manövers. Merke: der Kürbiskopf spricht Spanisch, obwohl er gerade erst hier angekommen ist.

Und Pendel lächelt. Er lächelt wahrhaftig in Vorfreude, zusätzlich zu dem Lächeln, das ihm immer ins Gesicht geschrieben steht.

»Jünger als ich dachte«, ruft er dem wohlgeformten Rücken Martas zu, die in ihrem Glaskasten kauert und gespannt ihre Lotterielose nach den Gewinnzahlen durchsieht, die sie nie hat.

Beifällig. Als freue er sich über zusätzlich gewonnene Jahre, in denen er Osnard Anzüge verkaufen und seine Freundschaft genießen konnte, anstatt ihn sofort als den zu erkennen, der er war: ein Kunde aus der Hölle.

 

Und nachdem er Marta diese Bemerkung zugerufen und außer einer anteilnehmenden Bewegung ihres dunklen Kopfs keine Antwort erhalten hatte, nahm Pendel, wie immer, wenn ein neues Konto eröffnet wurde, die Haltung ein, in der er zuerst gesehen zu werden wünschte.

Das Leben hatte ihn gelehrt, sich auf den ersten Eindruck zu verlassen, und so legte er denn auch Wert auf den ersten Eindruck, den er selbst auf andere machte. Zum Beispiel erwartet niemand, daß sich ein Schneider einfach nur hinsetzt. Aber Pendel hatte schon vor langer Zeit beschlossen, P & B zu einer Oase der Ruhe im hektischen Treiben der Welt zu machen. Und daher war es ihm wichtig, daß man ihn als erstes in seinem alten Pförtnerstuhl erblickte, vorzugsweise mit der Times von vorgestern auf dem Schoß.

Und es konnte auch überhaupt nichts schaden, wenn, wie jetzt, auf dem Tisch vor ihm, zwischen alten Ausgaben von Illustrated London News und Country Life, ein Tablett mit einer echtsilbernen Teekanne und ein paar leckeren, frischen, extradünnen Gurkensandwiches stand, meisterlich von Marta in der Küche zubereitet, wohin sie sich, auf eigenen Wunsch, beim Eintreffen eines neuen Kunden stets zurückzog, damit nicht in der heiklen Anfangsphase durch die Anwesenheit einer von Narben entstellten Mulattin der männliche Stolz eines weißen Panamaers verletzt wurde, der doch schließlich zur Verschönerung hierherkam. Auch las sie dort gern ihre Bücher, nachdem Pendel sie endlich überredet hatte, ihr Studium fortzusetzen. Psychologie und Sozialgeschichte und noch ein Fach, das er sich einfach nicht merken konnte. Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätte Jura studiert, aber das hatte sie schlankweg ausgeschlagen, mit der Begründung, daß Anwälte Lügner seien.

»Es schickt sich nicht«, pflegte sie in ihrem sorgfältig gedrechselten, ironischen Spanisch zu sagen, »daß die Tochter eines schwarzen Zimmermanns sich für Geld selbst in den Schmutz zieht.«

 

Einem starkgebauten jungen Mann, der bei Platzregen mit einem blauweißen Buchmacherschirm aus einem kleinen Auto aussteigen will, bieten sich diverse Vorgehensweisen an. Osnard – falls er es war – wählte eine ebenso komplizierte wie problematische. Zunächst machte er den Schirm im Wagen halb auf, dann schob er sich in wenig vorteilhafter Haltung, mit dem Hinterteil voran, nach draußen, während er gleichzeitig versuchte, den Schirm nachzuziehen und über sich zu bringen, um ihn dann für die restlichen Meter mit triumphierendem Schwung gänzlich zu öffnen. Doch blieben entweder Osnard oder der Schirm in der Wagentür stecken, so daß Pendel für einen Augenblick nichts anderes sah als einen breiten britischen Hintern, bedeckt von einer braunen Gabardinehose, die im Schritt zu tief geschnitten war, sowie ein dazu passendes Jackett mit zwei Schlitzen, das von dem prasselnden Regen schier in Fetzen gerissen wurde.

Sommerstoff, zehn Unzen, stellte Pendel fest. Terylene-Gemisch, viel zu warm für Panama. Kein Wunder, daß er schnell ein paar Anzüge haben will. Taille mindestens achtunddreißig. Der Schirm hatte sich doch öffnen lassen. Manche klemmen. Der hier ging auf wie eine Fahne bei sofortiger Kapitulation, klappte dann aber im selben Tempo über dem oberen Teil des Körpers zusammen. Jetzt wurde der Mann unsichtbar, wie jeder Kunde auf dem Weg vom Parkplatz zum Eingang. Er geht die Stufen hoch, dachte Pendel zufrieden. Und hörte die Schritte, lauter als das Unwetter. Da ist er, er steht vor der Tür, ich kann seinen Schatten sehen. Komm doch rein, Dummkopf, es ist nicht abgeschlossen. Aber Pendel blieb sitzen. Dazu hatte er sich erzogen. Sonst würde er den ganzen Tag Türen auf- und zumachen. Flecken durchnäßten braunen Gabardines erschienen wie Splitter in einem Kaleidoskop im durchsichtigen Halbglanz der kunstvoll auf dem Milchglas angebrachten Lettern: PENDEL & BRAITHWAITE, Panama und Savile Row seit 1932. Einen Augenblick darauf taumelte die ganze klobige Erscheinung im Krebsgang und mit dem Schirm voran in den Laden.

»Mr. Osnard, nehme ich an« – aus den Tiefen seines Pförtnersessels – »treten Sie ein, Sir. Ich bin Harry Pendel. Schade, daß es jetzt gerade regnen muß. Möchten Sie Tee oder etwas Stärkeres?«

Lüstling, war sein erster Eindruck. Lebhafte braune Fuchsaugen. Der Körper schwerfällig, die Gliedmaßen lang, typischer inaktiver Sportler. Also reichlich Stoff zugeben. Dann erinnerte er sich an einen Satz aus einer Varieténummer, den Onkel Benny zur gespielten Entrüstung Tante Ruths immer wieder zitiert hatte:

»Große Hände, meine Damen, große Füße, und Sie alle wissen, was das bedeutet – große Handschuhe und große Socken.«

 

Gentlemen, die bei P & B eintraten, sahen sich vor zwei Möglichkeiten gestellt. Sie konnten sich hinsetzen, wie es die Müßigen taten, ein Schälchen von Martas Suppe oder ein Glas mit irgendeinem Getränk akzeptieren, den neuesten Klatsch mitteilen und die Ruhe des Orts auf sich wirken lassen, bevor es, vorbei an den auf einem Tisch aus Apfelholz verführerisch ausgebreiteten Musterbüchern, die Treppe hinauf zum Anproberaum ging. Oder sie konnten sich schnurstracks in den Anproberaum begeben, wie es die Gehetzten taten, meist neue Kunden, die ihren Fahrern durch die hölzerne Trennwand Befehle zukläfften, die am Handy mit ihren Geliebten und Börsenmaklern telefonierten und auch sonst nichts anderes im Sinn hatten, als mit ihrer Wichtigkeit Eindruck zu machen. Bis im Lauf der Zeit die Gehetzten ebenfalls zu Müßigen wurden, für die wiederum ungestüme neue Kunden nachrückten. Pendel war gespannt, in welche dieser Kategorien Osnard fallen würde. Antwort: in keine von beiden.

Und er zeigte auch keins der anderen Symptome eines Mannes, der kurz davor ist, fünftausend Dollar für seine äußere Erscheinung auszugeben. Er war nicht nervös, nicht zerfressen von Unsicherheit und Bedenken, weder aufdringlich noch geschwätzig noch übertrieben lässig. Er wirkte auch nicht schuldbewußt, aber das kommt in Panama ohnehin selten vor. Selbst wenn man gewisse Schuldgefühle mit ins Land bringt, fallen sie ziemlich schnell von einem ab. Er wirkte beunruhigend ruhig.

Wie auch immer, er blieb einfach stehen, auf seinen triefenden Schirm gestützt, einen Fuß vorgestellt, den anderen auf der Matte, was erklärte, warum die Klingel im hinteren Flur immer noch schrillte. Aber die hörte Osnard nicht. Oder er hörte sie doch und machte sich nichts daraus. Denn während sie weiterschrillte, sah er sich mit heiterer Miene um. Er lächelte wie in plötzlichem Erkennen, als habe er unverhofft einen verloren geglaubten Freund wiedergefunden:

Die geschwungene Mahagonitreppe, die zur Herrenboutique im Zwischengeschoß führte: du liebe Zeit, die gute alte Treppe … Die Seidenschals, die Morgenmäntel, die mit Monogrammen bestickten Hauspantoffeln: ja, ja, ich kann mich gut an euch erinnern … Die kunstvoll zu einem Krawattenständer umgearbeitete Bibliotheksleiter: wer hätte gedacht, das man so etwas daraus machen kann? Die träge unter der Stuckdecke kreisenden Ventilatoren, die Stoffballen, der Ladentisch, an dessen einem Ende die Scheren und der Messingmaßstab aus der Zeit der Jahrhundertwende lagen: alles alte Bekannte … Und schließlich der abgenutzte lederne Pförtnersessel, der örtlicher Legende zufolge noch aus dem Originalbesitz von Braithwaite persönlich stammte. Und Pendel, der darin saß und seinen neuen Kunden mit milder Überlegenheit anlächelte.

Und Osnard erwiderte seinen Blick, musterte ihn unverfroren von oben bis unten: Er begann mit Pendels Gesicht, wanderte dann abwärts über die Knopfleiste der Weste und die dunkelblaue Hose zu den Seidensocken und den schwarzen Straßenschuhen von Ducker in Oxford, die oben in den Größen sechs bis zehn vorrätig waren. Dann ganz gemächlich wieder aufwärts, um noch einmal eingehend das Gesicht zu betrachten und dann schließlich im Laden umherzuspähen. Und weil er sein dickes Hinterbein einfach nicht von Pendels Kokosmatte nahm, schrillte die Klingel unterdessen ununterbrochen weiter.

»Wunderbar«, erklärte er. »Absolut wunderbar. Daran dürfen Sie nie einen Deut ändern.«

»Nehmen Sie Platz, Sir«, drängte Pendel gastfreundlich. »Fühlen Sie sich wie zu Hause, Mr. Osnard. Bei uns fühlt sich jeder wie zu Hause, auf alle Fälle hoffen wir das. Hierher kommen mehr Leute zu einem Plausch als zum Erwerb eines Anzugs. Der Schirmständer ist übrigens gleich neben Ihnen. Stellen Sie ihn da rein.«

Doch weit davon entfernt, seinen Schirm irgendwo hineinzustellen, wies Osnard damit wie mit einem Zeigestab auf ein gerahmtes Foto, das gut sichtbar an der hinteren Wand hing und einen sokratischen Herrn in Rundkragen und schwarzem Jackett zeigte, der durch seine Brille skeptisch auf die Welt der Jüngeren hinabsah.

»Und das ist er, richtig?«

»Was denn, Sir, wer? Wo?«

»Da drüben. Der große Mann. Arthur Braithwaite.«

»O ja, selbstverständlich, Sir. Sie haben ein scharfes Auge, wenn ich so sagen darf. Der große Mann persönlich, wie Sie sehr treffend bemerken. Porträtiert in seinen besten Jahren auf Wunsch seiner ihn liebenden Angestellten, die ihm das Bild anläßlich seines Sechzigsten überreicht haben.«

Als Osnard zwecks genauerer Betrachtung einen Satz nach vorne machte, verstummte endlich die Klingel. »›Arthur G.‹«, las er von dem Messingtäfelchen ab, das unten am Rahmen angebracht war. »›1908-1981. Gründer der Firma.‹ Nicht zu fassen. Hätte ihn niemals erkannt. Wofür steht eigentlich das G?«

»George«, sagte Pendel, während er sich fragte, wieso Osnard glaubte, er habe ihn erkennen müssen. Er ging aber nicht so weit, sich danach zu erkundigen.

»Und wo stammte er her?«

»Aus Pinner«, sagte Pendel.

»Ich meine das Bild. Haben Sie es mitgebracht? Wo war es früher?«

Pendel erlaubte sich ein trauriges Lächeln und seufzte.

»Ein Geschenk seiner verehrten Witwe, Mr. Osnard, kurz bevor sie ihm folgte. Eine schöne Geste, die sie sich in Anbetracht der enormen Transportkosten von England nach hier kaum leisten konnte; aber sie hat es trotzdem getan. ›Dort möchte er jetzt gerne sein‹, hat sie gesagt, und niemand konnte es ihr ausreden. Und das wollte auch niemand. Schließlich war es ihr Herzenswunsch. Wer hätte da widersprochen?«

»Wie hieß sie mit Vornamen?«

»Doris.«

»Kinder?«

»Pardon, Sir?«

»Mrs. Braithwaite. Ob sie Kinder hatte? Erben. Nachkommen.«

»Nein, leider war die Ehe nicht gesegnet.«

»Aber müßte es nicht eigentlich Braithwaite & Pendel heißen? Schließlich war der alte Braithwaite der Hauptteilhaber. Müßte als erster genannt werden, auch wenn er tot ist.«

Pendel schüttelte bereits den Kopf »Nein, Sir. Mitnichten. Arthur Braithwaite hat es damals ausdrücklich so gewünscht. ›Harry, mein Sohn, die Jugend soll den Vortritt vor dem Alter haben. Von heute an heißt es P & B. Auf diese Weise kann man uns auch nicht mit einer gewissen Ölgesellschaft verwechseln.‹«

»Und für welche Könige haben Sie gearbeitet? Immerhin steht ›Hofschneider‹ auf dem Ladenschild. Das macht mich rasend neugierig.«

Pendel ließ sein Lächeln ein wenig abkühlen.

»Nun, Sir, da es um königliche Hoheiten geht, kann ich leider nicht viel dazu sagen. Aber lassen Sie es mich so formulieren: Gewisse Herren, die einem gewissen Königsthron nicht allzu fern stehen, haben uns in der Vergangenheit beehrt und tun es noch heute. Weitere Einzelheiten dürfen wir leider nicht preisgeben.«

»Warum denn nicht?«

»Erstens gibt es den Ehrenkodex des Schneiderhandwerks, der jedem Kunden, sei er von hoher oder niedriger Geburt, Vertraulichkeit zusichert. Und zweitens geschieht es heutzutage wohl auch aus Sicherheitsgründen.«

»Also der Thron von England?«

»Bedaure, die Frage geht zu weit, Mr. Osnard.«

»Wozu hängt denn dann das Wappen des Prince of Wales da draußen? Hab erst gedacht, das wär ein Pub hier.«

»Vortrefflich, Mr. Osnard. Sie haben bemerkt, was hier in Panama nur wenige bemerken, aber von nun an sind meine Lippen versiegelt. Nehmen Sie Platz, Sir. Marta hat Gurkensandwiches zubereitet, greifen Sie nur zu. Ich weiß nicht, ob sich ihr Ruhm bereits bis zu Ihnen herumgesprochen hat. Dazu kann ich Ihnen einen sehr guten leichten Weißwein empfehlen. Aus Chile, importiert von einem meiner Kunden, der so freundlich ist, mir ab und zu eine Kiste zu schicken. Womit darf ich Sie in Versuchung führen?«

Denn inzwischen wurde es für Pendel wichtig, daß Osnard sich in Versuchung führen ließ.

 

Osnard setzte sich immer noch nicht, nahm aber ein Sandwich. Das heißt, er nahm sich gleich drei auf einmal von dem Teller: eins für den ersten Hunger und zwei, die er auf der gut gepolsterten Fläche seiner linken Hand balancierte, während er Schulter an Schulter mit Pendel an dem Apfelholztisch stand.

»Also das hier ist ganz und gar nichts für Sie, Sir«, vertraute Pendel ihm an und zeigte, wie er es immer tat, mit abfälliger Gebärde auf ein Musterbuch mit leichten Tweedstoffen. »Das hier taugt auch nicht viel – jedenfalls nicht für die reife Figur, wie ich das nenne. Vielleicht kann ein Besenstil oder ein bartloser Jüngling so etwas tragen, aber nicht jemand wie Sie oder ich, wenn ich so sagen darf.« Er schlug noch einmal um. »Jetzt wird es schon besser.«

»Erstklassige Alpakawolle.«

»Ganz recht, Sir«, sagte Pendel ziemlich erstaunt. »Aus dem Hochland der Anden im Süden Perus, geschätzt wegen ihrer Weichheit und der Vielzahl natürlicher Farbtöne, um den Wool Record zu zitieren, wenn ich mir die Freiheit erlauben darf. Nun, ich muß schon sagen, Sie kennen sich ja wirklich gut aus, Mr. Osnard.«

Aber er sagte das nur, weil die Kundschaft normalerweise nicht die leiseste Ahnung von Stoffen hatte.

»Der Lieblingsstoff meines Vaters. Er hat darauf geschworen. Alpaka oder pleite, hat er immer gesagt.«

»Tatsächlich, Sir? Das hat er gesagt?«

»Er ist tot. Oben bei Braithwaite.«

»Nun, Mr. Osnard, dazu kann ich nur mit aller Hochachtung sagen, daß Ihr verehrter Vater wußte, wovon er sprach«, rief Pendel aus und stürzte sich in eins seiner Lieblingsthemen. »Denn aus Alpaka, und ich habe mich recht ausführlich darüber informiert, werden die angenehmsten Tuche der Welt hergestellt. Immer und ewig, wenn Sie gestatten. Da kommt auch das allerbeste Mohair-Kammgarn-Gemisch nicht mit, bei weitem nicht. Alpaka wird im Garn gefärbt, daher die Vielfalt und Pracht der Farben. Alpaka ist rein, es ist geschmeidig, es atmet. Auch die empfindlichste Haut wird davon nicht gereizt.« Er berührte Osnard vertraulich am Oberarm. »Und wozu haben die Schneider in der Savile Row es verwendet, Mr. Osnard, und zwar, zu ihrer ewigen und immerwährenden Schande, bis die Knappheit des Materials dem schließlich erst ein Ende gemacht hat, was glauben Sie wohl?«

»Keine Ahnung.«

»Als Futterstoff«, verkündete Pendel angewidert. »Als gewöhnlichen Futterstoff. Der reinste Vandalismus.«

»Da muß der alte Braithwaite ja Zustände gekriegt haben.«

»Das hat er auch, Sir, und ich schäme mich nicht, ihn zu zitieren. ›Harry‹, hat er zu mir gesagt – neun Jahre hat es gedauert, bis er mich Harry nannte –, ›Harry, was diese Leute mit Alpaka machen, würde ich nicht einmal einem Hund antun.‹ Das waren seine Worte, und ich höre sie noch heute.«

»Ich auch.«

»Pardon, Sir?«

Wenn Pendel die Aufmerksamkeit in Person war, war Osnard das Gegenteil. Er schien die Wirkung seiner Worte gar nicht zu bemerken und blätterte bedächtig in dem Musterbuch weiter.

»Ich glaube, ich habe Sie nicht recht verstanden, Mr. Osnard.«

»Der alte Braithwaite hat meinen Vater eingekleidet. Ist natürlich schon lange her. Da war ich noch ein kleiner Junge.«

Pendel schien es vor Rührung die Sprache zu verschlagen. Er erstarrte und hob die Schultern wie ein alter Soldat vor dem Ehrenmal. Als er dann Worte fand, klangen sie atemlos. »Nein, so was, Sir. Verzeihen Sie. Aber das ist ja wirklich ein Ding.« Er faßte sich ein wenig. »Ich muß zugeben, das erlebe ich zum erstenmal. Vater und Sohn. Beide Generationen hier bei P & B. Das haben wir hier in Panama noch nicht gehabt. Noch nie. Seit wir die Row verlassen haben.«

»Dachte mir, daß Sie überrascht wären.«

Für einige Sekunden hätte Pendel schwören können, daß die lebhaften braunen Fuchsaugen ihren Glanz verloren hatten und kreisrund, stumpf und dunkel geworden waren – nur noch ein Fünkchen glomm in jeder Pupille. Und wenn er sich später daran erinnerte, war das Fünkchen nicht golden, sondern rot. Aber der Glanz war schnell wieder da.

»Stimmt was nicht?« fragte Osnard.

»Ich bin einfach fassungslos, Mr. Osnard. ›Eine schicksalhafte Begegnung‹, so nennt man so etwas wohl. Ich muß soeben eine erlebt haben.«

»Jaja, das große Rad der Zeit, wie?«

»Allerdings, Sir. Es dreht sich unaufhaltsam und zermalmt alles, was da kommt, wie man so sagt«, bestätigte Pendel und wandte sich wieder dem Musterbuch zu wie jemand, der Trost in der Arbeit sucht.

Doch Osnard mußte erst noch ein Gurkensandwich verspeisen, was ihm mit einem Biß gelang; dann entfernte er die Krümel von den Händen, indem er sie mehrmals langsam aneinanderschlug, bis ihn nichts mehr störte.

 

Der Empfang neuer Kunden lief bei P & B nach einem gut eingespielten Verfahren ab. Einen Stoff aus dem Musterbuch auswählen, den gewählten Stoff am Stück betrachten – denn Pendel achtete sehr darauf, nie ein Muster vorzulegen, das er nicht auch am Lager hatte –, sich zum Maßnehmen in den Anproberaum zurückziehen, Herrenboutique und Sportabteilung besichtigen, einen Rundgang durch den hinteren Flur machen, Marta begrüßen, ein Kundenkonto eröffnen, eine Anzahlung leisten, falls nichts anderes vereinbart wurde, einen Termin in zehn Tagen zur ersten Anprobe absprechen. In Osnards Fall hielt Pendel es für angebracht, von diesem Schema abzuweichen. Er führte ihn von den Musterbüchern direkt in den hinteren Flur – zur nicht geringen Bestürzung Martas, die sich in die Küche zurückgezogen hatte und in ein Buch vertieft war: Ökologie auf Darlehen, eine Geschichte der gedankenlosen Vernichtung der Dschungel Südamerikas mit kräftiger Unterstützung der Weltbank.

»Ich möchte Ihnen das eigentliche Gehirn von P & B vorstellen, Mr. Osnard, auch wenn die Dame das ganz und gar nicht gern hört. Marta, begrüßen Sie Mr. Osnard. O-S-N, dann A-R-D. Richten Sie eine Karte für ihn ein, meine Liebe, und schreiben Sie ›alter Kunde‹ dazu, denn Mr. Braithwaite hat bereits für seinen Vater gearbeitet. Und der Vorname, Sir?«

»Andrew«, sagte Osnard, und Pendel sah Martas Augen an ihm emporwandern und ihn mustern, als habe sie noch etwas anderes als nur seinen Namen gehört, dann wandte sie sich fragend an Pendel.

»Andrew?« wiederholte sie.

Pendel erklärte eifrig: »Vorläufig im El Panama Hotel, Marta, aber demnächst wohnt er, dank unseren berühmten panamaischen Bauunternehmern, wo …?«

»Punta Paitilla.«

»Aber natürlich«, sagte Pendel mit andächtigem Lächeln, als habe Osnard Kaviar bestellt.

Marta, die sorgfältig ein Lesezeichen in ihren Wälzer gelegt und ihn beiseite geschoben hatte, notierte alle diese Angaben grimmig hinter dem Schutzwall ihres schwarzen Haars.

»Was ist denn mit der armen Frau passiert?« erkundigte sich Osnard mit gedämpfter Stimme, als sie auf dem Flur wieder unter sich waren.

»Ein Unfall, Sir. Der leider von den Ärzten ziemlich schlecht versorgt wurde.«

»Überrascht mich, daß Sie sie behalten. Da müssen Ihre Kunden ja das Grausen kriegen.«

»Ganz im Gegenteil, erfreulicherweise, Sir«, gab Pendel entschieden zurück. »Marta entwickelt sich geradezu zum Liebling meiner Kunden. Für ihre Sandwiches würden sie sich totschlagen lassen, sagen sie.«

Um weitere Fragen nach Marta zu vermeiden und sich nicht ihrer Kritik auszusetzen, wechselte Pendel nun unvermittelt das Thema und hielt seinen Standardvortrag über die Taguanuß, die im Regenwald wächst und längst, wie er Osnard ernsthaft versicherte, von der gesamten fühlenden Welt als akzeptabler Ersatz für Elfenbein anerkannt werde.

»Und jetzt frage ich Sie, Mr. Osnard, was macht man wohl heutzutage aus Tagua?« insistierte er mit noch mehr Nachdruck als gewöhnlich. »Dekorative Schachfiguren? Gewiß, auch Schachfiguren. Kunstschnitzereien? Ebenfalls. Ohrringe, Modeschmuck, wir kommen der Sache schon näher – aber was noch? Was kann man sonst noch daraus machen – etwas Traditionelles, was aber in unseren modernen Zeiten vollkommen vergessen ist? Was machen wir von P & B daraus, unter beträchtlichen Kosten und zum Wohl unserer geschätzten Kundschaft und künftiger Generationen?«

»Knöpfe«, meinte Osnard.

»Antwort: Ganz recht, Knöpfe. Vielen Dank«, sagte Pendel und blieb vor einer Tür stehen. »Indiomädchen«, erklärte er vorsorglich und senkte die Stimme. »Kunas. Sehr empfindlich, wenn ich so sagen darf.«

Er klopfte an, öffnete die Tür, trat ehrfürchtig ein und winkte seinen Gast hinter sich her. Dort saßen im Licht von Arbeitslampen drei Indiofrauen undefinierbaren Alters und nähten Jacketts zusammen.

»Ich möchte Ihnen unsere Mitarbeiterinnen vorstellen, Mr. Osnard«, sagte er leise, als fürchte er, sie in ihrer Konzentration zu stören.

Aber die Frauen waren offenbar nicht halb so empfindlich wie Pendel, denn sie blickten alle sofort von ihrer Arbeit auf und bedachten Osnard mit breitem, taxierendem Grinsen.

»Die Knopflöcher eines Maßanzugs, Mr. Osnard, sind so wichtig wie der Rubin an einem Turban, Sir«, verkündete Pendel noch immer mit sehr leiser Stimme. »Dorthin fällt der Blick, ein solches Detail spricht für das Ganze. Gute Knopflöcher machen keinen guten Anzug. Aber schlechte Knopflöcher machen einen schlechten Anzug.«

»Um den guten alten Arthur Braithwaite zu zitieren«, ergänzte Osnard ebenso leise.

»Ja, Sir, sehr richtig. Und der Taguaknopf, der in Amerika und Europa vor der bedauerlichen Erfindung des Plastiks weithin gebräuchlich war und meiner Meinung nach nie übertroffen wurde, ist dank P & B wieder als krönende Zier des maßgeschneiderten Anzugs im Einsatz.«

»War das auch Braithwaites Idee?«

»Der Gedanke stammte von Braithwaite, Mr. Osnard«, sagte Pendel und ging an der geschlossenen Tür der chinesischen Jackettschneiderinnen vorbei, die er auf keinen Fall stören wollte. »Die Ausführung rechne ich mir als Verdienst an.«

Aber während Pendel sich alle Mühe gab, den Schwung beizubehalten, wollte Osnard die Sache offenbar langsamer angehen, denn jetzt legte er einen kräftigen Arm an die Wand und versperrte Pendel den Weg.

»Sie sollen ja seinerzeit auch Noriega eingekleidet haben. Stimmt das?«

Pendel zögerte und sah instinktiv den Flur hinunter auf Martas Küchentür.

»Und wenn schon«, sagte er. Für einen Augenblick wurde seine Miene mißtrauisch und hart, seine Stimme mürrisch und tonlos. »Was hätte ich denn machen sollen? Den Laden dichtmachen? Nach Hause gehen?«

»Was haben Sie denn für ihn gemacht?«

»Der General war nicht das, was ich einen geborenen Anzugträger nenne, Mr. Osnard. Aber wenn es um Uniformen ging, da konnte er tagelang über jede Einzelheit nachgrübeln. Ebenso, wenn es um Stiefel und Kopfbedeckungen ging. Aber so sehr er sich auch dagegen gesträubt hat, bei manchen Anlässen ist er an einem Anzug nicht vorbeigekommen.«

Er wandte sich ab, zum Zeichen, daß er den Gang durch den Flur fortsetzen wollte. Doch Osnard nahm den Arm nicht weg.

»Was für Anlässe?«

»Nun, Sir, zum Beispiel, als er die Einladung für seine gefeierte Rede an der Harvard Universität erhalten hatte, Sie erinnern sich vielleicht, auch wenn man sich in Harvard nicht so gern daran erinnern mag. Er war schon eine ziemliche Herausforderung. Das reine Nervenbündel bei den Anproben.«

»Wo er jetzt ist, braucht er keine Anzüge mehr, möchte ich meinen.«

»Nein, gewiß nicht, Mr. Osnard. Dafür ist gesorgt, habe ich mir sagen lassen. Ein anderer Anlaß war, als Frankreich ihm die höchste Ehrung erwies und ihn zum Légionnaire ernannte.«

»Womit soll er das denn verdient haben?«

Die Deckenbeleuchtung im Flur machte aus Osnards Augen Einschußlöcher.

»Dazu fallen einem mehrere Erklärungen ein, Mr. Osnard. Die gängigste ist, daß der General, und zwar aus finanziellen Erwägungen heraus, der französischen Luftwaffe erlaubte, Panama als Zwischenstation auf dem Weg zu den unpopulären Atomversuchen im Südpazifik zu benutzen.«

»Wer sagt das?«

»Damals hat es zahllose wilde Gerüchte um den General gegeben. Nicht alle seine Gefolgsleute waren so verschwiegen wie er selbst.«

»Die Gefolgsleute waren auch Ihre Kunden?«

»Und sind es noch immer, Sir, noch immer«, antwortete Pendel, nun wieder ganz heiter gestimmt. »Unmittelbar nach der amerikanischen Invasion hatten wir eine gewisse Durststrecke, als einige höhere Beamten des Generals sich gezwungen sahen, für eine Zeitlang im Ausland zu weilen; doch sind sie bald zurückgekommen. In Panama verliert man seinen guten Namen nicht, jedenfalls nicht für längere Zeit, und die panamaischen Gentlemen geben ihr Geld nur ungern im Exil aus. Hierzulande läßt man Politiker nicht fallen, man recycelt sie lieber. Auf diese Weise bleibt keiner allzu lange draußen.«

»Und Sie waren nicht als Kollaborateur oder so was abgestempelt?«

»Offen gestanden, es war kaum noch jemand da, der diesen Vorwurf hätte erheben können, Mr. Osnard. Gewiß, ich habe dem General einige Kleider angefertigt. Aber die meisten meiner Kunden hatten einiges mehr auf dem Kerbholz.«

»Und die Proteststreiks? Haben Sie da mitgemacht?«

Wieder ein nervöser Blick Richtung Küche, wo Marta sich inzwischen wohl wieder ihrer Lektüre zugewandt hatte.

»Ich will es einmal so formulieren, Mr. Osnard. Wir haben die Ladentür geschlossen. Die Hintertür ist manchmal offen geblieben.«

»Ganz schön schlau.«

Pendel drückte die nächste Klinke und schob die Tür auf. Zwei ältere italienische Hosenschneiderinnen in weißen Schürzen und goldenen Brillen blickten von der Arbeit auf. Osnard winkte ihnen majestätisch zu und trat auf den Flur zurück. Pendel folgte ihm.

»Für den Neuen arbeiten Sie auch?« fragte Osnard leichthin.

»Ja, Sir, ich kann mit Stolz vermelden, daß der Präsident der Republik Panama derzeit zu meinen Kunden zählt. Man kann sich kaum einen sympathischeren Gentleman vorstellen.«

»Wo machen Sie’s?«

»Pardon, Sir?«

»Kommt er her, gehen Sie hin?«

Pendel verfiel in einen leicht überheblichen Tonfall. »Man wird in den Palast bestellt, Mr. Osnard. Die Leute gehen zum Präsidenten, nicht er zu ihnen.«

»Dann kennen Sie sich ja gut aus da oben, wie?«

»Nun, Sir, er ist mein dritter Präsident. Da haben sich einige Beziehungen entwickelt.«

»Zu seinen Gefolgsleuten?«

»Ja. Zu denen auch.«

»Und was ist mit ihm selbst? Mit dem Chef?«

Wieder, wie schon zuvor, wenn er gegen die Regeln geschäftlicher Diskretion zu verstoßen drohte, legte Pendel eine Pause ein.

»Ein großer Staatsmann, Sir, steht heutzutage unter Dauerstreß, er ist einsam, abgeschnitten von dem, was ich die alltäglichen Freuden nenne, die das Leben lebenswert machen. Wenn er ein paar Minuten allein mit seinem Schneider verbringt, kann das schon eine willkommene Atempause im Getümmel sein.«

»So ein richtiges Plauderstündchen?«

»Ich würde es eher als wohltuendes Intermezzo bezeichnen. Zum Beispiel fragt er mich, was meine Kunden über ihn reden. Ich antworte – natürlich, ohne Namen zu nennen. Gelegentlich, wenn ihm etwas auf dem Herzen liegt, beehrt auch er mich mit einer kleinen Vertraulichkeit. Ich stehe halt in dem Ruf, diskret zu sein, und das werden ihm seine äußerst wachsamen Berater zweifellos mitgeteilt haben. Nun, Sir. Wenn ich bitten darf.«

»Wie spricht er Sie an?«

»Unter vier Augen, oder in Gegenwart anderer?«

»Harry?« fragte Osnard.

»Richtig.«

»Und Sie?«

»Ich biedere mich nicht an, Mr. Osnard. Man hat mir die Chance geboten, man hat mich eingeladen. Aber für mich ist er Herr Präsident, und das wird auch so bleiben.«

»Und was ist mit Fidel?«

Pendel lachte fröhlich wie schon lange nicht mehr. »Nun, Sir, der Commandante trägt heutzutage in der Tat gern mal einen Anzug, und das mit Recht, bedenkt man seine zunehmende Körperfülle. Es gibt keinen Schneider hier in der Region, der nicht alles darum geben würde, für ihn zu arbeiten, was auch immer die Yanquis von ihm halten mögen. Aber er bleibt nun einmal seinem kubanischen Schneider treu, wie Sie zweifellos peinlich berührt im Fernsehen bemerkt haben werden. Du liebe Zeit. Mehr will ich nicht sagen. Wir sind hier, wir sind bereit. Wenn der Anruf kommt, nimmt P & B ihn entgegen.«

»Sie haben praktisch einen richtigen Nachrichtendienst aufgebaut?«

»Der Wettbewerb ist mörderisch, Mr. Osnard. Wir haben zahllose Konkurrenten. Ich müßte schon sehr dumm sein, wenn ich nicht die Ohren offenhalten würde.«

»Das stimmt. Wir wollen’s nicht dem alten Braithwaite gleichtun, wie?«

 

Pendel war auf eine Trittleiter gestiegen. Er balancierte auf der obersten Stufe, die er normalerweise nicht benutzte, und hatte einen Ballen grauen Alpakatuchs erster Qualität aus dem obersten Regal gehangelt, den er Osnard jetzt von da oben zur Prüfung hinhielt. Wie er dort hinaufgekommen war, was ihn dazu gebracht hatte – das waren Rätsel, über die nachzudenken er ebenso wenig bereit war wie eine Katze, die sich im Wipfel eines Baums wiederfindet. Sein einziger Gedanke war Flucht.

»Man muß sie aufhängen, Sir, sage ich immer, solange sie noch warm sind, und man sollte stets das Rotationsprinzip beachten«, erklärte er mit lauter Stimme einem Stapel mitternachtsblauen Kammgarns zwei Handbreit vor seiner Nase. »Das hier dürfte ganz nach Ihrem Geschmack sein, Mr. Osnard. Eine vortreffliche Wahl, wenn ich so sagen darf, und ein grauer Anzug ist in Panama ohnehin praktisch ein Muß. Ich bringe Ihnen den Ballen einmal hinunter, damit Sie ihn sich einmal ansehen und ihn anfassen können. Marta! Bitte in den Laden, meine Liebe!«

»Was heißt das: Rotationsprinzip?« fragte Osnard von unten; er hatte die Hände in den Taschen und sah sich Krawatten an.

»Kein Anzug sollte zwei Tage in Folge getragen werden, Mr. Osnard, schon gar nicht einer aus so leichtem Tuch. Wie Sie gewiß oftmals aus dem Mund Ihres Herrn Vaters gehört haben.«

»Das hatte er von Arthur, stimmt’s?«

»Die chemische Reinigung ist der Tod jedes guten Anzugs, sage ich immer. Haben sich Schmutz und Schweiß erst einmal festgesetzt, und das geschieht, wenn man den Anzug überstrapaziert, muß man ihn bald in die Reinigung geben, und das ist der Anfang vom Ende. Ein Anzug, der nicht rotiert wird, ist nur ein halber Anzug, sage ich. Marta! Wo steckt sie denn bloß?«

Osnard beschäftigte sich weiter mit den Krawatten.

»Mr. Braithwaite hat seinen Kunden sogar geraten, ihre Anzüge überhaupt nicht in die Reinigung zu geben«, fuhr Pendel mit leicht erhobener Stimme fort. »Einfach nur ausbürsten, notfalls einen Schwamm benutzen, und einmal jährlich in den Laden bringen, wo der Anzug im River Dee gewaschen wird.«

Osnard hatte sich von den Krawatten losgerissen und sah jetzt fragend zu ihm hinauf.

»Wegen der hochgeschätzten Reinigungskraft dieses Flusses«, erklärte Pendel. »Der Dee ist für unsere Anzüge so etwa dasselbe wie der Jordan für den Pilger.«

»Ich dachte, der Satz stammt von Huntsman«, sagte Osnard und sah Pendel unverwandt in die Augen.

Pendel geriet ins Stocken. Sichtlich. Und Osnard beobachtete ihn dabei.

»Mr. Huntsman ist ein ausgezeichneter Schneider, Sir. Einer der besten in der Savile Row. Aber in diesem Fall ist er den Fußspuren Arthur Braithwaites gefolgt.«

Wahrscheinlich hatte er Fußstapfen sagen wollen, doch unter Osnards scharfem Blick entstand vor ihm ein deutliches Bild von dem großen Mr. Huntsman, wie er, König Wenzels Pagen gleich, unterwürfig Braithwaites nasser Fährte durch die schwarzen Moore Schottlands folgte. Verzweifelt bemüht, den Bann zu brechen, packte er den Stoffballen und stieg behutsam, mit einer Hand die Balance haltend, mit der anderen den Ballen wie ein Baby an die Brust drückend, die Trittleiter hinunter.

»Hier, sehen Sie, Sir. Unser mittelgrauer Alpaka in seiner ganzen Herrlichkeit. Danke, Marta«, sagte er, als sie verspätet unter ihm auftauchte.

Mit abgewandtem Gesicht nahm Marta das Ende der Stoffbahn in beide Hände, bewegte sich rückwärts zur Tür und hielt das Tuch dabei leicht schräg, damit Osnard es prüfen konnte. Und irgendwie fing sie Pendels Blick auf, und auch er sah ihr in die Augen, die gleichermaßen fragend und vorwurfsvoll dreinschauten. Osnard bekam das zum Glück nicht mit. Ganz in die Betrachtung des Tuchs vertieft, stand er darübergebeugt, die Hände auf dem Rücken wie ein königlicher Besucher. Er schnüffelte daran. Er faßte den Stoff an, rieb ihn prüfend zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Schwerfälligkeit seiner Bewegungen löste bei Pendel noch größere Bemühungen und bei Marta noch größeres Mißfallen aus.

 

»Grau ist nichts für uns, Mr. Osnard? Wie ich sehe, bevorzugen Sie Braun! Und das steht Ihnen auch ausgezeichnet, wenn ich so sagen darf. Aber um ehrlich zu sein, Braun ist zur Zeit hier in Panama wenig gefragt. Offenbar ist Braun für den durchschnittlichen panamaischen Gentleman nicht männlich genug, warum, weiß ich auch nicht.« Er war schon wieder halb die Leiter hinauf, während Marta noch ihr Ende der Stoffbahn hielt und der graue Ballen neben ihr auf dem Boden lag. »Ich habe hier oben ein Mittelbraun mit nicht allzuviel Rot, das wird Ihnen stehen. Da haben wir’s. Allzuviel Rot macht ein gutes Braun kaputt, sage ich immer, ob das stimmt, weiß ich auch nicht. Wie hätten Sie’s denn nun gern, Sir?«

Osnard ließ sich mit der Antwort sehr lange Zeit. Zunächst hielt weiterhin das graue Tuch seine Aufmerksamkeit gefangen, dann Marta, die ihn mit einem gewissermaßen medizinischen Widerwillen betrachtete. Dann hob er den Kopf und starrte Pendel auf der Leiter an. Und nach der gefühllosen Kälte zu urteilen, die Osnards ihm zugewandtes Gesicht ausstrahlte, hätte Pendel ebensogut ein Trapezkünstler sein können, der ohne seine Stange unter der Zirkuskuppel festsaß und auf die Welt hinabsah, die ein ganzes Leben weit weg zu sein schien.

»Bleiben Sie ruhig bei Grau, Alter«, sagte Osnard. »›Grau für die Stadt, Braun fürs Land.‹ Hat er das nicht immer gesagt?«

»Wer?«

»Braithwaite. Wer sonst?«

Pendel stieg langsam von der Leiter. Er schien etwas sagen zu wollen, ließ es aber. Ihm waren die Worte ausgegangen: Pendel, dem Worte Sicherheit und Trost bedeuteten. Statt dessen lächelte er nur, als Marta ihm das Tuch hinhielt und er es wieder aufrollte; er lächelte, bis es ihm weh tat, während Marta finster dazu dreinsah, teils wegen Osnard, teils weil ihr Gesicht nun einmal zu diesem Ausdruck erstarrt war, nachdem der entsetzte Arzt sein Bestes getan hatte.