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Harry Pendel liebte seine Frau und seine Kinder mit einer Hingabe, die nur verstehen kann, wer niemals selbst Familie hatte und nie erfahren hat, was es bedeutet, einen anständigen Vater zu achten, eine glückliche Mutter zu lieben oder die beiden als natürliche Belohnung dafür zu akzeptieren, daß man in die Welt gesetzt wurde.

Die Pendels lebten in Bethania, einem Viertel, das oben auf einem Hügel lag; ihr schönes, modernes, zweigeschossiges Haus hatte vorn und hinten einen von Bougainvillea überwucherten Garten und eine herrliche Aussicht aufs Meer und die Altstadt und Punta Paitilla im Hintergrund. Pendel hatte gehört, die Hügel in der Umgebung seien ausgehöhlt, dort befänden sich amerikanische Atombomben und Befehlszentralen für den Kriegsfall, aber Louisa meinte, eben darum können wir uns um so sicherer fühlen, und Pendel, der einen Streit vermeiden wollte, sagte, ja vielleicht.

Die Pendels hatten ein Hausmädchen, das die gefliesten Böden wischte, ein zweites, das die Wäsche besorgte, ein drittes, das die Kinder hütete und die täglichen Einkäufe erledigte, und einen grauhaarigen Schwarzen mit Strohhut und weißem Stoppelbart, der den Garten pflegte, dort alles anpflanzte, was ihm einfiel, verbotenes Zeug rauchte und ständig in der Küche schnorrte. Für dieses kleine Heer von Dienstboten zahlten sie hundertvierzig Dollar die Woche.

Wenn Pendel nachts im Bett lag, machte er sich das heimliche Vergnügen, sich dem unruhigen Schlaf des Gefangenen hinzugeben: die Knie hochgezogen, das Kinn auf der Brust, hielt er sich die Ohren zu, um nicht das Stöhnen der Mitgefangenen hören zu müssen, weckte sich dann und stellte durch behutsames Umherspähen fest, daß er gar nicht im Gefängnis war, sondern hier in Bethania, versorgt von einer treuen Frau, die ihn brauchte und respektierte, umgeben von glücklichen Kindern, die auf der anderen Seite des Flures schliefen, und all das empfand er jedesmal als Segen, als Mizwa, wie Onkel Benny gesagt hätte: Hannah, seine neunjährige katholische Prinzessin, und Mark, sein achtjähriger rebellischer jüdischer Geiger. Pendel liebte seine Familie mit wahrlich pflichtbewußter Energie und Hingabe, doch er hatte auch Angst um sie und übte sich darin, sein Glück als trügerisch zu betrachten.

Wenn er allein im Dunkeln auf seinem Balkon stand, und das tat er abends nach der Arbeit gern und regelmäßig, wenn er vielleicht eine von Onkel Bennys kleinen Zigarren rauchte, die durch die feuchte Luft herbeiwehenden Abendgerüche der üppigen Pflanzenwelt einsog, die Lichter im regnerischen Nebel schwimmen sah und zwischen launenhaften Wolken die an der Kanalmündung vor Anker liegenden Schiffe beobachtete, schärfte der Überfluß seines Glücks ihm gleichzeitig das Bewußtsein von dessen Zerbrechlichkeit: Du weißt, das kann nicht immer so bleiben, Harry, du weißt, die Welt kann vor deiner Nase explodieren, du hast es selbst von dieser Stelle aus gesehen, und was die Welt einmal gekonnt hat, kann sie jederzeit wieder tun, also sei auf der Hut.

Und wenn er dann auf die allzu friedliche Stadt hinausblickte, dauerte es nicht lange, bis die Lichtblitze und die rotgrünen Leuchtspurgeschosse, das heisere Rattern der Maschinengewehre und das wütende Donnern der Kanonen im Theater seiner Erinnerung ihren eigenen irrsinnigen Tag inszenierten, nicht anders als an jenem Abend im Dezember 1989, als die Hügel flackerten und bebten und riesenhafte Kampfhubschrauber unbehindert von See her anflogen und – wie üblich waren an allem mal wieder die Armen schuld – die Slums von El Chorillo bombardierten, in aller Ruhe die brennenden Bretterhütten zerschossen, sich dann zum Nachladen verzogen und zu erneuten Attacken wiederkehrten. Wahrscheinlich hatten sich die Angreifer das gar nicht so gedacht. Wahrscheinlich waren sie alle gute Väter und Söhne und wollten eigentlich nur Noriegas comandancia ausschalten, bis dann ein paar Geschosse vom Kurs abgerieten und weitere ihnen folgten. Doch zu Kriegszeiten sind gute Absichten für die, denen sie zugedacht sind, nicht so leicht verständlich zu machen, Selbstbeschränkung bleibt unbemerkt, und das Vorhandensein einiger verstreuter feindlicher Heckenschützen in einem armen Wohngebiet rechtfertigt in keinem Fall, daß es vollständig in Brand geschossen wird. Was hilft es, den Leuten zu sagen: »Wir haben so wenig Gewalt wie möglich eingesetzt«, wenn sie in panischem Schrecken barfuß über Blut und Glassplitter um ihr Leben rennen und auf dem Weg ins Ungewisse ihre Koffer und Kinder hinter sich herzerren. Was hilft die Behauptung, rachsüchtige Mitglieder von Noriegas Elitetruppe hätten mit der Schießerei angefangen? Selbst wenn das zuträfe – warum sollte das irgend jemand glauben?

Und bald kamen die Schreie den Hügel hinauf, und Pendel, der auch schon manchen Schrei in seinem Leben gehört und selbst ausgestoßen hatte, wäre nie auf die Idee gekommen, daß ein Menschenschrei das furchtbare Dröhnen von Panzerfahrzeugen und das Geknatter moderner Geschütze übertönen könnte, aber genau so war es, besonders wenn es die Schreie mehrerer Menschen zugleich waren und wenn sie aus den kräftigen Kehlen verängstigter Kinder kamen, und dazu dann noch der bestialische Gestank verbrannten Menschenfleischs.

»Harry, komm rein. Wir brauchen dich, Harry. Harry, komm da weg. Harry, ich verstehe einfach nicht, was du da draußen machst.«

Aber dieses Geschrei kam nun von Louisa, die sich im Besenschrank unter der Treppe verkrochen hatte, den langen gebogenen Rücken gegen das Holz gestemmt, um den Kindern besseren Schutz zu bieten: Mark, knapp zwei Jahre alt, preßte sich an ihren Bauch und machte sie durch die Windel naß – wie die amerikanischen Soldaten verfügte er offenbar über unbegrenzte Munitionsvorräte –, und Hannah kniete in einem Yogibär-Bademantel und Pantoffeln zu Louisas Füßen und betete zu jemandem, den sie unbeirrbar mit Jovey anredete und der sich später als eine Mischung aus Jesus, Jehova und Jupiter entpuppte, eine Art göttlichen Cocktails, zusammengerührt aus Ingredienzien religiöser Folklore, die Hannah in ihren drei Lebensjahren aufgeschnappt hatte.

»Die wissen schon, was sie tun«, wiederholte Louisa immer wieder mit einem schrillen Soldatengebelfer, das unangenehm an ihren Vater erinnerte. »Das machen die nicht zum erstenmal. Das haben die alles genau geplant. Die schießen nie, niemals auf Zivilisten.«

Und Pendel, weil er sie liebte, fand es am hilfreichsten, sie in diesem Glauben zu lassen, während El Chorillo unter den wiederholten Attacken aller möglichen Waffensysteme, die das Pentagon jetzt endlich einmal ausprobieren konnte, jammernd in Schutt und Asche fiel.

»Marta wohnt da unten«, sagte er.

Aber eine Frau, die Angst um ihre Kinder hat, hat um niemand anderen Angst, und am Morgen ging Pendel allein den Hügel hinunter, von einer Stille umgeben, wie er sie während all der Jahre in Panama City noch nie erlebt hatte. Die Feuerpause zwischen den Parteien, so erkannte er plötzlich, war unter der Bedingung zustande gekommen, daß niemand mehr Klimaanlagen benutzen, niemand mehr bauen, graben und baggern durfte, daß sämtliche Autos, LKWs, Schulbusse, Taxis, Müll-, Polizei- und Krankenwagen von nun an bis in alle Ewigkeit aus Gottes Angesicht verbannt sein sollten, und daß Kindern und Müttern das Schreien bei Todesstrafe verboten war.

Auch aus der mächtigen schwarzen Rauchsäule, die über den Trümmern von El Chorillo in den Morgenhimmel aufstieg, drang nicht das leiseste Geräusch. Nur ein paar wenige Unzufriedene hielten sich wie üblich nicht an die Sperre: das waren die auf dem Gelände der comandancia verbliebenen Scharfschützen, die immer noch wahllos auf amerikanische Stellungen in der näheren Umgebung schossen. Die auf dem Ancón Hill stationierten Panzer mußten ein wenig nachhelfen, um auch sie schließlich zum Schweigen zu bringen.

Nicht einmal das Telefon vor der Tankstelle war von der selbstlosen Verordnung ausgenommen. Es war unbeschädigt. Es funktionierte. Aber Martas Anschluß war tot.

 

Trotzig an seinem frisch erworbenen Status als reifer Einzelgänger vor lebenswichtiger Entscheidung festhaltend, schwankte Pendel wie üblich zwischen treuer Hingabe und chronischem Pessimismus mit einer wilden Unentschlossenheit, die ihn aus der Bahn zu werfen drohte. Vor den anklagenden inneren Stimmen Bethanias floh er ins Asyl seines Ladens, und vor den anklagenden Stimmen des Ladens floh er ins Asyl seines Hauses, und das alles unter dem Vorwand, in Ruhe seine Möglichkeiten abzuwägen. Niemals – nicht einmal in seinen selbstkritischsten Momenten – erlaubte er sich den Gedanken, daß er dabei zwischen zwei Frauen hin- und herwechselte. Dich überwältigt, sagte er sich, jenes Triumphgefühl, das uns ergreift, wenn unsere schlimmsten Erwartungen in Erfüllung gehen. Deine großartigen Visionen sind auf dich zurückgefallen. Deine selbstgebastelte Welt fliegt dir um die Ohren, und du bist selber schuld, weil du den Tempel auf Sand gebaut hast. Aber kaum hatte er sich mit derlei Weltuntergangsprophezeiungen gegeißelt, als ihm aufmunternder Rat zu Hilfe kam:

»Ein paar bittere Wahrheiten sind also schon wie eine Nemesis.« – Bennys Stimme – »Ein trefflicher junger Diplomat bittet dich nur darum, dich für England einzusetzen, und du siehst dich gleich als Toten im Leichenschauhaus? Würde eine Nemesis anbieten, den verrückten Millionär für dich zu spielen, dir einen Packen Fünfziger in neutralem Umschlag zustecken und dir sagen, davon könnte es noch jede Menge mehr geben? Dich ein Geschenk Gottes nennen, Harry, was du auch nicht alle Tage zu hören bekommst? Ein Musterexemplar? Eine Nemesis

Dann brauchte Hannah den Großen Entscheider, um zu entscheiden, welches Buch sie für den Lesewettbewerb in der Schule nehmen sollte, und Mark mußte ihm unbedingt »Lazy Sheep« auf seiner neuen Geige vorspielen, damit sie entscheiden konnten, ob er die Prüfung schaffen würde, und Louisa wollte seine Meinung über den jüngsten Skandal in der Verwaltungszentrale hören, damit sie entscheiden konnten, was sie über die Zukunft des Kanals zu denken hätten, auch wenn sich Louisa bei diesem Thema längst entschieden hatte: der unvergleichliche Ernesto Delgado, dieser von den Amerikanern anerkannte Saubermann und Bewahrer der Goldenen Vergangenheit, war ohne Fehl und Tadel:

»Harry, ich verstehe das einfach nicht. Ernesto braucht nur mal für zehn Tage das Land zu verlassen, um seinen Präsidenten zu begleiten, und schon genehmigen seine Beamten die Ernennung von nicht weniger als fünf attraktiven panamaischen Frauen zu Pressesprecherinnen mit vollem amerikanischen Gehalt, und ihre Qualifikation besteht nur darin, daß sie jung und weiß sind, daß sie BMWs fahren, Designerkostüme tragen, große Brüste und reiche Väter haben und kein Wort mit den Festangestellten reden.«

»Schockierend«, entschied Pendel.

Dann zurück in den Laden, wo Marta überfällige Rechnungen und nicht abgeholte Bestellungen mit ihm durchgehen mußte, damit sie entscheiden konnten, auf wen sie Druck machen und wen sie noch einen Monat in Ruhe lassen sollten.

»Was machen die Kopfschmerzen?« fragte er besorgt, da sie noch blasser als gewöhnlich aussah.

»Nicht der Rede wert«, antwortete Marta hinter ihren Haaren hervor.

»Ist die optimistische Phase wieder vorbei?«

»Die optimistische Phase ist für immer vorbei« – sie gewährte ihm ein schiefes Lächeln – »der Optimismus ist offiziell als verloren erklärt.«

»Das tut mir leid.«

»Nicht doch, bitte. Du hast nichts damit zu tun. Wer ist Osnard?«

Pendel reagierte zunächst mit Entsetzen. Osnard? Osnard? Ein Kunde, Frau. Du kannst doch seinen Namen nicht so ausposaunen!

»Warum?« fragte er, schnell wieder nüchtern.

»Er ist böse.«

»Sind das nicht alle meine Kunden?« sagte er, scherzhaft auf ihre Vorliebe für die Leute auf der anderen Seite der Brücke anspielend.

»Sicher, aber die wissen es nicht«, gab sie zurück; jetzt lächelte sie nicht mehr.

»Und Osnard weiß es?«

»Ja. Osnard ist böse. Tu nicht, was er von dir verlangt.«

»Aber was verlangt er denn von mir?«

»Ich weiß es nicht. Wenn ich es wüßte, würde ich ihn daran hindern. Bitte.«

Sie hätte wohl gerne noch »Harry« hinzugesetzt, er sah schon, wie sich sein Name auf ihren aufgeplatzten Lippen formte. Aber im Laden war es ihr ganzer Stolz, nie auf seine Nachsicht zu setzen, sich nie durch Worte oder Gebärden anmerken zu lassen, daß sie für alle Ewigkeit zusammengehörten, daß sie, wann immer sie einander erblickten, dasselbe durch verschiedene Fenster sahen:

Marta in zerrissenem weißen Hemd und Jeans, wie nicht abgeholter Müll im Rinnstein liegend, über ihr stehen drei Mitglieder von Noriegas berüchtigter Elitetruppe, die sie, beim Gesicht anfangend, nacheinander mit einem blutbeschmierten Baseballschläger bearbeiten und so ihr Herz zu gewinnen versuchen. Pendel, dem zwei weitere dieser Männer die Arme auf den Rücken drehen, wie er auf sie niederstarrt und sich die Seele aus dem Leib schreit, zuerst vor Angst, dann vor Wut, dann um Gnade für Marta flehend.

Aber sie kennen keine Gnade. Sie zwingen ihn zuzusehen. Denn wozu sollte man an einer rebellischen Frau ein Exempel statuieren, wenn niemand da ist, dem es zur Warnung dienen könnte?

Das Ganze ist ein Irrtum, Captain. Es ist reiner Zufall, daß diese Frau das weiße Hemd des Widerstands anhat.

Beruhigen Sie sich, Señor. Gleich ist es nicht mehr weiß.

Marta auf dem Bett in dem Behelfskrankenhaus, wohin Mickie Abraxas die beiden mutig genug gebracht hat; Marta nackt, überall Blut und blaue Flecken; Pendel, wie er den Arzt verzweifelt mit Dollars und Beteuerungen bedrängt; Mickie als Sicherheitsposten am Fenster.

»Wir sind besser als das«, flüstert Marta durch blutige Lippen und eingeschlagene Zähne.

Sie meint: es gibt ein besseres Panama. Sie spricht von den Leuten auf der anderen Seite der Brücke.

Am nächsten Tag wird Mickie verhaftet.

 

»Ich überlege, ob ich die Sportabteilung zu einem Clubraum umbauen soll«, erzählte Pendel Louisa, noch immer um eine Entscheidung ringend. »Vielleicht sogar mit einer Bar.«

»Harry, ich verstehe einfach nicht, wozu du eine Bar brauchst. Eure Treffen am Donnerstagabend sind auch so schon wüst genug.«

»Es geht darum, Leute anzulocken. Die Kundschaft zu vergrößern. Freunde bringen Freunde mit, die Freunde machen es sich bequem, fühlen sich wohl, beginnen, sich im Laden umzusehen: und schon ist das Auftragsbuch voll.«

»Und was wird aus dem Anproberaum?« wandte sie ein.

Gute Frage, dachte Pendel. Auch Andy konnte mir darauf keine Antwort geben. Entscheidung vertagt.

 

»Für die Kunden, Marta«, erklärte Pendel geduldig. »Für all die Leute, die hierherkommen und deine Sandwiches essen. Damit es immer mehr werden und sie immer mehr Anzüge bestellen.«

»Am liebsten würde ich sie mit meinen Sandwiches vergiften.«

»Und für wen soll ich dann arbeiten? Vielleicht für deine hitzköpfigen Studentenfreunde? Weltneuheit: Revolution in Maßanzügen von P & B. Vielen Dank.«

»Lenin ist schließlich auch Rolls Royce gefahren«, gab sie nicht minder schlagfertig zurück.

 

Ich habe ihn gar nicht nach den Taschen gefragt, dachte er, als er spät im Laden zu den Klängen von Bach eine Smokingjacke zuschnitt. Auch nicht, welche Beinweite er bevorzugt und ob er Aufschläge haben will. Außerdem habe ich ihm keinen Vortrag darüber gehalten, welche Vorteile Hosenträger gegenüber Gürteln haben, zumal in feuchtem Klima und für Herren, deren Taillenumfang ich als beweglichen Feiertag zu bezeichnen pflege. Mit diesem Vorwand ausgestattet, wollte er gerade zum Hörer greifen, als das Telefon von selber läutete – natürlich war es Osnard, er fragte, ob sie noch irgendwo was trinken gehen sollten.

Sie trafen sich im Executive Hotel, einem weißen Hochhaus, einen Sprung von Pendels Laden entfernt. In der modernen getäfelten Bar lief auf einem riesigen Fernsehschirm eine Basketballübertragung, die von zwei attraktiven Mädchen in kurzen Röcken verfolgt wurde. Pendel und Osnard setzten sich etwas abseits von ihnen und steckten die Köpfe zusammen, auch wenn die Rohrstühle eher dazu einluden, sich nach hinten zu lehnen anstatt nach vorne.

»Schon zu einem Entschluß gekommen?« fragte Osnard.

»Nicht direkt, Andy. Ich arbeite noch daran, könnte man sagen. Denke nach.«

»London ist sehr von Ihnen angetan. Die wollen den Handel perfekt machen.«

»Nun, das freut mich, Andy. Sie müssen mich ja sehr gelobt haben.«

»Die wollen Sie so bald wie möglich einsetzen. Sind fasziniert von der Stillen Opposition. Wollen die Namen der Beteiligten. Ihre finanzielle Situation. Ob sie Verbindung zu Studenten haben. Ob sie ein Manifest herausgebracht haben. Ziele und Vorgehensweisen.«

»Aha, ja, schön. Nun, also dann«, sagte Pendel, der bei seinen vielen anderen Sorgen Mickie Abraxas, den großen Freiheitskämpfer, und Rafi Domingo, seinen ungeheuerlichen Zahlmeister, beinahe vergessen hatte. »Freut mich, daß es ihnen gefallen hat«, fügte er höflich hinzu.

»Vielleicht können Sie Marta aushorchen: über studentische Aktivitäten. Bombenbasteleien in der Uni.«

»Aha. Schön. Ja.«

»Die wollen das Verhältnis auf eine offizielle Basis stellen, Harry. Das will ich auch. Einen Vertrag aufsetzen, Ihnen Instruktionen geben, Geld natürlich auch, und Ihnen ein paar Tricks beibringen. Solange die Fährte noch warm ist.«

»Es kann sich nur noch um Tage handeln, Andy. Wie gesagt. Ich überstürze nichts. Ich denke nach.«

»Man hat das Angebot um zehn Prozent erhöht. Damit Sie sich besser konzentrieren können. Soll ich’s Ihnen noch mal verklickern?«

Osnard verklickerte es ihm noch einmal, flüsternd und die Hand vorm Mund wie jemand, der sich mit einem Zahnstocher in den Zähnen puhlt: soundso viel als Anzahlung, soundso viel als Ausgleich für Ihre monatlichen Verpflichtungen, Sonderprämien je nach Qualität der Informationen, wobei London die Bewertung vorbehalten bleibt, soundso viel Abfindung.

»Müßten in spätestens drei Jahren aus dem Schneider sein«, sagte er.

»Oder früher, mit etwas Glück, Andy.«

»Oder Verstand«, sagte Osnard.

 

»Harry

Eine Stunde später, doch Pendel fühlt sich zu entfremdet, um nach Hause gehen zu können; er sitzt wieder an der Smokingjacke im Zuschneidezimmer und hört Bach.

»Harry

Louisa spricht mit ihm, es ist ihre Stimme, nachdem sie das erstemal miteinander ins Bett gegangen sind, und zwar richtig, nicht bloß Finger- und Zungenspiele und verkrampftes Horchen, ob ihre Eltern schon aus dem Kino zurückkommen, sondern vollkommen nackt in Harrys Bett in seiner miesen Mansardenwohnung in Calidonia, wo er, nachdem er den ganzen Tag für einen syrischen Herrenausstatter namens Alto Konfektionskleidung verkauft hat, die Abende damit verbringt, Anzüge zu schneidern. Ihr erster Versuch ist nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Beide sind schüchtern, beide sind Spätentwickler, gehemmt von allzu vielen Hausgespenstern.

»Harry

»Ja, Liebling.« Ein Wort wie Liebling kam ihnen niemals leicht von den Lippen. Weder am Anfang noch heute.

»Wenn Mr. Braithwaite dir deine erste Chance gibt und dich bei sich aufnimmt, wenn er dich auf die Abendschule schickt und dich von deinem schrecklichen Onkel Benny wegholt, bin ich voll und ganz auf seiner Seite.«

»Das freut mich sehr, Liebling.«

»Du solltest ihm auf den Knien danken und später unseren Kindern von ihm erzählen, damit sie erfahren, wie ein guter Samariter einem Waisenkind das Leben retten kann.«

»Arthur Braithwaite war der einzige gute Mensch, den ich kannte, bis ich deinen Vater kennengelernt habe, Lou«, versichert Pendel ihr inbrünstig.

Und es war mir ernst damit, Lou! fügt er in Gedanken verzweifelt hinzu, als er die Schere an der Schulter des linken Ärmels ansetzt. Alles in der Welt ist wahr, man muß nur intensiv genug daran glauben und denjenigen lieben, für den man es erfindet!

»Ich werde es ihr sagen«, verkündet Pendel laut, von Bach in eine Stimmung vollkommener Aufrichtigkeit versetzt. Und in einem furchtbaren Augenblick des Sichgehenlassens erwägt er allen Ernstes, sämtliche klugen Regeln, nach denen er bisher gelebt hat, über Bord zu werfen und der Gefährtin seines Lebens ein volles Geständnis seiner Sünden zu machen. Das heißt, ein halbwegs volles. Das Nötigste.

Louisa, ich muß dir etwas sagen, hoffentlich schockiert es dich nicht allzusehr. Was du von mir weißt, ist in manchen Einzelheiten nicht ganz koscher. Vieles davon ist eher so, wie ich es gern hätte, wie es hätte sein können, wenn das Leben etwas gerechter mit mir umgegangen wäre.

Mir fehlen die richtigen Worte, denkt er. Ich habe noch niemals ein Geständnis abgelegt, außer dieses eine Mal bei Onkel Benny. Wo soll ich aufhören? Und wird sie mir danach überhaupt noch irgend etwas glauben? Mit Entsetzen malt er sich das Kriegsgericht aus, eine von Louisas gottesfürchtigen Krisensitzungen, aber mit allen Schikanen: die Dienstboten aus dem Haus geschickt, der engste Familienkreis mit gefalteten Händen um den Tisch versammelt, und Louisa mit steifem Rücken und angstvoll verkniffenem Mund, denn im Innersten schreckt die Wahrheit sie noch mehr als mich. Das letztemal war es Mark gewesen, der sich verantworten mußte, weil er an den Torpfosten der Schule »Alles Mist« gesprüht hatte. Davor Hannah, die eine Dose schnelltrocknender Farbe in die Spüle gekippt hatte, um sich an einem der Hausmädchen zu rächen.

Aber heute sitzt Harry persönlich auf dem heißen Stuhl und erklärt seinen geliebten Kindern, daß ihr Vater, in der ganzen Zeit seiner Ehe mit der Mutter und seit die Kinder alt genug zum Zuhören waren, ihnen allen ein paar kräftig ausgeschmückte Lügenmärchen über den großen Helden und das Vorbild der Familie aufgetischt hat, diesen nicht existierenden Mr. Braithwaite, Gott hab ihn selig. Und daß ihr Vater und Ehemann, weit entfernt davon, Braithwaites Lieblingssohn zu sein, neunhundertundzwölf entscheidende Tage und Nächte seines Lebens einem gründlichen Studium des Mauerwerks in der Erziehungsanstalt Ihrer Majestät gewidmet hat.

Entscheidung getroffen. Ich erzähl’s euch später. Viel später. Praktisch erst in einem künftigen Leben. Einem Leben, in dem mir das Redetalent ausgegangen ist.

 

Pendel brachte den Geländewagen gerade noch hinter dem Wagen vor ihm zum Stehen und wartete, daß ihn das Auto hinter ihm rammte, aber aus irgendeinem Grund wollte es das nicht. Wie bin ich hierhergekommen? fragte er sich. Vielleicht hat es mich doch gerammt, und ich bin tot. Ich muß den Laden abgeschlossen haben, ohne es zu merken. Dann erinnerte er sich, daß er an der Smokingjacke gearbeitet und die fertigen Teile auf der Werkbank ausgebreitet hatte, um sie zu betrachten; das machte er immer so: schöpferisch Abschied von ihnen nehmen, bis sie, zu menschlichen Umrissen zusammengeheftet, das nächstemal vor ihn traten.

Schwarzer Regen prasselte auf die Motorhaube. Fünfzig Meter vor ihm stand ein Lastwagen quer auf der Straße, seine Reifen hatte er wie Kuhfladen hinter sich verteilt. Sonst war durch den Wasserfall nichts zu sehen, außer endlosen stehenden Autoschlangen auf dem Weg in den Krieg oder auf der Flucht davor. Er machte das Radio an, konnte aber durch den Artilleriedonner nichts hören. Der Regen auf dem heißen Blechdach. Hier komm ich nicht mehr raus. Eingesperrt. Mitten drin. Die Zeit absitzen. Den Motor ausmachen, das Gebläse auch. Warten. Braten. Schwitzen. Die nächste Salve. Sich unterm Sitz verstecken.

Schweiß, schwer wie Regen, läuft ihm aus allen Poren. Unter ihm das Gurgeln des abfließenden Wassers. Pendel treibt flußaufwärts oder -abwärts. Die ganze Vergangenheit, die er zwei Meter tief begraben hat, stürzt über ihn herein: die unbereinigte, ungeschönte, Braithwaite-lose Version seines Lebens, beginnend mit dem Wunder seiner Geburt, wie es ihm Onkel Benny im Gefängnis erzählt hat, und endend mit dem absolut unversöhnlichen Versöhnungstag vor dreizehn Jahren, als er sich für Louisa erfunden hat, während sie auf einem tadellos gepflegten amerikanischen Rasen in der offiziell abgeschafften Kanalzone standen; das Sternenbanner flatterte im Rauch vom Grillfeuer ihres Vaters, die Band spielte Hope-and-Glory, und die Schwarzen sahen durch den Drahtzaun zu.

Er sieht das Waisenhaus, an das er sich nie mehr hatte erinnern wollen; sein Onkel Benny, ein vornehmer Herr mit Homburg auf dem Kopf, führt ihn an der Hand in die Freiheit. Er hatte noch nie einen Homburg gesehen und fragte sich, ob Onkel Benny Gott sei. Er sieht das nasse graue Pflaster von Whitechapel unter seinen Füßen schwanken, als er Rollständer mit wehenden Kleidern durch den brüllenden Verkehr zu Onkel Bennys Lagerhaus schiebt. Er sieht sich selbst zwölf Jahre später, noch dasselbe Kind, nur größer: gebannt steht er in eben diesem Lagerhaus inmitten gelbroter Rauchsäulen, und er sieht die Sommerkleider, aufgereiht wie Märtyrer, und die Flammen, die an ihren Füßen lecken.

Er sieht Onkel Benny, wie er, die Hände vor den Mund gewölbt, schreit: »Lauf, Harry, du blöder Idiot, hast du keine Fantasie?« Alarmglocken schrillen, und Bennys Schritte entfernen sich hastig. Er selbst steckt wie in Treibsand, er kann kein Glied mehr rühren. Er sieht blaue Uniformen auf sich zukommen, sie packen ihn und zerren ihn zum Wagen, und der nette Sergeant hält ihm den leeren Ölkanister vor die Nase und lächelt wie jeder anständige Vater: »Gehört das vielleicht Ihnen, Mr. Hymie, Sir, oder hatten Sie das nur rein zufällig in der Hand?«

»Ich kann die Beine nicht bewegen«, erklärt Pendel dem netten Sergeant. »Es geht nicht. Ich glaub, ich habe einen Krampf oder so was. Ich müßte eigentlich weglaufen, aber ich kann nicht.«

»Keine Sorge, mein Sohn. Das kriegen wir schon wieder hin«, sagt der nette Sergeant.

Er sieht sich klapperdürr und nackt an der kahlen Wand im Polizeigefängnis stehen. Und die endlos lange Nacht, in der die blauen Uniformen ihn abwechselnd zusammenschlagen, wie sie Marta geschlagen haben, jedoch mit mehr Überlegung und mit mehr Bier hinter den Kiemen. Antreiber ist der nette Sergeant, der so ein anständiger Vater ist. Bis das Wasser über ihm zusammenschlägt und er ertrinkt.

Der Regen hört auf. Als wäre nichts geschehen. Die Autos funkeln, alle sind froh, nach Hause zu kommen. Pendel ist todmüde. Läßt den Motor an, kriecht weiter, langsam, die Unterarme aufs Steuer gelegt. Weicht gefährlichen Trümmern aus. Fängt an zu lächeln, als er Onkel Benny hört.

 

»Es war ein Ausbruch, Harry«, flüsterte Onkel Benny unter Tränen. »Ein Ausbruch der Natur.«

Ohne die wöchentlichen Gefängnisbesuche hätte Onkel Benny niemals so viel über Pendels Herkunft verlauten lassen. Aber der Anblick seines Neffen, wie er da in Gefängniskluft mit seinem Namen auf der Tasche so aufmerksam vor ihm sitzt, ist mehr als Bennys gutes schuldbewußtes Herz ertragen kann, ganz gleich, wieviel Käsekuchen und Fitnessbücher er ihm von Tante Ruth mitbringt oder wie oft er Pendel mit erstickter Stimme dankt, daß er trotz allem sein Vertrauen nicht enttäuscht hat. Soll heißen, daß er geschwiegen hat.

Es war meine Idee, Sergeant … Ich hab’s getan, weil ich es in dem Lagerhaus nicht mehr aushalten konnte, Sergeant … Ich war so wütend auf meinen Onkel Benny, weil er mich immer stundenlang dort hat arbeiten lassen und mir nichts dafür bezahlt hat, Sergeant … Herr Richter, ich habe nichts zu sagen, außer daß ich meine schlimme Tat sehr bereue, und es tut mir leid, daß ich denen, die mich geliebt und die mich aufgezogen haben, besonders meinem Onkel Benny, soviel Kummer gemacht habe …

Benny ist sehr alt – für ein Kind so uralt wie ein Weidenbaum. Er stammt aus Lwow, und als Pendel zehn Jahre alt ist, kennt er Lwow wie seine eigene Heimatstadt. Bennys Verwandte waren einfache Bauern und Handwerker, kleine Händler und Flickschuster. Viele von ihnen bekamen die Welt außerhalb des Stedtls und des Ghettos zum ersten- und auch zum letztenmal zu sehen, als sie mit Zügen in die Lager transportiert wurden. Nicht so Benny. Der Benny jener Tage ist ein kluger junger Schneider, der von großen Erfolgen träumt, und irgendwie gelingt es ihm, sich aus den Lagern heraus und bis nach Berlin zu reden, wo er für deutsche Soldaten Uniformen näht, auch wenn sein wahrer Ehrgeiz dahin geht, sich von Gigli zum Tenor ausbilden zu lassen und eine Villa in den Hügeln Umbriens zu erwerben.

»Diese Wehrmacht-Lumpen waren erstklassig, Harry«, sagt der Demokrat Benny, für den, unabhängig von der Qualität, alle Kleider Lumpen sind. »Du kannst den besten Ascot-Anzug nehmen, Jagdhosen feinster Qualität samt den Stiefeln dazu. Das ganze Zeug war nichts im Vergleich zu unseren Wehrmacht-Klamotten, jedenfalls bis Stalingrad, danach ist ja alles den Bach runtergegangen.«

Von Deutschland gelangt Benny in den Osten Londons, in die Leman Street, und baut dort mit seiner Familie eine Werkstatt auf; zu viert in einem Zimmer wollen sie die Bekleidungsindustrie im Sturm erobern, damit er nach Wien gehen und an der Oper singen kann. Schon jetzt ist Benny ein Anachronismus. Ende der vierziger Jahre sind die meisten jüdischen Schneider längst nach Stoke Newington und Edgware aufgestiegen und betreiben ein weniger bescheidenes Gewerbe. An ihre Stelle sind Inder, Chinesen und Pakistani gerückt. Benny läßt sich nicht abschrecken. Bald ist das East End sein Lwow und die Evering Street die beste Adresse Europas. Und dort, in der Evering Street, stößt ein paar Jahre später – soviel hat Pendel erfahren dürfen – Bennys älterer Bruder Leon mit seiner Frau Rachel und mehreren Kindern dazu, eben derselbe Leon, der aufgrund besagten Ausbruchs eine achtzehnjährige irische Hausangestellte schwängert, die den Bastard dann Harry nennt.

 

Pendel fährt in die Ewigkeit. Mit müden Augen folgt er den verwischten roten Sternen vor ihm, immer dicht hinter seiner Vergangenheit her. Beinahe lacht er im Schlaf. Die Entscheidung ist dem Vergessen übergeben, aber jede Silbe und jeder Ton von Onkel Bennys Monolog wird eifersüchtig im Gedächtnis aufbewahrt.

 

»Warum Rachel deine Mutter überhaupt ins Haus gelassen hat, wird mir immer ein Rätsel bleiben«, sagt Benny und schüttelt den Homburg. »Man mußte kein Schriftgelehrter sein, um zu sehen, daß sie das reine Dynamit war. Unschuldig oder tugendhaft, das stand nicht zur Debatte. Sie war einfach eine brünstige, ziemlich dumme Schickse kurz vor dem Erwachsenwerden. Der kleinste Schubs, und es war um sie geschehen. Das war alles schon abzusehen.«

»Wie hieß sie?« fragt Pendel.

»Cherry, die Kirsche«, stöhnt sein Onkel wie ein Sterbender, der sein letztes Geheimnis verrät. »Eine Kurzform von Cherida, glaube ich, aber ihre Geburtsurkunde habe ich nie gesehen. Teresa, Bernadette oder Carmel hätte besser zu ihr gepaßt, aber sie hieß nun einmal Cherida. Ihr Vater war ein Maurer aus dem County Mayo. Die Iren waren noch ärmer als wir, deshalb hatten wir irische Hausmädchen. Wir Juden werden nicht gerne alt, Harry. Bei deinem Vater war es nicht anders. Weil wir nicht an den Himmel glauben. Wir stehen schon lange in Gottes langem Korridor, aber daß wir in Gottes Hauptsaal mit all seiner Pracht vorgelassen werden, darauf warten wir noch immer, und nicht wenige von uns bezweifeln, daß wir jemals vorgelassen werden.« Er beugt sich über den Eisentisch und packt Pendels Hand. »Harry, hör mir zu, mein Sohn. Juden bitten nicht Gott, sondern die Menschen um Verzeihung, und das ist hart für uns, denn der Mensch ist ein schlimmerer Gegner als Gott jemals sein kann. Und jetzt, Harry, bitte ich dich um Verzeihung. Erlösung kann ich noch auf dem Sterbebett erlangen. Verzeihung, Harry, kannst nur du allein mir gewähren.«

Pendel wird Benny alles geben, was er verlangt, wenn er nur die Sache mit dem Ausbruch genauer erklärt.

»Es war ihr Geruch, hat dein Vater mir erzählt«, fährt Benny fort. »Er hat sich vor Zerknirschung die Haare gerauft. Sitzt vor mir, wie du jetzt vor mir sitzt, nur ohne diese Gefängnissachen. ›Wegen ihres Geruchs habe ich den Tempel über mir zum Einsturz gebracht‹, sagt er. Dein Vater war ein frommer Mann, Harry. ›Sie hat vorm Kamin gekniet, und ich habe ihre reizende Weiblichkeit gerochen, keine Seife und ungewaschen, Benny, nichts als die natürliche Frau. Der Geruch ihrer Weiblichkeit hat mich überwältigt.‹ Wäre Rachel nicht bei den Töchtern der jüdischen Reinheit am Southend Pier zum Tanzkränzchen gewesen, wäre dein Vater nie zu Fall gekommen.«

»Aber er ist gefallen«, treibt Pendel ihn an.

»Harry, unter Tränen aus katholischen und jüdischen Schuldgefühlen, unter Ave Marias und Oi wejs und Was-wird-aus-mir-werden von allen Seiten hat dein Vater die Kirsche gepflückt. Betrachte es als einen Akt Gottes, ich kann es nicht, aber du besitzt die Chuzpe der Juden und die Schmeichelzunge der Iren, wenn du nur die Schuldgefühle loswerden könntest.«

»Wie hast du mich aus dem Waisenhaus bekommen?« will Pendel wissen, er schreit beinahe, so wichtig ist es ihm.

Irgendwo in seinen verschwommenen Erinnerungen an die Kindheit, an die Zeit, bevor Benny ihn da herausholte, gibt es das Bild einer dunkelhaarigen, Louisa nicht unähnlichen Frau, die auf allen Vieren einen spielplatzgroßen Steinfußboden schrubbt, unter den Augen einer Statue vom Guten Hirten in einem blauen Morgenmantel und mit Seinem Lamm.

 

Pendel auf der Zielgeraden. Vertraute Häuser, längst schlafen gegangen. Die Sterne vom Regen gewaschen. Der Vollmond vor seinem Gefängnisfenster. Sperrt mich wieder ein, denkt er. Ins Gefängnis geht man, wenn man sich vor Entscheidungen drücken will.

 

»Harry, ich war einfach großartig. Diese Nonnen waren hochnäsige Französinnen und hielten mich für einen Gentleman. Ich hatte mich in Schale geworfen, mit allem Pipapo: einen grauen Anzug aus dem Schaufenster, eine von Tante Ruth ausgewählte Krawatte, dazu passende Socken, handgefertigte Schuhe von Lobb in St. James’, die schon immer mein kleines Laster waren. Aber ohne Großtuerei, die Hände an den Hosennähten, den Sozialismus säuberlich verpackt.« Denn abgesehen von seinen unzähligen anderen positiven Eigenschaften ist Benny ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Sache des Proletariats und glaubt an die Menschenrechte. »›Verehrte Schwestern‹, sage ich, ›ich verspreche Ihnen: Der kleine Harry soll ein gutes Leben haben, und wenn ich dabei draufgehe. Harry soll unsere Mizwa sein. Sie sagen mir, bei welchen klugen Männern ich ihn unterrichten lassen soll, und ich kleide ihn in ein weißes Hemd und gebe ihn auf der Stelle dorthin. Ich zahle das Schulgeld für die Schule Ihrer Wahl, er bekommt ein Grammophon und nur die beste Musik zu hören und ein Familienleben, von dem ein Waisenkind nur träumen kann. Lachs zum Essen, idealistische Konversation, ein eigenes Zimmer, eine Daunenmatratze.‹ Damals war ich auf dem aufsteigenden Ast. Mit Lumpen wollte ich mich nicht mehr abgeben, es ging nur noch um Golfclubs und Fußbekleidung, und der Palast in Umbrien war schon in Reichweite. Wir glaubten, spätestens in einer Woche Millionäre zu sein.«

»Und wo war Cherry?«

»Weg, Harry, weg«, sagt Benny mit tragisch gesenkter Stimme. »Deine Mutter hatte sich aus dem Staub gemacht, und wer kann ihr einen Strick daraus drehen? Eine Tante im County Mayo schrieb uns, ihre arme Cherry sei völlig erschöpft von all den Gelegenheiten, die ihr die Schwestern geboten hätten, sich von ihren Sünden reinzuwaschen.«

»Und mein Vater?«

Benny gerät wieder in Verzweiflung. »Auf dem Friedhof, Junge«, sagt er und wischt sich die Tränen ab. »Dein Vater, mein Bruder. Dort wo ich liegen sollte, nach all dem, wozu ich dich angestiftet habe. Meiner Meinung nach vor Scham gestorben, so wie ich beinahe auch jedesmal, wenn ich dich hier sehe. Aber diese Sommerkleider haben mich ruiniert. Es gibt keinen deprimierenderen Anblick auf der Welt als fünfhundert unverkaufte Sommerkleider im Herbst, das kann dir jeder Schlemihl bestätigen. Tagtäglich hat mich der Teufel mit der Versicherungspolice in Versuchung geführt. Ich bin mir wie geknebelt vorgekommen, nicht anders, Harry, und schlimmer noch, ich habe dich mit der Fackel losgeschickt.«

»Ich werde die Lehre machen«, sagt Pendel beim Glockenzeichen, um ihn aufzumuntern. »Ich werde der beste Schneider der Welt. Sieh dir das mal an.« Und er zeigt ihm ein Stück Gefängnistuch, das er im Lager geschnorrt und nach Maß zugeschnitten hat.

Beim nächsten Besuch schenkt ihm Benny, von Schuldgefühlen geplagt, eine in Zinn gerahmte Ikone der Jungfrau Maria, die ihn, wie er sagt, an seine Kindheit in Lwow erinnert, an die Tage, wenn er sich aus dem Ghetto schlich, um den Gojim beim Beten zuzusehen. Und noch heute steht sie bei Pendel in Bethania, neben dem Wecker auf dem Rattantisch an seinem Bett, und sieht mit ihrem verblaßten irischen Lächeln zu, wie er sich die schweißgetränkte Gefängniskluft vom Leib reißt und zu Louisa ins Bett kriecht, um ein wenig an ihrem schuldlosen Schlaf teilzuhaben.

Morgen, dachte er. Morgen sag ich’s ihr.

 

»Harry, bist du das?«

Mickie Abraxas, der große Untergrundrevolutionär und heimliche Held der Studentenschaft, morgens um zehn vor drei bei klarem Verstand betrunken: Er schwört bei Gott, daß er sich umbringen wird, weil seine Frau ihn rausgeworfen hat.

»Wo bist du?« fragte Pendel, im Dunkeln lächelnd, denn trotz allem Ärger, den er verursachte, war Mickie auf immer sein Zellengenosse.

»Nirgendwo. Ich bin aufgeschmissen.«

»Mickie.«

»Was?«

»Wo ist Ana?«

Ana war Mickies derzeitige chiquilla, eine kräftige, praktisch denkende Kindheitsfreundin Martas aus la Cordillera, die Mickie so wie er war zu akzeptieren schien. Marta hatte sie miteinander bekannt gemacht.

»Hallo, Harry«, sagte Ana gutgelaunt, was Pendel ebenso gutgelaunt mit »Hallo« erwiderte.

»Wieviel hat er getrunken, Ana?«

»Das weiß ich nicht. Er sagt, er ist mit Rafi Domingo ins Kasino gegangen. Hat ein bißchen Wodka getrunken, ein bißchen Geld verloren. Vielleicht auch ein bißchen gekokst, er weiß es nicht mehr. Er schwitzt entsetzlich. Soll ich einen Arzt holen?«

Bevor Pendel ihr antworten konnte, war wieder Mickie am Apparat.

»Harry, ich liebe dich.«

»Das weiß ich, Mickie, und es freut mich sehr, ich liebe dich auch.«

»Hast du auf dieses Pferd gesetzt?«

»Ja, Mickie, ja, ich muß zugeben, ich habe auf dieses Pferd gesetzt.«

»Tut mir leid, Harry. Okay? Tut mir leid.«

»Schon gut, Mickie. Ist ja kein Beinbruch. Nicht jedes gute Pferd kann gewinnen.«

»Ich liebe dich, Harry. Du bist mein Freund, ja?«

»Und genau deshalb brauchst du dich auch nicht umzubringen, ist das klar, Mickie?« sagte Pendel liebevoll. »Nicht wenn du Ana und einen guten Freund hast.«

»Soll ich dir was sagen, Harry? Wir verbringen das Wochenende gemeinsam. Du und ich, Ana und Marta. Angeln und bumsen.«

»Nun schlaf dich erst mal gut aus, Mickie«, sagte Pendel fest, »und morgen früh kommst du zur Anprobe in den Laden, und dann können wir die Sache bei einem Sandwich besprechen. Ja? Also bis dann.«

»Wer war das?« fragte Louisa, als er aufgelegt hatte.

»Mickie. Seine Frau hat ihn mal wieder ausgesperrt.«

»Warum?«

»Weil sie eine Affäre mit Rafi Domingo hat«, sagte Pendel, mit der unentrinnbaren Logik des Lebens ringend.

»Warum haut er ihr nicht eins aufs Maul?«

»Wem?« fragte Pendel begriffsstutzig.

»Seiner Frau, Harry. Was dachtest du denn?«

»Er ist müde«, sagte Pendel. »Noriega hat ihm die Lebensgeister rausgeprügelt.«

Hannah stieg zu ihnen ins Bett, gefolgt von Mark und dem riesigen Teddybär, den er schon vor Jahren aufgegeben hatte.

 

Es war schon morgen, also erzählte er es ihr.

Ich habe es getan, damit man mir glaubt, erzählte er ihr, als sie wieder eingeschlafen war.

Damit du einen Halt hast, wenn du schwach wirst.

Damit du eine feste Schulter hast, an die du dich anlehnen kannst, und nicht bloß mich.

Damit ich ein besserer Mann für die Tochter eines Rauhbeins aus der Zone werde, die den Mund nicht halten kann und durchdreht, wenn sie sich bedroht fühlt, und die Politik der kleinen Schritte vernachlässigt, obwohl ihre Mutter ihr zwanzig Jahre lang eingeschärft hat, wenn sie das jemals täte, werde sie nie einen Mann wie Emily bekommen.

Und sich einbildet, zu häßlich und zu groß zu sein, während alle anderen bezaubernde Schönheiten sind und die richtige Größe haben, wie Emily.

Und die niemals, in Millionen Jahren nicht, nicht einmal im verletzlichsten und unsichersten Augenblick ihres Lebens, nicht einmal um Emily eins auszuwischen, Onkel Bennys Lagerhaus, beginnend bei den Sommerkleidern, ihm zu Gefallen in Brand stecken würde.

Pendel sitzt im Sessel, hüllt sich in eine Tagesdecke und überläßt das Bett denen, die reinen Herzens sind.

 

»Ich bin den ganzen Tag unterwegs«, sagt er zu Marta, als er am nächsten Morgen in den Laden kommt. »Du wirst die Kundschaft bedienen müssen.«

»Für elf ist der bolivianische Botschafter angemeldet.«

»Verleg den Termin. Ich muß dich unbedingt sprechen.«

»Wann?«

»Heute abend.«

 

Bis jetzt hatten sie Familienausflüge gemacht, im Schatten der Mangobäume gepicknickt, die träge im heißen Wind treibenden Falken, Fischadler und Geier beobachtet und den Reitern auf weißen Pferden zugesehen, die wie versprengte Reste von Pancho Villas Armee wirkten. Oder sie zogen das Gummiboot durch die überschwemmten Reisfelder, wobei Louisa immer am glücklichsten war, wenn sie in Shorts durchs Wasser waten und sich wie Katharine Hepburn in African Queen fühlen konnte – mit Pendel als Bogart, Mark, der dauernd flehentlich bat, vorsichtig zu sein, und Hannah, die schimpfte, er solle sich nicht so anstellen.

Oder sie fuhren mit dem Geländewagen staubige gelbe Pisten hinunter, und wenn diese wie üblich am Waldrand aufhörten, stieß Pendel zum Entzücken der Kinder das wunderbare Jammergeschrei Onkel Bennys aus und tat, als hätten sie sich verirrt. Und so war es auch, bis fünfzig Meter vor ihnen plötzlich die Silbertürme der Mühle zwischen den Palmen auftauchten.

Oder sie saßen in der Erntezeit jeweils zu zweien auf riesigen kettengetriebenen Mähdreschern und sahen zu, wie das Dreschwerk vor ihnen Körner und Wolken von Insekten aus dem Reis schlug. Stickig heiße Luft stand unter dem niedrigen Himmel. Brettflache Felder, die sich in den Mangrovensümpfen verloren. Mangrovensümpfe, die sich im Meer verloren.

Doch heute empfand der Große Entscheider auf seinem einsamen Pfad alles, was er sah, als Beunruhigung und schlechtes Vorzeichen: die abweisenden Stacheldrahtverhaue um die amerikanischen Munitionsdepots, die ihn an Louisas Vater erinnerten, die vorwurfsvollen Schilder mit Aufschriften wie »Jesus ist unser Herr«, die Pappkartonhütten der Zugewanderten auf allen Hängen: wartet nur, bald komme ich zu euch.

Und nach diesem Elend das verlorene Paradies von Pendels zehnminütiger Kindheit. Wogende Landstriche roter Devon-Erde wie beim Kinderheim in Okehampton. Englische Kühe, die ihn aus Bananenanpflanzungen anglotzten. Nicht einmal Haydn vom Kassettenspieler vermochte ihn vor ihrer Melancholie zu retten. Auf der Zufahrt zur Farm fragte er sich, wann er Angel das letztenmal gesagt hatte, er solle endlich diese verdammten Schlaglöcher beseitigen. Der Anblick von Angel selbst, in Reitstiefeln, Strohhut und goldenen Halskettchen, steigerte seine Wut noch mehr. Sie fuhren zu der Stelle, wo der Nachbar, die Gesellschaft mit Sitz in Miami, mit einem Graben Pendels Fluß abgeleitet hatte.

»Soll ich Ihnen was sagen, Harry, mein Freund?«

»Nun?«

»Was dieser Richter getan hat, ist unmoralisch. Wenn wir hier in Panama jemanden bestechen, erwarten wir Loyalität von ihm. Und wissen Sie, was wir sonst noch erwarten, mein Freund?«

»Nein.«

»Abgemacht ist abgemacht, das erwarten wir. Keine Nachträge. Keine Repressalien. Keine weiteren Ansprüche. Der Kerl ist unsozial, sage ich.«

»Und was sollen wir nun machen?« fragte Pendel.

Angel hob zufrieden die Schultern wie jemand, der am liebsten schlechte Neuigkeiten verkündet.

»Sie wollen meinen Rat, Harry? Ganz offen? Als Ihr Freund?«

Sie hatten den Fluß erreicht. Die Helfershelfer des Nachbarn am Ufer gegenüber nahmen von Pendel keine Notiz. Der Graben war ein Kanal geworden. Das Flußbett unterhalb war ausgetrocknet.

»Verhandeln Sie, Harry, das ist mein Rat. Schreiben Sie Ihre Verluste ab, arrangieren Sie sich. Soll ich mich mal bei denen umhören? Mit ihnen ins Gespräch kommen?«

»Nein.«

»Dann gehen Sie zu Ihrer Bank. Ramón ist ein zäher Bursche. Der kann die Verhandlungen für Sie führen.«

»Woher kennen Sie denn Ramón Rudd?«

»Den kennt doch jeder. Hören Sie, ich bin nicht bloß Ihr Verwalter, okay? Ich bin Ihr Freund.«

Aber Pendel hat keine Freunde, außer Marta und Mickie und vielleicht noch Mr. Charlie Blüthner, der zehn Meilen weiter an der Küste lebt und ihn zum Schach erwartet.

 

»Blüthner, der mit dem Klavier?« fragte Pendel den lebenden Benny vor Jahrhunderten, als sie am Hafen von Tilbury im Regen standen und den rostigen Frachter betrachteten, der den entlassenen Sträfling zur nächsten Etappe seines mit Mühe beladenen Lebens bringen sollte.

»Ganz recht, Harry, und er steht in meiner Schuld«, antwortete Benny, und seine Tränen vermischten sich mit dem Regen. »Charlie Blüthner ist der Lumpenkaiser von Panama, und er wäre nicht da, wo er heute ist, wenn Benny nicht für ihn geschwiegen hätte, wie du für mich geschwiegen hast.«

»Hast du ihm seine Sommerkleider verbrannt?«

»Schlimmer, Harry. Und er hat es niemals vergessen.« Zum ersten- und letztenmal in ihrem Leben nahmen sie einander in die Arme. Auch Pendel weinte, wußte aber nicht genau warum, denn als er die Gangway hochschlich, hatte er nur einen Gedanken: Ich bin raus, ich komme nie mehr zurück.

Und Mr. Blüthner hielt, was Benny versprochen hatte. Kaum war Pendel in Panama an Land gegangen, brachte ihn ein Chauffeur in einem kastanienbraunen Mercedes von seiner erbärmlichen Unterkunft in Calidonia zu Blüthners stattlicher Villa; sie lag inmitten sorgfältig gepflegter Ländereien mit Blick auf den Pazifik, es gab dort Fliesenböden und Ställe mit Aircondition, Gemälde von Nolde und angeleuchtete Zeugnisse von nicht existierenden amerikanischen Universitäten mit imposanten Namen, die Mr. Blüthner zu ihrem hochverehrten Professor, Doktor, Verwaltungsratmitglied usw. ernannten. Und ein Klavier aus dem Ghetto.

Binnen Wochen war Pendel, so glaubte er jedenfalls, zu Mr. Blüthners Lieblingssohn geworden und hatte unter den lärmenden Kindern und Enkeln, den stattlichen Tanten und feisten Onkeln und den Dienstboten in ihren pastellgrünen Jacken wie selbstverständlich seinen Platz gefunden. Bei Familienfesten und zum Kiddush erwies sich Pendel als schlechter Sänger, aber niemand störte sich daran. Auf ihrem privaten Golfplatz spielte er wie ein Stümper, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Er planschte mit den Kindern am Strand und jagte mit dem Buggy halsbrecherisch über schwarze Dünen. Er tollte mit den schmutzigen Hunden herum und ließ sie Mangos apportieren, er sah den Pelikanen zu, die im Zickzack übers Meer flogen, und er zweifelte an nichts: am Glauben der Blüthners ebenso wenig wie an der Moralität ihres Reichtums, an den Bougainvilleas, an den tausend verschiedenen Grüns und an der allgegenwärtigen Ehrbarkeit, die bei weitem jeden kleinen Brand überstrahlte, den Onkel Benny vor Jahren in Mr. Blüthners schweren Zeiten gelegt haben mochte.

Und Mr. Blüthners freundliche Fürsorge ging weit über den häuslichen Rahmen hinaus, denn als Pendel seine ersten Schritte als Maßschneider wagte, stellte ihm die Blüthner Compania Limitada für sechs Monate ihr riesiges Textillagerhaus in Colón zur Verfügung, und Blüthner selbst verschaffte ihm die ersten Kunden und öffnete ihm manche Tür. Und als Pendel dem kleinen, runzligen, strahlenden Mr. Blüthner danken wollte, schüttelte der nur den Kopf und sagte: »Bedanken Sie sich bei Ihrem Onkel Benny«, und ließ wie gewöhnlich den Rat folgen: »Suchen Sie sich ein braves Judenmädchen, Harry. Verlassen Sie uns nicht.«

Auch nach der Heirat mit Louisa hörte Pendel nicht auf, Mr. Blüthner zu besuchen, nun allerdings notwendigerweise heimlich. Blüthners Familie wurde sein verborgenes Paradies, ein Heiligtum, das er stets nur allein und unter irgendeinem Vorwand aufsuchen konnte. Im Gegenzug hielt Mr. Blüthner es für angebracht, die Existenz Louisas einfach zu ignorieren.

 

»Ich habe ein gewisses Liquiditätsproblem, Mr. Blüthner«, gestand Pendel, als sie beim Schach auf der Nordveranda saßen. Es gab auf jeder Seite der Landspitze eine Veranda, so daß Mr. Blüthner immer windgeschützt draußen sitzen konnte.

»Probleme mit der Reisfarm?« fragte Mr. Blüthner.

Sein schmales Kinn war wie aus Stein, außer wenn er lächelte. Und jetzt lächelte er nicht. Seine alten Augen schliefen oft. Sie schliefen auch jetzt.

»Und mit dem Laden«, sagte Pendel errötend.

»Haben Sie etwa eine Hypothek auf den Laden aufgenommen, um die Reisfarm zu finanzieren, Harry?«

»Nun ja, sozusagen, Mr. Blüthner.« Er versuchte es mit Humor. »Und deshalb bin ich jetzt auf der Suche nach einem verrückten Millionär.«

Mr. Blüthner ließ sich beim Nachdenken immer viel Zeit, egal ob er Schach spielte oder um Geld gefragt wurde. Er saß völlig regungslos da, schien nicht einmal zu atmen, während er überlegte. Pendel erinnerte sich an alte Zellengenossen, bei denen es genauso gewesen war.

»Man ist entweder verrückt, oder man ist Millionär«, antwortete Mr. Blüthner schließlich. »Das ist ein Naturgesetz, Harry. Ein Mann muß für seine Träume bezahlen.«

 

Auf dem Weg zu ihr war er nervös, wie immer; er fuhr die 4th July Avenue hinunter, die früher einmal die Grenze der Kanalzone gebildet hatte. Links unten lag die Bucht. Rechts oben Ancón Hill. Dazwischen der wiederaufgebaute Stadtteil El Chorillo mit dem allzu grünen Flecken Gras an der Stelle, wo früher die comandancia gestanden hatte. Zur Wiedergutmachung hatte man hastig ein paar billige Hochhäuser hingestellt, die in Pastellfarben gestrichen waren. Marta wohnte im mittleren dieser Häuser. Während er behutsam die schmutzige Treppe hochstieg – beim letztenmal war er aus dem Stockdunkeln von oben angepinkelt worden –, bebte das Haus von schrillen Pfiffen und wildem Gelächter wie ein Gefängnis.

»Du kannst reinkommen«, sagte sie feierlich, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte, alle vier Schlösser.

Sie lagen auf dem Bett, wo sie immer lagen, angekleidet und jeder für sich, Martas kleine trockene Finger lagen gekrümmt in Pendels Hand. Es gab keine Stühle, dazu war zu wenig Platz. Die Wohnung bestand aus einem einzigen winzigen Zimmer, durch braune Vorhänge aufgeteilt in eine Waschnische, eine Kochecke und den Winkel, wo sie jetzt lagen. Links neben Pendels Kopf stand eine Glasvitrine mit Porzellantieren, die Martas Mutter gehört hatten, und vor seinen bestrumpften Füßen stand ein meterhoher Keramiktiger, den ihr Vater ihrer Mutter zur Silberhochzeit geschenkt hatte, drei Tage bevor sie von einer Granate in Stücke gerissen wurden. Und wäre Marta an jenem Abend nicht im Bett geblieben, um ihr verwüstetes Gesicht und ihren zerschlagenen Körper zu pflegen, sondern mit den Eltern zu Besuch bei ihrer verheirateten Schwester gefahren, dann wäre auch sie in Stücke gerissen worden, denn ihre Schwester hatte in der Straße gelebt, die als erste unter Beschuß genommen wurde; freilich würde man diese Straße jetzt nicht mehr wiederfinden: ebenso wenig wie man Martas Eltern, ihre Schwester, ihren Schwager, ihre sechs Monate alte Nichte und den roten Kater Hemingway wiederfinden würde. Leichen, Schutt und die ganze Straße waren zu Amtsgeheimnissen erklärt worden.

»Du solltest in deine alte Wohnung zurückziehen«, sagte er wie jedesmal.

»Ich kann nicht.«

Kann nicht, weil ihre Eltern hier gelebt hatten, an der Stelle, wo jetzt dieses Gebäude stand.

Kann nicht, weil das hier ihr Panama war.

Kann nicht, weil ihr Herz bei den Toten war.

Sie sprachen wenig, sie dachten lieber an die schreckliche geheime Geschichte, die sie unauflöslich miteinander verbunden hatte:

Eine junge, idealistische, schöne Angestellte beteiligt sich an einer Demonstration gegen den Tyrannen. Atemlos und verängstigt kehrt sie an ihren Arbeitsplatz zurück. Am Abend bietet ihr Arbeitgeber ihr an, sie nach Hause zu fahren – zweifellos mit dem Hintergedanken, sie zu seiner Geliebten zu machen, denn die Anspannung der letzten Wochen hat sie einander immer näher gebracht. Der Traum von einem besseren Panama gleicht dem Traum von einem gemeinsamen Leben, und selbst Marta ist der Meinung, daß nur die Yanquis das Chaos beseitigen können, das die Yanquis angerichtet haben, und daß die Yanquis bald damit anfangen müssen. Unterwegs werden sie an einer Straßensperre von Soldaten der Eliteeinheit angehalten, die wissen wollen, warum Marta ein weißes Hemd anhat, denn das ist das Symbol des Widerstandes gegen Noriega. Da sie keine befriedigende Erklärung erhalten, schlagen sie ihr das Gesicht kaputt. Pendel legt die stark blutende Marta auf die Rückbank seines Wagens und rast in blinder Panik zur Universität – auch Mickie studiert dort in jenen Tagen; Mickie ist der einzige, dem Pendel vertrauen kann, und wie durch ein Wunder findet er ihn in der Bibliothek. Mickie kennt einen Arzt, er ruft ihn an, droht ihm, verspricht ihm Schweigegeld. Mickie fährt Pendels Geländewagen, Pendel sitzt hinten, hält Martas blutenden Kopf auf dem Schoß, ihr Blut läuft ihm auf die Hose und ruiniert für alle Zeiten das Polster des Familienautos. Der Arzt tut sein Schlimmstes, Pendel benachrichtigt Martas Eltern, gibt dem Arzt Geld, duscht und zieht sich im Laden um, fährt mit einem Taxi nach Hause zu Louisa und kann ihr vor lauter Angst und Schuldgefühlen drei Tage lang nicht erzählen, was geschehen ist; statt dessen tischt er ihr ein Märchen von irgendeinem Idioten auf, der ihn auf der Straße gerammt habe, Totalschaden, Lou, muß mir einen neuen Wagen kaufen, habe schon mit der Versicherung gesprochen, scheint kein Problem zu sein. Erst am fünften Tag findet er den Mut, ihr in mißbilligendem Ton zu erklären, Marta habe bei einer Studentendemo mitgemacht, Lou: Gesichtsverletzungen, die Heilung wird lange dauern, ich habe ihr versprochen, sie dann wieder einzustellen.

»Oh«, sagt Louisa.

»Und Mickie ist im Gefängnis«, setzt er unlogisch hinzu, erwähnt aber nicht, daß der feige Arzt ihn denunziert hat und auch Pendel denunziert hätte, wenn ihm dessen Name bekannt gewesen wäre.

»Oh«, sagt Louisa zum zweitenmal.

 

»Der Verstand funktioniert nur, wenn auch das Gefühl beteiligt ist«, erklärte Marta; sie führte Pendels Finger an ihre Lippen und küßte sie, einen nach dem anderen.

»Wie meinst du das?«

»Das habe ich gelesen. Du scheinst über etwas nachzudenken. Ich dachte, das könnte dir helfen.«

»Der Verstand soll doch logisch sein«, wandte er ein.

»Ohne Beteiligung des Gefühls gibt es keine Logik. Wenn man etwas tun will, dann tut man es. Das ist logisch. Wenn man etwas tun will und tut es nicht, hat der Verstand versagt.«

»Demnach stimmt es also?« sagte Pendel, der allen Abstraktionen außer seinen eigenen mißtraute. »Ich muß schon sagen, aus diesen Büchern lernst du ja wirklich eine Menge. Du hörst dich an wie eine richtige kleine Professorin, dabei hast du noch nicht mal Examen gemacht.«

Sie drängte ihn nie, deshalb hatte er auch keine Bedenken, zu ihr zu gehen. Sie schien zu wissen, daß er bei keinem die Wahrheit sagte, daß er aus Höflichkeit alles für sich behielt. Das wenige, das er ihr anvertraute, war daher für sie beide um so kostbarer.

»Was macht Osnard?«

»Was soll er machen?«

»Warum glaubt er, dich in der Hand zu haben?«

»Er weiß einiges«, antwortete Pendel.

»Über dich?«

»Ja.«

»Weiß ich das auch?«

»Wohl kaum.«

»Ist es etwas Schlimmes?«

»Ja.«

»Ich tue alles, was du willst. Ich helfe dir, wobei auch immer. Wenn ich ihn töten soll, töte ich ihn und gehe ins Gefängnis.«

»Für das andere Panama?«

»Für dich.«

 

Ramón Rudd besaß Anteile an einem Kasino in der Altstadt, und er ging gern dorthin, um sich zu entspannen. Sie hockten auf einer Plüschbank und beobachteten Frauen mit nackten Schultern und Croupiers mit verquollenen Augen, die an den leeren Roulettetischen saßen.

»Ich bezahle die Schulden, Ramón«, sagte Pendel. »Kapital, Zinsen, alles. Ich mache reinen Tisch.«

»Wie denn das?«

»Sagen wir, ich habe einen verrückten Millionär kennengelernt.«

Ramón trank mit einem Strohhalm etwas Zitronensaft.

»Ich kaufe Ihnen Ihre Farm ab, Ramón. Sie ist zu klein, sie wirft nichts ab, und Sie kümmern sich nicht darum. Sie kümmern sich nur darum, mich zu schröpfen.«

Rudd betrachtete sich eingehend im Spiegel und blieb ungerührt von dem, was er sah.

»Haben Sie irgendwo ein anderes Geschäft laufen? Etwas, wovon ich nichts weiß?«

»Wenn’s nur so wäre, Ramón.«

»Etwas Inoffizielles?«

»Auch nichts Inoffizielles, Ramón.«

»Denn wenn es so wäre, müßte ich schon was Genaueres wissen. Ich leihe Ihnen Geld, und folglich sagen Sie mir, was für ein Geschäft das ist. Alles andere ist unmoralisch. Unfair.«

»Offen gesagt, Ramón, ich bin heut abend nicht gerade in moralischer Stimmung.«

Rudd dachte darüber nach, und es schien ihn wenig glücklich zu machen.

»Sie haben einen verrückten Millionär gefunden, also zahlen Sie mir dreitausend pro Acre«, sagte er, ein anderes unabänderliches Moralgesetz zitierend.

Pendel handelte ihn auf zweitausend runter und ging nach Hause.

Hannah hatte Fieber.

Mark wollte Tischtennis über zwei Gewinnsätze spielen.

Das für die Wäsche zuständige Dienstmädchen war mal wieder schwanger.

Die Putzfrau beklagte sich, der Gärtner habe ihr einen Antrag gemacht.

Der Gärtner behauptete hartnäckig, mit siebzig habe er ein verdammtes Recht darauf, jeder Frau, die er sich aussuche, einen Antrag zu machen.

Der heilige Ernesto Delgado war aus Tokio zurückgekehrt.

 

Als Harry Pendel am nächsten Morgen den Laden betritt, inspiziert er finster seine Reihen, zunächst die Kuna-Näherinnen, dann die italienischen Hosenschneiderinnen, die chinesischen Jackettschneiderinnen und schließlich Señora Esmeralda, eine ältere Mulattin mit roten Haaren, die von morgens bis abends nichts als Westen macht und damit zufrieden ist. Wie ein großer Kommandeur am Vorabend der Schlacht wechselt er mit allen ein paar ermutigende Worte, doch Ermutigung braucht nur er, nicht seine Truppe. Heute ist Zahltag, und sie sind alle gut gelaunt. Dann schließt Pendel sich im Zuschneidezimmer ein, rollt auf dem Tisch zwei Meter braunen Papiers aus, legt das aufgeschlagene Notizbuch auf den dafür vorgesehenen Ständer und skizziert, vom klagenden Gesang Alfred Dellers begleitet, sachte die Umrisse des ersten von Andrew Osnards zwei Alpaka-Anzügen aus dem Hause Pendel & Braithwaite Co., Limitada, Hofschneider, ehemals Savile Row.

Der in Affären gereifte Mann, groß im Abwägen von Argumenten und kühl im Bewerten von Situationen, nimmt die Abstimmung mit der Schere vor.