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»Nun, Sir, wollen wir Ihre Maße nehmen, wenn ich bitten darf.«

Pendel hatte Osnard das Jackett abgenommen, wobei ihm ein dicker brauner Umschlag aufgefallen war, der zwischen den beiden Hälften der Brieftasche steckte. Die Wärme stieg von Osnards schwerem Körper auf wie von einem nassen Spaniel. Seine von züchtigen Löckchen umrahmten Brustwarzen traten deutlich durch das schweißgetränkte Hemd hervor. Pendel trat hinter ihn und maß den Rücken vom Kragen zur Taille. Beide Männer schwiegen. Panamaern machte es nach Pendels Erfahrungen Spaß, sich Maß nehmen zu lassen. Engländern nicht. Weil man dabei angefaßt wurde. Wieder am Kragen ansetzend, maß er nun, sorgfältig jede Berührung vermeidend, die Gesamtlänge des Rückens. Noch immer schwiegen sie. Von der Mitte des Rückens ausgehend, maß er bis zum Ellbogen, dann bis zu den Manschetten. Er trat neben Osnard, bedeutete ihm mit einer sachten Berührung, die Ellbogen anzuheben, und schlang ihm das Maßband in Höhe der Brustwarzen um den Oberkörper. Bei seinen unverheirateten Kunden verfuhr er gelegentlich weniger feinfühlig, aber bei Osnard hatte er keine Befürchtungen. Im Laden unten ging die Klingel, dann hörten sie die Tür vorwurfsvoll zuschlagen.

»War das Marta?«

»In der Tat, Sir. Offenbar auf dem Heimweg.«

»Ist sie sauer auf Sie?«

»Aber nein. Wie kommen Sie darauf?«

»War nur so ’ne Ahnung.«

»Na so was«, sagte Pendel erleichtert.

»Hatte auch das Gefühl, daß sie mich nicht mochte.«

»Du meine Güte, Sir. Wieso denn nur?«

»Geld schulde ich ihr keins. Hab sie nie gevögelt. Kann mir das auch nicht erklären.«

Der Anproberaum, holzverkleidet und etwa zwölf mal neun Meter groß, befand sich am Ende der Sportabteilung im Obergeschoß. Ein Drehspiegel, drei Wandspiegel und ein kleiner vergoldeter Stuhl bildeten die gesamte Einrichtung. Als Tür diente ein schwerer grüner Vorhang. Die Sportabteilung selbst war ein niedriger langer Schlauch, ein Dachboden, der an vergangene Kinderspiele erinnerte. Nirgendwo sonst im Laden hatte Pendel sich solche Mühe mit der Ausstattung gegeben. An der Wand entlang liefen Messingstangen, an denen ein kleines Heer halbfertiger Anzüge hing, die auf den letzten Arbeitsgang warteten. Golfschuhe, Hüte und grüne Regenmäntel schimmerten in antiken Mahagoniregalen. Reitstiefel, Gerten, Sporen, ein schönes Paar englische Schrotflinten, Munitionsgürtel und Golfschläger waren in kunstvollem Durcheinander arrangiert. Und im Vordergrund, auf dem Ehrenplatz, erhob sich ein stattliches, mit Leder bezogenes Pferd – ähnlich einem Turnpferd, aber mit Schwanz und Kopf –, auf dem der sportliche Gentleman den Sitz seiner Reithosen prüfen konnte, ohne einen Abwurf befürchten zu müssen.

Pendel zermarterte sich den Kopf nach einem Thema. Sonst plauderte er im Anproberaum unablässig, um das Intime der Situation abzuschwächen, aber aus irgendeinem Grund war ihm jetzt sein üblicher Gesprächsstoff abhanden gekommen. Er rettete sich in Erinnerungen an seine schwierige Frühzeit.

»Was haben wir damals in Whitechapel immer früh aufstehen müssen! Im Dunkeln und bei Frost, das Pflaster naß vom Tau, ich spüre die Kälte jetzt noch. Heute ist das natürlich anders. Es gibt kaum noch junge Menschen, die unser Handwerk erlernen wollen, habe ich gehört. Jedenfalls nicht im East End. Nicht das echte Schneiderhandwerk. Ist ihnen wohl zu mühsam. Und recht haben sie.«

Er nahm die Maße für das Cape, wieder am Rücken, aber diesmal mußte Osnard die Arme herabhängen lassen, und Pendel schlang das Band außen um ihn herum. Ein solches Maß hätte er normalerweise nicht genommen, aber Osnard war auch kein normaler Kunde.

»Vom East End ins West End«, bemerkte Osnard. »Ganz schöner Aufstieg.«

»Allerdings, Sir, und ich habe den Tag noch nie bereuen müssen.«

Sie standen einander dicht gegenüber. Doch während Osnards strenge braune Augen Pendel aus allen Winkeln zu verfolgen schienen, hielt Pendel den Blick starr auf den von Schweiß verzogenen Bund der Gabardinehose gerichtet. Er maß Osnards Taillenumfang, indem er das Band festzog.

»Und? Ist es schlimm?« fragte Osnard.

»Sagen wir, bescheidene 36 plus, Sir.«

»Plus was?«

»Plus Mittagessen, um es einmal so zu formulieren, Sir«, sagte Pendel und erzielte damit endlich ein lang entbehrtes Lachen.

»Schon mal Sehnsucht nach der alten Heimat?« fragte Osnard, während Pendel diskret eine 38 in sein Notizbuch schrieb.

»Eigentlich nicht, Sir. Nein, ich glaube nicht. Nicht daß ich wüßte. Nein«, antwortete er und ließ das Notizbuch in die Gesäßtasche gleiten.

»Möchte wetten, manchmal sehnen Sie sich doch noch in die Row zurück.«

»Ach ja, die Row«, stimmte Pendel von Herzen zu und gab sich plötzlich der wehmütigen Vision hin, er lebe in einem behaglichen früheren Jahrhundert und nehme Maß für Fräcke und Kniebundhosen. »Ja, mit der Row ist es natürlich etwas anderes. Hätten wir mehr in der Art der alten Savile Row und weniger von dem, was wir heute haben, würde es England jetzt weitaus besser gehen. Das Land wäre wesentlich glücklicher, wenn ich so sagen darf.«

Aber falls Pendel wähnte, Osnard mit solchen Platitüden von seinen bohrenden Fragen ablenken zu können, war die ganze Mühe umsonst.

»Erzählen Sie.«

»Wovon, Sir?«

»Der alte Braithwaite hat Sie als Lehrling genommen, richtig?«

»Richtig.«

»Tag für Tag hat der strebsame junge Pendel bei ihm vor der Tür gesessen. Jeden Morgen, wenn der Alte zur Arbeit kam, waren Sie schon da. ›Guten Morgen, Mr. Braithwaite, Sir, wie geht es Ihnen? Mein Name ist Harry Pendel, ich bin Ihr neuer Lehrling.‹ Wunderbar. Das nenne ich Chuzpe, das gefällt mir.«

»Das freut mich sehr zu hören«, sagte Pendel unsicher, während er über die Erfahrung hinwegzukommen versuchte, seine eigene Anekdote in einer ihrer zahlreichen Versionen von jemand anderem erzählt zu bekommen.

»Schließlich haben Sie ihn weichgeklopft und werden sein Lieblingslehrling, ganz wie im Märchen«, fuhr Osnard fort. Welches Märchen er meinte, sagte er nicht, und Pendel fragte auch nicht danach. »Und eines Tages – wie viele Jahre ist das jetzt her? – dreht sich der alte Braithwaite zu Ihnen um und sagt: ›Na schön, Pendel. Als Lehrling kann ich Sie nicht mehr brauchen. Ab heute sind Sie der Kronprinz.‹ So was in der Richtung jedenfalls. Erzählen Sie doch mal. Ein bißchen ausführlicher.«

Heftige Konzentration furchte Pendels normalerweise glatte Stirn. Er stellte sich vor Osnards linke Seite, schlang ihm diskret das Band um den Leib, dort, wo er am ausladendsten war, und kritzelte wieder etwas in sein Notizbuch. Er bückte sich, maß die äußere Beinlänge, richtete sich auf und sank wie ein kraftloser Schwimmer wieder ein, bis sein Kopf sich in Höhe von Osnards rechtem Knie befand.

»Tragen wir links, Sir?« fragte er leise; er spürte Osnards brennenden Blick im Nacken. »Die meisten meiner Gentlemen scheinen das heutzutage zu bevorzugen. Aber das ist wohl nicht politisch zu verstehen.«

Das war sein Standardscherz, mit dem er auch die gesetztesten seiner Kunden zum Lachen bringen konnte. Osnard freilich nicht.

»Weiß nie, wo die blöden Dinger hängen. Mal hier mal da«, antwortete er gleichgültig. »War es morgens? Oder abends? Wann hat er Ihnen seinen königlichen Besuch abgestattet?«

»Abends«, murmelte Pendel nach einer Ewigkeit. »An einem Freitag wie heute.« Es klang wie das Eingeständnis einer Niederlage.

Vermutlich links, nahm er an, wollte aber kein Risiko eingehen und schob Osnard das Messingende des Maßbands rechts in den Schritt, peinlich darauf bedacht, nicht mit dem Inhalt in Berührung zu kommen. Dann zog er das Band mit der Linken bis zur Oberkante von Osnards Schuhsohle herunter; es war ein schwerer, häufig geflickter Freizeitschuh. Er zog einen Zoll vom Meßergebnis ab und notierte es. Als er sich mutig zu voller Größe streckte, sah er die dunklen runden Augen fest auf sich gerichtet wie feindliche Geschütze, oder so kam es ihm jedenfalls vor.

»Winter oder Sommer?«

»Sommer.« Pendels Stimme erstarb. Er holte tapfer Luft und setzte noch einmal an. »Nicht viele von uns Jungen waren erpicht darauf, freitagabends im Sommer zu arbeiten. Ich war offenbar eine Ausnahme, und unter anderem deshalb ist Mr. Braithwaite wohl auf mich aufmerksam geworden.«

»In welchem Jahr war das?«

»Welches Jahr, ach herrje.« Er nahm sich zusammen, schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. »Meine Güte. Das ist eine Ewigkeit her. Aber man kann den Strom der Gezeiten nicht umkehren. Der Dänenkönig Knut hat es versucht – und was ist aus ihm geworden?« fügte er hinzu, ohne selbst recht zu wissen, was aus Knut geworden war.

Gleichviel, allmählich fand er seine Sicherheit wieder, das, was Onkel Benny sein rednerisches Talent genannt hatte.

»Er stand auf einmal in der Tür«, fuhr er in beinahe schwärmerischem Tonfall fort. »Ich muß ganz von einer Hose in Anspruch genommen gewesen sein, die er mir anvertraut hatte – so ist das bei mir, wenn ich arbeite; jedenfalls bin ich richtig zusammengezuckt. Ich sah auf, und da stand er und starrte mich schweigend an. Er war ja ziemlich groß. Das vergißt man leicht. Der mächtige kahle Schädel, die buschigen Augenbrauen – eine imposante Erscheinung. Kraftvoll. Man kam nicht an ihm vorbei …«

»Sie haben seinen Schnauzbart vergessen«, wandte Osnard ein.

»Schnauzbart?«

»Und was für einer! Immer mit Suppe vollgekleckert. Muß ihn abrasiert haben, als das Bild unten gemacht wurde. Hat mich zu Tode damit erschreckt. War damals erst fünf.«

»Ich habe ihn nie mit einem Schnauzbart gesehen, Mr. Osnard.«

»Aber sicher doch. Ich seh den Schnauzer noch vor mir, als wär’s gestern gewesen.«

Ob aus Eigensinn oder Instinkt, Pendel wollte nicht nachgeben.

»Hier dürfte Ihr Gedächtnis Ihnen einen Streich spielen, Mr. Osnard. Offenbar denken Sie an einen anderen Mann, mit dessen Schnauzbart Sie nun Arthur Braithwaite schmücken.«

»Bravo«, murmelte Osnard.

Doch Pendel weigerte sich zu glauben, daß er das gehört hatte, daß Osnard ihm einen leisen Wink gegeben hatte. Er rackerte weiter:

»›Pendel‹, sagt er zu mir. ›Ich möchte, daß Sie mein Nachfolger werden. Sobald Sie anständig Englisch können, werde ich Sie Harry nennen, in den vorderen Teil des Ladens versetzen und zu meinem Erben und Partner bestimmen‹ …«

»Sagten Sie nicht, dazu hat er neun Jahre gebraucht?«

»Wozu?«

»Sie Harry zu nennen.«

»Schließlich habe ich als Lehrling bei ihm angefangen.«

»Mein Fehler. Erzählen Sie weiter.«

»… ›und mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen, also machen Sie jetzt mit der Hose weiter und schreiben sich für einen Redekurs an der Abendschule ein.‹«

Schluß. Er war ausgetrocknet. Der Hals tat ihm weh, seine Augen brannten, ihm dröhnten die Ohren. Doch irgendwo in seinem Innern war auch ein Gefühl von Befriedigung. Ich habe es geschafft. Ich habe mir das Bein gebrochen, ich habe 41 Fieber, aber ich habe durchgehalten.

»Unglaublich«, flüsterte Osnard.

»Ich danke Ihnen, Sir.«

»Die kitschigste Geschichte, die ich je im Leben gehört habe, und Sie tischen mir das auf wie ein Weltmeister.«

Pendel hörte das wie aus weiter Ferne, vermischt mit vielen anderen Stimmen. Die barmherzigen Schwestern in seinem Nordlondoner Waisenhaus, wie sie ihm sagten, Jesus werde böse auf ihn sein. Das Lachen seiner Kinder in dem Geländewagen. Ramón, wie er ihm erzählte, eine Londoner Handelsbank habe sich nach seiner geschäftlichen Situation erkundigt und gewisse Zahlungen für die Auskünfte angeboten. Louisa, wie sie ihm sagte, ein einziger guter Mann, mehr sei gar nicht nötig. Und dann hörte er den Feierabendverkehr stadtauswärts rauschen und träumte, auch er stecke darin fest und sei endlich frei.

»Wie Sie sehen, mein Lieber, weiß ich, wer Sie sind.« Aber Pendel sah gar nichts, nicht einmal den düsteren Blick, mit dem Osnard ihn durchbohrte. Er hatte eine Wand in seinem Kopf errichtet, und Osnard war auf der anderen Seite. »Genauer gesagt, ich weiß, wer Sie nicht sind. Kein Grund zur Panik oder Beunruhigung. Ich finde es wunderbar. Alles, von A bis Z. Möchte um nichts in der Welt darauf verzichten.«

»Ich bin nicht irgendwer«, hörte Pendel sich von seiner Seite der Wand flüstern, und dann das Geräusch, mit dem der Vorhang des Anproberaums beiseitegeschoben wurde.

Und er registrierte mit bewußt vernebeltem Blick, wie Osnard durch die Öffnung spähte und vorsichtshalber nachsah, ob auch niemand in der Sportabteilung war. Dann vernahm er wieder Osnards Stimme, aber so nah an seinem Ohr, daß das Flüstern nur so dröhnte.

»Sie sind Pendel, Nummer 906017, als Jugendlicher rechtskräftig zu sechs Jahren wegen Brandstiftung verurteilt, zweieinhalb davon abgesessen. Dieser Pendel hat sich das Schneidern im Knast selbst beigebracht. Hat drei Tage nach der Entlassung das Land verlassen, mit Geld versorgt von Benjamin, seinem inzwischen verstorbenen Onkel väterlicherseits. Verheiratet mit Louisa, Tochter eines Rauhbeins hier aus der Zone und einer bibelschwingenden Lehrerin, macht bei der Panamakanal-Kommission fünf Tage die Woche die Drecksarbeit für den großen und guten Ernie Delgado. Zwei Kinder, Mark acht Jahre, Hannah zehn. Dank der Reisfarm kurz vor dem Bankrott. Pendel & Braithwaite, daß ich nicht lache. So eine Firma hat in der Savile Row nie existiert. Es hat nie eine Liquidation gegeben, weil es nichts zu liquidieren gab. Arthur Braithwaite ist eine große Gestalt der Literatur. Einen Schwindler bewundern. Das tun die Leute gern. Sie brauchen mich nicht so verdattert anzusehen. Ich bin Ihr Retter. Die Antwort auf Ihre Gebete. Hören Sie mich eigentlich?«

Pendel hörte überhaupt nichts. Er stand mit gesenktem Kopf da, die Füße zusammen, bis zu den Ohren vollkommen betäubt. Dann raffte er sich auf und hob Osnards Arm bis in Schulterhöhe. Beugte ihn, so daß die Hand flach auf der Brust zu liegen kam. Legte das Ende des Maßbands in der Mitte des Rückens an. Führte es um den Ellbogen zum Handgelenk.

»Ich habe gefragt, wer sonst noch dahintersteckt?« sagte Osnard gerade.

»Wohinter?«

»Hinter dem Schwindel. Wie der Heilige Arthur dem kleinen Pendel seinen Mantel um die Schulter legt. P & B, Hofschneider. Tausendjährige Geschichte. Der ganze Scheiß. Von Ihrer Frau natürlich abgesehen.«

»Die hat nichts damit zu tun«, rief Pendel in blanker Panik.

»Die weiß nichts davon?«

Wieder stumm, schüttelte Pendel den Kopf.

»Louisa weiß nichts? Die beschwindeln Sie auch?«

Schweig stille, Harry. Kein Wort mehr.

»Sie weiß also auch nichts von der kleinen dummen Sache damals?«

»Wovon?«

»Vom Gefängnis.«

Pendel murmelte etwas, das er selbst kaum hören konnte.

»War das ein Nein?«

»Ja. Nein.«

»Sie weiß nicht, daß Sie gesessen haben? Sie weiß nichts von Onkel Arthur? Weiß sie denn, daß die Reisfarm den Bach runtergeht?« Noch einmal nachmessen. Von der Mitte des Rückens zum Handgelenk, aber diesmal mußte Osnard die Arme gerade herunterhängen lassen. Pendel führte ihm das Band mit hölzernen Bewegungen um die Schultern.

»Also nein?«

»Ja.«

»Dachte, sie ist Teilhaberin.«

»Ist sie auch.«

»Aber sie weiß es trotzdem nicht.«

»Um die Finanzen kümmere ich mich allein.«

»Ach nein. Mit wieviel stehen Sie in der Kreide?«

»Knapp hunderttausend.«

»Ich hab gehört, es wären schon über zweihunderttausend, Tendenz steigend.«

»Stimmt.«

»Zinsen?«

»Zwei.«

»Zwei Prozent im Vierteljahr?«

»Im Monat.«

»Abzahlung?«

»Möglich.«

»Wenn ich mir so Ihren Laden ansehe. Wozu machen Sie das überhaupt?«

»Wir hatten hier eine Rezession, ich weiß nicht, ob das bis zu Ihnen gedrungen ist«, sagte Pendel und dachte unsinnigerweise an die Zeiten zurück, als er, selbst wenn er nur drei Kunden hatte, die Termine mit ihnen in halbstündigem Abstand zu legen pflegte, um eine gewisse hektische Atmosphäre zu schaffen.

»Was haben Sie denn gemacht? An der Börse spekuliert?«

»Unter Anleitung eines erfahrenen Bankmenschen, ja.«

»Ihr erfahrener Bankmensch ist auf Konkursverkäufe und so was spezialisiert?«

»Anzunehmen.«

»Und der Kies kam von Louisa, richtig?«

»Von ihrem Vater. Das heißt die Hälfte. Sie hat auch noch eine Schwester.«

»Und die Polizei?«

»Welche Polizei?«

»Hier in Panama.«

»Was soll die denn?« Pendel hatte endlich die Sprache wiedergefunden. »Ich zahle meine Steuern. Sozialversicherung. Ich führe meine Bücher. Noch bin ich nicht bankrott. Warum sollte sich die Polizei für mich interessieren?«

»Wäre ja möglich, daß man auf Ihr Strafregister gestoßen ist. Daß man Schweigegeld von Ihnen verlangt hat. Wär doch schade, wenn man Sie rausschmeißen würde, bloß weil Sie die Bestechungsgelder nicht aufbringen können, oder?«

Pendel schüttelte den Kopf und legte die Hand darauf, es sah aus, als wollte er beten, oder sich vergewissern, daß der Kopf noch da sei. Dann nahm er die Haltung ein, die ihm Onkel Benny eingebleut hatte, bevor er ins Gefängnis mußte.

»Du mußt dich kleinmachen, Harry«, hatte Benny ihm eingetrichtert – ein Rat, wie er nur von einem Mann wie ihm kommen konnte. »Du mußt zusammenschrumpfen. Du mußt dich ducken. Ein Niemand sein, wie ein Niemand aussehen. Das bringt die anderen aus der Fassung, das weckt ihr Mitleid. Du bist nicht mal eine Fliege an der Wand. Du bist ein Teil der Wand.«

Aber er war es bald leid, eine Wand zu sein. Er hob den Kopf und blinzelte im Anproberaum umher, erwachte darin nach seiner ersten Nacht. Eins von Bennys rätselhafteren Geständnissen fiel ihm ein, und plötzlich glaubte er, es zu verstehen:

Harry, das Dumme bei mir ist, wo auch immer ich hingehe, komme auch ich selbst hin und verpfusche die Sache.

»Was sind Sie eigentlich?« fragte Pendel, in dem sich allmählich Trotz regte.

»Ich bin ein Spion. Ich spioniere für das gute alte England. Wir wollen Panama neu aufbauen.«

»Wozu?«

»Sag ich Ihnen beim Essen. Wann machen Sie freitags den Laden zu?«

»Jetzt gleich, wenn ich will. Komisch, daß Sie das noch fragen müssen.«

»Können wir zu Ihnen nach Hause? Kerzen. Kiddush. Ich richte mich ganz nach Ihnen.«

»Nein, nein. Wir sind Christen. Wo’s am meisten weh tut.«

»Sie sind doch Mitglied im Club Unión?«

»So grade.«

»Wie, so grade?«

»Ich mußte erst die Reisfarm kaufen, bevor ich dort Mitglied werden konnte. Orientalische Schneider haben da keinen Zutritt, irische Farmbesitzer schon. Vorausgesetzt, sie können die fünfundzwanzigtausend für die Mitgliedschaft aufbringen.«

»Warum sind Sie da eingetreten?«

Zu seinem Erstaunen stellte Pendel fest, daß er jetzt heftiger lächelte als sonst bei ihm üblich. Es war ein irres Lächeln, aufgezwungen womöglich von Verblüffung und Angst, aber trotz allem ein Lächeln, und das erleichterte ihn, als habe er soeben entdeckt, daß er Arme und Beine noch bewegen konnte.

»Ich will Ihnen was sagen, Mr. Osnard«, erklärte er in einer Anwandlung von Leutseligkeit. »Für mich ist das selbst noch ein ungelöstes Rätsel. Ich bin ein impulsiver Mensch und neige zu Übertreibungen. Das ist meine Schwäche. Mein Onkel Benjamin, den Sie eben erwähnten, hat immer von einer Villa in Italien geträumt. Vielleicht habe ich es getan, um Benny eine Freude zu machen. Vielleicht auch, um Mrs. Porter eins auszuwischen.«

»Die kenne ich nicht.«

»Meine Bewährungshelferin. Eine sehr ernste Dame, die davon überzeugt war, daß es mit mir ein schlimmes Ende nehmen würde.«

»Gehen Sie schon mal im Club Unión essen? Mit einem Gast?«

»Sehr selten. Nicht bei meinen gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen, um es mal so zu sagen.«

»Wenn ich nicht zwei, sondern zehn Anzüge in Auftrag geben würde, und wenn ich Zeit zum Essen hätte, würden Sie dann mit mir dort hingehen?«

Osnard zog sein Jackett an. Laß ihn das ruhig alleine machen, dachte Pendel und bezähmte seinen ewigen Drang, zu Diensten zu sein.

»Möglich. Kommt darauf an«, antwortete er vorsichtig.

»Und Sie rufen Louisa an. ›Tolle Neuigkeiten, ich habe einem verrückten Briten zehn Anzüge angedreht und will ihn im Club Unión zum Essen einladen‹.«

»Möglich.«

»Wie würde sie darauf reagieren?«

»Schwer zu sagen.«

Osnard griff in sein Jackett, zog den braunen Umschlag hervor, den Pendel bereits gesehen hatte, und gab ihn ihm.

»Fünftausend als Anzahlung auf zwei Anzüge. Quittung ist nicht nötig. Später mehr. Plus ein paar hundert Taschengeld.«

Da Pendel noch immer die Weste mit verdeckter Knopfleiste trug, schob er den Umschlag in die Gesäßtasche zu seinem Notizbuch.

»Jeder in Panama kennt Harry Pendel«, sagte Osnard. »Verstecken wir uns, fallen wir erst recht auf. Gehen wir irgendwohin, wo man Sie kennt, kräht kein Hahn danach.«

Sie standen wieder dicht voreinander. So aus der Nähe leuchtete Osnards Gesicht vor unterdrückter Erregung. Pendel, ohnehin stets leicht beeinflußbar, ließ sich davon anstecken. Sie gingen nach unten, damit er vom Zuschneidezimmer aus Louisa anrufen konnte; Osnard prüfte derweil sein Gewicht an einem zusammengerollten Schirm, den ein Etikett als »Modell, getragen vom Gardekorps der Queen« auswies.

 

»Das mußt du ganz allein wissen, Harry«, sagte Louisa in Pendels heißes linkes Ohr. Die Stimme ihrer Mutter. Sozialismus und Bibelschule.

»Was weiß ich, Lou? Was soll ich wissen?« – scherzend, immer auf ein Lachen aus. »Du kennst mich, Lou. Ich weiß gar nichts. Nicht das Geringste.«

Am Telefon konnte sie Pausen wie Freiheitsstrafen verhängen.

»Du allein, Harry, mußt wissen, was es dir wert ist, deine Familie abends alleinzulassen, nur weil du in den Club gehen und dich mit irgendwelchen Männern und Frauen amüsieren willst, anstatt dich denen zu widmen, die dich lieben, Harry.«

Ihre Stimme wurde zärtlich leise, und er bekam schon schreckliche Sehnsucht nach ihr. Aber wie immer brachte sie die zärtlichen Worte nicht über die Lippen.

»Harry?« – als ob sie immer noch auf ihn wartete.

»Ja, Schatz?«

»Du brauchst mir nicht zu schmeicheln, Harry«, gab sie zurück; das war ihre Art, ein Wort wie »Schatz« zu vergelten. Aber was auch immer sie sonst noch sagen wollte, sagte sie nicht.

»Wir haben das ganze Wochenende, Lou. Schließlich will ich mich ja nicht aus dem Staub machen.« Eine Pause, endlos wie der Pazifik. »Wie war’s mit Ernie heute? Er ist ein großartiger Mensch, Louisa. Ich weiß auch nicht, warum ich dich immer seinetwegen aufziehen muß. Er ist genauso ein großer Mann wie dein Vater. Ich sollte zu seinen Füßen sitzen.«

Es hat mit ihrer Schwester zu tun, dachte er. Wenn sie wütend wird, dann nur, weil sie eifersüchtig auf ihre Schwester ist, die an jedem Finger zehn Männer hat.

»Er hat fünftausend angezahlt, Lou« – Anerkennung heischend – »bar auf die Hand. Er fühlt sich einsam. Er braucht ein bißchen Gesellschaft. Was soll ich denn machen? Ihn in die Nacht rausjagen, ihm sagen, danke, daß Sie mir zehn Anzüge abgekauft haben, und jetzt schwirren Sie ab und suchen sich ’ne Frau?«

»Harry, das brauchst du ihm alles nicht zu sagen. Du kannst ihn gern zu uns nach Hause mitbringen. Und wenn wir nicht gut genug sind, tu, was du tun mußt, und quäl dich nicht weiter deswegen.«

Wieder diese Zärtlichkeit in ihrer Stimme: So sprach die Louisa, die sie viel lieber gewesen wäre als die, die ihr die Worte eingab.

»Alles in Ordnung?« fragte Osnard leichthin.

Er hatte den Whisky für die Gäste und zwei Gläser gefunden. Eins gab er Pendel.

»Alles bestens, danke. Eine Frau wie sie findet man nicht noch einmal.«

 

Pendel stand allein im Lager. Er zog den Tagesanzug aus und hängte ihn aus alter Gewohnheit auf den Bügel, die Hose an die Metallklammern, das Jackett ordentlich darüber. Dann entschied er sich, nun einen graublauen Einreiher aus Mohair anzuziehen, den er sich vor sechs Monaten zu Mozarts Musik geschneidert, aber noch nie getragen hatte, weil er fürchtete, er könnte zu auffällig wirken. Sein Gesicht im Spiegel erschreckte ihn, so normal schaute er drein. Warum hast du nicht die Farbe gewechselt, die Größe, die Form? Was muß denn noch alles geschehen, bevor mit dir was geschieht? Du stehst morgens auf. Dein Bankdirektor bestätigt das nahe Ende der Welt. Dann bist du im Laden, und ein englischer Spion marschiert herein, der dich mit deiner Vergangenheit konfrontiert und dir sagt, daß er dich reich machen und nichts an deinen Verhältnissen ändern will.

»Ihr Vorname war Andrew?« rief er durch die offene Tür. Beginn einer neuen Freundschaft.

»Andy Osnard, ledig, Mitarbeiter der britischen Botschaft in der politischen Tretmühle, frisch im Land eingetroffen. Der alte Braithwaite hat für meinen Vater Anzüge gemacht, und Sie waren auch dabei und haben das Maßband gehalten. Geht doch nichts über eine gute Tarnung.«

Und diese Krawatte, die mir schon immer so gefallen hat, dachte Pendel. Die mit dem blauen Zickzackmuster und dem Hauch von Rosa. Während Osnard ihn mit Schöpferstolz beobachtete, stellte Pendel die Alarmanlage an.