1
Alles, was ich begangen habe bis
jetzt,
nenne ich Liebeswerk ...
Medea bin ich jetzt,
gewachsen ist meine Natur durch Leiden.
Seneca, ›Medea‹
Auch tote Götter regieren. Auch Unglückselige bangen um ihr Glück. Traumsprache. Vergangenheitssprache. Hilft mir heraus, herauf aus dem Schacht, weg von dem Geklirr in meinem Kopf, warum höre ich das Klirren von Waffen, kämpfen sie denn, wer kämpft, Mutter, meine Kolcher, höre ich ihre Kampfspiele in unserem Innenhof, oder wo bin ich, wird denn das Geklirr immer lauter. Durst. Ich muß aufwachen. Ich muß die Augen öffnen. Der Becher neben dem Lager. Kühles Wasser löscht nicht nur den Durst, es stillt auch den Lärm in meinem Kopf, das kenn ich doch. Da hast du neben mir gesessen, Mutter, und wenn ich den Kopf drehte, so wie jetzt, sah ich die Fensteröffnung, wie hier, wo bin ich, da war doch kein Feigenbaum, da stand doch mein geliebter Nußbaum. Hast du gewußt, daß man sich nach einem Baum sehnen kann, Mutter, ich war ein Kind, fast ein Kind, ich hatte zum erstenmal geblutet, aber ich war doch nicht deswegen krank, du hast doch nicht deswegen bei mir gesessen und mir die Zeit vertrieben, den Kräuterumschlag auf Brust und Stirn gewechselt, mir meine Hände dicht vor die Augen gehalten und mir die Linien in den Handflächen gezeigt, zuerst die linke, dann die rechte, wie verschieden, du hast mich gelehrt, sie zu lesen, oft habe ich mich ihrer Botschaft entzogen, habe die Hände zu Fäusten geballt, habe sie ineinander verschlungen, habe sie auf Wunden gelegt, habe sie zu der Göttin aufgehoben, habe das Wasser vom Brunnen getragen, das Leinen mit unseren Mustern gewebt, habe sie in den warmen Haaren der Kinder vergraben. Einmal, Mutter, in einer anderen Zeit, habe ich mit meinen beiden Händen zum Abschied deinen Kopf umspannt, seine Form ist als Abdruck in meinen Handflächen geblieben, auch Hände haben ein Gedächtnis. Jeden Flecken von Jasons Körper haben diese Hände abgetastet, erst heute nacht, aber ist denn jetzt Morgen, und welcher Tag.
Ruhig. Ganz ruhig, eins nach dem anderen. Besinn dich. Wo bist du. Ich bin in Korinth. Der Feigenbaum vor der Fensteröffnung der Lehmhütte war mir ein Trost, als sie mich aus dem Palast des Königs Kreon wiesen. Warum? Das kommt später. Ist das Fest vorüber, oder muß ich noch hingehen, wie ich es Jason schließlich zugesagt habe. Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Medea, von diesem Fest hängt viel ab. Nicht für mich, habe ich ihm gesagt, und das weißt du auch, aber meinetwegen, ich komme, habe ich zu ihm gesagt, aber das ist das letzte Mal. Du hast mir damals jene winzige Linie in der linken Hand mit dem Fingernagel nachgezogen, du hast mir gesagt, was es bedeuten würde, wenn sie irgendwann einmal die Lebenslinie kreuzte, du hast mich gut gekannt, Mutter, lebst du noch.
Sieh her. Da kreuzt diese winzige Linie, die sich vertieft hat, die andere. Paß auf, hast du gesagt, Hochmut läßt dein Inneres erkalten, mag ja sein, aber Schmerz, Mutter, Schmerz hinterläßt auch eine wüste Spur. Wem sage ich das. Wie dunkel es auch gewesen ist, als wir an Bord der »Argo« gingen, deine Augen habe ich gesehen und nicht vergessen können, ihr Blick brannte mir ein Wort ein, das ich vorher nicht kannte: Schuld.
Jetzt klirrt es wieder, es ist das Fieber, aber mir ist doch, als hätte ich an dieser Tafel gesessen, nicht gerade neben Jason, war das gestern, bleib hier, Mutter, woher kommt diese Müdigkeit, ich will nur noch ein wenig schlafen, gleich steh ich auf, ich ziehe das weiße Kleid an, das ich selbst gewebt und genäht habe, wie du es mir beigebracht hast, dann gehen wir wieder gemeinsam durch die Gänge unseres Palastes, und ich werde froh sein, wie ich es als Kind gewesen bin, wenn du mich an die Hand genommen und auf den Innenhof geführt hast, zu dem Brunnen in der Mitte, weißt du, daß ich nirgendwo einen schöneren angetroffen habe, und eine der Frauen zieht uns den Holzeimer hoch, und ich schöpfe das Quellwasser und trinke, trinke und werde gesund.
Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder ihre Stadt ist auf ein Verbrechen gegründet. Nein, glaub mir, ich bin ganz klar, mir ist ganz klar, was ich da sage oder denke, ich habe ja den Beweis gefunden, mit diesen Händen habe ich ihn betastet, ach, Hochmut ist es nicht, was mich jetzt bedroht. Ich bin ihr doch nachgegangen, der Frau, vielleicht wollte ich auch Jason eine Lehre erteilen, der geduldet hatte, daß man mich an das Ende der Tafel zwischen die Dienstleute setzte, richtig, das habe ich nicht geträumt, das war gestern. Jedenfalls sind es die höheren Dienstleute, hat er kläglich gesagt, mach keinen Skandal, Medea, nur heute nicht, ich bitte dich, du weißt, was auf dem Spiel steht, das Ansehen des Königs vor all den ausländischen Gästen. Ach Jason, streng dich nicht an. Er hat noch nicht begriffen, daß König Kreon mich nicht mehr kränken kann, aber darum geht es jetzt nicht, ich muß meinen Kopf frei haben. Ich muß mir versprechen, daß ich mit keiner Menschenseele jemals über meine Entdeckung reden werde, am liebsten würde ich es so machen, wie wir es als Kinder gemacht haben, Chalkiope und ich, weißt du das, Mutter, wir wickelten unser Geheimnis fest in ein Blatt ein und aßen es auf, indem wir uns unverwandt in die Augen blickten, unsere Kindheit, nein, das ganze Kolchis war voller dunkler Geheimnisse, und als ich hier ankam, als Flüchtling in König Kreons schimmernder Stadt Korinth, da dachte ich neidvoll: Diese hier haben keine Geheimnisse. Und das glauben sie auch selbst von sich, das macht sie so überzeugend, mit jedem Blick, mit jeder ihrer maßvollen Bewegungen schärfen sie dir ein: Es gibt einen Ort auf der Welt, da kann der Mensch glücklich sein, und spät erst ging mir auf, daß sie es dir sehr übelnehmen, wenn du ihnen ihr Glück bezweifelst. Aber darum geht es doch gar nicht, was ist nur mit meinem Kopf, daß er die Gedanken in ganzen Schwärmen losläßt, warum fällt es mir so schwer, den einen Gedanken aus dem Schwarm herauszufischen, den ich brauche.
Ich hatte das Glück, daß ich an der Tafel des Königs zwischen meinen Freund Leukon, den zweiten Astronomen des Königs, und Telamon zu sitzen kam, den kennst du auch, Mutter, es war derjenige der Argonauten, der zusammen mit Jason in unseren Palast kam, nachdem sie an der Küste von Kolchis gelandet waren, ich mußte mich also nicht langweilen beim Festmahl, denn Leukon ist ein kluger Mann, mit dem ich gerne rede, es ist eine Sympathie zwischen uns, und Telamon, ein wenig ungefüge, aber mir treu ergeben seit jenem ersten Nachmittag in Kolchis vor so vielen Jahren, die ich kaum zählen kann, er versucht, in meiner Gegenwart besonders witzig, auch besonders obszön zu sein, wir hatten zu lachen, und ich, entschlossen, den König von meinem minderen Platz aus zu strafen, legte das Benehmen einer Königstochter an den Tag, die ich allerdings auch bin, nicht wahr Mutter, die Tochter einer großen Königin. Es fiel mir nicht schwer, Aufmerksamkeit zu erregen und Respekt einzufordern, selbst von den fremden Gesandten aus Libyen und von den Inseln im Mittelmeer, Telamon spielte mit, wir brachten den armen Jason in die Klemme, hin und her gerissen zwischen der Botmäßigkeit gegenüber einem König, von dem wir allerdings abhängen, und seiner Eifersucht, trank er mir verstohlen zu und beschwor mich mit Blicken, meinen Übermut nicht zu weit zu treiben, aber wenn der König zu einer seiner Tiraden ansetzte, mußte er an seinen Lippen hängen. An unserem Tischende war es lustig, jetzt fällt mir alles wieder ein. Wie die beiden Männer an meiner Seite sich um mich zu streiten begannen, wie Leukon, der große, schlanke, etwas ungelenke Mensch mit dem ovalen Schädel, der wohl Spaß versteht, selbst aber keinen Spaß machen kann, dem hünenhaften, blondlockigen Telamon ernstlich meine Fähigkeiten als Heilerin anzupreisen begann, wie Telamon darauf lauthals von meinen körperlichen Vorzügen schwärmte, die braune Haut, sagte er, das Wollhaar, das wir Kolcher alle haben und das Jason gleich für mich eingenommen habe, ihn übrigens auch, aber was sei er schon gegen Jason, er wurde sentimental, wie die starken Männer es leicht werden, meine Glutaugen, sagte er, du kennst ihn ja, Mutter, immer, wenn ich ihn sehe, fällt mir ein, wie du, als er bei uns in der Tür stand, die Hand vor den Mund geschlagen und wie im Schreck Oi! gerufen hast, anerkennend, wenn ich nicht irre, und wie deine Augen dabei funkelten, und wie ich merkte, daß du noch keine alte Frau warst, und ich unwillkürlich an den sauertöpfischen, mißtrauischen Vater denken mußte. Ach, Mutter. Ich bin keine junge Frau mehr, aber wild noch immer, das sagen die Korinther, für die ist eine Frau wild, wenn sie auf ihrem Kopf besteht. Die Frauen der Korinther kommen mir vor wie sorgfältig gezähmte Haustiere, sie starren mich an wie eine fremde Erscheinung, wir drei Vergnügten an unserem Tafelende zogen alle Blicke auf uns, all die neidvollen und empörten Blicke der Hofgesellschaft und die flehenden des armen Jason, nun ja.
Warum bin ich der Frau nachgegangen, der Königin, die ich, solange ich in dieser Stadt Korinth bin, kaum je zu Gesicht bekommen habe. Eingesponnen in ein dichtes Netz schauerlicher Gerüchte, zuverlässig verborgen hinter ihrer Unnahbarkeit, verbringt sie ihre Tage und Nächte im entlegensten, ältesten Teil des Palastes, in dickwandigen Kammern, die lichtarmen Höhlen gleichen sollen, eher eine Gefangene als eine Herrscherin, bedient und bewacht von zwei seltsam urtümlichen Weibern, die ihr aber auf ihre Weise treu ergeben sein sollen, ich glaube, sie kennt meinen Namen nicht, und ich hatte keinen Gedanken verschwendet an die unglückliche Königin eines Landes, das mir fremd geblieben ist und immer fremd bleiben wird. Wie mein Kopf mich schmerzt, Mutter, etwas in mir wehrt sich dagegen, noch einmal in diese Höhlen hinunterzusteigen, in die Unterwelt, in den Hades, wo gestorben und wiedergeboren wird seit alters her, wo aus dem Humus der Toten Lebendiges gebacken wird, zu den Müttern also, zur Todesgöttin, zurück. Aber was heißt da vorwärts, was zurück. Das Fieber steigt, ich mußte es tun. Ich habe diese Frau an Kreons Seite zum erstenmal gesehen, Mutter, mit jenem Zweiten Blick, den du an mir bemerkt hast. Ich wehrte mich bis zum äußersten, bei diesem jungen Priester in die Lehre zu gehen, lieber wurde ich krank. Jetzt erinnere ich mich, das war die Krankheit, während der du mir meine Handlinien zeigtest, der Priester hat später scheußliche Verbrechen begangen, er war nicht normal, da sagtest du, das Kind hat den Zweiten Blick. Er ist mir hier fast abhanden gekommen, manchmal denke ich, die krankhafte Furcht der Korinther vor dem, was sie meine Zauberkräfte nennen, hat mir diese Fähigkeit ausgetrieben.
So erschrak ich, als ich die Königin Merope sah. Daß sie wortlos neben König Kreon saß, daß sie ihn zu hassen, er sie zu fürchten schien, das konnte jeder sehen, der Augen im Kopf hatte. Ich meine etwas anderes. Ich meine, daß es auf einmal ganz still wurde. Daß jenes Flimmern vor meinen Augen erschien, das dem Zweiten Gesicht vorausgeht. Daß ich in dem riesigen Saal mit dieser Frau allein war. Da sah ich sie, ihre Aura fast vollständig verdunkelt von unstillbarem Leid, so daß mich ein Entsetzen erfaßte und ich ihr nachgehen mußte, als sie, kaum war das Mahl beendet, aufstand und ohne ein erklärendes Wort, ohne einen Gruß wenigstens für die fremden Kaufleute und Gesandten, steif in ihrem golddurchwirkten Festkleid hinausging und den König zwang, ihre Ungehörigkeit zu überspielen durch schnelleres Reden, lauteres Lachen. Von Herzen gönnte ich ihm seine Niederlage. Er muß diese Frau gezwungen haben, all diesen neugierigen eitlen Leuten ihr zerstörtes Gesicht hinzuhalten, wie mich Jason dazu gebracht hat, ihnen eine Komödie vorzuspielen. Jetzt war es genug. Wir gingen, beide aus dem gleichen Grund: Stolz. Das habe ich nie vergessen, daß du mir einmal gesagt hast, wenn sie mich umbringen würden, meinen Stolz müßten sie noch extra erschlagen. So ist es geblieben, und so soll es bleiben, und es wäre gut für meinen armen Jason, wenn er das rechtzeitig erkennen würde.
Ich folgte der Frau. Der Gang, der zum Festsaal führt, wie oft bin ich ihn gegangen, als Jasons, des königlichen Neffen und Gastfreunds geachtete Frau, an seiner Seite, in Zeiten, die mir glücklich erschienen. Wie habe ich mich so täuschen können, aber nichts täuscht sicherer als Glück, und es gibt keinen Platz, der die Schärfe der Wahrnehmung so trübt wie der Platz im Gefolge des Königs. Merope war wie vom Erdboden verschluckt, es mußte einen Ausschlupf geben, ich suchte und fand ihn hinter Fellen versteckt, ich nahm eine der Fackeln aus ihrer Halterung und schlüpfte in den Gang, der bald so niedrig wurde, daß ich nur noch gebückt gehen konnte, oder habe ich das geträumt, das düstere Kellergewölbe, des Königs herrlicher lichter Palast als sein eigenes Gegenbild noch einmal in die Tiefe, ins Finstere gebaut. Die Steintreppen, Stockwerk um Stockwerk hinunter, das muß ich geträumt haben, aber die Kälte, die habe ich doch nicht geträumt, ich schlottere ja immer noch, und die Schärfe der Steine, die mir die Haut ritzten, woher sonst wären meine Arme so voller verschorfter Kratzer, und dann im letzten, tiefsten Grund, in jenem Keller, in dem sich sogar in diesem trockenen Land Wasser sammelt, der Einstieg in das Höhlengewirr, zwei Stufen nehmen und dann bäuchlings hinein, und weiterkriechen, die Fackel schützend, die nur noch flackert, nicht mehr an Merope denken, die mir voraus sein mochte oder nicht, an nichts und niemanden mehr denken, weitermüssen, immer weiter, die Höhle, zu der der Gang sich schließlich erweiterte, war mir traumbekannt, oder woher wußte ich, daß hier der Weg sich gabelte, woher wußte ich, daß ich mich links zu halten hatte, daß bald meine Fackel erlöschen würde. Sie erlosch. Dann war der Gang so eng, daß ich rückwärts hätte kriechen müssen, um hinauszukommen, mußte also weiter, wissend, es könnte mein Verderben sein, immer wieder verirrt sich jemand in unterirdischen Höhlen und kommt darin um, will ich umkommen, die Frage hat mich gestreift, ich habe den Mund verzogen und bin weitergekrochen, dann leckte ich von den Wänden sickernde Feuchtigkeit, ein geschmackloses Naß, dann spürte ich, daß die Zusammensetzung der Luft sich veränderte, dann sträubte sich mir das Haar, noch ehe ich den Ton hörte. Dann hörte ich den Ton. Er hielt länger an, als ein Mensch Atem hat, ein kaum hörbares, doch durchdringendes Winseln, das konnte auch ein Tier sein, aber es war kein Tier.
Es war die Frau. Es war Merope. Ich wollte zurück, nur noch zurück, und schob mich Stück für Stück vorwärts. Der Ton brach ab, der Hammer in meiner Brust überdröhnte jeden anderen Laut, das tut er auch jetzt, hämmert bis in die Schläfen, dann sah ich, als meine Augen in der Finsternis die Richtung gefunden hatten, im matten Schein ihres Öllämpchens die Königin sitzen, steil aufgerichtet an die Felswand gelehnt, die Augen unverwandt auf einen gegenüberliegenden Punkt geheftet. Klatschnaß vor Schweiß war ich in dieser Eiseskälte, ich stank vor Grauen, das war mir noch nie passiert, in mir regte sich etwas, das ich unter Verschluß gehalten und fast vergessen hatte, etwas Lebendiges in dieser Totengruft. Das war kein Spiel mehr. Wie eitel war die ganze Aufführung an der Königstafel gewesen, wie eitel auch mein Gehabe. Weiß ich doch lange: In dem großen Getriebe spielt auch der seine Rolle, der es verhöhnt, zwar ließ ich mich kaum noch darauf ein, das ist wahr, aber trieb mich nicht doch eine Spur von Gefallsucht auf des Königs Fest, anstatt mich zu verweigern, wie Merope es tat, die mich bis hierher geführt hatte, ans Ende der Unterwelt, wo mich nach dem Grauen die Panik überfiel, denn da kroch in unheimlicher Stille etwas heran, vor dem ich mich verbergen mußte, aber da war kein Spalt, keine Ritze im Fels. Was da heranschlich, hatte gelernt, sich lautlos zu bewegen und nicht einmal einen Luftzug zu verursachen, besser noch, als ich es kann, denn du hast mir sehr früh diese Art der Bewegung beigebracht, Mutter, die aus winzigen Nichtbewegungen besteht, und auch mit der Mauer zu verschmelzen hast du mich gelehrt – ich brauche das in meines Vaters Palast, sagtest du, ehe ich verstand, warum –, ebenso wie das Atmen, das jeden Hauch zurückhält, der sonst von eines Menschen Körper ausgeht, es war alles noch da, übernahm von selbst den Befehl und verhinderte, daß ich laut schlotterte vor dem Wesen, das, Schatten eines Schattens, sich zu der Frau heranschob, ihr ein Wort zuflüsterte, ihr das verlöschende Lämpchen aus der Hand nahm, worauf die sich hinter dem Weib, das ich nun erahnte, herziehen ließ und beide, da die Höhle sich verengte, auf die Knie hinunter mußten, eine Bewegung, die ich ihnen unwillkürlich nachmachte. Ich ging in die Knie, ob aus Schwäche oder aus Dankbarkeit gegen eine Gottheit, die mich noch einmal hatte davonkommen lassen. Oder aus Todesfurcht.
Ich wartete, bis die Frauen außer Hörweite waren, dann fing ich an, mich an den Wänden der Höhle entlangzutasten. Ich mußte das Geheimnis dieser Königin kennen. In vollkommener Finsternis fanden meine Fingerspitzen, wonach sie wohl gesucht hatten, Einkratzungen, die nicht die Natur dem Stein zugefügt hat, Schabungen, mit Instrumenten ausgeführt, die ich von Kolchis her kenne, Linien, die ich verfolgen konnte, bis sie sich zu Zeichen zusammensetzten, zu Figuren, die man hier in Korinth, das wußte ich, in den Höhlengräbern hochgestellter Toter anbringt. Das kam meinem Verdacht entgegen, den ich noch nicht hätte ausdrücken können. An der Stelle, an der Merope gehockt hatte, ließ ich mich auf alle viere nieder und kroch hinüber zu der Wand, auf die die Königin gestarrt hatte, ertastete mit widerstrebenden Fingern die tiefe Einbuchtung im Stein und fand, wovor ich mich gefürchtet hatte, stieß einen Schrei aus, der in dem Höhlensystem widerhallte. Dann kehrte ich um. Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte, versprach mir, es so schnell wie möglich zu vergessen, und kann seitdem an nichts anderes denken als an diesen schmalen kindlichen Totenschädel, diese feinknochigen Schulterblätter, diese zerbrechliche Wirbelsäule, ach.
Die Stadt ist auf eine Untat gegründet.
Wer dieses Geheimnis preisgibt, ist verloren. Den Schock habe ich zur Umkehr gebraucht. Weg von den spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln an der Königstafel, das ist klar. Aber wohin. Da wüßtest auch du mir keinen Rat, Mutter, da kann ich meine Handlinien befragen, wie ich will, klare Linien, nun gut, aber was heißt das, heute und hier. Die Krankheit, wie sie mich auch durchschüttelt, will mir eine Atempause verschaffen, ich kenne den geheimen Sinn der Krankheiten, doch weiß ich ihn bei anderen besser zur Heilung zu nutzen als bei mir selbst. Halb willentlich überlasse ich mich dem Fieber, das steigt und mich auf einer heißen Woge wegspült, das mir Bilder zuträgt, Fetzen von Bildern, Gesichter.
Jason. Habe ich mich ihm verraten? Nein. Obwohl es einen Augenblick gab, einen flüchtigen, verführerischen Augenblick, aber ich schwieg. Doch, ja, ich schwieg. Jason wartete ja auf mich, das hatte ich nicht einberechnet, immer noch kenne ich ihn nicht ganz, habe versäumt, ihn ganz zu kennen, weil es mir nicht mehr wichtig war, gefährliche Bequemlichkeit. Anstatt alles daranzusetzen, jede seiner Regungen vorauszusehen, leistete ich mir den Luxus der Gleichgültigkeit, sonst hätte ich wissen können, daß jene Mischung aus Triumph und Demütigung, die er an der Festtafel des Königs erfahren hatte, seine Begierde so steigern mußte, daß nur ich sie stillen kann, keines der Mädchen im Palast, die ihm gerne zu Willen sind.
Erschöpft, schmutzig schleppte ich mich nach Hause, zu dem Lehmhäuschen, das mit dem Rücken an der Palastmauer klebt wie ein Vogelnest und von dem Feigenbaum überwölbt wird, in dessen lichtes Laub ich von meinem Lager aus sehe. Lyssas Blick warnte mich, ihre Lippenbewegung deutete mir an, wer hinter dem Türvorhang im Nebenraum auf mich wartete, Hände und Gesicht konnte ich mir rasch noch abspülen, ein sauberes Hemd statt des verdreckten zerrissenen Kleides überwerfen, ehe Jason nach mir rief. Mit nichts täuschen wir die Menschen mehr, als wenn wir unser gewöhnliches Verhalten an den Tag legen, also mußte ich Jasons Zeug, das er wie immer einfach hatte fallen lassen, wie immer beiseite schieben und meinen Fuß dabei unter dem langen, losen Hemd hervorstrecken, mit jener anmutigen Bewegung, die sich bewußt ist, daß Jason die Füße der Frauen mag, aber keine habe so schöne Füße wie ich, das sagte er wieder, und ich wollte Zeit gewinnen und fragte ihn, ob er sich erinnere, wann er meine Füße zum erstenmal in seine Hände genommen habe, und er, selbstgewiß, erwiderte: Dumme Frage. Komm. So spricht der Mann jetzt mit mir, es macht mir nichts mehr aus, daß er mich mit seinen anderen Frauen verwechselt. Ich sagte, zuerst solle er mir antworten. Bestimmte Dinge vergißt ein Mann doch nicht, sagte er und gab mir ein Beispiel seiner Fähigkeit zu vergessen.
In Kolchis sei es gewesen, an jenem Palisadenzaun hätten wir gesessen, der den inneren Palasthof gegen den äußeren abgrenzt, Nacht sei es gewesen,Vollmond, daran erinnere er sich genau. Du trugst ein Hemd wie dieses, sagte er, ich hatte eine so feine Weberei noch nie gesehen, hinter dem Zaun sangen die Wachen eure schrecklichen Gesänge, die einem aufs Gemüt schlagen. Jetzt erinnerte auch ich mich, auch mir griffen die langgezogenen schwermütigen Lieder unserer jungen Soldaten ans Herz, nicht aus dem gleichen Grund wie ihm. Du hast mir versprochen, sagte Jason, mir zu diesem verdammten Vließ zu verhelfen, das Sinn und Zweck unserer langen Reise war, und ich, nun ja, da du es wissen willst, ich nahm deinen Fuß in meine Hände. Komm jetzt.
Ich staunte, auch über mich. Er kann mir immer noch weh tun, Mutter, das muß aufhören. Dabei hätte mir klar sein müssen, daß auch er sich nur einen einzigen Grund dafür denken konnte, daß ich ihm gegen den eigenen Vater half: Ich mußte ihm, Jason, unrettbar verfallen sein. So sehen sie es alle, die Korinther sowieso; für die erklärt und entschuldigt die Liebe der Frauen zu einem Mann alles. Aber auch unsere Kolcher, die mit mir gegangen sind, haben in Jason und mir von Anfang an ein Paar gesehen, es will ihnen nicht in den Schädel, daß ich in meines Vaters Haus nicht mit einem Mann schlafen konnte, der ihn betrog. Mit meiner Hilfe betrog, Mutter, ja, ja doch, das war doch die Grausamkeit meiner Lage, die mich zerriß, daß ich keinen Schritt machen konnte, der nicht falsch war, keine Handlung, die nicht etwas, was mir teuer war, verriet. Ich weiß, wie die Kolcher mich nach meiner Flucht genannt haben müssen, dafür hat schon der Vater gesorgt: Verräterin. Das Wort brennt mich noch immer. Es brannte mich in jener Nacht auf der »Argo«, einer der ersten Nächte nach unserer Flucht, die Flotte der Kolcher, die uns verfolgte, hatte von uns abgelassen, ich hockte auf einer Taurolle an der Bordwand, es war Neumond, ein ungeheurer Sternenhimmel, weißt du noch, hätte ich Jason fragen können, wie von einer Hand gestreut fielen die Sternschnuppen ins Meer, die See war ruhig, leise schlugen die Wellen an die Bordwand, leise und regelmäßig ruderten die Argonauten, die Ruderdienst hatten, das Schiff schaukelte kaum, es war eine laue Nacht. Als du kamst, Jason, könnte ich ihm sagen, warst du ein dunkler Schatten gegen den Sternenhimmel, du hattest eine gute Stunde, du sagtest das Richtige im richtigen Ton, du tatest das Richtige auf die richtige Weise, du mildertest meinen Schmerz, den du nicht kanntest und den ich für unstillbar hielt. Du nahmst, wie um sie zu wärmen, meine Füße in deine Hände.
Unsinn, hätte Jason gesagt, so schwieg ich. Er sagte: Wir wollen nicht streiten, Medea. Nicht heute nacht. Komm. Die Stimme. Noch einmal das Signal, dem etwas in mir entspricht, noch einmal überließ ich ihm nicht nur meinen Fuß, jeden Flecken meines Körpers, auf den er zu antworten weiß wie kein Mann sonst. Zu antworten wußte, schien es. Jason? Langes Schweigen. Das kannte ich schon. Jetzt würde er Schuldige suchen. Das kommt, sagte er anklagend, weil du mich betrügst. Oder wohin bist du so schnell verschwunden bei dem Festmahl, mit wem hast du dich amüsiert. Darauf mußte ich nicht antworten, das machte ihn böse. Früher, sagte er, wäre dir das nicht passiert. Früher hast du mir Kraft gegeben, alle Kräfte, die ich brauchte. Was er sagte, war wahr, ich stand auf, tauchte Gesicht und Arme in das Wasser, das ich am Morgen von der Quelle geholt hatte. Früher, sagte ich zu Jason, früher hast du an mich geglaubt. Und an dich.
Immer hast du ein Widerwort, sagte Jason, immer weißt du alles besser, wann wirst du zugeben, daß deine Zeit vorbei ist. Jetzt, sagte ich, selbst überrascht, jetzt gebe ich es zu, aber was nützt es dir. Da preßte er seinen Kopf zwischen seine Hände und gab ein Stöhnen von sich, das ich von ihm noch nicht gehört hatte. Denk doch nicht, sagte er, denk doch bloß nicht, mir macht es Spaß, wenn auch du nicht weiterweißt. Das war ein Eingeständnis, das ich von ihm nicht erwartet hätte. Ich setzte mich zu ihm aufs Lager, löste ihm die Hände von den Schläfen, strich ihm über Stirn, Wangen, Schultern, die verletzliche Mulde über seinen Schlüsselbeinen, komm, sagte er bittend, ich legte mich zu ihm, ich kenne seinen Körper, weiß seine Lust aufzustacheln, hinter geschlossenen Lidern überließ er sich seinen Phantasien, an denen er mich nie teilnehmen ließ. Ja, ja, ja, Medea, das ist es. Ihm gelang, was ich ihm wünschte, mit seinem ganzen Gewicht fiel er auf mich, grub sein Gesicht zwischen meine Brüste und weinte, lange. Nie vorher sah ich ihn weinen. Dann stand er auf, tauchte sein Gesicht in die Wasserschüssel auf der Truhe, schüttelte den Kopf wie ein Stier, der einen Schlag vor die Stirn bekommen hat, und ging, ohne sich noch einmal nach mir umzuwenden.
Dafür werde ich zahlen müssen. Immer muß die Frau dafür zahlen, wenn sie in Korinth einen Mann schwach sieht.
Und zu Hause? In Kolchis? Täusche ich mich selbst, wenn ich innerlich darauf bestehe, da ist es anders gewesen? Merkwürdig, wie ich mich neuerdings darin übe, die Erinnerung an Kolchis wieder heraufzurufen, sie mit Farben aufzufüllen, als wollte ich dem Schwinden von Kolchis in mir nicht einfach zusehen. Oder als brauchte ich es, ich weiß noch nicht, wozu.
Ich ging zu Lyssa, sie schlief nicht. Nebenan, durch den Türvorhang, hörte ich den Atem der Kinder. Ich wünschte mir, Lyssa würde mich fragen, wo ich gewesen sei, aber sie fragt niemals. Unter allen Lebewesen ist sie diejenige, von der ich nicht einen Tag lang getrennt gewesen bin, sie, die am gleichen Tag Geborene, deren Mutter meine Amme war, sie, die die Amme meiner Kinder war. Sie, die alles mit angesehen, wahrscheinlich alles verstanden hat, oder war auch das eine Täuschung, wenn ich es für naturgegeben hielt, daß sie sich in jede meiner Regungen einfühlte, daß sie sie wahrnahm, oft vor mir selbst und auch dann, wenn ich sie vor mir verleugnen wollte. Lyssa, die ich manchmal neben mich auf mein Lager ziehe, um vertraut mit ihr zu sprechen, und die ich manchmal wegwünsche bis an den Rand der Welt. Aber der Rand der Welt ist Kolchis. Unser Kolchis an den Südhängen des wilden Kaukasus, dessen schroffe Berglinie in jede von uns eingeschrieben ist, wir wissen es voneinander, reden niemals darüber, Reden steigert das Heimweh ins nicht zu Ertragende. Aber das wußte ich doch, daß ich niemals aufhören würde, mich nach Kolchis zu sehnen, aber was heißt wissen, dieses nie nachlassende, immer nagende Weh läßt sich nicht vorauswissen, wir Kolcher lesen es uns gegenseitig von den Augen ab, wenn wir uns treffen, um unsere Lieder zu singen und den nachwachsenden Jungen unsere Götter- und Stammesgeschichten zu erzählen, die manche von ihnen nicht mehr hören wollen, weil ihnen daran liegt, für echte Korinther zu gelten. Auch ich vermeide es manchmal, zu diesen Treffen zu gehen, und immer öfter, scheint mir, laden sie mich nicht mehr dazu ein. Ach meine lieben Kolcher, auch sie verstehen es, mir weh zu tun. Und neuerdings versteht es auch Lyssa.
Zwar war sie wach geblieben, wie immer, wenn ich sie noch brauchen konnte, doch anders als sonst verweigerte sie mir das komplizenhafte Lächeln. Darum betteln würde ich nicht, ich tat, als merkte ich nichts, und begann mitten in der Nacht, sie und mich zu fragen, ob denn die Männer in Kolchis anders gewesen seien als die in Korinth, spröde ließ sie sich auf das Spiel ein, nach ihrer Erinnerung hätten die Männer in Kolchis ihren Gefühlen freien Lauf gelassen, sagte sie, ihr Vater zum Beispiel habe öffentlich und bitterlich geweint, als ihr Bruder verunglückt war, geheult und geschrien habe er, während man doch in Korinth bei einer Beerdigung keinen Mann weinen sehe. Das müßten die Frauen für die Männer mit erledigen. Dann schwieg sie. Ich wußte, woran sie dachte. Nie habe ich einen Mann wieder so weinen sehen wie jenen jungen Kolcher, der Lyssa liebte und dem sie zugetan war, den sie aber zurückließ, um mir auf die »Argo« und auf eine ungewisse Reise zu folgen. Arinna, ihre Tochter, hat sie unterwegs zur Welt gebracht, es gab danach keinen Mann in Lyssas Leben, und ich konnte nun nicht mehr umhin, mich nach dem Preis zu fragen, den Lyssa, den die anderen Kolcher, den wir alle dafür gezahlt haben, daß ich in Kolchis nicht mehr leben wollte und daß sie, geblendet durch den Ruf, den ich unter ihnen genoß, mir gefolgt sind. So muß ich es heute sehen.
Jason? Ach Jason. Ich ließ sie bei ihrer Meinung, er sei der Mann, dem ich bis ans Ende der Welt folgen würde, und kann ihnen nicht verübeln, daß sie unsere Trennung als schwere persönliche Kränkung nehmen. Schlimmer: als Beweis der Vergeblichkeit unserer Flucht. Während ich, so dachte ich auf Lyssas Lager, diesen Beweis heute mit meinen Händen abgetastet hatte, ein kindliches Skelett, vor aller Welt verborgen in einer Höhle. Da legte Lyssa ihre Hand in meinen Nacken. Die Gesten gibt es noch, sie bedeuten nicht mehr dasselbe. Wir können uns begütigen. Gutmachen können wir nichts. Darauf ist es nicht angelegt, Mutter, ich beginne zu verstehen.
Was wollte ich gutmachen, oder wiedergutmachen, als ich mir keinen anderen Rat mehr wußte, als mit Jason zu gehen. Als ich zuerst dir, Mutter, dann Lyssa anvertraute, was ich vorhatte, ihr beide mich stumm anhörtet, nach meinen Gründen nicht fragtet, Lyssa schließlich erklärte, sie käme mit mir. Jahre später erst habe ich von ihr wissen wollen, was in jenen Tagen und Nächten in Kolchis passierte, denn Lyssa ist es gewesen, die im geheimen jenen kleinen Trupp von Kolchern sammelte, der sich uns anschließen wollte. Sie durfte sich in keinem irren, auf jeden mußte Verlaß sein, ein unbedachtes oder verräterisches Wort über unseren Plan hätte zur Katastrophe geführt. Sie kannte unsere Landsleute genau, hatte sie lange beobachtet und wußte, wer die Verhältnisse ebenso unerträglich fand wie ich. Sie gingen nicht meinetwegen, nicht nur meinetwegen, das hat Lyssa mir oft versichert, als meine Kolcher, enttäuscht von den Ländern, in die ich sie, selbst getrieben, geführt hatte, anfingen, mir die Schuld am Verlust der Heimat zu geben, die ihnen nachträglich in ungetrübtem Glanz erstrahlt. Wie ich sie verstehe. Wie wütend ich oft auf sie bin.
Schon über die Umstände unserer Abfahrt aus Kolchis kamen bald unterschiedliche, sogar gegensätzliche Geschichten in Umlauf. Sicher ist, daß ich an Lyssas Lager trat, sie wachrüttelte: Komm, Lyssa, kommst du?, daß Lyssa aufstand, nach dem Bündel griff, das fertig geschnürt war, und mit mir aus dem Palast und hinunter zum Ufer schlich, wo bei ruhiger See, in fast vollständiger Finsternis, die »Argo« und die beiden anderen Schiffe lagen, die zur kolchischen Flotte gehörten, die Fluchtschiffe, zu denen die Frauen und Kinder, die mit uns kamen, durch das flache Wasser von den Männern getragen wurden. Schon auf der Überfahrt fingen einige der Männer an, die Höhe des Wassers zu übertreiben, überhaupt von einer höchst gefährlichen Abfahrt zu reden, von Dünung und unruhiger See, von ihrer Besonnenheit und ihrer Kühnheit, denen es zu verdanken war, daß alle Frauen und Kinder heil an Bord gekommen seien. Ihre Legenden werden ausufern, wenn unsere Lage sich weiter verschlechtert, und es wird nichts nützen, ihnen die Tatsachen entgegenzuhalten. Falls es noch etwas wie Tatsachen gibt, nach all den Jahren. Falls sie nicht, ausgehöhlt durch Heimweh und Demütigung und Enttäuschung und Armut, zu einer dünnen brüchigen Schale geworden sind, die von jedem, der es wirklich will, zerstört werden kann. Wer wird das wollen. Presbon?
Presbon in seiner unbezähmbaren Ichsucht, das könnte sein. Er war der einzige der Auswanderer, den nicht Lyssa selbst verständigt hatte, sie wirft es sich heute noch vor, daß sie das geduldet hat. Er ergriff die Gelegenheit, Kolchis den Rücken zu kehren und sein überschießendes Talent, sich selbst darzustellen, anderswo anzubieten, zum Beispiel hier im glänzenden Korinth, wo er sich unentbehrlich gemacht hat bei den großen Tempelspielen, deren kompliziertes Triebwerk er in Gang zu setzen weiß wie kein anderer und denen er durch die inspirierte Darstellung der großen Rollen Glanzlichter aufsetzt, die König Kreon ihm dankt. Keiner von den Kolchern hat es zu so hohen Ehren gebracht wie er, Presbon, Sohn einer Magd und eines Offiziers der Palastwache in Kolchis, der sich zuerst nicht zu schade war, hier in Korinth nach den großen Festen den Abfall von der Festwiese zu räumen. Wie er sich anstrengen mußte, daß man auf ihn aufmerksam wurde. Wie er unter der Erniedrigung litt. Wie er alle haßt, die ihn in seiner Schande gesehen haben und über die Verrenkungen spotteten, die er sich abverlangte, um aufzusteigen. Wie er mich haßt, weil ich seinen Wert nicht zu schätzen wußte. Nichts bleibt ohne Folgen, Mutter, darin hattest du recht.
War es Lyssa, die dir den Zeitpunkt unserer Flucht nannte? Wahrscheinlicher ist, du hast ihn selbst erraten. Aufmerksamer als du hat niemand die Ereignisse beobachtet, die das Auftauchen jener Fremden in Kolchis nach sich zog.
Dabei ließ sich alles ganz gut an. Unsympathisch waren sie unseren Kolchern nicht, Jason mit dem Pantherfell und seine etwas verwilderte Schar von Argonauten, die ja nicht roh waren, eher ein wenig täppisch, aber hilfsbereit, wenn es sich ergab, und neugierig. Und schmeichelhaft war es doch eigentlich, daß das Ziel ihrer gefahrvollen Meeresfahrt ausgerechnet unser Kolchis war, ein Land wie andere auch an dieser Schwarzmeerküste. Jedenfalls gab es keinen Grund, diese Seeleute, die in der Bucht unseres Flusses Phasis angelegt hatten, nicht gebührend als Gäste zu behandeln. Noch dazu, da Aietes, der König, der Vater, Jason und Telamon gleich nach ihrer Ankunft empfing und alle fünfzig Argonauten für den nächsten Abend in den Palast lud, zu einem Gastmahl, für das eine Menge Schafe ihr Leben lassen mußte und das in Ausgelassenheit und Verbrüderung endete.
Natürlich wollten später viele schon damals Unheil gewittert haben, aber was hätte unheimlich sein sollen an einem Festgelage, dessen Lärm zusammen mit dem Klang der Widderhörner aus dem Palast drang, denn der Wein, den wir an den Südhängen der Berge ziehen, schmeckte den Gästen.
Nein. Ich war als einzige voller böser Ahnungen, denn ich war in meines Vaters Argwohn gegenüber diesen Gästen eingeweiht. Die einzige außer dir, Mutter. Du brauchtest für deine bösen Ahnungen keinen neuen Grund. Du kanntest den König. Ich hatte es mit dem Vater in mir zu tun: Du verrätst mich nicht, meine Tochter. Ich wußte, Jason wollte das Vließ. Ich wußte, der König wollte es ihm nicht geben. Warum nicht, das fragte ich nicht. Ich müsse ihm helfen, diesen Mann unschädlich zu machen, um jeden Preis. Ich sah, wie hoch er den Preis ansetzte, zu hoch für uns alle. Mir blieb nichts übrig als Verrat.
Blieb mir nichts übrig? Wie doch die Jahre die Gründe auswaschen, derer ich mir so sicher war. Wie ich immer wieder die Abfolge der Ereignisse aufrief, die ich in meinem Gedächtnis befestigt habe als Schutzwall gegen die Zweifel, die jetzt, so spät, diesen Wall überschwemmen. Ein Wort hat ihnen die Bresche geschlagen: Vergeblichkeit. Seit ich die Knöchelchen dieses Kindes betastet habe, erinnern sich meine Hände an jene anderen Knöchelchen, die ich dem König, der uns verfolgte, von meinem Fluchtschiff aus zugeworfen habe, laut heulend, das weiß ich noch. Da ließ er von uns ab. Seitdem fürchteten mich die Argonauten. Auch Jason, den ich mit anderen Augen sah, seit ich ihn als Schiffsführer kennenlernte. Er war wie ein Blinder durch Kolchis gelaufen, hatte nichts verstanden, sich ganz in meine Hände gegeben, aber als er, das Vließ um die Schultern gelegt, sein Schiff betrat, wurde er ein anderer. Alles Täppische fiel von ihm ab, er straffte sich, seine Sorge um das Schicksal seiner Mannschaft hatte nichts Unmännliches, sein umsichtiges Verhalten bei der Einschiffung der Kolcher machte mir Eindruck. Da hörte ich zum erstenmal das Wort Flüchtlinge. Für die Argonauten waren wir Flüchtlinge, es gab mir einen Stich. Manche Empfindlichkeiten habe ich mir dann abgewöhnt.
Aber darum geht es jetzt nicht. Ich glaube, es ist meine Schwäche, Mutter, es ist die Augenblicksschwäche, daß ich diesen Gedanken heute ausgeliefert bin. Als du am Ufer standest, um mich zu verabschieden, gabst du mir zu verstehen, du billigtest, was ich tat. Ich hatte keine Wahl. Zu reden war nicht viel. Werde nicht wie ich, sagtest du, dann zogst du mich an dich mit einer Kraft, die ich lange nicht mehr bei dir gespürt hatte, wendetest dich ab und gingst die Uferböschung hinauf in Richtung auf den Palast, in dem der König und seine Dienstmänner tief und fest schliefen, nach dem Abschiedstrunk, den ich ihnen gemischt hatte und mit dem sie dem scheidenden Jason Bescheid getrunken hatten. Der mußte wach und nüchtern bleiben, um den Weg zum Hain des Ares wiederzufinden, den ich ihm bei Tage gezeigt hatte, um sich vorbeizuschleichen an den Wächtern, die, dafür hatte ich gesorgt, ebenfalls schliefen, und um endlich mit meiner Hilfe jene Tat zu vollbringen, deretwegen er nach Kolchis, an den östlichen Rand seiner Welt, gekommen war: von der Eiche des Kriegsgottes das Widderfell herunterzuholen, das sein Onkel Phrixos vor vielen Jahren auf der Flucht hierhergebracht hatte und das nun von den Seinen zurückgefordert wurde. Eine Art Mutprobe, so sah ich es damals, nicht eingeweiht in die verzwickte Familiengeschichte des armen Jason. Was war mir dieses Vließ, das erst später, als sie es genauer betrachtet hatten, von den Männern auf der »Argo« »Goldenes Vließ« genannt wurde: Dieses Fell war, wie die Felle vieler Widder in Kolchis, zur Goldgewinnung benutzt worden, indem man es im Frühjahr in eines der zu Tal stürzenden Gebirgswässer gelegt hatte, damit es den Goldstaub auffinge, der aus dem Berginnern herausgeschwemmt wurde. Genauestens haben die Argonauten mich nach dieser Methode befragt, die mir ganz gewöhnlich vorkam, sie aber in helle Aufregung versetzte: In Kolchis gab es Gold. Wirkliches Gold. Warum ich ihnen nicht früher davon erzählt hätte. Um wie vieles ertragreicher hätte ihr Unternehmen werden können.
Erst hier in Korinth habe ich sie verstanden. Korinth ist besessen von der Gier nach Gold. Kannst du dir vorstellen, Mutter, daß sie nicht nur Kultgerät und Schmuck, sondern gewöhnliche Gebrauchsgegenstände aus Gold herstellen, Teller, Schalen, Vasen, sogar Skulpturen, und daß man diese Gegenstände zu hohen Preisen rund um ihr Mittelmeer verkauft, selbst aber bereit ist, für unbearbeitetes Gold, für einfache Barren, Getreide, Rinder, Pferde, Waffen zu tauschen. Und was uns am meisten befremdete: Man mißt den Wert eines Bürgers von Korinth nach der Menge des Goldes, die er besitzt, und berechnet nach ihr die Abgaben, die er dem Palast zu leisten hat. Ganze Heerscharen von Beamten beschäftigen sich mit diesen Berechnungen, Korinth ist stolz auf diese Fachleute, und Akamas, der oberste Astronom und erste Berater des Königs, dem ich einmal mein Erstaunen über die Vielzahl dieser unnützen, aber arroganten Schreiber und Rechner offenbarte, belehrte mich über ihren eminenten Nutzen für die Einteilung der Korinther in verschiedene Schichten, die ja ein Land erst regierbar mache. Aber warum gerade Gold, fragte ich. Du solltest doch wissen, sagte Akamas, daß es unsere Wünsche und Begierden sind, die einem Stoff Wert, dem anderen Unwert verleihen. Der Vater unseres Königs Kreon war ein kluger Mann. Mit einem einzigen Verbot hat er das Gold in Korinth zum begehrten Objekt gemacht: mit dem Gesetz, daß Korinther, deren Abgaben an den Palast nicht eine bestimmte Höhe erreichten, keinen Goldschmuck tragen durften. Du bist auch ein kluger Mann, Akamas, sagte ich ihm. Deine Art Klugheit kam in Kolchis nicht vor. Weil sie bei euch nicht benötigt wurde, sagte er, wieder mit jenem Lächeln, das mich am Anfang verletzte. Und er hatte wohl recht.
Aber wohin verirre ich mich. Ich muß endlich aufstehen. Wenn ich richtig sehe, Mutter, fallen die Sonnenstrahlen schon senkrecht in den Feigenbaum, ist es möglich, sollte ich den Vormittag verlegen und verschlafen haben, das hat es noch nie gegeben. Es ist wegen der Höhle, ich komme nicht hoch, jemand müßte mir helfen, Lyssa müßte kommen, die Kinder. Da, jemand fühlt meine Stirn, eine Stimme sagt: Du bist krank, Medea.
Bist du das, Lyssa.