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Jason zu Medea:
Geh durch die hohen Räume im erhabenen Äther,
bezeuge, daß, wo du fährst, es keine Götter gibt.
Seneca, ›Medea‹
Absyrtos, Bruder, bist also gar nicht tot, hab dich umsonst Knöchelchen um Knöchelchen aufgelesen auf jenem nächtlichen Acker, auf dem die wahnsinnigen Weiber dich verstreut hatten, armer zerstückelter Bruder. Bist mir nachgekommen, zäh, wie ich dich gar nicht gekannt habe, aber wie habe ich dich denn gekannt, hast deine zerstückelten Glieder wieder zusammengesetzt, am Grunde des Meeres sie wieder versammelt, Bein um Bein, und bist mir gefolgt, als Luftgebilde, als Gerücht. Du wolltest nie mächtig sein, jetzt bist du es. Mächtig genug, mich nachzuholen, in die Lüfte oder auf den Grund des Meeres, das glauben sie jedenfalls, nicht nur Presbon und Agameda, die es so dringlich wünschen, auch Leukon, ich sah die Sorge in seinen Augen. Ich dagegen erschrak kaum, als der Vorläufer des Gerüchts mich streifte, man sagte es mir ja nicht ins Gesicht, man wisperte es hinter meinem Rücken. Ich hörte deinen Namen, seit langem wieder einmal deinen Namen, Bruder, und dann den meinen, und wenn ich mich schnell umdrehte, traf ich auf verschlossene Gesichter, auf gesenkte Blicke. Alle wußten es schon, außer mir, endlich klärte Lyssa mich auf: Ich soll dich, Absyrtos, meinen Bruder, getötet haben. Ich lachte. Lyssa lachte nicht. Ich sah sie an, dann sagte ich, aber du weißt doch, wie es wirklich war. Ich weiß es, sagte Lyssa, und werde es immer wissen. Das hieß, nicht alle würden immer wissen, was sie wußten. Ich verstand noch immer nicht, fühlte sogar etwas wie Erleichterung, daß etwas geschah, daß vielleicht die Langeweile, die sich die Jahre über in Korinth wie ein trüber Bodensatz in mir abgelagert hatte, noch einmal aufzulösen wäre.
Korinth und alles, was in ihm geschehen war und geschah, ging mich ja nichts an. Unser Kolchis ist mir wie mein eigener vergrößerter Leib gewesen, an dem ich jede seiner Regungen spürte. Den Niedergang von Kolchis ahnte ich wie eine schleichende Krankheit in mir selbst, Lust und Liebe entwichen, dir habe ich es gesagt, kleiner Bruder, du warst so verständig, so einfühlsam. Wenn wir mit der Mutter zusammenhockten, mit der Schwester Chalkiope, mit Lyssa, und sorgenvoll hin und her wendeten, was mit Kolchis passierte, bist du, ein Kind noch, so hellsichtig gewesen. Nichts hat mich mehr gequält als der Gedanke, du könntest vorausgesehen haben, daß es dir ans Leben gehen würde, als unser Vater, als der König dich und uns mit diesem verfluchten Plan überrumpelte. Als uns nichts einfiel, was wir dagegen vorbringen konnten, außer einem dumpfen Unbehagen. Wir hatten ihn unterschätzt, unser hinfälliger, unfähiger König und Vater hatte jedes Fetzchen Kraft, das noch in ihm war, auf einen Punkt versammelt: sich an der Macht und damit am Leben zu halten. Wir kannten diese Art zu allem entschlossener List nicht. Wir waren blind, Absyrtos.
Sogar du hattest verstanden, daß die Art, wie Aietes Kolchis regierte, immer mehr Kolcher gegen ihn aufbrachte, auch unsere Mutter, und mich, Priesterin der Hekate, deren Tempel ohne mein Zutun zum Treffpunkt der Unzufriedenen wurde, vor allem der jüngeren Leute, du, kleiner Bruder, immer dabei. Sie stießen sich am Starrsinn des Aietes, an der unnützen Prachtentfaltung des Hofes und verlangten, der König solle die Schätze des Landes, unser Gold, verwenden, um unserem Handel einen Aufschwung zu geben, das elende Leben unserer Bauern zu erleichtern. Sie wollten, der König und sein Clan sollten sich auf die Pflichten besinnen, die ihnen von alters her in Kolchis zufielen. Ach, Absyrtos! Was wir Unwissende für Pracht hielten! Seit ich in Korinth bin, weiß ich, was Prachtentfaltung ist, an der sich hier aber niemand zu stören scheint, selbst die Armen in den Dörfern und am Stadtrand bekommen entzückte Gesichter, wenn sie von den großen Festen im Palast reden, für die sie ihr Vieh und ihr Getreide abliefern müssen, ohne je selbst auch nur einen Abglanz dieser Feste zu erhaschen.
Wir in Kolchis waren beseelt von unseren uralten Legenden, in denen unser Land von gerechten Königinnen und Königen regiert wurde, bewohnt von Menschen, die in Eintracht miteinander lebten und unter denen der Besitz so gleichmäßig verteilt war, daß keiner den anderen beneidete oder ihm nach seinem Gut oder gar nach dem Leben trachtete. Wenn ich, noch unbelehrt, in der ersten Zeit in Korinth von diesem Traum der Kolcher erzählte, erschien auf dem Gesicht meiner Zuhörer immer derselbe Ausdruck, Unglauben vermischt mit Mitleid, schließlich Überdruß und Abneigung, so daß ich es aufgab zu erklären, daß uns Kolchern dieses Wunschbild so greifbar vor Augen stand, daß wir unser Leben daran maßen. Wir sahen, wir entfernten uns davon von Jahr zu Jahr mehr, und unser alter verknöcherter König war das größte Hindernis. Die Idee war naheliegend, daß ein neuer König einen Wandel schaffen könnte. Von den Frauen, die zu unserem Kreis gehörten, kam der kühne Gedanke, Chalkiope, unsere Schwester, zur neuen Königin zu machen. Es ist überliefert, daß in früheren Zeiten Frauen in Kolchis Königinnen waren, und da wir nun einmal dabei waren, alte Bräuche wieder aufzufrischen, erinnerten uns einige der Uralten daran, daß einst in Kolchis ein König nur sieben Jahre regieren durfte, und dann höchstens noch einmal sieben Jahre, dann war seine Zeit abgelaufen, und er hatte seinem Nachfolger das Amt zu überlassen. Wir rechneten nach: Wir waren im siebenten Jahr der zweiten Amtszeit des Königs Aietes, und es gab einige Gutgläubige unter uns, die es für möglich hielten, daß Aietes freiwillig zurücktreten würde, wenn man ihn nur davon überzeugen könnte, daß er damit einem alten kolchischen Gesetz gehorche.
Wie dumm wir waren. Wie blind. Auch Aietes kannte die alten Geschichten, natürlich hinterbrachte man ihm, was wir vorhatten. Wir hatten ihn unterschätzt. Als die Gruppe von Kolchern, die wir abgesandt hatten, bei ihm erschien, war er vorbereitet. Anstatt von ihnen die Mitteilung zu empfangen, daß seine Regierungszeit beendet sei, überraschte er sie mit einer weitschweifigen Erzählung des alten Brauchs, nach dem ein König nur zweimal sieben Jahre herrschen durfte, und mit der großspurigen Erklärung, daß er sich diesem Brauch beugen werde; mehr noch, er werde genau das tun, was seine Vorväter getan hätten: Er werde für einen Tag seine Würde niederlegen, und an diesem Tag werde sein Sohn und künftiger Nachfolger, Absyrtos, König in Kolchis sein. Dies werde den Sitten unseres Volkes mehr als Genüge tun; denn soweit würden wir ja wohl nicht gehen zu verlangen, daß nach den ältesten Ritualen entweder er, der alte König, oder sein junger Stellvertreter geopfert werden müsse.
Die Leute verwandelten sich von Forderern in Bittsteller, denen es die Sprache verschlug und die betreten abzogen. Mag sein, wir hätten geistesgegenwärtiger reagieren können, wenn nicht just in diesen Tagen die Argonauten überall herumgestreunt, uns überall in die Quere gekommen wären, wir hatten zu tun, sie abzulenken. Sie sollten nichts merken. Sie merkten nichts. Der König nutzte die Situation aus, er handelte schnell und klug. Mit angemessenem, nicht übertriebenem Ritual legte er sein Amt nieder und setzte dich, armer Bruder, zum König ein. Ich sehe dich noch, in kostbare Gewänder gehüllt, winzig auf dem mächtigen Holzthron, und daneben, bescheiden, in einfacher Kleidung, der Nichtmehrkönig Aietes. Ich verstand nicht, was vorging, das ist meine einzige Entschuldigung, doch die Beklemmung, die ich deinem Gesicht ablas, sprang auf mich über.
Ich weiß immer noch nicht genau, wie er es gemacht hat. Vielleicht hat er gar nicht viel machen müssen. Vielleicht hat er anfangs nichts anderes vorgehabt als das, was er uns sagte, und hat den Gedanken, dich zu töten oder töten zu lassen, erst später gefaßt, als ihm klar wurde, sein trickreiches Vorgehen würde sein Problem nicht lösen. Vielleicht hat er die Trauer um seinen Sohn später nicht einmal vorgetäuscht. Wenn beides möglich gewesen wäre, an der Macht bleiben und dich behalten, so hätte er gerne beides gehabt, Bruder. Der Augenblick, da er erkannte, beides war nicht möglich, muß ihn das Grauen gelehrt haben. Aber dann wählte er, wie es ihm entsprach, die Macht. Und als ihr Mittel die Einschüchterung.
Vielleicht hat einer seiner Günstlinge den Frauen einen Wink gegeben, dieser fanatischen Gruppe alter Weiber, deren Lebenssinn es war durchzusetzen, daß wir in Kolchis in jeder winzigsten Einzelheit so leben sollten wie unsere Vorfahren. Wir nahmen sie nicht ernst, das war ein Fehler, auf einmal stellte sich in Kolchis eine Kräfteverteilung her, die diesen Weibern günstig war, so daß sie ihre Stunde für gekommen hielten und, entzückt von der neuerlichen Anwendung der alten Gesetze durch den König, nun auch alle vorgeschriebenen Konsequenzen vollzogen sehen wollten; denn nur einer konnte überleben, der König oder sein Stellvertreter, und als es Mitternacht war, dein Tag als König, Bruder, beendet, da sind sie, durch einen Eingang, der in jener Nacht merkwürdigerweise nicht bewacht wurde, was sie merkwürdigerweise wußten, in deine Gemächer eingedrungen, wo sie dich ungeschützt im Bad finden und unter Absingen ihrer schauerlichen Gesänge töten konnten. So ist es Brauch gewesen in den alten Zeiten, auf die auch wir uns ja berufen hatten, weil wir uns einen Vorteil davon versprachen. Und seitdem ist mir ein Schauder geblieben vor diesen alten Zeiten und vor den Kräften, die sie in uns freisetzen und derer wir dann nicht mehr Herr werden können. Irgendwann muß aus diesem Töten des Stellvertreterkönigs, das alle guthießen, auch er selbst, irgendwann muß daraus Mord geworden sein, und wenn dein furchtbarer Tod mich etwas gelehrt hat, Bruder, dann dies, daß wir nicht nach unserem Belieben mit den Bruchstücken der Vergangenheit verfahren können, sie zusammensetzen oder auseinanderreißen, wie es uns gerade paßt. Dadurch, daß ich das nicht verhinderte, daß ich es noch beförderte, habe ich zu deinem Tod beigetragen. Agameda meinte etwas anderes, als sie es mir neulich vorwarf, und doch wurde ich blaß. Ich werde jedesmal blaß, wenn ich an dich denke, Bruder, und an diesen Tod, der mich aus Kolchis wegtrieb. Agameda hat keine Ahnung. Haß macht blind. Aber warum haßt sie mich. Warum werde ich gehaßt.
Ob sie mir meinen Unglauben anspüren, meine Glaubenslosigkeit. Ob sie das nicht ertragen. Als ich über den Acker lief, über den sie deine zerstückelten Gliedmaßen gestreut hatten, die wahnsinnigen Weiber, als ich heulend in der einfallenden Dunkelheit über diesen Acker lief und dich einsammelte, armer geschundener Bruder, Stück für Stück, Bein um Bein, da hörte ich auf zu glauben. Wie sollten wir in neuer Gestalt auf diese Erde zurückkommen können. Warum sollten die über das Feld verstreuten Glieder eines toten Mannes dieses Feld fruchtbar machen. Warum sollten die Götter, die andauernd Beweise von Dankbarkeit und Unterwerfung von uns verlangen, uns sterben lassen, um uns dann wieder auf die Erde zurückzuschicken. Dein Tod hat mir die Augen aufgerissen, Absyrtos. Zum erstenmal fand ich Trost darin, daß ich nicht immer leben muß. Da konnte ich diesen aus Angst geborenen Glauben loslassen; richtiger, er stieß mich ab.
Ich habe noch niemanden getroffen, mit dem ich darüber sprechen könnte. Hier fand ich einen, der glaubt so wenig wie ich: Akamas, aber der steht auf der anderen Seite. Wir wissen viel voneinander. Ich sage ihm, nur mit den Augen, daß ich seine tief eingefressene Gleichgültigkeit durchschaue, die nur seine eigene Person ausläßt, er sagt mir, nur mit den Augen, daß er meinen tief eingefressenen Zwang, mich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, unreif und komisch findet. Und in letzter Zeit gefährlich. Er warnt mich, nur mit den Augen, ich aber stelle mich ahnungslos. Ich will es jetzt wissen.
Ich bin mit Jason gegangen, weil ich in diesem verlorenen, verdorbenen Kolchis nicht bleiben konnte. Es war eine Flucht. Nun habe ich den gleichen Zug von Anmaßung und Furcht, den unser Vater Aietes zuletzt zeigte, im Gesicht des Königs Kreon von Korinth gesehen. Unser Vater konnte mir nicht in die Augen blicken bei den Totenritualen für dich, seinen geopferten Sohn. Dieser König hier hat keine Gewissensbisse, wenn er seine Macht auf einen Frevel gründet, er sieht jedem frech ins Gesicht. Seit Akamas mich mitgenommen hat, über den Fluß, in die Totenstadt, wo die reichen und angesehenen Korinther in prunkvoll ausgestatteten Grabkammern bestattet werden. Seit ich gesehen habe, was sie ihnen mitgeben, damit sie den Weg ins Totenreich überstehen, wohl auch, damit sie sich den Zutritt erkaufen können, Geld, Schmuck, Nahrung, sogar Pferde, manchmal auch Dienstboten, seitdem kann ich dieses ganze herrliche Korinth nur noch als das vergängliche Gegenbild zu jener ewigen Totenstadt sehen, und mir scheint, sie regieren auch hier, die Toten. Oder es regiert die Angst vor dem Tod. Und ich frage mich, hätte ich nicht in Kolchis bleiben sollen.
Aber jetzt holt Kolchis mich ein. Deine Knochen, Bruder, habe ich ins Meer geworfen. In unser Schwarzes Meer, das wir liebten und das du, da bin ich sicher, als dein Grab hättest haben wollen. Im Anblick der Schiffe aus Kolchis, die uns verfolgten, und im Angesicht unseres Vaters Aietes stand ich auf der »Argo« und warf dich stückweis ins Meer. Da ließ Aietes die kolchische Flotte abdrehen, zum letzten Mal sah ich das vertraute Gesicht, versteint vom Schrecken. Auch meinen Argonauten ist dieses Bild in die Glieder gefahren: eine Frau, die unter wilden Schreien die Knochen eines Toten, die sie bei sich trug, gegen den Wind ins Meer wirft. Ich müsse mich nicht wundern, meint Jason, wenn ihnen das Bild jetzt wieder einfällt und sie unsicher macht, was sie denken sollen, so daß sie nicht als Zeugen für mich auftreten wollen. So traut ihr mir zu, habe ich ihn gefragt, daß ich meinen eigenen Bruder getötet, zerstückelt und dann in einem Fellsack mit auf die Reise genommen habe? Er wand sich, mein guter Jason. Er ist mir die Antwort schuldig geblieben.
All die Jahre über, Bruder, habe ich nicht von dir träumen können. Jetzt sind, mit den Erinnerungen, auch meine Träume erwacht. Nacht für Nacht schäumt die See noch einmal hoch auf, Nacht für Nacht verschlingt sie noch einmal deine Gebeine, Nacht für Nacht vergieße ich endlich die Tränen, die ich dir damals schuldig blieb. Und Nacht für Nacht ertasten meine Fingerspitzen die feinen Knöchelchen, die ich in jener Höhle unter dem Palast fand, den schmalen Schädel, das kindliche Schulterblatt, die zerbrechliche Wirbelsäule. Iphinoe. Sie ist mehr deine Schwester, als ich es je sein konnte. Wenn ich in Tränen erwache, weiß ich nicht, habe ich um dich geweint, Bruder, oder um sie.
Ich weiß, die Argonauten versuchten Jason zu bereden, mich dem Vater auszuliefern. Ich hatte ihnen durch meine unüberlegte Flucht die kolchische Flotte auf den Hals gehetzt. Es war dicht davor, daß sie mich über Bord warfen, damit die Verfolger, meine Kolcher, mich auffischten. Jason hielt sich wacker. Ich stünde unter seinem Schutz. Es war mir neu, unter dem Schutz eines Mannes zu stehen. Er war verwirrt und unsicher. Seine Leute fingen an, von Entsühnung zu reden. Es wäre hilfreich, wenn wir etwas täten, um die Götter über den Tod des Absyrtos zu beruhigen, und wenn wir meine Flucht aus Kolchis und Jasons Mithilfe dabei in diese Entsühnung mit einbezögen. Ich wehrte mich gegen dieses Ansinnen, das ein Eingeständnis von Schuld in sich barg, aber ich sah, wie dringend Jason dieser Entsühnung bedurfte. Wir waren gerade in der Nähe der Insel, auf der Kirke, meiner Mutter Schwester, seit vielen Jahren lebte. Lyssa erinnerte mich daran, plötzlich erinnerte auch ich mich an einen wilden roten Haarbusch, warum eigentlich nicht, dachte ich, warum nicht diese Verwandte einmal wiedersehen, deren Ruf als Zauberin weit über ihre Insel hinausgedrungen war. Auch die Argonauten hatten von ihr gehört und weigerten sich, mit Jason und mir zu gehen, es hieß, Kirke verzaubere Männer in Schweine. Sie steuerten eine verborgene Bucht an und setzten uns aus.
Wir trafen die Frau am Ufer, sie wusch ihr flammend rotes Haar und ihr weißes Gewand im Meer, wir sahen in ihr zerklüftetes, furchterregendes Gesicht, sie schien zu wissen, wer da kam, sie hatte uns erwartet, sie sagte, während wir zu der Ansammlung von Holzhäusern im Innern der Insel gingen, in der sie mit einer Schar von Frauen wohnte, sie habe diese Nacht von Strömen von Blut geträumt, die auch über sie gekommen seien, und sie habe sich im Meer von diesem Blut reinigen müssen. Wir schwiegen, wie es diejenigen tun sollen, die zur Entsühnung kommen, wir hockten uns an ihren Herd und bestrichen unsere Gesichter mit Asche, dir zum Gedenken, Bruder. Kirke legte sich das weiße Priesterinnenband um die Stirn und nahm den Stab in die Hand, dann wollte sie wissen, welche Bluttat wir zu sühnen hätten, ich sagte, den Tod des Bruders. Absyrtos, sagte Kirke mit tonloser Stimme. Ich nickte. Unglückliche, sagte sie. Mich befiel eine unlöschbare Trauer, die jetzt wieder erwacht, wie auch mein Gedächtnis aufgerissen wird und all diese Erinnerungsbrocken auf einmal freiliegen, so wie jedes Jahr neue Steine auf dem Acker nach oben getrieben werden.
Kirke bespritzte uns mit dem Blut eines frisch geschlachteten Ferkels und murmelte dazu den Spruch, Blut soll von Blutschuld reinigen. Sie ließ uns aus verschiedenen Bechern trinken. Darauf schlief Jason ein, ich wurde hellwach. Wir hatten zwei Stunden. Die Zeit kam mir endlos vor, Kirke sagte mir so vieles, nachdem ich ihr erzählt hatte, warum ich Kolchis verlassen mußte, sie gab mir das Gefühl, daß sie meine Vorläuferin, ich ihre Nachfolgerin war, denn auch sie war vertrieben worden, als sie mit ihren Frauen ernsthaft gegen den König und seinen Hofstaat auftrat, sie hetzten die Leute gegen Kirke auf, lasteten ihr Verbrechen an, die sie selbst begangen hatten, und brachten es fertig, ihr den Ruf einer bösen Zauberin anzuhängen, ihr alles Vertrauen zu entziehen, so daß sie nichts, gar nichts mehr tun konnte. Ihre letzte Heilung, das hatte ich auch nicht gewußt, Bruder, vollbrachte sie an der Mutter und dir, du wärst unter der Geburt beinahe erstickt, weil die Mutter nicht mehr die Kraft hatte, dich aus sich herauszupressen. Da hat Kirke mit ihren schmalen kräftigen Händen in sie hineingegriffen, hat dich gedreht, so daß dein Kopf zuerst austreten konnte, und hat dich geholt, und dann hat sie eine Nacht lang mit allen Mitteln, die sie kannte und die sie mir weitersagte, versucht, Idyas Blut zu stillen. Der Mutter Lebenswille sei fast erloschen gewesen, da habe sie, Kirke, ihr dich auf die Brust gelegt, ein winziges Bündel, und sie angeschrien, dieses Kind werde sterben, wenn sie, die Mutter, verblute. Nach kurzer Zeit hörte die Blutung auf. Dein Tod, Bruder, ging ihr nahe. Kolchis hatte sie aufgegeben.
Sie kannte mehr von der Welt als wir. Sie mußte sich von ihrer Insel nicht wegrühren, man kam zu ihr, die Schiffe vieler Herren Länder befuhren diesen Teil des Mittelmeeres, in den Hafenkneipen an allen Küsten erzählten sie sich von Kirke. Weißt du, was sie suchen, Medea? fragte sie mich. Sie suchen eine Frau, die ihnen sagt, daß sie an nichts schuld sind; daß die Götter, die sie zufällig anbeten, sie in ihre Unternehmungen hineintreiben. Daß die Spur von Blut, die sie hinter sich herziehen, zu ihrem von den Göttern bestimmten Mannsein gehört. Große schreckliche Kinder, Medea. Das nimmt zu, glaub mir. Das greift um sich. Auch dein Junge da, an den du dich gehängt hast, bald wird er sich an dich klammern. Das Übel sitzt schon in ihm. Aber Verzweiflung ertragen sie alle nicht, zum Verzweifeln haben sie uns abgerichtet, einer muß ja trauern, oder eine. Wenn sie nur noch von Schlachtenlärm und Geheul und dem Wimmern der Niedergeschlagenen erfüllt sein würde, dann bliebe sie einfach stehen, die Erde, meinst du nicht.
Wie habe ich das alles so lange vergessen können. Erst jetzt fällt mir wieder ein, ich bat Kirke darum, bei ihr bleiben zu dürfen, bei ihr und den Frauen. Einen Lidschlag lang lebte ich ein Leben an ihrer Seite, auf dieser Insel, unter diesem göttlichen Licht. Die Schiffe kamen und gingen, Männer kamen und gingen, getröstet, geheilt oder auch nicht. Kirke dachte das gleiche im gleichen Augenblick. Dann sagte sie, ich dürfe nicht bleiben. Ich sei eine von denen, die inmitten dieser Leute leben, die erfahren müßten, woran wir wirklich mit ihnen sind, und die versuchen müßten, ihnen die Angst vor sich selber zu nehmen, die sie so wild und gefährlich mache. Und sei es nur bei diesem einen da, dem Jason.
Wie habe ich das alles vergessen können. Ja, sagte Kirke auf meine Frage und lachte dazu, es sei schon vorgekommen, daß sie eine Horde Männer als Schweine von der Insel gejagt habe, das, habe sie gedacht, könne ihnen vielleicht zu einem Funken Selbsterkenntnis verhelfen. Weißt du was, Medea, sagte Kirke zu mir, weißt du, was ich glaube? Ich werde mit der Zeit wirklich böse werden. Nach und nach werde ich böse werden und nur noch fluchend am Ufer stehen und keinen mehr auf die Insel lassen, es läuft ja die ganze Bosheit und Gemeinheit und Niedertracht, die sie über mich ausschütten, nicht einfach wie Wasser an mir ab.
Wie konnte ich das vergessen. Wie konnte ich vergessen, daß auch ich mir gewünscht habe, ich möge im rechten Moment böse werden, wirklich böse. Und jetzt, Absyrtos, wäre dieser rechte Moment.
Leider bin ich nur fassungslos. Weil alles so durchsichtig ist, so leicht durchschaubar. Weil ihnen das gar nichts ausmacht. Weil sie mir mit eiserner Stirn ins Gesicht sehen können, während sie lügen, lügen, lügen. Nicht lügen können ist eine schwere Behinderung. Mir fällt unser Kinderspiel ein, Bruder, wir wollten lügen lernen. Wer von uns der Mutter oder dem Vater eine bestimmte Lüge so treuherzig auftischen konnte, daß sie sie glaubten, hatte gewonnen. Meistens wurden wir lachend weggeschickt, wir waren beide nicht besonders gut in diesem Spiel. Die hier, Absyrtos, sind Meister im Lügen, auch im Sich-selbst-Belügen. Von Anfang an habe ich mich gewundert über die Verhärtungen an ihren Körpern. Daß ich nichts spürte, wenn ich meine Hand auf ihren Nacken, ihren Arm, ihren Bauch legte, kein Fließen, Strömen. Nichts als Härte. Wie lange ich brauchte, diese Härte aufzutauen, wie unwillig sie waren, wie sie sich wehrten. Wie sie sich gegen Mitgefühl wehrten. Wie sie sich dann manchmal in Tränen auflösten, gestandene Männer. Wie sie oft nicht wiederkamen, mich nicht zu sich ließen, weil sie sich schämten. Ich mußte das erst begreifen lernen, Jason half mir dabei.
Er war ein herrlicher Mann. Sein Gang, seine Haltung, das Spiel seiner Muskeln bei den Manövern auf dem Schiff – ich mußte ihn immer ansehen, und als einige seiner Argonauten von den Kolchern verwundet waren, haben Jason und ich sie versorgt, er wußte Bescheid, auch er kannte die Griffe, die Heilmittel. Näher bin ich ihm nie gewesen als in jener Nacht, da wir Hand in Hand arbeiteten, uns ohne Worte verständigten. So hatte ich nichts dagegen, seine Frau zu werden, und nicht nur, weil der König auf Korkyra, wo wir Zuflucht gesucht hatten, mich sonst an die zweite Kolchische Flotte ausgeliefert hätte, die Befehl hatte, nicht ohne mich nach Hause zu kommen. So vollzogen wir noch in der Nacht die vorgeschriebenen Hochzeitszeremonien und hielten das Beilager, in der Grotte der Makris, der alten Göttin, unter deren Schutz ich mich inständig begab, und ich legte meinen Schmuck auf ihrem Altar nieder. Ich habe seitdem keinen Schmuck mehr getragen, das war mein Gelübde an die Göttin, sie verstand mich. Ich legte meinen Rang ab. Ich war eine gewöhnliche Frau, in ihrer Hand. So gab ich mich Jason hin, ohne Rückhalt, und band ihn dadurch an mich. Ich weiß noch, wie ich in seine Schultern griff, als er auf mir lag, wie ich jeden einzelnen Muskel fühlte, seine Anspannung, sein glückliches Erschlaffen. Und wie weh mir wurde, als sich auch seine Schultern, wie die der anderen Männer von Korinth, allmählich verhärteten. Wie er aufhörte, darunter zu leiden. Ein Mann bei Hofe wurde. Für euch, sagte er. Für dich und die Kinder. Daß sie dich hier sein lassen. Da sagte er schon euch, nicht mehr uns, das war der Schnitt. Ein Schmerz, der nicht vergehen will.
König Kreon kann versuchen, mich zu beleidigen und mich einzuschüchtern, indem er seine steinerne Miene aufsetzt, gruß- und blicklos an mir vorbeigeht. Es läßt mich kalt. Akamas mag auf mich einreden, ich solle die Suche nach diesem Toten aufgeben, auf den ich in der Höhle gestoßen sei, dann würde das Gerücht, ich hätte meinen Bruder umgebracht, von selbst wieder einschlafen; da sage ich, woher er denn wisse, daß dieser Tote ein Mann gewesen sei. Dann wird er blaß und beißt seine Zähne aufeinander, daß seine Backenknochen hervortreten, und fragt mich, drohend: Was weißt du, Medea. Ich schweige.
Aber wenn Jason, außer sich vor Angst und Sorge, mich das gleiche fragt und wenn auch er versucht, mich zum Verstummen zu bringen, dann läßt mich das nicht kalt. Dann sage ich ihm, was ich weiß: Daß da in der Höhle die Gebeine eines Mädchens liegen, eines Kindes fast, in deinem Alter, Bruder. Und daß es die Knochen der Königstochter sind, der ersten Tochter von König Kreon und der Königin Merope, der stummen Königin, die zu mir gesprochen hat, als ich sie in ihrem finsteren Gemach besuchte und nur noch ein Ja oder Nein brauchte auf meine Frage, die der Wahrheit schon auf der Spur war. Die Antwort kam aus schmalen Lippen. Er hat es befohlen, sagte Merope. Er hat sie aus dem Weg haben wollen, Iphinoe. Er hatte Angst, wir würden sie an seine Stelle setzen. Und das wollten wir auch. Wir wollten Korinth retten.
Die Kälte, die ich spürte, verläßt mich nicht mehr. Eine der knochigen Mägde brachte mich hinaus. Ich irrte in den Höfen des Palastes herum, den Stein in der Brust, den ich nicht mehr loswerde. Sie hatten Korinth retten wollen. Wir hatten Kolchis retten wollen. Und ihr, dieses Mädchen Iphinoe und du, Absyrtos, ihr seid die Opfer. Sie ist mehr deine Schwester, als ich es je sein kann.
Ich hätte Kolchis nicht verlassen müssen. Nicht dem Jason zu seinem Vließ verhelfen. Nicht die Meinen zum Mitkommen überreden. Nicht diese lange schlimme Überfahrt auf mich nehmen, nicht all diese Jahre als halb gefürchtete, halb verachtete Barbarin in Korinth durchleben. Die Kinder, ja. Aber was werden sie vorfinden. Auf dieser Scheibe, die wir Erde nennen, gibt es nichts anderes mehr, mein lieber Bruder, als Sieger und Opfer. Nun verlangt es mich zu wissen, was ich finden werde, wenn es mich über ihren Rand hinaustreibt.