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Das Fest hat sämtliche rituellen Charakteristiken verloren, und es geht insofern schlecht aus, als es zu seinen gewalttätigen Ursprüngen zurückfindet. Es ist kein Hindernis mehr für die bösen Kräfte, sondern deren Verbündeter.

René Girard, ›Das Heilige und die Gewalt‹

Medea

Ich warte. Ich sitze in der fensterlosen Kammer, die man mir angewiesen hat, und warte. Vor der Türöffnung, durch die ein Schimmer von Licht hereinfällt, stehen zwei Wachen, mit dem Rücken zu mir. In der großen Halle sitzen sie über mich zu Gericht.

Jetzt ist alles klar. Sie meinen mich. Ich hätte nicht zu ihrem Opferfest gehen dürfen, sagt Lyssa, das sei der reine Hochmut gewesen. Ich widersprach ihr nicht mehr wie an dem Morgen, wann war das, gestern, vorgestern, vor drei Tagen, als ich früh erwachte und mich bereit fand, die Einladung der Artemis-Priesterinnen anzunehmen und als Fremde zum großen Frühlingsfest der Korinther zu gehen. Hochmut? Ich weiß nicht, eher etwas wie Zuversicht, die ich an jenem Morgen verspürte. Kraft zur Versöhnung. Eine ausgestreckte Hand, dachte ich, warum sollten sie sie verschmähen. Heute weiß ich warum. Weil sie ihre Angst nur durch Raserei gegen andere mildern können.

Es war ein schöner Morgen. Ein Traum, der sich beim Erwachen auflöste, hatte ein Schleuse geöffnet, ein Wohlsein strömte in mich ein, ohne Grund, aber so ist es ja immer. Ich warf das Schaffell zurück, unter dem ich geschlafen habe, seit ich von Kolchis wegging, sprang von meinem Lager auf, die Kälte des Lehmfußbodens gab mir einen Schlag, genußvoll setzte ich einen Fuß vor den anderen, streckte die Arme, drehte mich um mich selbst, stellte mich in das noch matte Licht, das von der Tür her einfiel. Da schwamm sie, die Mondsichel, im Nachtblau, eine leicht geneigte offene Schale, abnehmend, mich erinnernd an meine abnehmenden Jahre, meine kolchische Mondin, mit der Kraft begabt, die Sonne jeden Morgen über den Rand der Erde heraufzuziehen. Und jeden Morgen die Bangigkeit, ob die Gewichte noch stimmen, ob ihr Einklang nicht über Nacht gestört, ihre vorgeschriebenen Bahnen nicht um ein weniges verrückt wurden und dadurch der Erde eine jener Schreckenszeiten bevorstehe, von denen die alten Geschichten reden. Für diesen Tag aber sollten die guten Gesetze noch gelten, die den Lauf eines Gestirns an den aller anderen binden, freudig sah ich, wie der nächtliche Horizont sich allmählich mit Tageshelle auffüllte. Dieser Tag jedenfalls würde sein wie der davor und wie der danach, auch die genauen Instrumente meines Leukon würden die winzige Spanne nicht messen können, um die der Bogen, den die Sonne über Korinth beschreibt, sich dem Scheitelpunkt nähern würde, den er zur Sommersonnenwende erreicht haben wird.

Dann werde ich nicht mehr hier sein. Weder Helion, der Sonnengott, noch meine liebe Mondgöttin werden davon Notiz nehmen. Schwer, langsam, aber endgültig habe ich mich von dem Glauben gelöst, daß unsere menschlichen Geschicke an den Gang der Gestirne geknüpft sind. Daß dort Seelen wohnen, ähnlich den unseren, die unser Dasein betrifft, und sei es, indem sie die Fäden, die es halten, mißgünstig verwirren. Akamas, des Königs oberster Astronom, denkt wie ich, das weiß ich seit einem Blickwechsel bei einer Opferfeier. Wenn wir uns auch beide verstellen, so doch aus verschiedenen Gründen und auf verschiedene Weise. Aus abgrundtiefer Gleichgültigkeit gegenüber jedermann gibt er sich als der eifrigste unter allen Dienern der Götter, ich, indem ich mich, so oft ich kann, den Ritualen entziehe, aber schweige, wenn ich an ihnen teilnehmen muß, aus Mitleid mit uns Sterblichen, die wir, wenn wir die Götter entlassen, eine Zone des Grauens durchqueren, der nicht jeder entkommt. Akamas denkt, er kennt mich, aber seine Selbstverblendung hindert ihn, irgend jemanden zu kennen, am wenigsten sich selbst. Jetzt will er sich an meiner Angst weiden. Ich muß meine Angst eindämmen. Ich darf nicht aufhören zu denken.

An jenem Morgen, dessen Einzelheiten so kostbar geworden sind, hörte ich, wie Lyssa nebenan in die Asche blies, wie die Flamme knisternd nach den Olivenästchen griff, die sie sorgsam geschichtet hatte, wie sie den Wassertopf auf die Herdstelle rückte und begann, den Teig für die Gerstenfladen mit klatschenden Schlägen weich und schmiegsam zu machen. Auf den Schilfmatten, die sie geflochten hatte und die meinen Füßen gut tun, ging ich zu der Truhe mit meinen Habseligkeiten, unter ihnen das weiße Kleid, das ich in Kolchis zu den hohen Festen trug, das sie, Lyssa, für mich mitgenommen hat und das ich in letzter Zeit kaum noch angezogen habe. Ich nahm es heraus, schüttelte es glatt, betastete es. Vielleicht war es dünnfädiger geworden im Lauf der Jahre, doch es war in gutem Zustand, unverschlissen. Ich mußte lachen, wie ich da nackt auf der Matte stand, mich zuerst mit Blicken, dann mit den Händen abtastete, nicht mehr junges, doch immer noch festes Fleisch, das aufblühte unter Oistros Händen, nicht mehr schlank, schwerer in den Hüften, meine Hände mußten die Brüste anheben, doch meine Haut hatte die schöne dunkle Bräune behalten, meine Hand- und Fußgelenke waren schmal geblieben, Fesseln wie eine Geiß, sagt Oistros, und mein Haar war wieder kraus und füllig wie eh und je. Wenige Wochen war es her, daß ich mir meine Haare in Büscheln von der Kopfhaut ziehen konnte und daß sie in Mengen in der Eselsmilch schwammen, mit der Lyssa sie mir spülte, wir wußten beide, kein Mittel half gegen den Kummer, der mir die Haare nach meinem schweren Fieber vom Kopf löste und über den ich nicht sprechen konnte. Es war ein Lebensschmerz, der nicht nur mich betraf, auch nicht nur die arme Iphinoe, deren Gebeine in der Höhle ihn ausgelöst hatten, ein Gefühl, das sich in mir ausbreitete und tiefer, düsterer wurde, gesteigert durch den Haß der Agameda, die Verräterei des Presbon und die Skrupellosigkeit des Akamas, die alle zusammen die dumpfe Menge gegen mich aufhetzten. Die Wende kam, als sie mich durch die Straßen trieben. Auf einmal wußte ich, daß ich leben wollte. Und dann Oistros. Oistros ist ein starker Anlaß. Ich erlebe diese Wiedergeburt aus Liebe nicht zum erstenmal, auch mein Haar hält nun wieder an mir fest. Sie könnten mich an meinen Haaren durch die Stadt schleifen.

Nachdem ich mein Gesicht, dann die Arme in die Schüssel mit dem Quellwasser getaucht hatte, streifte ich das Kleid über, prüfte seinen lockeren Fall, band das Haar mit der weißen Binde der Priesterin zurück, wie es dem Festtag entsprach, und ging zu Lyssa hinüber, die mit dem Rücken zu mir am Herd die erste Portion Fladen buk, die jenen würzigen, leicht brenzligen Geruch verbreiteten, der bei uns zu Hause die Feiertage ankündigte. Auch für die Kolcher und Kolcherinnen brach das Frühlingsfest an, aber hier erzeugen unsere Bräuche, auch wenn wir sie pünktlich, vielleicht allzu pünktlich befolgen, nur einen schwachen Abglanz jener Festtagsstimmung, aus der heraus sie in Kolchis immer wieder neu geboren wurden. Und doch war dieser schwache Abglanz besser als nichts, so fühlen die meisten, und ich mische mich nicht in ihre Gefühle ein.

Lyssa wandte sich um, sah mich in meiner Festkleidung, erschrak. Ob ich so heute gehen wolle. Ja. Aber wohin? Zum Artemis-Fest der Korinther. Lyssa schwieg. Ich sah sie genauer an, sie war älter geworden, rundlicher, zugleich fester. Sie ist es ja, die jede Einzelheit unserer manchmal komplizierten Rituale in ihrem Gedächtnis aufbewahrt, sie an die Jüngeren weitergibt und unerschütterlich auf ihrer Einhaltung besteht. Nie konnte sie es billigen, wenn eine Kolcherin, wenn ausgerechnet ich zu einem großen Fest der Korinther ging, nie würde sie meinen Grund dafür anerkennen, nie zugestehen, daß eine versöhnliche Haltung uns Kolchern nützen könnte. Sie sagte bitter, ich entferne mich ganz umsonst von den Kolchern, die Korinther würden mir das nie danken. Sie hat recht behalten, und ich habe mich getäuscht. Und doch müßte ich wieder das gleiche tun. Ich würde wieder hier enden, in diesem elenden Raum, in dem die Luft mir knapp wird, getrennt von allen, von Lyssa und meinen Kolchern, von Oistros und Arethusa, von den Korinthern, die über mich zu Gericht sitzen, und auch von Jason und meinen und seinen Kindern. So hat es kommen müssen.

Der Duft der frischen Fladen trieb meine Jungen herein, wie zwei Fohlen, die Heu wittern, sagte ich, und sie verbündeten sich sofort mit Lyssa, von wegen Heu, schrien sie, und lustvoll spielten wir noch einmal die Rollen, die wir so viele Male gespielt hatten, die drei gegen mich, unsere Stimmen stritten, unsere Augen lachten. Dann nahmen die Knaben meinen Aufzug wahr, verstummten, umkreisten mich, befingerten den Stoff meines Kleides, schnalzten bewundernd, das tat mir gut, wie lange konnte die Bewunderung dieser Kinder noch der Mutter gelten.

Dann zerrissen sie den ersten Fladen, stopften ihn sich in die Münder, auch ich bekam Heißhunger, begann zu essen, dabei blickte ich mich in der Küche um, sah jedes Stück so deutlich wie zum letzten Mal, jede Gerätschaft, das Keramikgeschirr, die Töpfe auf dem Wandbrett, den splittrigen Holztisch, Lyssas vertraute Gestalt und besonders die Kinder, die so verschieden sind, als kämen sie nicht von der gleichen Mutter. Meidos, der größere, blonde, blauäugige, zu dem Jason schon immer besonders gerne »mein Sohn« gesagt hat, mit dem er stundenlang über Land reitet und auf den er die Entfremdung, die sich zwischen uns ausgebreitet hat, nicht überträgt. Und ich vermeide es, diesem Kind die helle Bewunderung für seinen Vater zu trüben, diesen Schmerz halte ich fest am Zügel. Pheres dagegen, mein Kleiner, rund und fest wie ein braunes Nüßchen, nach Gras riechend, wollhaarig, dunkeläugig, hingegeben dem Genuß des Essens wie jeder anderen Tätigkeit, jedem Spiel, mit diesem gesammelten Gesicht, das ich an ihm so liebe, mit dem schnellen Wechsel von Licht und Schatten auf seinen Zügen, mit seiner Fähigkeit, von einem Augenblick zum anderen von Ernst in Übermut zu fallen, trostlos zu weinen und vor Lachen außer sich zu sein. Sie bestürmten mich beide, ich solle sie mitnehmen zum Fest, ich gebrauchte eine Ausrede. Sie wollte ich beim Fest der Korinther nicht dabeihaben.

Vielleicht ist es eine gnädige Fügung, daß uns ein Hochgefühl überkommt, wenn wir vor dem Abgrund stehen. An jenem Morgen waren alle Lasten von mir abgefallen, ich lebte, meine Kinder waren gesund und heiter und hingen an mir, ein Mensch wie Lyssa würde mich nie verlassen, die bescheidene Hütte umschloß etwas wie Glück, ein Wort, das mir viele Jahre nicht mehr in den Sinn gekommen war. Vielleicht wird dem, der geduldig ist und warten kann, für jeden Verlust ein Gewinn, für jeden Schmerz eine Freude geschenkt, solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, während ich, unter den vielen Korinthern, die zum Opferfest wollten, die Straße zum Artemis-Tempel hinaufstieg.

Aber was soll das. Was zwingt mich, gerade jetzt, gerade hier, mir diesen Morgen, der ein Zeitalter zurückzuliegen scheint, Stück für Stück wieder heraufzuholen. Durch die Türöffnung habe ich sie eben alle an mir vorbeiziehen sehen, habe ihre Schritte näher kommen hören, die Wachen neben meiner Tür, lächerlicherweise mit einem Speer bewaffnet, diese jungen verlegenen Männer hätten mir die Aussicht auf die Näherkommenden versperren können, sie taten es nicht. Ich sah sie alle. König Kreon mit verkniffenem Gesicht, in seinem Gerichtsmantel, umgeben von seinen persönlichen Wächtern und gefolgt von den Ältesten, die das Recht haben, Urteile zu fällen. Die Zeugen, unter ihnen der Oberpriester der Artemis, auch der unglückselige Presbon natürlich, in dessen Händen der reibungslose Ablauf des Festes gelegen hatte, den ich gestört haben soll. Und dann, als eine der wenigen Frauen, Agameda. Sie war die einzige, die einen Blick in mein Verlies warf, einen hochmütigen, triumphierenden, haßerfüllten Blick. Sie könnten mich vor ihren Augen in Stücke schneiden, ihren Haß würde sie nicht loswerden. Als letzte kamen Jason und Glauke, mein Herz machte einen Sprung. Er hielt mit der Hand ihren Oberarm umspannt und führte sie, die bleich und angegriffen aussah, beide blickten unverwandt geradeaus, beide hatten ihre Lippen aufeinandergepreßt. Was für ein Paar. He Jason, hätte ich am liebsten gerufen mit dem Rest meines früheren Übermuts, wohin bist du geraten. Es stimmt also, was man sich über ihn erzählt, er wird die arme Glauke zur Frau nehmen und nach Kreons Tod über Korinth herrschen. Sie müssen mich loswerden, sie haben keine Wahl.

Ich war ruhig, während ich zum Heiligtum hinaufstieg. Ich mußte es tun, das macht mich immer ruhig, sogar jetzt, obwohl diese Ruhe eher eine Starre ist. Die schöne grausame Stadt Korinth. Ich nahm sie noch einmal wahr, das letzte Mal, sagte etwas in mir, oder bilde ich mir das jetzt ein. Ich lief unter festlich gekleideten Menschen, viele kannten mich, manche grüßten, die meisten sahen weg, es war mir gleichgültig. Viele trugen das Abzeichen der Trauer an ihrer Kleidung, die Pest hatte kaum eine Familie verschont, daß sie abflaue, war eine Zweckmeldung aus dem Palast. Je höher wir kamen, um so deutlicher sahen wir die Landschaft um die Stadt, Frühlingsgrün, das bald verdorren würde, und wir sahen die Karren, die die Leichen der letzten Nacht zum Fluß brachten, und die Nachen, die sie übersetzten in die Totenstadt. Niemand wollte auf die Totenfuhren achten. Mir war das Gold der Türme von Korinth wie ein Vorschein des Todes, und die Herde der zwanzig Stiere, die zum Opfer bestimmt waren und auf einem anderen Weg den Berg hinaufgetrieben wurden, ihr angstvolles Brüllen, das zu uns herüberdrang, kam mir wie ein Unheilszeichen vor. Je näher wir dem Tempelbezirk kamen, desto mehr schwand das Wohlgefühl dieses Morgens, die Bedrückung, die über dem Menschenzug lag, senkte sich auch auf mich. Waren wir nicht alle Opfer, zur stillen Duldung gebrachte Opfer, die zur Schlachtbank trotteten. Ich sagte mir, ich bin Medea, die Zauberin, wenn ihr es denn so wollt. Die Wilde, die Fremde. Ihr werdet mich nicht klein sehen.

Und doch. Jetzt, auf meiner Wartebank in dieser Kammer, die schon dem Verlies gleicht, in das sie sich schnell verwandeln kann, frage ich mich, ob dieses Ende unvermeidlich war. Ob wirklich eine Verkettung von Umständen, gegen die ich machtlos war, mich auf diese Bank getrieben hat, oder ob aus mir heraus etwas, das ich nicht in der Hand hatte, mich in diese Richtung drängte. Nutzlos, jetzt darüber nachzudenken. Aber meine Vernichtung durch äußere Mächte würde ich leichter ertragen, das ist wahr. Leichter, schwerer – Worte aus einem früheren Leben.

Oistros und die liebe Arethusa, die nun auch von der Krankheit niedergeworfen wurde und die ich verlassen mußte, wir drei haben in langen nächtlichen Gesprächen unsere Erfahrungen in Korinth hin und her gewendet. Wie diese Stadt darauf angelegt ist, ihre helle, strahlende, verführerische Seite plötzlich umzukehren ins Düstere, Gefährliche, Tödliche. Wie diese ständige Gefahr die Bewohner der Stadt zwingt, Vorkehrungen dagegen zu treffen, einander in Masken zu begegnen, unter denen, wie sich gezeigt hat, eine dumpfe Wut sich anstaut. Oistros unterbrach mein Grübeln darüber, ob es an mir gewesen wäre, sie versöhnlicher zu stimmen. Weißt du, was als einziges dir geholfen hätte? sagte er. Wenn du dich unsichtbar gemacht hättest wie wir, Arethusa und ich. Im Verborgenen leben, kein Wort sagen, keine Miene verziehen, dann dulden sie dich. Oder vergessen dich. Das Beste, was dir passieren könnte. Aber das steht dir nicht frei.

Er hat recht. Was beraten sie so lange. Sind sie womöglich nicht alle einer Meinung. Gibt es doch Widerspruch. Aber von wem. Könnte es sein, daß mein lieber Jason sich ermannt und ihrem Urteil widerspricht? Aber warum sollte er das tun. Um etwas gutzumachen? Unwahrscheinlich. Einer der Wachmänner bringt mir einen Becher Wasser. Ich trinke gierig. Wie durstig ich bin. Wie ich in den Zügen des jungen Mannes nach einer Spur von Mitgefühl suche. Ich finde keine. Er tut, was man ihm aufgetragen hat. Ich finde auch keinen Abscheu in seinem Gesicht, nur Gleichgültigkeit. Die Korinther haben nach den Ausschreitungen beim Opferfest ihr Gleichgewicht wiedergefunden. An jenem Morgen, in dem langen Zug zum Heiligtum der Artemis, spürte ich eine unheilvolle Gewalt, die sich in der Menschenmenge zusammenballte, die sich Luft machte in Streitigkeiten, Rempeleien am Wegrand, mehr noch in dem verbissenen Schweigen der meisten, in ihren verkrampften Bewegungen, ihren kalten, verstörten, verschlossenen Gesichtern. Ich roch die Ausdünstung der Angst, die wie eine Wolke über dem Zug hing, ich begann, die harte Faust zu spüren, die gegen meinen Magen drückte, sie drückt auch jetzt, ich gehe dagegen an, wie ich es von Kindheit an geübt habe, ich schließe die Augen und sehe mich immer den gleichen Fluß entlanggehen, der unserem Fluß Phasis gleicht, mit seinen sanften Uferhängen, mit üppigen Pflanzen, mit Gesichtern von Menschen, die mir zugewandt sind, und der Druck der Faust läßt langsam nach. Als ich Glauke einmal diese Übung anempfahl, brach sie nach kurzer Zeit in Tränen aus, weil sie sich innerlich nicht lösen konnte von der Vorstellung, den langen öden Wüstenweg in Richtung der Totenstadt zu gehen. Ich habe ihr nicht weiterhelfen können, meine Kraft zu heilen hat mich verlassen.

Viele in dem Zug führten bescheidene Opfergaben mit sich, die Vorräte in der Stadt waren nach der Dürre des letzten Jahres fast aufgezehrt, kaum jemand hatte der Göttin mehr darzubringen als ein Ährenbündel, einen Zweig mit Oliven, ein paar getrocknete Feigen, niemand brachte ein Böckchen wie in den früheren Jahren. Die zwanzig Stiere, die vor uns auf dem Gipfel angekommen waren und unverzüglich zu den Opferaltären getrieben wurden, würden für viele das erste Fleisch seit Wochen geben. Auch ich war hungrig und ertappte mich bei dem Gedanken, später heimlich etwas von dem Opferfleisch für die Söhne beiseite zu schaffen. Hinter mir hörte ich zwei Korinther leise darüber reden, daß die Opferstiere aus den geheimen Vorräten gefüttert worden seien, die der Palast angelegt hat und deren Versteck einer der beiden zu kennen vorgab, was den anderen zu erschrecken schien, denn er beschwor seinen Gefährten, bloß niemandem etwas zu verraten, vor allem nicht ihm. Wer dieses Geheimnis besitze, ohne dazu befugt zu sein, sei des Todes. Ha, sagte der andere frech, aber ehe sie ihn schnappten, würde er es laut herausschreien, wie sie in diesen Notzeiten im Palast lebten, sein Schwestersohn sei einer der Unterköche im Königshaus, er wisse Bescheid. Aber ehe er dem zu Tode Erschrockenen noch weitere Einzelheiten aufdrängen konnte, wurde ihm das Wort abgeschnitten durch das grauenhafte Gebrüll der Stiere, das uns das Blut in den Adern stocken ließ. Alle auf einmal waren sie von geübten Opferpriestern abgestochen worden.

Ich habe viel Ungeheures gehört, niemals zuvor etwas Ungeheuerlicheres als dieses Brüllen der geopferten Kreaturen, es war, als schrien sie unser aller Not und Schmerz und unsere Anklage in den Himmel. Unser Zug war mit einem Ruck stehengeblieben. Als Stille eintrat, bewegte er sich hastig vorwärts, aufwärts, bis wir, hoch über der Tempelmauer, das Bild der Göttin sahen, Artemis. Ein Anblick, der die Korinther erschauern ließ, und das sollte er auch. Ein Ruf kam auf, schwoll an: Groß ist die Göttin der Korinther, Artemis. Ich stimmte in den Ruf nicht ein und erregte Anstoß. Eines der alten Weiber, die sich in einer eng aneinandergedrängten Gruppe schon länger in meiner Nähe herumdrückten, zischte mich an, ob ich mir zu schade sei, ihre Göttin zu preisen. Nein, sagte ich, aber das Weib wollte gar nichts hören, eine heftige Bewegung der Menge riß uns auseinander. Ein Unbehagen kam in mir auf, aber der Gedanke, umzukehren, ist mir nicht gekommen. Warum eigentlich nicht.

Agameda meint, es sei eine Form von Hochmut, auf Haß nicht mit Haß zu antworten und sich so über die Gefühle der gewöhnlichen Menschen zu erheben, die Haß genauso brauchen wie Liebe, eher mehr. So spricht sie natürlich nicht mit mir, wir gehen uns lange schon aus dem Weg, Zuträgerinnen hinterbringen mir fleißig, was sie über mich in Umlauf setzt. Auf dem Fest habe ich sie wiedergetroffen. Nur ein Wort schleuderte sie mir entgegen, als das Fest aus den Fugen geraten war, als es sich in einen brodelnden Kessel von Gewalt verwandelt hatte und sie mir im Altarhof plötzlich gegenüberstand: Scheusal.

Einzelne Worte haben sich schon immer in mir festsetzen können. Jetzt steht sie, Agameda, womöglich vor den Ältesten und sagt ihnen dieses eine Wort über mich, auf das sie gewartet haben, nach dem sie dankbar schnappen werden. Nichts Besseres kann ihnen passieren, als daß eine Kolcherin genau das über mich sagt, was sie schon lange denken. Und ich könnte ihr, Agameda, nicht einmal Falschheit vorwerfen. Was sie über mich verbreitet, das fühlt sie auch, nicht der Hauch eines Zweifels rührt sie an. Das sagte ich Oistros, der eine tiefe Abneigung gegen Agameda hat, da wurde er wütend. Ich solle mich nicht immer in die Gefühle der anderen versetzen, sagte er scharf.

Ich glaube, wir wußten beide, daß ich in der Falle saß. Auch Lyssa wußte es. Sie entließ mich heute früh mit einem tränennassen, zornigen Gesicht, ich durfte mich nicht von den Kindern verabschieden. Ich bin sicher, sie hat Arinna Bescheid gegeben. Arinna, die seit Wochen verschwunden war, über die Gerüchte umgingen, sie sei mit einer kleinen Gruppe von Frauen in die Berge gegangen. Da stand sie plötzlich, hager geworden, tiefbraun, mit verwildertem Haar. Sie forderte mich auf, mit ihr zu gehen. Sie wollte mich retten. Ich spürte einen starken Zug in mir, ihr zu folgen, in wenigen Augenblicken rollte das Leben vor mir ab, das ich dann führen würde, ein hartes Leben voller Entbehrungen, aber frei, und unter der Obhut von Arinna und den anderen jungen Frauen. Es geht nicht, Arinna, sagte ich, und sie: Warum nicht. Ich konnte es ihr nicht erklären. Komm zu dir, Medea! sagte Arinna eindringlich. So hat noch nie jemand mit mir gesprochen. Es geht nicht, sagte ich noch einmal. Arinna hob verzweifelt die Schultern, drehte sich um und ging.

Jetzt bin ich müde, ich habe kaum geschlafen. Die wüste Nacht des Festes steckt mir in den Knochen. Der Tag war ruhig verlaufen, man hatte der Göttin in großer Zeremonie die besten Stücke der Opfertiere dargebracht, man hatte ihr die Stierhoden angeheftet, in drei Reihen übereinander, Agameda, sah ich, war die einzige Kolcherin, der es gelungen war, sich unter die Mädchen aus Korinth zu mischen, die die Hoden reinigen und am Bild der Göttin anbringen durften, um sie dann als Versprechen dauernder Fruchtbarkeit durch die Straßen der Stadt zu tragen. Während die Hörner der Stiere auf der Tempelmauer befestigt wurden und man auf dem Opferberg die Feuer anzündete, über denen das Fleisch gebraten wurde, vertrieb sich das Volk die Zeit mit Tänzen, Gesang und Gaukelei. Presbon hatte Festspiele vorbereitet, wie Korinth sie noch nicht gesehen hatte, er trieb Massen von Mitwirkenden in Kostümen über die Festwiese, die den Korinthern ihre Ruhmestaten in Erinnerung riefen, er heizte eine Stimmung an, die in Raserei umschlug, als kurz vor Anbruch der Dunkelheit zwei atemlose Männer aus der Stadt heraufgehetzt kamen, Wächter, wie man an ihrer Kleidung sah. Sie brachten die Nachricht, ein Trupp von Gefangenen habe sich mit Hilfe eingeschmuggelter Waffen aus seinem Verlies befreit und, die Menschenleere auf den Straßen ausnutzend, drüben in der Totenstadt einige der reichsten Gräber erbrochen und ausgeraubt. Nach einer Totenstille brach ein Geheul unter den Feiernden aus, das schon lange auf seinen Anlaß gewartet hatte. Es kam, wie es kommen mußte. Die Menge suchte nach Opfern, um ihren Rachedurst zu stillen. Unschlüssig wogte sie hierhin und dorthin, mit Schrecken dachte ich daran, daß einige Kolcherinnen mir gefolgt waren, aber sie waren es nicht, gegen die man losging. Man erinnerte sich der Gefangenen, die vor der Willkür ihrer Herren im Tempel Asyl gesucht hatten und dort niedere Dienste verrichteten, das sollte ein Ende haben, sie sollten die Untat der anderen büßen. Ich hetzte zum Tempeltor, beschwor die verängstigten Priesterinnen, ganz junge Mädchen zumeist aus den besseren Häusern, sie sollten es nicht zulassen, sollten die Tür verriegeln, einen Balken dagegenstemmen. Sie gehorchten mir, weil sonst niemand da war, der ihnen Befehle erteilte, die Menge hämmerte gegen die Tür, ich schlich mich durch den geheimen Ausgang hinter dem Altar hinaus und versuchte, mir Gehör zu verschaffen, man dürfe den großen Tag der Göttin nicht entweihen, ich schrie in die aufgerissenen Münder, die haßverzerrten Gesichter, ich dachte, nur durch eine Angst, die größer war als ihre Wut, könnte ich ihre Mordlust dämpfen, da trat ein Alter auf mich zu, zahnlos, ein zerklüftetes verbranntes Gesicht, er schüttelte die Fäuste gegen mich. Die Ahnen hätten der Göttin Menschen zum Opfer gebracht, das habe der sehr wohl gefallen, und warum solle man nun nicht zu den alten Bräuchen zurückkehren. Die Menge brüllte Zustimmung, ich hatte verloren. Man fing an, mich zu beschimpfen, gegen mich vorzurücken, sollen sie doch, dachte ich, wenn es schon sein muß, dann jetzt gleich, dann hier. Da hatten sie schon das Tempeltor aufgebrochen, die Priesterinnen waren geflohen, verängstigt hockten die Gefangenen am Altar, viele Hände griffen nach ihnen. Ich war mit in den Tempel geschoben worden, sie drängten mich, so daß ich auf einmal Auge in Auge vor dem Anführer stand, einem wüsten Kerl, er triumphierte unverhohlen. Was sagst du jetzt, brüllte er, ich sagte leise: Nehmt nur einen. Nur einen, brüllte er, warum denn das. Ich sagte, ihre Vorfahren hätten auch nur einen ausgewählten Menschen der Göttin zum Opfer gebracht, alles andere sei Frevel, Mord im Tempel aber werde schwer bestraft. Sie staunten, zauderten, fingen an, sich flüsternd zu beraten, der Alte, der das Wort geführt hatte, sollte entscheiden, er spreizte sich, nickte endlich. Sie zogen einen Mann aus dem Gefangenenpulk, der sich wild wehrte, er schrie und flehte, berief sich auf sein Recht, im Tempel Schutz zu finden, er war ein ungeschlachter, großer Mensch mit geschorenem Schädel und einem mächtigen krausen Bart, sein Gesicht werde ich nie vergessen können, seine auf mich gerichteten blutunterlaufenen Augen. Man schleifte ihn zum Altar, ich wandte mich nicht ab, ich sah, wie der wüste Kerl ihn abstach. Das Blut, Menschenblut, lief in die Opferrinne.

Den habe ich auf dem Gewissen. Etwas nie wieder Gutzumachendes war geschehen, und ich hatte meine Hände im Spiel. Die anderen hatte ich gerettet, das galt mir nichts. Warum war ich aus Kolchis geflohen. Es war mir unerträglich erschienen, vor die Wahl zwischen zwei Übeln gestellt zu sein. Ich Törin. Jetzt hatte ich nur noch zwischen zwei Verbrechen wählen können.

Ich weiß nicht, wie ich auf den Tempelhof, wie ich zur Artemis-Statue gekommen bin. Was ich zuerst wahrnahm, waren die Hoden der geopferten Stiere, die man der Göttin angeheftet hatte, als hätten ihre Brüste sich über den ganzen Leib vervielfältigt. Ein ekliger Behang. Sie stanken, die Stierhoden. Ich spuckte darauf. Sollten sie mich doch auch abstechen, die feinen Korinther, das war der richtige Augenblick, ich war bereit. Aber immer noch kannte ich sie nicht. Sie mieden mich jetzt wie eine Aussätzige. Eine unsichtbare Hand hatte einen Kreis um mich gezogen, den keiner von ihnen übertrat. Ich weiß nicht, wie lange ich da gestanden habe, am Fuß des Artemis-Bildes, sie im Blutrausch, ich todnüchtern. Ich sei zum Fürchten gewesen, sagte Lyssa mir später, die mir gefolgt war und sich heimlich in meiner Nähe gehalten hatte. Die Dunkelheit brach herein, das gare Stierfleisch wurde von den Spießen geschnitten, abgefetzt, sie balgten sich darum, sie rissen es den Kindern aus den Händen, das noch Blutige fraßen sie roh. So dicht liegt das blutrünstige Innere unter der gezähmten Außenschicht. Mich schaudert. Ich bin in ihrer Hand.

Von hundert Augenpaaren fühlte ich mich aus dem flackernden Halbdunkel belauert, ich zog mich aus dem Kreis der Feuer zurück, sie hinderten mich nicht. Ich stolperte über Gestrüpp, erbrach mich, stolperte weiter, bergab, durchquerte ein Olivengehölz, endlich sah ich ihre Feuer nicht mehr, hörte nicht mehr ihr Gegröl. Der volle Mond war mein Begleiter. In einer Senke fiel ich zu Boden, schlief vielleicht, war vielleicht bewußtlos. Als ich erwachte, kämpfte genau über mir am nächtlichen Himmel ein dunkles Ungeheuer mit dem Mond, hatte sich gierig einen großen Happen herausgebissen und ging weiter gegen ihn vor. Der Schrecken sollte kein Ende sein.

Unsere Mondgöttin wurde vom Himmel getilgt, in jener Nacht, in der sie am prallsten, tröstlichsten, am mächtigsten gewesen war. Ein ungekanntes Entsetzen drang uns Kolchern bis in die Eingeweide und ließ uns den Untergang der Welt fürchten, ein tieferes Entsetzen als das, welches die Korinther spürten, die in dem furchterregenden Himmelsschauspiel nichts anderes sehen konnten als eine Strafe der Götter, die nicht sie verschuldet hatten, sondern all jene, die fremde Götter in ihre Stadt eingeschleppt und die eigenen dadurch erzürnt hatten. Und um nicht zitternd auf das Ungeheure warten zu müssen, das der Mondvernichtung folgen mußte, machten sich die jungen Männer aus dem Tempelbezirk auf, die Schuldigen für diesen maßlosen Götterzorn zu suchen und zu bestrafen.

Ich werde nicht mehr dazu kommen, den Akamas zu fragen, warum er sein Wissen von der bevorstehenden Mondfinsternis so strikt geheimgehalten hat, warum er seinen Astronomen, die eingeweiht waren, bei Todesstrafe verbot, ihren Landsleuten anzukündigen, was ihnen bevorstand. Hat Akamas bewirken wollen, was nun eingetreten ist? Kann ein Mensch so böse sein?

Leukon, der seine eigenen Berechnungen gemacht hatte, hielt das Schweigen nicht aus, er lief zu Oistros, wo er auch mich vermutete, er wollte uns Bescheid sagen, er wollte mit uns beraten, was zu tun sei. Er fand einen Oistros, der um das Leben von Arethusa kämpfte, die von der Pest befallen war. Er erfuhr, was sie auch mir verheimlicht hatten, der Alte, der Kreter, war zuerst krank geworden, Arethusa hatte darauf bestanden, ihn zu pflegen, bis er starb, im Innenhof haben sie ihn begraben, ohne ihn den Leichensuchkommandos auszuliefern, die die Stadt durchkämmen. Leukon, sagte mir Oistros, habe sich in Tränen über Arethusa geworfen, er habe sie gestreichelt, geküßt, er habe sie angefleht zu leben, für ihn zu leben, sie habe noch lächeln können, sie habe es ihm flüsternd versprochen, er hat es als Liebesversprechen genommen, sie verlor das Bewußtsein, er blieb bei ihr. Er ist auch jetzt bei ihr. Oistros ist in jener Nacht, als der Mond sich verfinsterte, losgelaufen, um mich zu suchen. Gegen Morgen fand er mich. Zu spät.

Die Zeit wird knapp.

Wie war das doch. Ich erhob mich aus dem kurzen Schlaf, wurde mir des Geräusches bewußt, das mich wohl aufgeweckt hatte, dem ich nun, angstvoll das Verschwinden des Mondes beobachtend, nachging. Ein vertrautes Geräusch, eine Musik, ein Rhythmus, die mir ins Blut gingen und mich zu der Gruppe der kolchischen Frauen führten, die auf der stadtabgewandten Seite des Berges an schwer zugänglicher Stelle unser Frühlingsfest feierten, das Fest der Demeter, das mit dem Lauf über glühende Kohlen beginnt. Ich sah vom Rand her zu, aus dem stachligen Gebüsch, das den Festplatz umgab. Sie faßten sich bei den Händen und liefen schnell, juchzend und lachend, über das glühende Holzkohlenbett. Ich sah Lyssa, Arinna. Mein Herz begann rasend zu schlagen, ich mußte dabeisein. Ich lief zu den Frauen, sie machten kein Aufhebens von mir, begrüßten mich, als hätten sie mich erwartet, ich streckte die Hände aus, zwei nahmen mich in die Mitte, ich sammelte mich, wie ich es so oft zu Hause geübt hatte, ich rief: Los!, wir liefen zusammen über das Glutbett, wieder erlebte ich das Glück der Unverletzlichkeit, ich schrie vor Freude wie sie, noch einmal!, rief ich, zwei andere faßten nach meinen Händen, wir liefen, und noch einmal, und noch einmal, meine Fußsohlen blieben makellos weiß. Im gleichen Augenblick gab uns der Himmel ein Zeichen: Der schmale Rand des Mondes tauchte wieder auf als silberne Sichel, die sich schnell verbreiterte. Wir jubelten. Also sollten wir doch nicht verloren sein. Ich nahm den Lorbeer, den sie mir zu kauen gaben, der uns in den Rausch versetzte, so daß wir Demeter jauchzend durch die Nacht fahren sahen, wir jauchzten mit ihr und begannen unseren Tanz, der immer wilder wurde, den Labyrinthtanz. Endlich waren wir ganz bei uns, endlich war ich ganz bei mir. Es war nicht mehr weit bis zum Morgen.

Dann hörten wir die Axt.

Oistros meint, er hätte uns nicht gefunden, wenn nicht auch er die Axt gehört hätte und ihr nachgegangen wäre, wobei das Unheilsgefühl, das ihn die ganze Zeit über von Korinth herauf begleitet hatte, immer stärker in ihm wurde. So ging es auch mir. Mit einem Schlag war der Rausch, war die Freude verflogen. Ich wollte nicht glauben, was ich hörte. In unserem heiligen Hain schlug jemand einen Baum. Der Unselige war des Todes. Ich wußte keinen Rat, außer daß ich laut den Gesang wieder anstimmte, den wir eben unterbrochen hatten, um die Axtschläge zu übertönen. Die Frauen zischten mich an, hielten mir den Mund zu, ich sah ihre verzerrten Gesichter, sie haßten mich, ich haßte sie. In einem Pulk jagten sie zum Hain, rissen mich mit, an Oistros vorbei, der zurückwich, den sie nicht wahrnahmen, er packte mich, hielt mich fest, ich machte mich frei, sah nicht, aber hörte. Hörte das Geheul der Weiber, meiner Kolcherinnen, hörte den tierischen Schrei eines Mannes, dessen Stimme ich kannte. Turon, das war Turon. Wußte, was geschah. Sie schnitten ihm sein Geschlecht ab. Sie spießten es auf und trugen es vor sich her, während sie, besinnungslos, immer weiterheulend, sich der Stadt zu wälzten.

Jetzt herrscht Grabesstille im Viertel der Kolcher. Die Strafaktion folgte am gleichen Morgen. Alle, die die Soldaten des Königs ergreifen konnten, wurden niedergemacht. Ein Trost, daß einige Frauen und Mädchen sich zu Arinna in die Berge flüchten konnten.

Aber was denke ich da. Ein Wort wie Trost. Mit vielen anderen Worten ist es in mir ausgelöscht. Sprachlosigkeit steht mir bevor. Turon, der noch einmal davongekommene Turon, hat meinen Namen genannt. So mußte es kommen. Es war mein Gesicht, das er als erstes sah, als er zu sich kam. Gegen Oistros Flehen, mit ihm zu gehen, er würde mich verstecken, ich solle den Mann liegenlassen, dem sowieso nicht mehr zu helfen sei, gegen seinen wütenden Befehl näherte ich mich dem bewußtlosen Turon. Er lag neben dem Baum unseres heiligen Hains, einer Pinie, die er gefällt hatte, um die Kolcher dafür zu bestrafen, daß sie das Unglück der Pest und nun auch noch das der Mondfinsternis über Korinth gebracht hatten, so sagte er aus. Übrigens stirbt er nicht. In dem Beutel, den ich immer bei mir trage, hatte ich blutstillende Pflanzenextrakte, die die Wundheilung befördern. Ich brachte Oistros dazu, aus zwei Stämmchen und einigem Astwerk eine Art Trage herzustellen und ihn, den Turon, mit mir zusammen in die Stadt hinunterzubringen. Das Morgengrauen ging in die Morgenröte über, wir kamen in eine belagerte Festung. Posten an allen Ecken, bewaffnete Trupps, die durch die Stadt zogen, in Richtung auf die Außenbezirke. Ein junger Offizier ließ sich überreden, zwei Soldaten mit der Bahre zum Palast zu schicken. Uns ließ er, merkwürdig genug, unbehelligt gehen. Wir trennten uns auf dem Marktplatz. Wir umarmten uns nicht. Oistros legte seine Hände schwer auf meine Schultern, er hat mich nicht noch einmal gebeten, mit ihm zu gehen. Er hatte verstanden, daß ich zu den Kindern mußte. Ich habe ihn seitdem nicht gesehen. Ich weiß nichts von Arethusa.

Unsere Hütte war von der Strafexpedition verschont, ich erfuhr, da hatte Jason seine Hand im Spiel. Lyssa war nicht bei den heulenden Frauen geblieben, sie war nach Hause gelaufen, zu den Kindern. Das vergeß ich ihr nicht. Sie blieb stumm.

Stumm wie ich, als sie kamen und mich festnahmen. Ich hätte die Weiber angeführt, die dem Turon Gewalt antaten. Ich erwiderte nichts. Alles lief nach einem Plan ab, auf den ich keinen Einfluß mehr hatte. Heute früh haben sie mich geholt. Zur Gerichtsverhandlung, sagten sie, und brachten mich hierher in diesen winzigen finsteren Raum.

Sie beraten immer noch. Ich höre Schritte den Gang herunterkommen. Müde, schlurfende Männerschritte. Sie kommen näher, ein alter Mann schleppt sich an meiner Tür vorbei, erblickt die Wachen, dann mich, bleibt stehen, lehnt sich an den Türrahmen, starrt mich an. Leukon. Ein Gespenst, das einst Leukon war. Lange schweigen wir, bis ich flüstern kann: Arethusa? Er nickt, stößt sich vom Türrahmen ab, geht weiter, auf den Verhandlungssaal zu.

Dann ist wohl noch einmal Zeit vergangen. Jetzt werden die großen Türen des Saals aufgeschlagen. Jetzt bekommt der Bote Bescheid, der draußen auf seinen Auftritt gewartet hat. Jetzt geht er los, kommt näher. Jetzt packt mich die Sehnsucht nach all den Tagen, die sie mir rauben werden. Nach all den Sonnenaufgängen. Nach den Mahlzeiten mit den Kindern, nach den Umarmungen mit Oistros, nach den Liedern, die Lyssa singt. Nach allen einfachen Freuden, die die einzig dauerhaften sind. Jetzt habe ich sie alle hinter mir gelassen.

Der Bote ist da.