7

Die Menschen wollen sich davon überzeugen,
daß ihr Unglück von einem einzigen Verantwortlichen
kommt, dessen man sich leicht entledigen kann.

René Girard, ›Das Heilige und die Gewalt‹

Leukon

Die Pest greift um sich. Medea ist verloren. Sie schwindet. Vor meinen Augen schwindet sie, und ich kann sie nicht halten. Ich sehe vor mir, was mit ihr geschehen wird. Ich werde alles mit ansehen müssen. Das ist mein Los, alles mit ansehen zu müssen, alles zu durchschauen und nichts tun zu können, als hätte ich keine Hände. Wer seine Hände gebraucht, muß sie in Blut tauchen, ob er will oder nicht. Ich will keine blutigen Hände haben. Ich will hier oben auf der Terrasse meines Turmes stehen und bei Tag das Gewimmel da unten in den Gassen von Korinth betrachten und bei Nacht meine Augen baden in der Dunkelheit des Himmels da oben, auf dem nach und nach die einzelnen Sternbilder hervortreten wie vertraute Gefährten.

Und wenn ich noch einen Wunsch frei hätte bei diesen wankelmütigen Göttern, so fielen mir zwei Frauennamen ein, für die ich Schutz erbitten würde. Ich wundere mich über mich selbst, nie vorher hat in meinem Leben der Name einer Frau eine Rolle gespielt. Nicht, daß ich mich der Freuden enthalten hätte, die das ewige Spiel zwischen Mann und Frau bereiten kann, aber die Namen der Mädchen, die mich einmal oder öfter besuchten, übrigens immer bereitwillig, sogar entzückt, glaube ich, die Namen habe ich schnell vergessen, ihre Besuche sind seltener geworden, ohne daß sie mir groß gefehlt hätten. Medea sagt, ich sei ein Mann, der den Schmerz fürchte. Ich wünschte, sie würde den Schmerz mehr fürchten, als sie es tut.

Noch sitzt sie mir gegenüber auf der Terrasse, etwas Luft ist aufgekommen nach dem unleidlich heißen Tag, wir beginnen freier zu atmen, ein Öllämpchen steht zwischen uns auf dem niedrigen Tisch aus Pinienholz, seine Flamme ist fast unbewegt, wir trinken kühlen Wein, sprechen leise oder schweigen. Diese Gewohnheit unserer nächtlichen Treffen haben wir nicht aufgegeben, obwohl sich die Leute sonst alle in ihre Wohnhöhlen verkriechen und einander meiden. Eine unheimliche Ruhe liegt über der Stadt. Nur manchmal hört man die Geräusche der Eselskarren, die die Leichen des Tages hinüberbringen, über den Fluß, der schwarz daliegt, in die Totenstadt. Ich zähle die Karren. In den letzten Nächten hat ihre Zahl sich vermehrt. Medea ist verloren.

Was wird aus uns, Leukon, sagt sie, und ich habe nicht das Herz, ihr zu sagen, was ich weiß, was ich sehe, was aus ihr wird. Sie kommt, glühend in Schönheit und erhitzt von der Liebe, von Oistros, sie umarmt mich, und ich umarme eine, die nicht mehr da ist. Sie tut, was sie nicht tun sollte, sie schlägt meine Warnungen in den Wind, und mit Oistros ist überhaupt nicht zu reden. Mit seinem Meißel, der die Verlängerung seiner Fingerspitzen ist, holt er das Abbild der Göttin aus dem Stein und scheint nicht einmal zu merken, wessen Gestalt er da nachbildet. Sie ist in seinen Fingerspitzen, Medea, sie hat ihn in Besitz genommen, das sagt er selbst, so etwas sei ihm noch nie passiert, die Lust an dieser Frau habe ihm eine neue Lust am Leben, an seiner Arbeit geschenkt, beim Näherkommen höre ich ihn in seiner Werkstatt pfeifen und singen, nur wenn sie bei ihm eintritt, wird es still. Dieser Mann, der keine Herkunft, keine Eltern und Verwandten kennt, den das nicht zu kümmern scheint, den sein Los nicht drückt, daß er als Säugling ausgesetzt und vor die Tür eines Steinmetzen gelegt worden ist, dessen Frau kinderlos war und diesen Findling als Gabe der Götter annahm und aufzog, der in der Werkstatt des Ziehvaters noch als Kind die Grundlagen seines Handwerks erlernte, über die er, das soll der alte Steinmetz freimütig und beinahe ehrfürchtig zugegeben haben, bald hinauswuchs. Heute bestellen die edelsten Korinther bei ihm die Grabmäler für ihre Familien, er könnte reich sein, niemand weiß so recht, wie er es anstellt, bedürfnislos und bescheiden zu bleiben, auch versteht man nicht, wieso er nicht den Neid der anderen Steinmetzen auf sich zieht. Geld scheint so wenig an ihm zu haften wie Neid, dafür ist er ein Menschenfänger, immer ist er umgeben von jungen Leuten, für die er in seiner Werkstatt Beschäftigung hat. Auch mich hat sein unbekümmertes Wesen angezogen, wenn ich mit ihm zusammen war, genas ich von meiner Schwermut und meinen Grübeleien, die er mir nicht anzumerken schien, jedenfalls verlor er kein Wort darüber, und eben das war ja das Heilsame in seiner Gegenwart, daß er jeden gleich behandelte, ich bin sicher, er würde auch kein Aufhebens machen, wenn sich der König zu ihm verirrte. Und, merkwürdig zu beobachten, sein Gleichmut und seine Unabhängigkeit strahlen auf jeden aus, der zu ihm kommt, ob hoch oder niedrig.

Medea sagt, er hat es geschafft, erwachsen zu werden, ohne das Kind in sich umzubringen, er war eine Wohltat für sie, aber ist er es noch? So sollte ich nicht fragen. Wie würde ich es mir verbitten, wenn jemand mich fragte, ob Arethusa eine Wohltat für mich ist trotz des Verzichts, den sie mir auferlegt. Wortlos sind wir darin übereingekommen, unsere Verbindung, die ja keine ist, geheimzuhalten, während Medea nun fast ohne jede Vorsichtsmaßnahme zu Oistros geht. Ihre Sorglosigkeit wird gefährlich, ja sträflich.

Es ist zum Verzweifeln. Als wollte sich jemand dafür rächen, daß ich mich der Gefühle so lange sorgsam enthalten habe, muß ich mein Herz an lauter Leute hängen, die die Verhältnisse in Korinth nicht wirklich kennen, keine Ahnung haben, wozu die Korinther fähig sind, wenn sie sich bedroht sehen, wie jetzt. Medea trinkt, lächelt, schweigt. Akamas hat mich wegen meiner Freundschaften schon zur Rede gestellt, als wir uns scheinbar zufällig auf der Treppe des Turmes trafen, im Halbdunkel, er hatte Zeit und Ort gut gewählt. Ich scheine gerade jene Leute zu bevorzugen, die sich ziemlich weit, so drückte er sich aus, mein Schlaumeier Akamas, ziemlich weit von unserem Königshaus entfernt haben, nicht wahr, mein lieber Leukon. Und ich, immer häufiger von einer hilflosen Wut erfüllt, habe ihm auf seine hämische Frage nicht geantwortet, sondern ihm die Gegenfrage gestellt, ob er mir irgendeine Pflichtverletzung vorwerfen könne. Ob er mich etwa für die zweifelhaften Schlußfolgerungen verantwortlich machen wolle, die andere aus meinen genauen Berechnungen gezogen hätten. Akamas lenkte ein, doch wir wußten beide, dieses Sieges konnte ich nicht froh werden; nicht zu oft durfte ich es mir erlauben, den Akamas mit der Nase auf seine haarsträubend falschen Voraussagen zu stoßen, als wüßte ich nicht, wer aus meinen Sternkarten das herausgelesen hatte, was der König hören wollte: ein glückliches Jahr für Korinth, Wachstum, Wohlstand und den Niedergang der Feinde des Königs. Statt dessen kam das Erdbeben und in seinem Gefolge die Pest. Der Stern des Akamas bei Hofe war im Sinken, er verfiel vor unseren Augen, er kann nicht leben, wenn er nicht in der Gunst des Königs ganz oben steht, das hat er mir einmal ins Gesicht gesagt, damals, als in Korinth, in unserem stolzen Korinth, ein junges Mädchen auf dem Altar der Macht geopfert wurde und die, die davon wußten, sich zu entscheiden hatten, ob sie im Dunstkreis dieser Macht bleiben oder sich zurückziehen wollten.

Du hast davon gewußt, sagt Medea im Ton einer Feststellung, und ich versuche, ihr zu erklären, daß es eine Stufenleiter des Wissens gibt, gewußt, ja, bis zu einem gewissen Grad, aber keine Einzelheiten. Und wieder vergessen. Oder was hätten wir sonst tun können, frage ich sie. Sie sagt, sie wisse es nicht. Es sei nur schade. Schade? frage ich. Ja. Schade, daß die Übereinkünfte so brüchig seien und bei jeder Belastung einfach beiseite geschoben werden könnten. Welche Übereinkünfte, frage ich. Das weißt du doch. Die Übereinkunft, daß es keine Menschenopfer mehr geben soll. Ich wundere mich, daß sie solche Übereinkünfte ernst nimmt, aber das sage ich nicht. Es gefällt mir nicht, wie sie heute redet, ihre Stimmung gefällt mir nicht, es ist, als bewege sie sich hinter einem Schleier.

Ich muß sie wachrütteln. Ich sage ihr, Akamas sei jetzt gefährlich, ihm sei jedes Mittel recht, seine Stellung im Palast wieder zu festigen. Da er mich brauche, hätte ich Schonung auf Zeit. Was ich ihr nicht sage, ist, daß ich meine ganze Erfahrung, meine ganze Klugheit, meine ganze List zusammennehmen muß und auch jene Fähigkeit brauche, die sie an mir verabscheut und die ich an mir nicht liebe, die Fähigkeit, zu schweigen und mich wegzuducken. In wohlüberlegten Abständen liefere ich Akamas Berechnungen, an Hand derer er günstige Voraussagen machen kann, die dann auch eintreffen, zum Beispiel über den Abschluß eines Handelsvertrags mit Mykene oder über hohe Geburtenzahlen beim Vieh. Ich sorge dafür, daß Akamas davon überzeugt sein kann, er, niemand anders als er habe diese Voraussagen gemacht, sie seien ihm im Traum erschienen, ich muß mein Licht unter den Scheffel stellen, damit sein Stern um so heller strahlen kann. Das Sternensystem an Kreons Hof hat sich neu gefügt, zuungunsten der kleinen Planeten, die in die gefährlichen Randzonen gedrängt wurden. Und, mit Händen ist es zu greifen, immer gefährlicher wird es für jeden, sich in den Abglanz jenes Lichtes zu begeben, das Medea ausstrahlt. Sie, ja sie ist das Zentrum der Gefahr. Und das Fürchterliche: Sie will es nicht wahrhaben.

Ich weiß nicht, was noch geschehen muß, damit du vorsichtiger wirst, sage ich ihr, und sie kriegt es fertig zu erwidern, eben weil ihr schon soviel geschehen sei, dürfe sie jetzt vielleicht damit rechnen, in Ruhe gelassen zu werden. Sie halte sich ja ganz still, was solle sie denn noch tun, oder lassen. Irgend etwas fehlt dieser Frau, was wir Korinther alle mit der Muttermilch einsaugen, das merken wir gar nicht mehr, erst der Vergleich mit den Kolchern und besonders mit Medea hat mich darauf gestoßen, es ist ein sechster Sinn, eine feine Witterung für die kleinsten Veränderungen der Atmosphäre um die Mächtigen, von der wir, jeder einzelne von uns, auf Leben und Tod abhängig sind. Eine Art ständigen Schreckens, sage ich ihr. So daß der wirkliche Schrecken, das Erdbeben, von manchen wie eine Befreiung erlebt wurde. Ihr seid merkwürdige Menschen, sagt sie, und ich: Ihr auch. Wir lachen.

Ich will ihr nicht sagen, daß die Sicherheit, die von ihr ausgeht, von den meisten Korinthern inzwischen Hochmut genannt und daß sie dafür gehaßt wird. Über keinen anderen Menschen habe ich soviel nachgedacht wie über diese Frau, aber sie ist es nicht allein, auch die anderen Kolcherinnen geben mir zu denken, sie machen hier die niederen Arbeiten und tragen den Kopf hoch wie die Frauen unserer höchsten Beamten, und das Merkwürdigste ist, sie können sich nichts anderes vorstellen. Mir gefällt das ja, und zugleich beunruhigt es mich. In deiner Nähe, sage ich zu Medea, kommen mir immer nur gemischte Gefühle. Ach Leukon, sagt sie, du nimmst deine Gefühle mit deinen Gedanken gefangen. Laß sie doch einfach frei. Dann lachen wir wieder, und ich wünsche mir, ich könnte vergessen, in welcher Lage sie ist, könnte meinen Gefühlen freien Lauf lassen und es einfach genießen, der Freund einer Frau zu sein, die mir so vertraut ist wie kaum ein anderer Mensch und die mir immer fremd bleiben wird.

Wie Arethusa, aber das ist etwas anderes. Die Fremdheit der Geliebten erhöht ihren Reiz, der übrigens auch anderen Männern nicht verborgen bleibt, sie verstehen es alle, daß ich ihr erlegen bin, selbst Akamas ließ sich zu einer gönnerhaften Bemerkung über mein Liebesglück herab, es fehlte nicht viel, und er hätte mir auf die Schulter geklopft, von Mann zu Mann, mein Blick hielt ihn gerade noch davon ab. Also sind sie alle über uns im Bilde, zerreißen sich die Mäuler über mich, über die Leidenschaft, die mich nun doch ereilt hat, es ist mir unleidlich. Wenn sie wüßten, daß ich Arethusa teilen muß mit dem Alten, den sie alle nur den Kreter nennen und den manche für ihren Vater halten, es ist ihr frühester Liebesfreund, so nennt sie ihn. Sie war fast noch ein Kind, als er sie aufgelesen oder vielmehr hervorgezogen hat unter den Trümmern ihres Hauses, das, wie alle Häuser Kretas, wie die Paläste, deren Pracht unübertroffen gewesen sein muß, durch das Seebeben zerstört wurde, ganz Kreta muß ein Trümmerhaufen sein und ein Leichenfeld, ich weiß das nur aus den Schilderungen des Alten, Arethusa spricht nicht darüber, wie sie auch nie von der Überfahrt spricht auf dem Schiff, auf dem der Alte, damals ein Mann in den besten Jahren, für sie und sich selbst Plätze erkämpft hat. Mit Gewalt, soviel ließ er sich einmal entlocken. Es kommt vor, daß er sich sinnlos betrinkt, dann redet er mehr als sonst, aber niemals, wenn Arethusa dabei ist. Ich will mir die Szenen nicht vorstellen, die sich bei der Abfahrt dieses Schiffes abgespielt haben.

Der Alte ist immer noch ein kräftiger, wenn auch frühzeitig gealterter und gezeichneter Mann, er muß furchterregend gewesen sein, er gehörte in Kreta zu den Athleten, die bei den jährlichen Festspielen im Palast vor dem Königshaus und dem versammelten Volk mit Vorführungen glänzten, die im ganzen Mittelmeerraum berühmt waren. Arethusa hängt ihm an, das ist eine unumstößliche Naturerscheinung. Ich habe nur die Wahl, es hinzunehmen oder ganz von ihr abzulassen. Beides ist mir nicht möglich. Ich habe nicht gewußt, daß das Leben diese Art Schmerz bereithält, nur mit Medea kann ich darüber reden. Übrigens denkt sie nicht daran, mich zu bedauern. Ja, sagt sie, das nimmt dich mit, aber stell dir vor, dir wäre nie etwas widerfahren, was dich so mitnimmt. Und du lernst dich kennen, nicht wahr, durch das, was du tust. Ich tue ja nichts, versuche ich zu widersprechen. Ich warte doch bloß. Aber das läßt sie nicht gelten. Auch Warten sei eine Tätigkeit, der eine Entscheidung vorausgehen müsse, eben die, daß man warten wolle und nicht abbrechen. Im übrigen suche ich ja die Nähe von Arethusa, mache kein Hehl aus meinen Gefühlen und meinem Begehren, hocke Stunde um Stunde in ihrer Werkstatt und blicke auf ihre Hände, wenn sie die Gemmen aus dem Stein schneiden. Wie diese Hände zu mir sprechen, das kann sich kein Mensch vorstellen. Arethusa lächelt, nie schickt sie mich weg, immer leuchtet ihr Gesicht auf, wenn ich in der Tür stehe, zur Begrüßung schmiegt sie sich an mich. Verstehst du das, Medea, frage ich. Ja, sagt sie. Arethusa liebt zwei Männer, einen jeden auf andere Weise. Und du? frage ich herausfordernd, sie bleibt gelassen: Ich nicht. Sie umarmt Arethusa, sie lieben sich wie Schwestern, sie schlägt den Türvorhang zurück und geht zu Oistros.

Akamas sieht das ganz richtig, hier bin ich unter Menschen geraten, die sich nicht hineinziehen lassen in das Getriebe, das den Kosmos Korinth bewegt. Es ist Sand hineingekommen, es rüttelt und knirscht, sie scheint das nicht zu kümmern, mir macht es Sorge. Arethusa kann ich das nicht vorwerfen, ihr kann ich nichts vorwerfen, aber es kommt vor, daß ich Medea im stillen Vorhaltungen mache, wie sie so nüchtern die Anzeichen betrachtet, die auf die Zerrüttung Korinths hinweisen, als deutlichstes die Bestrebungen, sich Medeas zu entledigen. Sollen denn all die Jahre umsonst gewesen sein, in denen ich mich in Zurückhaltung geübt habe. Soll denn meine Haftung an diese ungeliebte Stadt nie aufhören.

Unsere Gedanken scheinen auf getrennten Wegen an einen ähnlichen Punkt gelangt zu sein, Medea sagt, ob mir auch schon aufgefallen sei, daß in jedem Übel doch auch ein Körnchen Gutes stecke. Denn wie hätte sie Oistros und ich Arethusa je kennenlernen sollen ohne den Ausbruch des Volkszorns gegen sie. Wie hätte sie sich, ohne verfolgt zu werden, in jenen entlegenen Teil der Stadt verirren sollen, in das Viertel der winzigen, in Gärten geduckten Lehmhütten, in denen die ärmsten Korinther, ehemalige Gefangene und deren Nachkommen, und allerlei zwielichtige Existenzen sich angesiedelt haben, unter denen Leute wie Oistros, Arethusa und der Kreter nicht auffallen.

Es war ein klarer durchsichtiger Frühsommertag, es war die Stunde, in der das Licht fast ohne Übergang in Dunkelheit fällt, vorher aber noch einmal eine Leuchtkraft sammelt, die selbst mir, der ich von Kindheit an daran gewöhnt bin, noch die Brust weiten kann. Das sind die Augenblicke, in denen ich dankbar bin, hier zu leben, und nichts anderes mir vorstellen kann, und genau mit diesem Gefühl stand ich auf der Plattform des Turms, von dem aus ich so viele Nächte in den Himmel geblickt hatte, hingegeben der unirdischen Schönheit der Sternenbahnen, deren verborgenen Gesetzen ich auf die Spur kommen wollte, das war mein Leben. Ich bin ja noch nicht alt, jedenfalls sagt Arethusa das, aber es war dahin gekommen, daß ich nur noch unter den Sternen Freunde hatte, nicht mehr unter den Menschen. Ich hielt freundlich Abstand zu den jungen Leuten, die bei mir lernen und von denen dieser und jener gute Anlagen und Wissensdurst zeigt, nicht nur das übliche rücksichtslose Interesse am eigenen Fortkommen wie Turon, der Klügsten einer, und einer der Gewissenlosesten.

Einer von meinen Schülern kam an jenem Nachmittag die Treppe heraufgehetzt, sie wissen, daß sie mich in dieser Stunde der Besinnung nicht stören sollen. Er rief: Sie jagen Medea durch die Stadt! Ich fragte noch: Wer? Aber ich wußte schon alles. Der Pöbel. So hatte es kommen müssen.

Ich lief die Treppe hinunter und trat ohne Umstände in Akamas’ Arbeitszimmer ein, in seinen großen Raum mit den vielen Fenstern und der umlaufenden Terrasse davor. Ich sagte: Bist du nun zufrieden. Er wollte sich zuerst ahnungslos stellen, ich aber, das kann ich mir beinahe selbst nicht mehr glauben, ich ging drohend auf ihn zu, daß er sich zur Wand zurückzog und beteuerte, er könne nichts machen, sie habe das Volk zu sehr aufgebracht. Das Volk? sagte ich, und da wollte er mir allen Ernstes die Geschichte mit dem Brudermord auftischen, die ja in diesem Raum ausgebrütet und von hier aus in Umlauf gesetzt worden war. Ach, sagte ich höhnisch, diese Leute sind ganz alleine auf die Idee gekommen, sich zusammenzurotten, der Frau aufzulauern und sie mit Schimpf und Schande durch die Straßen zu jagen, wie? So müsse es wohl gewesen sein, wagte Akamas mir ins Gesicht hinein zu behaupten; ich wisse doch nur zu gut, daß man sich einem entfesselten Volkshaufen nicht entgegenstellen könne. Man müsse ihn ins Leere laufen lassen. Ich schrie: Ins Leere? Du meinst in die Frau, oder was. Sie sollen sie totschlagen. Aber nicht doch, sagte Akamas, solche Massen sind doch feige, ihr wird schon nichts passieren.

Ich war außer mir, endlich. Er, schrie ich, er selbst habe den Pöbel angestiftet, und womöglich habe er ihn auch bezahlt. Dann erschrak ich. Natürlich hatte ich recht, das wußten wir beide, aber ich war zu weit gegangen. Das spürte auch Akamas, er straffte sich, kam langsam auf mich zu und sagte kühl: Das wirst du mir beweisen müssen, mein Freund. Er hatte gewonnen. Niemals würde ich einen Zeugen dafür finden, daß der große Akamas den Pöbel bestach, damit der sich über eine Frau hermachte. Und falls doch jemand toll genug wäre, das zu bezeugen, er wäre ein toter Mann. In jenen Minuten, als ich alle Möglichkeiten, Akamas zu überführen, in meinem Kopf durchspielte und verwerfen mußte, in jenen Minuten erst habe ich mein Korinth kennengelernt. Und ich begriff, daß es Medea zugefallen ist, die verschüttete Wahrheit aufzudecken, die unser Zusammenleben bestimmt, und daß wir das nicht ertragen werden. Und daß ich ohnmächtig bin.

Ungern denke ich an jenen Nachmittag, ungern rede ich zu Medea davon, obwohl ich das Wortgefecht, das ich Akamas lieferte, bis heute vor mir selbst vertreten kann. Wenn ich ihn schon nicht öffentlich zur Rechenschaft ziehen konnte – die Erkenntnis, daß ich ihn durchschaut hatte, habe ich ihm nicht geschenkt. Daß ich wußte, warum gerade jetzt mit haarsträubenden Anschuldigungen und nun auch mit Gewalt gegen Medea vorgegangen wurde: Weil man fürchten mußte, sie könnte einen Namen ins Spiel bringen, den wir alle vergessen wollten: Iphinoe. Es war mir eine Erleichterung, diesen Namen zum erstenmal vor Akamas auszusprechen, ihm zu sagen, daß ich damals als junger Mensch in seinem Vorzimmer gesessen und vieles erlauscht habe, was ich nicht gleich verstand, und als ich es verstand, als sich mir aus bizarren Einzelteilen endlich ein Bild zusammensetzte, vor dem ich erstarrte, da war es zu spät. Wo leben wir denn, fragte ich Akamas zornig. Er antwortete nur mit einem Blick, der besagte: Das weißt du ganz genau. Ich beschrieb Medea die Szene, ich bekannte ihr, daß meine Kühnheit verflog, daß ein Gefühl von Vergeblichkeit mich lähmte, daß ich Akamas stehenließ und bald nicht mehr wußte, ob Klugheit oder Feigheit die Zügel in der Hand hatte, als ich den Mund hielt und statt dessen loslief, um sie zu suchen. Das weiß man oft nicht, Leukon, sagte sie, in solchen Verhältnissen.

Wir schwiegen. Als sie mich durch die Stadt jagten, sagte sie, hatte ich Angst, und ich rannte um mein Leben, wie jedes verfolgte Tier gerannt wäre, aber ein Teil in mir blieb totenruhig und kalt, weil etwas geschah, was geschehen mußte. Es hätte schlimmer kommen können, sagte eine leise Stimme in mir. Ist es ein Trost, daß die Menschen überall herausfallen aus ihren Übereinkünften? Daß Flucht dir nicht weiterhilft? Daß das Gewissen keinen Sinn mehr ergibt, wenn du mit dem gleichen Satz, mit der gleichen Handlung verraten oder retten kannst? Es gibt keinen Grund mehr, auf den das Gewissen sich beziehen kann, das habe ich schon begriffen, als ich die Knöchelchen meines Bruders vom Feld aufsammelte, und wieder, als ich die zarten Knochen dieses Mädchens in eurer Höhle betastete. Es lag mir fern, dieses Wissen unter die Leute zu bringen. Ich wollte mir nur klarmachen, wo ich lebe. Du sitzt in deinem Turm und versammelst das Himmelsgewölbe um dich, Leukon, das ist ein fester Ort, nicht wahr, ich verstehe dich, ich habe zugesehen, wie deine Mundwinkel sich, seit ich hier bin, immer weiter nach unten gebogen haben. Ich bin schlechter dran, oder besser, wie man’s nimmt. Es ist dahin gekommen, daß es für meine Art, auf der Welt zu sein, kein Muster mehr gibt, oder daß noch keines entstanden ist, wer weiß. Ich lief durch die Straßen, alle wichen mir aus, alle Türen fielen vor mir zu, meine Kraft ließ nach, ich geriet in die Außenbezirke. Die schmalen Pfade, die niedrigen Lehmhäuser, um eine Hausecke hatte ich Vorsprung vor meinen Verfolgern, da stand ein Mann auf dem Weg, ein kräftiger Mann mit roten unordentlichen Haaren, der wich nicht aus, der blieb stehen und fing mich auf und schleppte mich die paar Schritte bis zu seiner Tür und trug mich hinein. Das übrige weißt du. Seitdem habe ich wieder einen Ort in dieser Stadt.

Wenig später das Erdbeben. Es dauerte nur Sekunden, sein Zentrum lag im Süden der Stadt, wo die Ärmsten wohnen, unter ihnen die Kolcher. Mein Turm hat geschwankt, aber er ist nicht eingestürzt. Das unbeschreibliche Gefühl, wenn du den Boden unter deinen Füßen verlierst, steckt mir noch in den Gliedern, ich rannte hinaus, schreiende Menschen füllten die Straßen, der Weltuntergang schien nahe zu sein, in den Sternen hatte er nicht gestanden. Die Schäden am Palast hielten sich in Grenzen, Mauern waren nicht eingestürzt, es gab ein paar Verletzte unter den Dienstleuten und einen Toten. Aber König Kreon war in seiner Eigenliebe und seinem Unsterblichkeitsgefühl tief getroffen durch die Vorstellung, sein kostbares Leben könne ausgelöscht werden durch einen beliebigen Stein, der ihm zufällig auf den Kopf fiele. Ein Groll gegen jedermann sammelte sich in ihm, die Todesangst muß ihn nicht mehr verlassen haben, er wurde reizbar und gefährlich, und besonders Akamas bekam den neuen scharfen Ton zu spüren, den der König anschlug. Ich werde den Verdacht nicht los, daß wieder er es war, der, um von sich abzulenken, die Leute auf den Gedanken brachte, das Erdbeben könne durch Medeas böse Kunst über Korinth heraufbeschworen worden sein. Ich fragte Medea, ob sie das wisse. Sie nickte.

Einmal hatte ich die Möglichkeit, mit Lyssa über sie zu sprechen, es war am Abend des Erdbebens, das Medea bei Oistros überrascht hatte, ich fand sie dort, als ich nach meinem Lauf durch Trümmer ankam, um nach Arethusa zu sehen. Sie hatte vor Angst das Bewußtsein verloren, das Beben hatte in ihr das Unheil wieder lebendig werden lassen, in dem Kreta untergegangen war, Medea brachte sie zu sich, rieb ihr die Stirn mit einer belebenden Flüssigkeit ein und ließ sie dann bei mir, es zog sie zu ihren Leuten, in die zerstörten Stadtviertel, sie bat mich, nach Lyssa und den Kindern zu sehen. Das kleine Häuschen klebte noch an der Palastmauer, ich trat aus der verwundeten, stöhnenden Stadt in einen Ort der Ruhe. Lyssa gab den Kindern ein einfaches Abendbrot, zu dem sie mich einlud, ich merkte, wie hungrig ich war und wie mir die Gelassenheit wohltat, die von ihr ausging. Sie gehört zu den Frauen, die die Erde wieder anstoßen würden, falls sie einmal stehenbleiben sollte, sie hält das Leben der Menschen, die ihr anvertraut sind, fest in den Händen, man kann jeden beneiden, der in ihrer Obhut aufwachsen darf.

Lyssa hatte den beiden Jungen ihre Sorge um Medea verborgen, sie waren unbekümmert, lebensvoll, der eine, der dem Jason gleicht, ist stattlicher als der Dunkle, Lockige, der wiederum wilder und ungebärdiger ist als der Bruder. Sie überboten sich in ihren Berichten vom Erdbeben, das sie als Abenteuer erlebt hatten. Ganz unvermittelt wurden sie müde, gingen schlafen. Auf einmal trat eine tiefe Stille ein. Wir saßen in der winzigen Küche, das Herdfeuer glühte noch, die Hausschlange raschelte in der Asche, wir fühlten die Erleichterung nach überstandener Gefahr, was morgen auf uns zukommen würde, kümmerte uns noch nicht, wir schwiegen, redeten dann in halben Sätzen über das, was uns durch den Kopf ging, auch über Medea, und es zeigte sich, daß wir von verschiedenen Ausgangspunkten zu ähnlichen Schlüssen gekommen waren. Lyssa sah wie ich, daß eine Art Siechtum Korinth befallen hat und kaum jemand gewillt ist, dieser Krankheit auf den Grund zu gehen. Lyssa fürchtete, über kurz oder lang werde ein Umschlag erfolgen zur Selbstzerstörung hin, sie kenne das, dann würden alle jene unseligen Kräfte losgelassen, die ein geordnetes Gemeinwesen zu binden wisse, und dann sei Medea verloren. Es war das erste Mal, daß ich mit einer Fremden über den Zustand unserer Stadt sprach, jetzt ging ich noch weiter und fragte sie, wo sie denn die Ursache sehe für unseren Niedergang. Sie fand, die Antwort liege auf der Hand. In eurer Selbstüberhebung, sagte sie. Ihr überhebt euch über alles und alle, das verstellt euch den Blick für das, was wirklich ist, auch dafür, wie ihr wirklich seid. Sie hatte recht, und ihr Satz klingt bis heute in mir nach.

Die Folgen des Erdbebens waren ja schlimmer als das Beben selbst. Das Königshaus kümmerte sich nur noch um sich, mit großem Pomp wurde ein höherer Hofbeamter bestattet, der von Trümmern erschlagen worden war, die düstere Prachtentfaltung zeigte den unseligen Presbon, der alle Selbstkontrolle verloren hatte, auf der Höhe seiner Talente und zugleich in seiner Armseligkeit und Skrupellosigkeit, denn selbst er hätte wissen müssen, daß diese Verschwendung die Wut der Korinther anheizen mußte, die ihr Hab und Gut verloren hatten und deren Tote oft noch wochenlang unter den Trümmern ihrer Häuser verwesten. Medea fand natürlich mit ihren Warnungen kein Gehör, aber sogar die Ärzte um Kreon mahnten an, man müsse diese Toten bergen und begraben, sie wußten aus Erfahrung, daß sie eine Gefahr für die Lebenden darstellten, und tatsächlich traten die ersten Fälle der Seuche in der unmittelbaren Nähe jener verwüsteten Viertel auf, wo die Überlebenden in notdürftigen Unterkünften zusammen mit den Ratten in Nachbarschaft der Toten hausen.

Wie sich mir die Nackenhaare sträubten, als Akamas mich rufen ließ und mir das Staatsgeheimnis anvertraute: Wir haben die Pest in der Stadt. Das vergesse ich nicht. Bebend fragte ich Akamas, was er, was der König zu tun gedächten, er sagte mit schmalen Lippen, als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt: Wir verlassen die Stadt. Es sei dafür gesorgt, daß eine Panik, die ausbrechen könnte, im Keim erstickt würde. Die Sicherheitskräfte seien verstärkt. Und dann sagte Akamas einen Satz, den ich Medea bis heute nicht habe hinterbringen können. Er sagte: Und deine Medea wäre gut beraten, wenn auch sie sich aus Korinth entfernen würde.

Ich verstand ihn sofort. Ich kenne dieses Denken, ich bin damit aufgezogen worden, es ist auch in mir, ich stammelte: Aber ihr werdet doch nicht. Abergläubisch wagte ich meinen Verdacht nicht auszusprechen, Akamas verstand auch so, er sagte trocken: Warum nicht.

Die Pest breitet sich aus. Medea hat in diesen Wochen mehr als jeder andere getan, die Kranken verlangen nach ihr, sie geht zu ihnen. Aber viele Korinther behaupten, sie ziehe die Krankheit hinter sich her. Sie sei es gewesen, die der Stadt die Pest gebracht habe.

Es kann nicht sein, daß sie diese Stimmen nicht hört. Vorsichtig, umschreibend rede ich von dem Bedürfnis der Menschen, die eigene Last auf einen anderen zu legen. Von je hundert Gefangenen soll demnächst einer geopfert werden, um den Göttern Genüge zu tun und sie zu überreden, ihre strafenden Hände von der Stadt abzuziehen. Dies werde nichts nützen, sagt Medea. Sie werde es auch nicht zulassen. Mir wird kalt. Eindringlich beschwöre ich sie, sich nicht gegen die Gesetze von Korinth zu vergehen. Es wäre ihr lieb, wenn sie es nicht müßte, sagt sie knapp. Medea, sage ich, wenn sie nicht die Gefangenen opfern, werden sie sich ein anderes Opfer suchen. Ich weiß, sagt sie. Ich sage, weißt du auch, wie grausam Menschen sein können. Ja, sagt sie. Aber jeder hat nur ein Leben, sage ich.

Wer weiß, sagt sie.

Ich starre sie an. Was weiß ich von dieser Frau, was weiß ich, was sie glaubt. Ich möchte sie fragen, ob es einen Glauben gibt, der die, die ihm anhängen, von der Angst vor dem Tod befreit, von der wir besessen sind. Ich sehe sie in der aufsteigenden Morgenhelligkeit, ich frage sie nicht. Zum erstenmal denke ich, vielleicht hat sie ein Geheimnis, das mir verborgen ist. Woran ich mich halte, ist die Überzeugung, daß wir dem Gesetz nicht entgehen, das über uns genauso waltet wie über den Lauf der Gestirne. Was wir tun oder lassen, ändert nichts daran. Sie stemmt sich dagegen. Das wird sie vernichten. Du kannst machen, was du willst, Medea, sage ich ihr, es wird dir nichts nützen, bis ans Ende der Zeiten nicht. Was die Menschen treibt, ist stärker als jede Vernunft.

Sie schweigt.

Die Nacht schwindet, wir sitzen immer noch da. Die Sonne geht auf, die Dächer der Stadt funkeln und glitzern. So werden wir nie wieder zusammensitzen. Ich begreife jetzt, was es heißt, das Herz ist einem schwer. Ich sehe keinen Ausweg, der nicht ein Unheil wäre. Was ich sagen konnte, habe ich gesagt. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Was geschehen soll, ist lange ohne uns beschlossen.

Wir schütten den Rest des Weines aus unseren Gläsern gegen die Sonne und sagen einander nicht, was wir uns dabei gewünscht haben. Ich habe mir gar nichts gewünscht. Ich denke, da ist ein Räderwerk in Gang gesetzt, das niemand mehr aufhalten kann. Meine Arme sind erlahmt. Soll ich wünschen, daß auch Medea so müde wird, wie ich es bin.

Sie sagt, ich gehe also. Geh, sage ich. Ich stehe an der Brüstung und sehe ihr nach, wie sie über den Platz geht, der den Turm umgibt und der so leer ist wie die ganze Stadt. Leergefegt von der Furcht vor der Pest.