»Harris meinte, es sei ein sehr schönes Labyrinth, soweit er es beurteilen könne – und wir kamen überein, auf unserem Rückweg George hineinzulocken.«»Drei Mann in einem Boot«
Jerome K. Jerome
28. Kapitel
Auslieferungen • Finch läßt sich etwas einfallen • Lady Schrapnell ist verschwunden • Begreifen, was das bedeutet • Ein Brief • Das Rätsel um Prinzessin Arjumand wird gelöst • Ein Heiratsantrag in Englisch • Gründe, um zu heiraten • Das Rätsel um Finchs Auftrag wird gelöst • Ein neues Rätsel • Lady Schrapnell sieht des Bischofs Vogeltränke • Das Erdbeben von San Francisco • Schicksal… • Ein glückliches Ende
Verity erholte sich zuerst von dem Schock. »Noch fünfundvierzig Minuten bis zur Einweihung«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Uhr. »Das schaffen wir nie.«
»Doch.« Ich schnappte mein Handy und rief Dunworthy an.
»Wir haben sie«, sagte ich. »Sie müssen uns helfen, nach Oxford zurückzukommen. Können Sie uns einen Helikopter schicken?«
»Prinzessin Victoria kommt zur Einweihung«, erwiderte er, was mir nicht die rechte Antwort auf meine Frage erschien.
»Sicherheitsvorkehrungen«, erklärte Verity. »Keine Helis, keine Flugzeuge oder sonstigen Fluggeräte in der nächsten Umgebung.«
»Können Sie einen Transport zu Land arrangieren?« fragte ich Dunworthy.
»Die Untergrundbahn ist schneller als jedes Transportmittel, das wir schicken können«, sagte Dunworthy. »Warum bringen Sie es nicht auf diesem Weg zu uns?«
»Das können wir nicht«, sagte ich. »Wir brauchen mindestens«, mein Blick glitt über die Schätze, die Verity bereits die Bodentreppe hinunterschleppte, »sieben bis acht Kubikmeter Laderaum.«
»Für des Bischofs Vogeltränke? Ist sie größer geworden oder was?«
»Ich erklär’s Ihnen, wenn wir da sind«, sagte ich und gab ihm Mrs. Bittners Adresse. »Halten Sie ein paar Leute bereit, wenn wir ankommen. Und lassen Sie die Einweihung auf keinen Fall beginnen, ehe wir nicht da sind. Ist Finch in der Nähe?«
»Nein, er ist drüben in der Kathedrale«, sagte Dunworthy.
»Sagen Sie ihm, er soll sich was einfallen lassen. Und sorgen Sie dafür, daß Lady Schrapnell nichts von alldem merkt. Rufen Sie mich zurück, wenn Sie eine Transportmöglichkeit gefunden haben.«
Ich steckte das Handy in meine Jackentasche, doch gerade, als ich des Bischofs Vogeltränke hochhob und mit ihr die Treppe hinuntergehen wollte, meldete es sich bereits wieder.
»Ned«, sagte Lady Schrapnell. »Wo stecken Sie? Die Einweihung beginnt in weniger als einer dreiviertel Stunde!«
»Weiß ich. Wir kommen so schnell es geht, aber wir brauchen ein Transportmittel. Können Sie uns einen kleinen Lastwagen besorgen? Oder einen Frachtwaggon der Untergrundbahn?«
»Frachtwaggons befördern keine Personen«, entgegnete sie. »Ich werde nicht zulassen, daß Sie des Bischofs Vogeltränke noch mal aus den Augen lassen und sei’s nur für eine Sekunde. Es reicht, daß sie einmal verlorengegangen ist. Ich will sie nicht noch mal verlieren.«
»Ich auch nicht«, sagte ich und unterbrach die Verbindung.
Wieder nahm ich die Vogeltränke hoch. Das Handy dudelte.
Diesmal war es Dunworthy. »Sie werden’s nicht glauben, was diese Frau diesmal verlangt! Wir sollen des Bischofs Vogeltränke zum nächsten Netz und von dort nach vorgestern zurückbringen, damit sie vor der Einweihung noch gesäubert und poliert werden kann.«
»Haben Sie ihr gesagt, daß das unmöglich ist, daß ein Objekt nicht an zwei Orten gleichzeitig existieren kann?«
»Natürlich, und darauf sagte sie…«
»›Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden‹«, vollendete ich. »Ich weiß. Schicken Sie uns einen Lastwagen?«
»Es ist kein einziger in Coventry verfügbar. Lady Schrapnell hat alle im Landkreis und darüber hinaus für die Einweihung rekrutiert. Carruthers ruft gerade die Autovermietungen an.«
»Aber wir brauchen acht Kubikmeter«, sagte ich. »Haben Sie in Oxford keinen Lastwagen?«
»Prinzessin Victoria«, sagte er. »Es würde zwei Stunden dauern, bis er bei Ihnen wäre.«
»Wegen der Absperrungen«, erklärte Verity.
»Wenn wir es mit dem Lastwagen nicht durch den Verkehr schaffen, wie sollen wir dann zur Kathedrale gelangen?«
»Zu der Zeit, wo Sie ankommen, wird jedermann schon dort eingetroffen sein. Ah, prima«, sagte er zu jemand anderem. »Carruthers hat eine Autovermietung erreicht.«
»Gut.« Mir fiel etwas ein. »Schicken Sie kein Solarauto. Es ist bewölkt und es sieht aus, als wollte es jeden Moment regnen.«
»Ach, du grüne Neune! Lady Schrapnell ist wild entschlossen, daß die Sonne bei der Einweihung scheint.« Er legte auf.
Dieses Mal schaffte ich es mit des Bischofs Vogeltränke bis zum zweiten Stock, ehe das Handy wieder dudelte. Dunworthy war noch einmal am Apparat. »Wir schicken ein Auto.«
»Ein Auto ist nicht groß genug für…«
»Er müßte in zehn Minuten bei Ihnen sein«, sagte er. »T. J. muß unbedingt mit Ihnen über die Inkonsequenz sprechen.«
»Sagen Sie ihm, ich rede mit ihm, wenn ich zurück bin.« Ich unterbrach die Verbindung.
Das Handy dudelte augenblicklich wieder. Ich stellte es ab, und es gelang mir, des Bischofs Vogeltränke nach unten in die kleine Eingangshalle zu bringen, in der sich bereits die Gegenstände stapelten.
»Sie schicken ein Auto«, sagte ich zu Verity. »Es müßte in zehn Minuten hier sein.« Dann ging ich ins Wohnzimmer, um nach Mrs. Bittner zu sehen. Sie saß auf einem der chintzbezogenen Stühle.
»Sie schicken ein Auto«, sagte ich zu ihr. »Soll ich Ihnen Ihren Mantel holen? Oder Ihre Tasche?«
»Nein, danke«, sagte sie leise. »Halten Sie es wirklich für eine gute Idee, des Bischofs Vogeltränke mit in die Welt hinaus zu nehmen? Wird sie nicht den Lauf der Geschichte verändern?«
»Das hat sie bereits«, erwiderte ich. »Und Sie auch. Ihnen ist doch klar, was Sie da getan haben, oder? Dank Ihnen haben wir eine ganze Serie Gegenstände entdeckt, die mit durchs Netz gebracht werden können. Andere Schätze, die durch Feuer vernichtet worden sind. Kunstwerke, Bücher und…«
»Sir Richard Burtons Briefe«, sagte Mrs. Bittner. Sie schaute zu mir hoch. »Seine Frau verbrannte sie nach seinem Tod. Weil sie ihn liebte.«
Ich setzte mich aufs Sofa. »Sie möchten nicht, daß wir die Vogeltränke mitnehmen, stimmt’s?«
»Doch.« Sie schüttelte den weißhaarigen Kopf. »Doch. Sie gehört in die Kathedrale.«
Ich beugte mich vor und nahm ihre Hände. »Dank Ihnen ist die Vergangenheit nicht mehr so unwiderruflich vorbei, wie wir dachten.«
»Teile der Vergangenheit«, korrigierte sie leise. »Am besten, Sie bringen jetzt den Rest der Sachen hinunter.«
Ich nickte und machte mich auf den Weg zum Dachboden. Auf der Hälfte der Treppe prallte ich mit Verity zusammen, die vorsichtig das Bahrtuch aus der Capperschen Kapelle auf den ausgestreckten Armen trug.
»Wirklich erstaunlich«, sagte ich mit einer äußerst gelungenen Imitation von Mrs. Merings Stimme, »welche Schätze manche Menschen auf ihren Dachböden lagern.« Ich grinste sie an und stieg weiter nach oben. Ich hatte das Kinderkreuz und die Altarplatte bereits zur Haustür hinuntergebracht und war gerade dabei, die Truhe aus dem sechzehnten Jahrhundert nach unten zu schleppen, als Verity die Treppe hochrief: »Das Auto ist da.«
»Es ist kein Solarauto, oder?«
»Nein. Ein Leichenwagen.«
»Ist der Sarg noch drin?«
»Nein.«
»Gut. Dann dürfte er groß genug sein.« Ich schleppte die Truhe ins Freie.
Es handelte sich um einen uralten Diesel, der aussah, als sei er während der Großen Seuche benutzt worden, aber zumindest war er groß und hatte eine hintere Ladeklappe. Der Fahrer starrte auf den Haufen Schätze. »Sie waren auf einem Flohmarkt, oder?«
»Ja«, sagte ich und schob die Truhe in den Wagen.
»Das geht nie im Leben alles rein«, sagte der Fahrer.
Ich schob die Truhe nach vorn, soweit es ging, und nahm den silbernen Kandelaber, den Verity mir reichte. »Doch«, sagte ich. »Ich bin ein alter Hase auf diesem Gebiet. Geben Sie mir das bitte.«
Es paßte alles hinein, wenn das auch hieß, daß wir die Statue des Heiligen Michael auf den Vordersitz placieren mußten. »Mrs. Bittner kann vorn sitzen«, sagte ich zu Verity, »aber wir beide müssen auf den Rücksitz.«
»Und des Bischofs Vogeltränke?«
»Nehme ich auf den Schoß.«
Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Wir haben alles eingeladen«, sagte ich zu Mrs. Bittner. »Sind Sie soweit?« Obwohl ich genau sah, daß sie es nicht war. Sie saß immer noch ruhig auf dem chintzbezogenen Stuhl.
»Ich werde gar nicht mit Ihnen kommen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Meine Bronchitis…«
»Nicht mitkommen?« fragte Verity von der Tür her. »Aber Sie sind doch diejenige, die die ganzen Schätze gerettet hat! Sie müssen kommen und sie in der Kathedrale sehen!«
»Ich habe sie bereits in der Kathedrale gesehen«, sagte Mrs. Bittner. »Schöner als in jener Nacht in den Flammen können sie nicht aussehen.«
»Ihr Mann würde wollen, daß Sie mitkommen«, sagte Verity. »Er liebte die Kathedrale.«
»Sie ist nur ein äußerliches Symbol einer größeren Realität«, erwiderte Mrs. Bittner. »Wie das Kontinuum.«
Der Fahrer steckte den Kopf zur Tür herein. »Ich dachte, Sie hätten’s eilig.«
»Wir kommen gleich«, sagte ich über die Schulter.
»Bitte, kommen Sie mit.« Verity kniete sich neben den Stuhl. »Ohne Sie fehlt was.«
»Unsinn«, sagte Mrs. Bittner. »Oder haben Sie schon mal gelesen, daß die schuldige Partei Harriet und Lord Peter auf der Hochzeitsreise begleitet hätte? Na, sehen Sie. Die schuldige Partei bleibt zurück, um über ihre Sünden und die Konsequenzen, die sich aus ihrer Handlung ergeben haben, nachzusinnen, und das beabsichtige ich auch. Obwohl in meinem Fall die Konsequenzen nicht ganz die sind, die man erwartet hätte. Da muß man sich erst mal dran gewöhnen, wenn man so lange wie ich in Sack und Asche gegangen ist.«
Sie schenkte uns ein plötzliches Lächeln, und ich begriff schlagartig, worin sich Jim Dunworthy, Shoji Fujisaki und Bitty Bittner verliebt hatten.
»Sind Sie ganz sicher?« Verity kämpfte mit den Tränen.
»Vielleicht nächste Woche. Wenn sich meine Bronchitis gebessert hat«, sagte Mrs. Bittner. »Dann gebe ich Ihnen beiden eine persönliche Führung.«
»Sie haben gesagt, Sie müßten um elf Uhr in Oxford sein«, sagte der Fahrer. »Das schaffen Sie nie.«
»Doch.« Ich half Mrs. Bittner aufzustehen, damit sie uns zum Auto begleiten konnte.
»Sind Sie sicher, daß alles in Ordnung ist?« fragte Verity.
Mrs. Bittner tätschelte ihre Hand. »Absolut. Am Ende wurde alles viel besser als man erwarten konnte. Die Alliierten haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen«, wieder dieses Zuleika Dobson-Lächeln, »und ich habe diese scheußliche Vogeltränke nicht länger auf meinem Dachboden. Was könnte besser sein?«
»Ich konnte wegen des Kreuzes nicht nach hinten sehen«, sagte der Fahrer, »deshalb habe ich es hochkant vorn hingestellt. Sie beide müssen hinten sitzen.«
Ich küßte Mrs. Bittners Wange. »Danke«, sagte ich und kroch ins Auto. Der Fahrer gab mir des Bischofs Vogeltränke, und ich setzte sie auf meinen Schoß. Verity kroch an mir vorbei, winkte Mrs. Bittner, und weg waren wir wie der Blitz.
Ich schaltete das Handy wieder ein, um Dunworthy anzurufen. »Wir sind auf dem Weg«, sagte ich. »In fünfzehn Minuten müßten wir da sein. Sagen Sie Finch, er soll die Sache noch weiter rauszögern. Haben Sie ein paar Leute zum Ausladen zusammengetrommelt?«
»Ja.«
»Gut. Ist der Erzbischof schon da?«
»Nein, aber Lady Schrapnell, und sie ist außer sich. Sie will wissen, wo Sie des Bischofs Vogeltränke fanden und welche Art Blumen hineingestellt werden sollen. Für die Gottesdienstsordnung.«
»Sagen Sie, gelbe Chrysanthemen.«
»Alles in Butter«, sagte ich zu Verity und unterbrach die Verbindung.
»Nicht ganz, Sherlock.« Sie hockte mit dem Rücken an der Wagenwand, die Knie hochgezogen. »Es gibt da noch ein paar Dinge, die einer Erklärung bedürfen.«
»Stimmt. Zum Beispiel Finchs verwandter Auftrag. Du hast gesagt, du wüßtest, um was es sich gehandelt hat.«
»Unwichtige Objekte zurückzubringen«, sagte Verity.
»Unwichtige Objekte? Aber wir haben doch gerade erst entdeckt, daß das möglich ist! Und unwichtige Objekte haben nichts mit unserer Inkonsequenz zu tun.«
»Richtig«, erwiderte sie. »Aber über eine Woche lang haben T. J. und Dunworthy gedacht, es sei so und alles mögliche probiert.«
»Aber in Muchings End oder Iffley hat doch nichts gebrannt, während wir dort waren. Was hat Finch mitgebracht? Kohlköpfe?«
Das Handy dudelte. »Ned«, sagte Lady Schrapnell. »Wo stecken Sie?«
»Unterwegs« sagte ich. »Zwischen…« ich beugte mich zu dem Fahrer vor. »Wo sind wir?«
»Zwischen Banbury und Adderbury.«
»Zwischen Banburry und Adderburry. Wir sind so rasch wie möglich da.«
»Ich versteh’ immer noch nicht, warum wir des Bischofs Vogeltränke nicht nach vorgestern bringen konnten«, beschwerte sich Lady Schrapnell. »Das wäre doch viel einfacher gewesen. Ist sie in gutem Zustand?«
Auf diese Frage gab es keine Antwort. »Wir sind so rasch wie möglich da«, sagte ich und beendete das Gespräch.
»Also, jetzt bin ich mit Fragen dran«, sagte Verity. »Etwas versteh’ ich immer noch nicht. Wie konnte die Tatsache, daß Tossie am fünfzehnten Juni nach Coventry fuhr, dort des Bischofs Vogeltränke sah und sich in Baine verliebte, die Inkonsequenz beseitigen?«
»Tat sie ja auch nicht«, erwiderte ich. »Das ist nicht der Grund, weshalb Tossie dort war.«
»Aber daß sie des Bischofs Vogeltränke sah, inspirierte Lady Schrapnell dazu, die Kathedrale wiederaufzubauen und mich zurückzuschicken, um das Tagebuch zu lesen, was dazu führte, daß ich Prinzessin Arjumand rettete…«
»Was alles Teil der Selbstkorrektur war. Aber der Hauptgrund, weshalb Tossie am fünfzehnten in Coventry sein mußte, bestand darin, daß sie dort gesehen werden konnte, wie sie mit Reverend Doult flirtete.«
»Oh«, sagte Verity. »Von dem Mädchen mit den Federhalterwischern.«
»Sehr gut, Harriet. Das Mädchen mit den Federhalterwischern. Miss Delphinium Sharpe…«
»Die Frau, die den Blumenausschuß leitete.«
»Nicht mehr«, sagte ich. »Als sie Tossie mit Reverend Doult flirten sah, war sie, wie du dich vielleicht erinnerst, völlig außer sich. Sie packte ihre Federhalterwischer in die Sakristei, und als wir die Kirche verließen, stapfte sie die Bayley Lane hoch, ihre lange Nase in die Luft gereckt. Ich sah, wie Reverend Doult ihr nacheilte, um sie wieder versöhnlich zu stimmen. Über das Folgende bin ich mir nicht ganz sicher, aber ich vermute, daß im Laufe des Streits, der folgte, Miss Sharpe in Tränen ausbrach, und Reverend Doult ihr, ehe er sich’s versah, einen Heiratsantrag machte. Was bedeutete, daß Reverend Doult nicht im Dienst der Kathedrale blieb, sondern eine Vikarstelle irgendwo auf dem Land erhielt.«
»Deshalb wolltest du die Liste der Kirchenangestellten.«
»Sehr gut, Harriet. Er schaffte den Absprung schneller als ich erwartete. Er heiratete Miss Sharpe 1891 und bekam im folgenden Jahr eine Gemeinde in Northumberland.«
»Also war Miss Sharpe in der Nacht des vierzehnten November 1940 nicht mal in der Nähe Coventrys«, sagte Verity. »Und achtete, vollauf beschäftigt mit Gemeindebasaren und Alteisensammlungen, nicht darauf, ob eine gewisse Vase vermißt wurde.«
»Und schrieb keinen Brief an den Herausgeber«, vollendete ich, »und jedermann nahm an, daß das Ding verbrannt war.«
»Und Ultras Geheimnis blieb gewahrt.« Sie runzelte die Stirn. »Und alles – meine Rettung der Katze, daß wir nach Oxford gingen, um Madame Iritosky zu treffen, daß du Terence davon abhieltest, Maud zu begegnen und ihm das Geld für das Boot geliehen hast, die Seance und das alles, war Teil der Selbstkorrektur? Das ganze Theater?«
»Das ganze Theater«, erwiderte ich und dachte dann über diese Worte nach. Wie weitgehend war die Selbstkorrektur gewesen und was hatte sie alles einbezogen? Professors Peddicks Streit mit Professor Overforce? Die Psychic Research Society? Die gespendeten Schachteln für gezuckerte Veilchen auf dem Basar? Die pelztragenden Damen bei Blackwell’s?
»Eines ist mir nicht klar«, sagte Verity. »Wenn es einzig darum ging, Delphinium Sharpe davon abzuhalten, einen Brief an die Zeitung zu schreiben, hätte es für das Kontinuum doch unkompliziertere Wege gegeben.«
»Es ist ein chaotisches System«, sagte ich. »Jedes Ereignis ist mit jedem anderen verknüpft. Für eine kleine Änderung bedarf es manchmal weitreichender Maßnahmen.«
Doch wie weitreichend? überlegte ich. War die Luftwaffe beteiligt? Agatha Christie? Und das Wetter?
»Ich weiß, daß es ein chaotisches System ist«, sagte Verity in meine Gedanken hinein. »Aber wir reden hier von einem Luftangriff. Wenn die Selbstkorrektur automatisch erfolgte, hätte eine genau placierte Bombe die Inkonsequenz rascher und direkter beseitigt als irgendwelche Pläne mit Katzen und Ausflügen nach Coventry.«
Eine genau placierte Sprengbombe würde jede Gefahr, die Ultra von Delphinium Sharpe gedroht hatte, eliminiert haben, ohne jede Folgen. Über fünfhundert Menschen waren in jener Nacht in Coventry gestorben.
»Vielleicht hatte Delphinium Sharpe oder eine der anderen Personen, die in jener Nacht am Westportal standen, eine andere wichtige Rolle in der Geschichte«, sagte ich und dachte dabei an den untersetzten Luftschutzwart und die Frau mit den beiden Kindern.
»Ich rede nicht von Delphinium Sharpe«, sagte Verity. »Ich meine des Bischofs Vogeltränke. Wenn die Smithsche Kapelle direkt getroffen worden wäre, hätte Miss Sharpe geglaubt, sie sei zerstört worden, und ihren Brief nie geschrieben. Oder die Kapelle hätte getroffen werden können, bevor Lizzie Bittner erschien, und so hätte diese überhaupt keine Inkonsequenz erzeugen können.«
Sie hatte recht. Eine einzige direkte Bombe – mehr hätte es nicht gebraucht. Wenn nicht diese vielleicht etwas anderes verändert hätte. Oder wenn des Bischofs Vogeltränke nicht vielleicht eine andere wichtige Rolle in der Geschichte spielen sollte. Oder wenn das Kontinuum nicht noch andere subtilere Gründe dafür hatte, die Korrektur eben so vorzunehmen.
Pläne, Absichten, Gründe. Fast konnte ich Professor Overforce sagen hören: »Ich wußte es! Das alles ist nichts weiter als ein Argument für einen Großen Plan!«
Wir konnten den Großen Plan nicht erkennen, weil wir Teil davon waren. Nur hin und wieder überkam uns ein winziges Aufflackern der Erkenntnis. Ein Großer Plan, der den gesamten Verlauf der Geschichte und Zeit und Raum umfaßte, der sich aus unerfindlichen Gründen dazu entschloß, seine Werke mit Katzen, Crocketschlägern und Federhalterwischern auszuführen – ganz zu schweigen von dem Hunde. Und einem scheußlichen victorianischen Kunstwerk. Und uns.
»Geschichte ist Charakter«, hatte Professor Peddick gesagt. Und Charakter hatte auf jeden Fall eine Rolle in der Selbstkorrektur gespielt – Lizzie Bittners Ergebenheit für ihren Ehemann, die Weigerung des Colonels, bei Regenwetter einen Mantel zu tragen, Veritys Zuneigung zu Katzen und Mrs. Merings Leichtgläubigkeit. Und meine Zeitkrankheit. Wenn dies alles Teil der Selbstkorrektur war, was bedeutete das für den Begriff des freien Willens? Oder war der freie Wille ebenfalls Teil des Plans?
»Es gibt da noch was, das ich nicht verstehe«, sagte Verity. »Die Inkonsequenz war beseitigt, als Tossie mit Baine auf und davon ging, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Warum war dann Delphinium Sharpe überhaupt da? Sagte T. J. nicht, die Wahrscheinlichkeiten kollabierten in den vorgesehenen Lauf der Geschichte, sobald die Inkonsequenz beseitigt war?«
»Aber die Inkonsequenz wurde nicht beseitigt, während wir in Muchings End waren«, sagte ich. »Baine warf Tossie ins Wasser, aber sie waren noch nicht getürmt. Und deshalb war die Inkonsequenz nicht vollständig beseitigt.«
»Natürlich waren sie schon fort. Sie verschwanden am achtzehnten Juni 1888. Und es war nur logisch, nachdem sie sich geküßt hatten – warum mußten wir also überhaupt noch nach Coventry? Bestimmt nicht, damit Tossie mit Baine davonlaufen konnte.«
Darauf zumindest wußte ich eine Antwort. »Um des Bischofs Vogeltränke zu finden«, sagte ich. »Es war nötig, daß ich die Portale sah und den leeren gußeisernen Ständer, um zu begreifen, was geschehen war.«
»Aber warum?« Sie runzelte immer noch die Stirn. »Das Kontinuum hätte es auch geschafft, die Inkonsequenz zu beseitigen, ohne uns davon wissen zu lassen.«
»Aus Mitleid?« sagte ich. »Weil es wußte, daß Lady Schrapnell mir den Hals umdrehen würde, wenn ich des Bischofs Vogeltränke nicht rechtzeitig zur Einweihung herbeischaffte?«
Aber recht hatte sie. Des Bischofs Vogeltränke hätte bis zum Sankt Nimmerleinstag auf Mrs. Bittner Dachboden lagern und Staub fangen können, jetzt, wo die Inkonsequenz beseitigt und Ultra von den Nazis unentdeckt geblieben war. Warum also war ich ins Labor im Jahr 2018 und zu Blackwell’s und zu dem Luftangriff geschickt worden, und warum hatte ich solche offenkundigen Hinweise erhalten, wenn es bedeutungslos war, ob des Bischofs Vogeltränke gefunden wurde oder nicht? Oder gab es einen Grund, warum sie sich zur Einweihung in der Kathedrale befinden mußte?
»Wir erreichen gleich Oxford«, sagte der Fahrer. »Wo soll ich Sie hinfahren?«
»Einen Augenblick.« Ich rief Dunworthy an. Finch war am Apparat.
»Gottseidank«, sagte er. »Fahren Sie die Parks Road bis Holywell und Longwell, dann südlich die High Street weiter und biegen Sie bei Mertons Sportgelände ab. Nehmen Sie die Zufahrtsstraße. Wir erwarten Sie an der Sakristeitür. Wissen Sie, wo das ist?«
»Ja«, sagte ich und zu dem Fahrer: »Haben Sie alles mitbekommen?«
Er nickte. »Sie wollen dieses Zeugs in die Kathedrale schaffen?«
»Ja.«
»Geld zum Fenster rausgeworfen und anderen Leuten die Zeit gestohlen, wenn Sie mich fragen«, sagte er. »Ich meine, wozu soll eine Kathedrale gut sein?«
»Lassen Sie sich überraschen«, sagte Verity.
»Hier abbiegen.« Ich entdeckte Mertons Fußgängereingang. »Finch, wir sind da«, sagte ich ins Handy, dann zu dem Fahrer: »Fahren Sie zum östlichen Ende. Die Sakristeitür ist auf der Südseite.«
Langsam fuhr er zur Sakristeitür, wo Finch mit einem Dutzend Menschen auf uns wartete. Einer von ihnen öffnete die Ladeklappe, und Verity kroch ins Freie und gab Anweisungen. »Das Altartuch in die Smithsche Kapelle«, sagte sie, »ebenso der Kerzenleuchter. Geben Sie acht, daß Sie die Rekonstruktionen nicht mit den Originalen verwechseln. Ned, gib mir das Bahrtuch aus der Capperschen Kapelle.«
Ich legte es über ihre ausgestreckten Arme, und sie stieg damit die Stufen hoch. Wieder nahm ich das Handy.
»Finch, wo stecken Sie?«
»Hier, Sir«, sagte er. Er stand neben der Leichenwagentür, immer noch in seinem Schwalbenschwanz, doch der Ärmel war inzwischen trocken.
Ich reichte ihm die emaillierte Monstranz. »Die Einweihung hat noch nicht begonnen, oder?«
»Nein, Sir«, sagte er. »Leider gab es einen unglückseligen Verkehrsstau in der St. Aldate’s Street. Feuerwehrautos und Krankenwagen blockierten die Straße. Es stellte sich heraus…« – sein Gesicht glich völlig dem eines Pokerspielers –, »daß nichts dahinter war, aber es brauchte seine Zeit, bis sich alles wieder aufgelöst hatte. Nahezu eine Stunde lang war kein Durchkommen nach Christ Church Meadow. Und dann verzögerte sich die Ankunft des Bischofs. Sein Fahrer nahm die falsche Abzweigung und landete in Iffley. Und nun scheint es irgendein Durcheinander mit den Eintrittskarten zu geben.«
Bewundernd schüttelte ich den Kopf. »Jeeves wäre stolz auf Sie. Von Bunter ganz zu schweigen. Oder dem Vortrefflichen Crichton.« Ich hob des Bischofs Vogeltränke aus dem Auto.
»Soll ich Ihnen das abnehmen, Sir?«
»Das will ich selber abliefern.« Ich deutete mit einem Kopfnicken zu dem Kinderkreuz. »Das kommt in die Girdlersche Kapelle. Und die Statue des Heiligen Michael in den Chor.«
»Jawohl, Sir«, sagte er. »Mr. Lewis sucht Sie. Er muß etwas mit Ihnen besprechen, wegen des Kontinuums.«
»Prima«, sagte ich und kämpfte mit den Misericordien. »Sobald dieses Durcheinander hier vorbei ist.«
»Ja, Sir. Und irgendwann muß ich auch mit Ihnen sprechen. Über meinen Auftrag.«
»Sagen Sie mir nur eins, Finch.« Ich ließ die Misericordie ins Freie gleiten und reichte sie zwei Erstsemesterstudenten. »Hatte Ihr Auftrag etwas damit zu tun, unwichtige Objekte zurückzubringen?«
Er schaute erschrocken. »Keineswegs, Sir.«
Ich nahm des Bischofs Vogeltränke. »Wissen Sie, wo Lady Schrapnell ist?«
»Gerade war sie noch in der Sakristei, Sir.« Sein Blick ging zum Himmel hoch. »Meine Güte, es sieht immer mehr nach Regen aus! Und Lady Schrapnell wollte doch, daß alles so ist wie am Tag des Luftangriffs.«
Ich schleppte des Bischofs Vogeltränke die Stufen hoch zur Sakristeitür, was völlig passend schien, hatte doch Probst Howard durch eben diese Tür die Kerzenleuchter, das Kruzifix und die Regimentsfahnen hinausgetragen. Die Schätze von Coventry.
Ich öffnete die Tür und stellte des Bischofs Vogeltränke in der Sakristei ab. »Wo ist Lady Schrapnell?« fragte ich eine Historikerin, die ich vom Jesus College her kannte. Sie zuckte kopfschüttelnd die Achseln. »Nein«, rief sie jemandem im Allerheiligsten zu, »wir brauchen noch Gesangsbücher für die letzten vier Bankreihen im Nordgang. Und drei Gebetsbücher.«
Ich trat hinaus in den Chor. Und mitten ins Chaos hinein. Menschen rannten umher, schrien Anordnungen, laute Hammerschläge ertönten aus der Mercerschen Kapelle.
»Wer hat das Buch mit den Episteln weggenommen?« rief ein Kurator vom Lesepult herüber. »Eben war es noch da.«
Oben von der Orgel dröhnte ein Akkord, gefolgt von der Intrada zu »Die Himmel rühmen den Herrn«. Eine dürre Frau mit grüner Schürze steckte langstielige rosafarbene Gladiolen in eine Messingvase, die vor der Kanzel stand, und eine stämmige Frau mit Brille, die einen Zettel in der Hand trug, sprach jeden an und fragte etwas. Vielleicht suchte sie auch nach Lady Schrapnell.
»Ich begreif nicht, warum es so wichtig sein soll, daß die Innenseite der Chorbänke fertig sind«, sagte eine Blondine mit einer langen Nase zu einem Jungen, der halb unter einer der Bänke lag. »Das kann doch sowieso von unten niemand sehen.«
»›Wir müssen es nicht versteh’n‹«, erwiderte der Junge. »›bedeutet gehorchen auch, in den Tod zu geh’n.‹«[84]
»Entschuldigung«, sagte ich. »Wissen Sie, wo Lady Schrapnell ist?«
»Zuletzt habe ich sie in der Draperschen Kapelle gesehen«, meinte der Junge unter der Bank.
Aber dort war sie nicht und auch nicht im Allerheiligsten oder oben in den Lichtgaden. Ich ging hinunter ins Kirchenschiff.
Carruthers war dort. Er saß in einer der Bänke und faltete Gottesdienstordnungen.
»Hast du Lady Schrapnell gesehen?« fragte ich.
»Eben war sie da«, sagte er mißmutig. »Und drum häng’ ich jetzt hier fest. Plötzlich, quasi in der letzten Sekunde, beschloß sie, daß die Gottesdienstordnungen neu gedruckt werden müßten.« Er schaute hoch. »Grundgütiger Himmel, du hast sie gefunden? Wo war sie?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte ich. »Wohin ist Lady Schrapnell gegangen?«
»Sakristei. Warte – bevor du gehst, möchte ich dich was fragen. Was hältst du von Peggy?«
»Peggy?«
»Warder«, erklärte er. »Meinst du nicht auch, sie ist das süßeste, anbetungswürdigste Wesen, das du je gesehen hast?«
»Hast du sie immer noch nicht fertiggefaltet?« fragte Miss Warder, die plötzlich herbeikam. »Lady Schrapnell braucht sie für die Platzanweiser.«
»Wo ist sie?« wollte ich wissen.
»In der Mercerschen Kapelle«, sagte Miss Warder, und ich suchte das Weite.
Aber Lady Schrapnell war weder in der Mercerschen Kapelle noch in der Taufkapelle, und nahe dem Westportal gab es die ersten Anzeichen eines Menschenauflaufs. Es half nichts – ich mußte des Bischofs Vogeltränke selbst an ihren alten Platz stellen.
Ich trug sie hinüber zur Smithschen Kapelle, voller Bedenken, daß inzwischen der schmiedeeiserne Pfosten verschwunden sein könnte, aber er war an seinem richtigen Platz vor der Chorschranke. Vorsichtig setzte ich des Bischofs Vogeltränke darauf.
Blumen. Es mußten Blumen hinein. Ich ging zur Kanzel und der Frau mit der grünen Schürze. »Die Vase vor der Chorschranke in der Smithschen Kapelle bräuchte noch Blumen«, sagte ich. »Gelbe Chrysanthemen.«
»Gelbe Chrysanthemen!« Sie griff hastig und mit panischem Gesichtsausdruck nach einem Handy. »Hat Lady Schrapnell Sie geschickt? Mir wurde nichts von gelben Chrysanthemen gesagt.«
»Es hat sich eben erst herausgestellt«, erklärte ich. »Sie haben nicht zufällig Lady Schrapnell gesehen, oder?«
»Girdlersche Kapelle«, sagte sie, Gladiolen in die Vase vor der Kanzel rammend. »Chrysanthemen! Wo um alles in der Welt soll ich gelbe Chrysanthemen herbekommen!«
Ich wollte den Gang im Querschiff hinuntereilen, aber er war verstopft mit Chorknaben und Menschen in akademischer Robe. »Alle herhören!« rief ein junger Mann, der Reverend Arbitage aufs Haar ähnelte. »Hier ist die Prozessionsordnung. Zuerst die Weihrauchträger, dann der Chor. Danach die Angehörigen der Historischen Fakultät, College nach College. Mr. Ransome, wo ist Ihr Talar? Volle akademische Insignia, so lautet die Anweisung.«
Ich schob mich durch eine der Bänke seitwärts in den Nordgang zum Kirchenschiff. Da entdeckte ich Dunworthy.
Er stand am Durchgang zur Girdlerschen Kapelle, an einen der Bogenpfeiler gelehnt, offenbar um sich zu stützen, und hielt ein Blatt Papier, das, während ich zusah, aus seiner Hand fiel und zu Boden flatterte.
»Was ist?« Ich eilte hin. »Geht es Ihnen nicht gut? Kommen Sie.« Ich legte den Arm um ihn und führte ihn zur nächsten Bank. »Setzen Sie sich.« Ich hob das Blatt Papier auf und setzte mich neben ihn. »Was ist passiert?«
Er lächelte mich an, ziemlich blaß, wie mir schien. »Ich habe gerade das Kinderkreuz gesehen«, sagte er, dahin deutend, wo es in der Girdlerschen Kapelle hing. »Und begriffen, was es bedeutet. Wir waren so mit der Inkonsequenz, mit Finchs Auftrag und damit, Carruthers rauszuholen, beschäftigt, daß ich bis eben nicht gemerkt habe, was das alles bedeutet.«
Er griff nach dem Blatt, das ich aufgehoben hatte. »Ich habe eine Liste angefertigt«, sagte er.
Ich schaute auf das Blatt in meiner Hand. »Die Bibliothek von Lissabon«, stand da. »Die Öffentliche Bibliothek von Los Angeles. Die Französische Revolution von Carlyle. Die Bücherei von Alexandria.«
Ich starrte Dunworthy an.
»Alles verbrannt«, sagte er. »Ein Dienstmädchen verbrannte versehentlich das einzige Exemplar von Carlyles Buch.« Er nahm das Papier. »Das ist nur, was mir jetzt spontan eingefallen ist.« Er faltete die Liste. »Die St. Paul’s Kathedrale wurde durch eine Luftmine zerstört. Und alles, was darin war – Das Licht der Welt, Nelsons Grab, die Statue von John Donne. Wenn ich mir vorstelle, daß es…«
Der Kurator kam herbei. »Mr. Dunworthy«, sagte er. »Sie müssen sich jetzt aufstellen.«
»Haben Sie Lady Schrapnell gesehen?« fragte ich ihn.
»Vor ein paar Minuten war sie noch in der Draperschen Kapelle«, sagte er. »Mr. Dunworthy, sind Sie bereit?«
»Ja«, sagte Dunworthy. Er nahm sein Barett ab, steckte die Liste hinein und setzte es wieder auf. »Ich bin bereit für alles.«
Ich eilte das Kirchenschiff entlang zur Draperschen Kapelle. Im Querschiff wimmelte es von Dekanen, und Miss Warder versuchte, die Chorknaben aufzustellen. »Nein, nein, nein!« schrie sie. »Nicht hinsetzen! Ihr zerknittert die Gewänder. Ich habe sie gerade gepreßt. Stellt euch auf! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«
Ich rannte an ihr vorbei hinüber zur Draperschen Kapelle. Dort sah ich Verity, die vor dem Buntglasfenster stand, ihren wunderschönen Kopf über ein Blatt Papier gebeugt.
»Was ist das?« Ich ging zu ihr. »Die Gottesdienstordnung?«
»Nein. Ein Brief. Erinnerst du dich noch, nachdem wir Mauds Brief fanden, schlug ich doch der Gerichtsmedizinerin vor, nach weiteren Briefen zu forschen, die Tossie vielleicht an andere Personen geschrieben haben könnte.« Sie hielt das Papier hoch. »Hier ist einer.«
»Du machst Witze«, sagte ich. »Und ich nehme an, Baines Name steht darin.«
»Nein, Tossie nennt ihn immer noch ihren ›geliebten Ehemann‹. Und sie unterschreibt mit ›Toots‹. Aber es steht etwas anderes Interessantes darin.« Sie setzte sich auf eine der geschnitzten Bänke. »Hör zu – ›Mein lieber Terence…‹«
»Terence? Warum in alles der Welt schreibt sie an Terence?«
»Er schrieb ihr«, erklärte Verity. »Der Brief ist verlorengegangen. Dies ist Tossies Antwort.«
»Terence schrieb ihr?«
»Ja. Hör zu – ›Mein lieber Terence. Ich kann es nicht mit Worten ausdrücken, wie glücklich mich Dein Brief vom dritten gemacht hat‹. ›Glücklich‹ ist unterstrichen. ›Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, jemals wieder etwas von meiner geliebten Prinzessin Arjumand zu hören!!‹ ›Hören‹ ist…«
»Unterstrichen«, sagte ich.
»Mit zwei Ausrufungszeichen versehen«, sagte Verity. Sie las weiter. »›Wir waren bereits weit draußen auf See, als ich entdeckte, daß sie verschwunden war. Mein geliebter Ehemann versuchte alles, was in seiner Macht stand, um den Kapitän zur Rückkehr zum Hafen, zu bewegen, aber dieser verweigerte grausamerweise dieses Ansinnen, und ich dachte, ich würde meine geliebte Miezmiez in diesem Leben niemals wieder sehen noch etwas von ihrem SCHICKSAL erfahren.‹«
»So gut wie alles ist unterstrichen«, sagte Verity, »und Schicksal ist großgeschrieben.« Sie las weiter. »›Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freute, als ich Deinen Brief bekam. Ich hatte solche Angst, daß Juju in der schäumenden See ertrunken wäre, und nun höre ich, daß sie nicht nur am Leben ist, sondern auch noch bei dir!‹«
»Häh?«
»Von jetzt ab ist alles unterstrichen«, sagte Verity. »›Wenn ich daran denke, daß mein zarter Liebling die ganze Strecke von Plymouth nach Kent zurückgelegt hat, wo doch Muchings End viel näher gewesen wäre! Aber vielleicht ist es das Beste so. Mama hat geschrieben, daß Papa kürzlich einen neuen goldenen schleierschwänzigen Ryunkin erstanden hat. Ich weiß, daß Juju bei Dir ein gutes Zuhause gefunden hat. Vielen Dank für Dein freundliches Angebot, Prinzessin Arjumand in der Obhut von Dawson zu mir bringen zu lassen, aber mein geliebter Ehemann und ich sind der Meinung, daß sie in Anbetracht ihrer Abneigung gegen Wasser besser bei Dir bliebe. Ich weiß, daß Du und Deine Braut Maud sie genauso lieben und verwöhnen werden, wie ich es tat. Mama hat mir von Deiner Heirat geschrieben. Obwohl es mir ein bißchen überstürzt vorkommt, und ich ehrlich hoffe, daß es nicht nur eine Gegenreaktion war, bin ich froher als ich sagen kann, daß Du in der Lage warst, mich zu rasch zu vergessen, und es ist mein glühendster Wunsch, daß Ihr beide genauso glücklich werdet wie mein geliebter Ehemann und ich es sind! Küsse Prinzessin Arjumand von mir, kraule ihr süßes, weiches Fell und sage ihr, daß ihre Mami immer an ihre liebe Putziputzi denken tut. In Dankbarkeit, Toots Callahan.‹«
»Armer Cyril«, sagte ich.
»Unsinn. Die beiden sind wie geschaffen füreinander.«
»Und wir beide auch.«
Sie senkte den Kopf.
»Nun, wie steht’s, Harriet?« fragte ich. »Wir beiden geben ein verflucht gutes Detektivteam ab, oder wie? Wie wär’s, wenn wir die Partnerschaft auf Dauer schließen würden?«
»Nein!« schrie Miss Warder. »Ich sagte doch, ihr sollt euch nicht setzen! Seht euch diese Falten an! Diese Chorgewänder sind aus Leinen!«
»Also, Watson?« sagte ich zu Verity. »Was meinst du dazu?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie unglücklich. »Und wenn es nun nur die Zeitkrankheit ist? Sieh dir Carruthers an. Er glaubt, er liebt Miss Warder…«
»Das ist absolut unmöglich!« fuhr Miss Warder einen kleinen Jungen an. »Daran hättest du denken können, bevor du das Chorgewand angezogen hast!«
»Sieh sie dir doch an!« Verity blickte mich ernst an. »Stell dir vor, der ganze Rummel ist vorbei, du bekommst deinen Schlaf, erholst dich von der Zeitkrankheit und stellst fest, daß du einen schrecklichen Fehler begangen hast?«
»Blödsinn.« Ich schob sie an die Wand zurück. »Mumpitz, Papperlapp und Humbug, sappermentnochmal! Ganz zu schweigen von Fisematentchen! Als ich dich das erste Mal sah, damals, als du deinen Ärmel auf Dunworthys Teppich ausgewrungen hast, war es, als würde das Fräulein von Shalott lebendig – fliegende Netze, zerspringende Spiegel, zerrissene Fäden und überall Glas. Das weißt du ganz genau.«
Ich stützte meine Hände an die Wand über ihrem Kopf und beugte mich zu ihr. »Außerdem ist es deine patriotische Pflicht.«
»Meine patriotische Pflicht?«
»Ja. Du weißt doch, wir sind Teil einer Selbstkorrektur. Wenn wir nicht heiraten, wird etwas Schreckliches passieren – die Nazis werden rauskriegen, daß wir Ultra besitzen, oder Lady Schrapnell wird ihr Geld Cambridge zukommen lassen oder das Kontinuum wird zusammenbrechen.«
»Hier stecken Sie«, sagte Finch. Er kam mit einem Handy und einer großen Pappschachtel auf uns zugeeilt. »Ich habe Sie schon überall gesucht. Mr. Dunworthy sagte, Sie und Miss Kindle sollten eines haben, aber ich wußte nicht, ob das nun eines oder zwei Exemplare bedeutet.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber nach einer Woche Aufenthalt im victorianischen Zeitalter störte mich diese Tatsache nicht mehr. »Eins«, sagte ich.
»Jawohl, Sir. Eins«, sagte er in das Handy, bevor er es auf einer Grabplatte ablegte. »Mr. Dunworthy meinte, das Sie, angesichts Ihrer wertvollen Mithilfe, die erste Wahl haben sollten. Möchten Sie eine besondere Farbe?«
»Ja«, sagte Verity. »Schwarz. Mit weißen Pfoten.«
»Wie?« fragte ich.
»Ich sagte dir doch, er brachte unwichtige Objekte mit«, erklärte Verity.
»Ich würde sie keinesfalls so bezeichnen.« Finch holte ein Kätzchen aus dem Karton. Es sah haargenau aus wie Prinzessin Arjumand, bis hin zu den weißen Beinkleidern an den schwarzen Hinterpfoten, nur daß es viel kleiner war.
»Wo? Wie?« fragte ich. »Katzen sind eine ausgestorbene Spezies.«
»Sicher, Sir.« Finch reichte Verity das Kätzchen. »Im victorianischen Zeitalter aber gab es eine Überzahl von ihnen, so daß die Bauern die Würfe regelmäßig ersäuften, um die Anzahl der Katzen gering zu halten.«
»Und als ich Prinzessin Arjumand mit durchbrachte«, fuhr Verity fort und streichelte das Kätzchen in ihrer Hand, »beschlossen T. J. und Mr. Dunworthy, zu prüfen, ob die Kätzchen, wenn sie erst mal in einem Korb verschlossen und im Teich ersäuft worden waren, unwichtige Objekte würden.«
»Deshalb also sind Sie überall in der Gegend herumgewandert, Finch! Sie haben nach trächtigen Katzen Ausschau gehalten.« Ich schaute in die Schachtel. Es lagen zwei Dutzend Kätzchen darin, die meisten hatten die Augen noch geschlossen. »Ist da auch der Wurf von Mrs. Marmelade dabei?«
»Ja, Sir«, sagte Finch und zeigte auf einige der kleinen Fellkugeln. »Diese drei Tigerchen und das kalikofarbene. Sie sind natürlich alle noch zu klein, um entwöhnt zu werden, aber Mr. Dunworthy meint, Sie könnten ihres in fünf Wochen haben. Die von Prinzessin Arjumand sind etwas älter, da man sie erst drei Wochen nach der Geburt entdeckt hat.«
Er nahm Verity das Kätzchen ab. »Sie wird Ihnen natürlich nicht wirklich gehören«, sagte er. »Sie müssen sie ins Labor bringen, zum Klonen und Züchten. Wir haben noch nicht genug für einen gesunden Genpool, aber wir haben bereits Kontakt mit der Sorbonne, Caltech und der Universität von Thailand aufgenommen, und ich selbst werde ins victorianische England zurückkehren, um noch mehr Exemplare zu holen.«
»Können wir es besuchen?« fragte Verity.
»Natürlich. Und Sie werden lernen müssen, es zu füttern und zu pflegen. Ich würde Milch vorschlagen und…«
»… kugeläugige perlmuttfarbene Ryunkins«, sagte ich. Finchs Handy fiepte. Er betrachtete es und nahm die Schachtel. »Der Erzbischof ist gekommen, und der Ordner am Westportal sagt, es fängt zu regnen an. Wir müssen das Publikum hereinlassen. Ich muß Lady Schrapnell finden. Haben Sie sie gesehen?«
Wir schüttelten beide den Kopf.
»Am besten, ich mache mich mal auf die Suche nach ihr.« Mit der Schachtel unterm Arm eilte er davon.
»Und drittens«, nahm ich den früheren Gesprächsfaden wieder auf, »weiß ich seit jenem Nachmittag im Boot, daß du genauso empfindest wie ich und daß du darauf wartest, daß ich dir in Lateinisch…«
»Ach, da stecken Sie, Ned«, sagte T. J. Er schleppte einen kleinen Monitor mit sich und ein schnurloses Computersystem. »Ich muß Ihnen was sagen.«
»Die Einweihung fängt gleich an«, sagte ich. »Hat das nicht Zeit bis später?«
»Nein.«
»Ist schon gut«, sagte Verity. »Ich komm gleich wieder«, und eilte aus der Kapelle.
»Was ist denn?« fragte ich.
»Wahrscheinlich bedeutet es überhaupt nichts«, meinte T. J. »Vielleicht so was wie ein mathematischer Fehler. Ein Ausrutscher im System.«
»Was ist?« wiederholte ich.
»Also gut – erinnern Sie sich daran, wie Sie mich gebeten haben, den Fokus auf die Inkonsequenz in Coventry 1940 zu richten und ich Ihnen sagte, daß das Bild beinahe dem von der Waterloo-Suppenkessel- Simulation glich?«
»Mhm.« Ich horchte auf.
»Also, die Betonung liegt auf dem Wort beinahe.« Wieder zauberte er eines seiner verschwommenen grauen Bilder auf den Schirm. »Es deckt sich bei dem Schlupfverlust an der Peripherie des Geschehens und in den Hauptgebieten, ebenso hier«, er zeigte auf Flächen, die alle gleichermaßen grau und verschwommen aussahen. »Aber nicht bei dem Schlupfverlust direkt um den Ort des Geschehens herum. Obwohl es dort einen Schlupfverlust gab, wo Mrs. Bittner die Vogeltränke durchgebracht hat, war dieser nicht ansteigend.«
»Vielleicht gab es nicht genügend Raum für einen Anstieg«, sagte ich. »Lizzie hatte nur einen sehr kurzen Zeitraum zur Verfügung – den zwischen der Zerstörung der Gegenstände und dem Zeitpunkt, wo man sie zuletzt gesehen hatte. Das sind nur wenige Minuten. Erhöhter Schlupfverlust hätte sie vielleicht mitten ins Feuer gebracht.«
»Ja, aber selbst wenn man das berücksichtigt, gibt es immer noch das Problem des direkten Umkreises«, sagte T. J. und wies auf nichts Bestimmbares. »So wie hier.« Er gab etwas ein. »Ich habe den Fokus nach vorn gerichtet.« Ein undefinierbares graues Bild erschien.
»Nach vorn?«
»Ja. Natürlich hatte ich nicht die Zeit, genügend Daten zu sammeln, um den genauen Ort im Raumzeitgefüge zu bestimmen, wie Sie das konnten, also mußte ich einfach annehmen, daß der Schlupfverlust im Umkreis eigentlich der periphere ist, und von dort aus einen neuen Fokus einstellen.«
Ein weiteres Bild erschien. »Das ist das Modell von Waterloo. Ich lege es jetzt über das Bild mit dem neuen Fokus. Sehen Sie, wie es paßt?«
Ich sah es. »Auf welche Zeit richtet sich der neue Fokus?« fragte ich. »Auf welches Jahr?«
»2678.«
2678. Über sechshundert Jahre in der Zukunft.
»Fünfzehnter Juni 2678«, sagte er. »Wie ich schon sagte, es hat vielleicht nichts zu bedeuten. Ein Fehler in der Berechnung.«
»Und wenn nicht?«
»Dann war es nicht Mrs. Bittner, die die Inkonsequenz erzeugte.«
»Aber dann…«
»… ist das Ganze nur Teil einer größeren Selbstkorrektur.«
»Der Selbstkorrektur von was?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Von etwas, das noch nicht geschehen ist. Etwas, das…«
»… 2978 passieren wird. Auf welchen Ort richtet sich der neue Fokus?« fragte ich. Lag der etwa genauso weit entfernt wie das Datum? Addis Abeba? Der Mars? Die Kleine Magellanische Wolke?
»Oxford«, sagte T. J. »Die Kathedrale von Coventry.«
Die Kathedrale von Coventry. Am fünfzehnten Juni. Verity hatte recht behalten. Das Schicksal hatte uns dazu bestimmt, des Bischofs Vogeltränke zu finden und in die Kathedrale zurückzubringen. Und alles andere, der Verkauf der neuen Kathedrale und Lady Schrapnells Idee, die alte wiederaufzubauen, unsere Entdeckung, daß unwichtige Objekte mit durchs Netz gebracht werden konnten, all das war Teil einer riesigen Selbstkorrektur, eines Großen…
»Ich muß das alles noch mal gegenrechnen und ein paar Testläufe durchführen«, sagte T. J. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wahrscheinlich liegt der Fehler in der Waterloo-Simulation. Sie ist ja nur ein ungenaues Modell.«
Er tippte auf die Tasten, das Grau verschwand, und er faltete den Schirm zusammen.
»T. J.«, sagte ich. »Was entschied Ihrer Meinung nach die Schlacht von Waterloo? Napoleons Handschrift oder seine Hämorrhoiden?«
»Keines von beiden«, erwiderte er. »Und sicher auch nichts von dem, was wir simuliert haben – Gneisenaus Rückzug nach Wavre oder der Bote, der sich verlaufen hatte oder das Feuer in La Sainte Haye.«
»Was meinen Sie?« Ich ließ nicht locker.
»Eine Katze«, sagte er.
»Eine Katze?«
»Oder ein Karren oder eine Ratte oder…«
»… die Vorsitzende eines Kirchenausschusses«, vollendete ich.
»Genau«, sagte T. J. »Etwas so Unwichtiges, daß niemand es bemerkte. Das ist das Problem mit den Modellen – sie enthalten nur das, was die Menschen für wichtig halten, und Waterloo war ein chaotisches System. Alles war wichtig.«
»Und wir sind alle kleine Kleppermans«, sagte ich, »und finden uns plötzlich auf Positionen wieder, die außerordentlich wichtig sind.«
»So ist’s.« Er grinste breit. »Und wir wissen auch alle, wie’s mit Marineleutnant Klepperman ausgegangen ist. Und wie’s mit mir ausgehen wird, wenn ich nicht umgehend in der Sakristei erscheine. Lady Schrapnell wünscht, daß ich die Kerzen in den Kapellen entzünde.« Hastig schnappte er Monitor und Computer. »Ich fang am besten mal damit an. Sieht so aus, als ginge es gleich los.«
So war es. Die Chorknaben und die Dekane hatten sich mehr oder weniger aufgereiht, die Frau in der grünen Schürze sammelte Scheren, Buketts und Blumenpapier ein, der Junge war unter der Chorbank hervorgekrochen. »Klemmt die Trompetenpfeife immer noch?« rief jemand vom hohen Chor herunter und der Organist rief zurück: »Nein.« Carruthers und Miss Warder standen am Südportal, eng umschlungen, die Arme vollgepackt mit Gottesdienstordnungen. Ich ging ins Hauptschiff, um Verity zu finden.
»Wo haben Sie gesteckt?« dröhnte Lady Schrapnell mir von oben herab ins Ohr. »Ich habe Sie überall gesucht.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Und? Ich dachte, Sie hätten des Bischofs Vogeltränke gefunden? Wo ist sie? Oder haben Sie sie etwa wieder verloren?«
»Nein«, entgegnete ich. »Sie ist dort, wo sie hingehört. Vor der Chorschranke der Smithschen Kapelle.«
»Das muß ich sehen.« Sie machte sich auf den Weg ins Kirchenschiff hinunter.
Ein Trompetenton ertönte, und der Organist stimmte »Groß und gewaltig ist der Herr«, an. Die Chorknaben öffneten ihre Gesangbücher. Carruthers und Miss Warder lösten sich voneinander und nahmen ihre Position ein.
»Dafür ist keine Zeit mehr«, sagte ich zu Lady Schrapnell. »Die Einweihung beginnt.«
»Unsinn.« Sie drängte sich zwischen den Chorknaben hindurch. »Es ist Zeit genug. Die Sonne ist noch nicht rausgekommen.«
Sie zwängte sich durch die Reihen der Dekane, die sich teilten wie weiland das Rote Meer, und machte sich auf den Weg zur Smithschen Kapelle. Ich folgte ihr und hoffte nur, daß des Bischofs Vogeltränke sich nicht plötzlich wieder in Luft aufgelöst hatte. Hatte sie auch nicht. Sie stand immer noch am selben Platz, auf ihrem schmiedeeisernen Ständer. Die Frau mit der grünen Schürze hatte sie mit einem liebevoll arrangierten Strauß weißer Osterglocken bestückt.
»Da ist sie.« Ich zeigte stolz darauf. »Nach unsagbaren Strapazen und Prüfungen. Des Bischofs Vogeltränke. Was halten Sie davon?«
»Mein Gott«, sagte sie und preßte die Hand aufs Herz. »Sie ist wirklich scheußlich, finden Sie nicht auch?«
»Was?«
»Meiner Urur-Urgroßmutter mag das ja gefallen haben, aber meine Güte! Was soll das darstellen?« Sie zeigte auf den Fuß der Vase. »Einen Dinosaurier oder was?«
»Die Unterzeichnung der Magna Charta«, sagte ich.
»Es tut mir beinahe leid, daß ich Ihnen so viel Unannehmlichkeiten wegen dieses Dings gemacht habe«, sagte sie mit nachdenklichem Blick auf die Vogeltränke. »Wahrscheinlich unzerstörbar, oder?« In ihrer Stimme schwang eine leise Hoffnung.
»So ist es«, sagte ich.
Sie seufzte. »Nun, ich denke, wir müssen sie um der Authentizität der Kathedrale willen behalten. Ich hoffe nur, die anderen Kirchen besitzen nichts ähnlich Scheußliches.«
»Andere Kirchen?«
»Haben Sie es noch nicht gehört?« sagte Lady Schrapnell. »Jetzt, wo wir imstande sind, unwichtige Objekte durchs Netz zu bringen, habe ich eine ganze Reihe Projekte im Kopf. Das Erdbeben von San Francisco, die Ateliers von MGM, Rom, bevor Julius Cäsar es…«
»Nero«, verbesserte ich.
»Ach ja, natürlich. Sie werden die Fiedel holen, auf der Nero spielte.«
»Aber die ist nicht im Feuer verbrannt«, sagte ich. »Nur Objekte, die auf ihre Grundbestandteile reduziert worden sind, können…«
Lady Schrapnell unterbrach mich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden. Wir beginnen mit den vierzehn Kirchen von Christopher Wren, die während des Blitzkriegs zerstört wurden und dann…«
»Wir?« fragte ich mit schwacher Stimme.
»Natürlich. Ich habe besonders Sie dafür angefordert.« Sie hielt inne und starrte auf des Bischofs Vogeltränke. »Was sollen die Osterglocken? Gelbe Chrysanthemen sollten es sein.«
»Osterglocken passen doch ausgezeichnet«, sagte ich. »Schließlich ist die Kathedrale mitsamt ihren Schätzen von den Toten erstanden. Der Symbolgehalt…«
Lady Schrapnell interessierte der Symbolgehalt nicht. »In der Gottesdienstordnung steht gelbe Chrysanthemen«, sagte sie. »Gott steckt im Detail.«
Sie stürmte davon, um die wehrlose Frau mit der grünen Schürze zu suchen.
Ich blieb stehen und starrte auf des Bischofs Vogeltränke. Fünfzehn Christopher Wren-Kirchen. Und die Ateliers von MGM. Ganz zu schweigen, wenn ihr wirklich aufging, was das alles bedeutete.
Verity kam herbei. »Stimmt was nicht, Ned?« fragte sie.
»Ich bin dazu verdammt, den Rest meines Lebens für Lady Schrapnell zu arbeiten und Wohltätigkeitsbasare zu besuchen«, sagte ich.
»Quatsch! Du bist dazu verdammt, dein Leben mit mir zu verbringen.« Sie gab mir das Kätzchen. »Und mit Federhalterwischer.«
Das Kätzchen wog so gut wie nichts. »Wischerle«, sagte ich, und es schaute mit graugrünen Augen zu mir hoch.
»Mrrh« machte es und fing zu schnurren an, ganz leise und zart. Ein Schnürrchen sozusagen.
»Wo hast du das her?« fragte ich Verity.
»Geklaut. Sieh mich nicht so an. Ich will es ja zurückgeben. Und Finch wird es im Augenblick sowieso nicht vermissen.«
»Ich liebe dich«, sagte ich kopfschüttelnd. »Wenn ich dazu verdammt bin, mein Leben mit dir zu verbringen, heißt das, daß du dich entschieden hast, meine Frau zu werden?«
»Ja«, sagte sie. »Ich bin grade Lady Schrapnell begegnet. Sie hat beschlossen, daß die Kathedrale dringend…«
»Eine Hochzeit braucht?«
»Nein, eine Taufe. Damit sie das Purbecksche Taufbecken einweihen können.«
»Ich will dich nicht dazu verführen, irgendwas zu tun, was du nicht willst«, sagte ich. »Ich könnte Lady Schrapnell auf Carruthers und Miss Warder aufmerksam machen, und du könntest dich irgendwo in Sicherheit bringen. Wie bei der Schlacht von Waterloo.«
Eine Fanfare ertönte, und die Orgel stimmte: ›Nun lobet Gott im hohen Thron‹, an. Die Sonne brach zwischen den Wolken hervor. Die Ostfenster entflammten in rotem, blauem und purpurfarbenem Licht. Ich schaute hoch. Die Lichtgaden waren ein einziges langes Band aus Gold, wie das Netz, wenn es sich gerade öffnete. Es füllte die Kathedrale mit Licht, strahlte auf die silbernen Kerzenhalter und das Kinderkreuz, auf die Unterseite der Chorbänke, die Chorknaben, Handwerker und exzentrischen Dekane, die Statue des Heiligen Michaels, den Totentanz und die Gottesdienstordnungen herab. Erfüllte die ganze Kathedrale mit seinem Leuchten – ein Großer Plan, gewirkt aus abertausend Einzelteilen.
Ich schaute auf des Bischofs Vogeltränke, während sich das Kätzchen in meine Armbeuge schmiegte. Die Buntglasfenster dahinter übergossen sie mit strahlenden Farben und Licht, das durch das Fenster der Dyerschen Kapelle auf der gegenüberliegenden Seite fiel, übermalte die Kamele, Cherubim und die Hinrichtung Maria Stuarts smaragdgrün, rubinrot und saphirblau.
»Sie ist scheußlich, stimmt’s?« sagte ich.
Verity nahm meine Hand. »Placet«, sagte sie.