»Nichts – aber auch rein gar nichts – macht nur annähernd so viel Spaß, wie mit einem Boot einfach durch die Gegend zu rudern…«

»Der Wind in den Weiden«
Kenneth Graham

 

10. Kapitel

 

 

Freie Fahrt • Ein keinesfalls malerischer Teil des Flusses • Das rührselige Verhältnis der Victorianer zu Natur • Die Wichtigkeit von Wohltätigkeitsbasaren für den Lauf der Geschichte • Wir treffen Drei Mann in einem Boot, ganz zu schweigen von dem Hunde • Cyril kontra Montmorency • Die Sache mit dem Labyrinth • Ein Verkehrsstau • Ein Teekessel • Wie Kleinigkeiten den Lauf der Geschichte beeinflussen können • Noch ein Schwan • Schiffsbruch! • Vergleiche mit der Titanic • Ein Überlebender • Eine Ohnmacht

 

 

Erstaunlicherweise hatten wir wirklich freie Fahrt oder besser gesagt: freies Rudern, denn unser Boot war weit und breit das einzige auf dem ruhig dahinfließenden Wasser, über das eine erfrischende Brise strich. Die Sonne glitzerte auf den Wellen. Ich bedachte meine Sitzhaltung, hielt die Knie geschlossen und geöffnet, die Riemen platt und ruderte kräftig. Gegen Mittag hatten wir die Schleuse bei Clifton hinter uns und konnten die Kalkfelsen von Clifton Hampden mit der Kirche obendrauf sehen.

Die Karte nannte diesen Teil des Flusses einen »keinesfalls malerischen Teil der Themse« und schlug vor, mit der Bahn nach Goring zu fahren, um ihn zu umgehen. Angesichts der saftig grünen, von blühenden Hecken durchzogenen Wiesen und der mit hohen Pappeln bestandenen Uferbänke war nur schwer vorstellbar, wie die malerischen Flußabschnitte aussehen sollten.

Überall wuchsen Blumen. Auf den Wiesen blühten Butterblumen, wilde Möhren und Kuckucksblumen, entlang dem Ufer blaue Schwertlilien und Rosen und in den Gärten des Schleusenwärters von wucherndem Efeu bedrohte Löwenmäulchen. Sogar auf dem Wasser blühte es. Die Seerosen trugen rosafarbene tassenförmige Blüten, und selbst die Binsen waren mit purpurfarbenen und weißen Büscheln geschmückt. In allen Regenbogenfarben schillernde Libellen schossen pfeilschnell zwischen ihnen umher, und riesengroße Schmetterlinge flatterten dem Boot hinterher und ruhten sich auf dem schiefen Gepäckstapel aus, der dadurch umzustürzen drohte.

Etwas weiter entfernt, hinter einer Gruppe Ulmen, konnte man einen Spitzturm erkennen. Das einzige, was noch fehlte, war ein Regenbogen. Kein Wunder, daß die Victorianer so rührselig gewesen waren, was die Natur betraf.

Terence löste mich am Ruder ab, und unser Boot glitt um eine Flußbiegung, an einem strohgedeckten, mit Prunkwinden beinahe zugewachsenen Häuschen vorbei auf eine gebogene Brücke aus goldenfarbenem Stein zu.

»Schrecklich, was sie mit dem Fluß angestellt haben«, sagte Terence und zeigte auf die Brücke. »Eisenbahnbrücken, Ufermauern und Gaswerke. Die Landschaft ist völlig ruiniert.«

Wir ruderten unter der Brücke durch. Auf dem Fluß befanden sich kaum Boote. Wir passierten zwei Männer in einem Fischerkahn, der unter einer Buche vertäut lag. Die beiden winkten uns zu und hielten eine lange Schnur mit darauf aufgereihten Fischen hoch. Ich war froh, daß Professor Peddick schlief. Und Prinzessin Arjumand auch.

Während Terence und ich die Plätze wechselten, hatte ich einmal kurz nach ihr gesehen, und sie schlief immer noch wie hingemäht. In der Reisetasche zusammengerollt, die Pfötchen unters Kinn geschoben, sah sie nicht aus, als sei sie imstande, den Lauf der Welt zu verändern oder gar das Raumzeitgefüge zu zerstören. Aber danach hatte Davids geschleuderter Stein oder der Schimmelpilz in der Petrischale von Fleming auch nicht ausgesehen, genauso wenig wie die Tonne voller Ramsch, die Abraham Lincoln unbesehen auf einem Wohltätigkeitsbasar für einen Dollar gekauft hatte.

In einem chaotischen System konnte alles, ob Karre oder Erkältung, wichtig und jeder Punkt ein kritischer sein. Die Tonne hatte eine vollständige Ausgabe von Blackstones Kommentaren enthalten, die Lincoln sich nie im Leben hätte leisten können. Sie hatte ihm ermöglicht, Anwalt zu werden.

In einem chaotischen System gab es aber auch Vorwärtsschleifen, Interferenzmuster und Gegengewichte, und die meisten aller Aktionen hoben sich durch andere auf. Der überwiegende Teil aller Stürme zerstörte keine Flotten, die meisten Trinkgelder verursachten keine Revolutionen und fast alle Dinge, die man auf einem Wohltätigkeitsbasar kaufte, zogen nichts weiter als Staub an.

So gesehen hatte die Katze nur unendlich wenige Möglichkeiten, die Welt zu verändern, vor allem wenn wir unser momentanes Reisetempo beibehielten.

»Weißt du«, sagte Terence und packte das Brot und den Käse aus, den er in Abingdon gekauft hatte, »wenn wir so weitermachen, müßten wir um ein Uhr an der Tagschleuse sein. Außer uns ist weit und breit keiner auf dem Fluß.«

Ausgenommen ein kleines Boot mit drei Männern darin, allesamt in Blazern und mit Schnurrbärten, das gerade flußabwärts auf uns zuhielt. Auf dem Bug thronte ein kleiner Hund, der aufmerksam nach vorn blickte. Als die drei näherkamen, konnten wir ihre Stimmen deutlich hören.

»Wie lang dauert’s noch, bis du mich ablöst, Jay?« fragte der Ruderer den Mann, der im Bug lag.

»Du ruderst erst zehn Minuten, Harris«, erwiderte der im Bug.

»Nun denn, wie lang dauert’s noch bis zur nächsten Schleuse?«

Der dritte Mann, der untersetzter war als die beiden anderen, sagte: »Wann machen wir Teepause?« und nahm ein Banjo zur Hand.

Der Hund sichtete unser Boot und bellte. »Laß das, Montmorency«, sagte der im Bug Liegende. »Bellen ist unhöflich.«

»Terence!« Ich richtete mich halb auf. »Das Boot dort drüben!«

Er schaute über die Schulter. »Keine Gefahr. Halt einfach den Kurs.«

Der Banjospieler schlug ein paar verstimmt klingende Akkorde an und begann zu singen.

»Nicht singen, George!« riefen der Ruderer und der im Bug Liegende wie aus einem Mund.

»Und du ebensowenig, Harris!« fügte Jay hinzu.

»Warum nicht?« fragte er pikiert.

»Weil du dir nur einbildest, singen zu können«, sagte George.

»So ist es«, sagte Jay. »Denk nur an die Sache mit dem ›Admiralslied‹ aus ›Pinafore‹.«[48]

»Diddel-diddel-diddel-diddel-di«, sang George.

»Sie sind es!« rief ich. »Terence, weißt du nicht, wer das ist? Drei Mann in einem Boot, ganz zu schweigen von dem Hunde.«

»Hund?« fragte Terence geringschätzig. »Das nennst du einen Hund?« Er schaute liebevoll auf Cyril, der im Boden das Bootes lag und schnarchte. »Den könnte Cyril in einem Happen verschlucken.«

»Verstehst du denn nicht?« sagte ich. »Drei Mann in einem Boot. Die Dose Ananas, Georges Banjo und das Labyrinth.«

»Das Labyrinth?« fragte Terence verständnislos.

»Ja, das Labyrinth. Weißt du nicht mehr, wie Harris mit seiner Karte durch das Labyrinth von Hampton Court lief, mit all den Menschen im Schlepptau, und die Karte stimmte nicht, und sie verirrten sich so hoffnungslos, daß der Wächter kommen mußte, um sie rauszuholen?«

Ich lehnte mich aus dem Boot, um besser sehen zu können. Da waren sie, Jerome K. Jerome und seine beiden Freunde, die er unsterblich gemacht hatte (ganz zu schweigen von dem Hunde), auf ihrem historischen Ausflug auf der Themse. Sie ahnten nichts davon, daß sie hundertfünfzig Jahre später weltberühmt sein würden, daß ihre Abenteuer mit dem Käse, dem Dampfer und dem Schwan von unzähligen Generationen würden gelesen werden.

»Gib auf deine Nase acht!« sagte Terence, und ich erwiderte: »Genau. Diese Stelle liebe ich besonders, wo Jerome durch die Schleuse von Hampton Court fährt und jemand ruft: ›Gib auf deine Nase acht!‹ und er denkt, seine Nase sei gemeint, aber der andere meint die Nase des Bootes, die sich gerade in der Schleuse verklemmt hat.«

»Ned!« sagte Terence. Die drei Männer winkten zu uns herüber, riefen etwas, und Jerome K. Jerome stand auf und fing an, mit ausgestrecktem Arm zu gestikulieren.

Ich winkte zurück. »Gute Reise!« rief ich. »Gebt acht auf Schwäne!«

Bei diesen Worten verlor ich das Gleichgewicht und stürzte, die Füße hoch in der Luft, rückwärts. Die Ruderblätter droschen laut klatschend ins Wasser, der Stapel Gepäck im Bug kippte um. Auf dem Rücken liegend grapschte ich nach der Reisetasche und versuchte mich aufzusetzen, ebenso wie Professor Peddick, der sich schlaftrunken die Augen rieb. »Was ist denn los?« fragte er.

»Ned paßte nicht auf, wo er hintrat«, sagte Terence mit einem Griff nach dem Handkoffer. Ich sah, daß wir geradewegs auf die Uferbank gefahren waren. Wie Jerome K. Jerome im sechsten Kapitel seines Buches.

Ich schaute zu dem anderen Boot hinüber. Montmorency bellte laut, und George und Harris schienen sich vor Lachen zu kugeln.

»Alles in Ordnung?« rief Jerome K. Jerome.

Ich nickte heftig, und die drei winkten und ruderten weiter, immer noch lachend, der Schlacht der Schwäne und Oxford und ihrem Platz in der Weltgeschichte entgegen.

»Ich sagte doch, Kurs halten«, sagte Terence tadelnd.

»Ich weiß. Tut mir leid.« Ich machte einen Schritt über Cyril, der die ganze Episode verschlafen und dadurch die einmalige Chance vertan hatte, einen wirklich berühmten Hund kennenzulernen. Andererseits, wenn ich an Montmorencys Vorliebe für Raufereien und seine sarkastische Ader dachte, war das vielleicht auch ganz gut so.

»Ich habe jemanden gesehen, den ich kenne«, sagte ich und half Terence, das Gepäck aufzuheben. »Einen Schriftsteller.« Dann fiel mir ein, daß die drei gerade flußabwärts ruderten und Drei Mann in einem Boot ja noch gar nicht geschrieben sein konnte. Ich hoffte nur, daß Terence, wenn das Buch herauskam, nicht die Seite mit dem Copyrightvermerk las.

»Wo ist mein Netz?« fragte Professor Peddick. »Das Wasser hier ist bestens geeignet für Tinca vulgaris.«

Wir brauchten bis Mittag, um unser Gepäck wieder ordentlich zu verstauen, festzubinden und Professor Peddick von seiner Tinca Vulgaris loszureißen, aber danach ging es wirklich flott voran. Noch vor zwei Uhr passierten wir Little Wittenbaum. Wenn an der Tagschleuse keine Probleme auftraten, würden wir Streatley vielleicht noch zum Abendessen erreichen.

Wir passierten die Schleuse in Rekordzeit. Und ruderten schnurstracks in einen Stau hinein.

Der Grund, warum uns die ganze Zeit über so wenige Boote begegnet waren, lag vor uns. Die ganze Armada hatte sich hier versammelt. Stechkähne, Kanus, Auslegerboote, zweisitzige Rennboote, Ruderboote mit Dach, Achter, Barken, Floße und Hausboote verstopften den gesamten Flußlauf, alle stromaufwärts schippernd. Und keiner von ihnen schien es besonders eilig zu haben.

Mädchen mit Sonnenschirmen schwatzten mit Mädchen mit Sonnenschirmen in den Nachbarbooten und wiesen ihre Gefährten an, längsseits der anderen Boote zu rudern. Von Dampfern herab schwenkten Passagiere Fahnen mit der Aufschrift »Jahresausflug des Musikvereins Lower Middlessex« und »Landpartie der Mütter« und lehnten sich über die Reling, um den Leuten unten in den Vergnügungsbooten etwas zuzurufen.

Keiner dieser Menschen strebte offenbar einem dringlichen Termin entgegen. Männer mittleren Jahrgangs saßen auf dem Deck ihrer Hausboote und lasen die Times, während ihre Ehefrauen gleichen Jahrgangs, Klammern im Mund, Wäsche aufhängten. Zwischen diesen Booten stakte ein Mädchen im Matrosenanzug und mit einem Strohhut, von dem bunte Bänder flatterten, langsam mit einem flachen Kahn einher und amüsierte sich, wenn der Stecken im Schlamm steckenblieb. Ein Künstler im gelben Malerkittel stand mit seiner Staffelei inmitten der Unzahl von Booten bewegungslos auf einem Floß und malte ein Bild der Landschaft, obwohl es mir rätselhaft blieb, wie er zwischen der Masse blumenbedeckter Hüte, Sonnenschirme und flatternder Union Jacks noch etwas von der Landschaft erkennen konnte.

Ein Ruderer von einem der Colleges, der eine gestreifte Kappe und einen Jerseyanzug trug, rammte mit seinen Rudern die Paddel eines Vergnügungsbootchens, hielt an, um sich zu entschuldigen, und ein Segelboot fuhr beinahe auf beide drauf. Ich riß an den Steuerleinen, und fast wären wir in alle drei hineingekracht.

»Besser, ich steuere«, sagte Terence und kroch herüber, um mit mir die Plätze zu tauschen, als unser Boot in eine schmale Lücke zwischen einem viersitzigen Auslegerboot und einem Dhingy stieß.

»Ausgezeichnete Idee«, stimmte ich zu, doch Rudern war noch schlimmer. Das Gesicht rückwärts gewandt konnte ich überhaupt nichts mehr sehen und hatte das Gefühl, jeden Augenblick den Vergnügungsdampfer der Eisenwarenhändler aus Upper Slaughter zu rammen.

»Das ist ja schlimmer als bei der Henleyregatta«, sagte Terence und zog an den Leinen. Er steuerte das Boot aus der Hauptströmung heraus, aber an der Seite war es noch schlimmer, denn nun steckten wir inmitten der Kähne und Hausboote, die gerade vertäut wurden, und Taue spannten sich über unseren Weg wie Fußangeln.

Auch hier schien niemand in Eile zu sein. Mädchen zogen ein paar Zentimeter am Tau und hielten dann inne, um lachend zum Boot zurückzuschauen. Pärchen hörten auf zu ziehen, um sich sehnsüchtig in die Augen zu blicken, und ließen das Tau schlaff im Wasser hängen, bis sie sich jäh daran erinnerten, was man von ihnen erwartete und ruckartig daran rissen. Jerome K. Jerome hatte ein Pärchen beschrieben, dessen Boot weggetrieben worden war, ohne daß sie es merkten, und das ganz in sich selbst versunken weiter an dem losgerissenen Tau zog, aber mir schien die Gefahr größer zu sein, geköpft zu werden, und ich schaute besorgt hinter mich, als wäre ich Catherine Howard.

Plötzlich brach flußaufwärts Tumult aus. Eine Pfeife schrillte, jemand schrie: »Aufpassen!«

»Was ist das?« fragte ich.

»Ein verdammter Teekessel«, sagte Terence, und ein Dampfschiff brach sich qualmend Bahn durch den Stau, zerstreute die Boote und warf eine mächtige Bugwelle auf.

Unser Boot schaukelte wie verrückt, und eines der Ruder geriet aus der Halterung. Ich griff danach und nach der Reisetasche. Terence hob die Faust und fluchte hinter dem Dampfschiff her.

»Sie erinnern einen an die Elefanten Hannibals bei der Schlacht am Ticinus«, sagte Professor Peddick, der eben wieder erwacht war. Er begann mit einer detaillierten Beschreibung von Hannibals italienischem Feldzug. Die Alpen und der Verkehr beschäftigten uns den ganzen Weg bis Wallingford. An der Schleuse bei Benson warteten wir über eine Stunde in der Schlange, und Terence zog alle paar Minuten seine Taschenuhr heraus und verkündete die Uhrzeit.

»Drei Uhr«, sagte er. Oder: »Viertel nach drei.« Dann: »Beinahe halb vier. Bis zur Teestunde schaffen wir es nie im Leben.«

Das Gefühl hatte ich auch. Das letzte Mal, als ich die Reisetasche öffnete, hatte sich Prinzessin Arjumand verdächtig bewegt, und als wir in die Schleusenkammer fuhren, konnte ich leises Miauen hören, das glücklicherweise vom allgemeinen Lärm um uns herum und Professor Peddicks dozierender Stimme übertönt wurde.

»Der Verkehr war schuld, daß Napoleon die Schlacht bei Waterloo verlor«, sagte er. »Die Wagen der Artillerie blieben im Schlamm stecken und blockierten die Wege, und so konnte die Infanterie nicht vorbei. Wie oft entscheiden solche Kleinigkeiten über den Lauf der Welt – Dinge wie blockierte Wege, eine Einheit Infanterie, die nicht rechtzeitig eintrifft, irregeleitete Befehle.«

Bei Wallington löste sich der Stau plötzlich auf. Die Kähne hielten an, Lager wurden aufgeschlagen und Abendessen vorbereitet. Der Musikverein verließ sein Schiff und machte sich in Richtung Bahnhof auf, um heimzufahren. Plötzlich lag der Fluß wie ausgestorben.

»Bis wir endlich da sind, wird es neun sein«, meinte Terence verzweifelt.

»Nahe Moulsford können wir übernachten«, sagte Professor Peddick. »Oberhalb des Wehres dort angelt man hervorragenden Barsch.«

»Wir sollten besser einen Gasthof aufsuchen«, sagte ich. »Dort kannst du deine Sachen in Ordnung bringen, Terence. Du willst dich doch bei Miss Mering von deiner besten Seite zeigen, oder? Du könntest dich rasieren, deine Hosen aufbügeln und die Schuhe putzen lassen. Morgen früh fahren wir dann sofort nach Muchings End.«

Und ich könnte mich, wenn alle zu Bett gegangen waren, hinausschleichen und ungesehen die Katze zurückbringen, so daß morgen früh, wenn Terence eintraf, die Inkonsequenz bereits beseitigt sein würde. Und er würde Tossie händchenhaltend mit Mr. Cabbagesoup oder Coalscuttle oder wie immer er auch heißen mochte, vorfinden.

»In Streatley gibt es zwei Gasthöfe«, sagte Terence und studierte die Karte. »Den Ochsen und den Schwan. Wir nehmen den Schwan. Totters sagte, dort brauten sie ein ausgezeichnetes Bier.«

»Dort gibt es doch keine Schwäne, oder?« fragte ich mit einem aufmerksamen Blick auf Cyril, der erwacht war und sich nervös umschaute.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Terence. »Im George und der Drache gibt es ja auch keinen Drachen.«

Wir ruderten weiter. Der Himmel wurde blau wie mein Hutband, dann fahlviolett, ein paar Sterne erschienen. Die Frösche und Grillen nahmen ihr Konzert auf, und aus der Reisetasche verstärkte sich das Miauen.

Ich ruderte heftig, mit viel Wassergespritze, und fragte Professor Peddick, worin sich seine und Professor Overforces Theorie denn nun genau unterschieden. Unterdessen erreichten wir die Schleuse bei Cleve, wo ich ans Ufer sprang, der Katze heimlich etwas Milch gab und die Tasche dann oben auf den Gepäckstapel im Bug setzte, so weit entfernt von Professor Peddick und Terence wie möglich.

»Die Handlung des einzelnen treibt die Geschichte voran«, erklärte Professor Peddick. »Nicht die blinden, unpersönlichen Zufälle, von denen Overforce spricht. Carlyle schrieb, daß die Geschichte der Welt nichts anderes sei als die Biographie großer Männer, und das stimmt auch. Der Genius von Copernicus, die Ambitionen von Cincinnatus, der Glaube des Franz von Assisi -Persönlichkeiten sind es, die das Bild der Geschichte formen.«

Als wir Streatley erreichten, war es bereits Nacht, und die Häuser waren hell erleuchtet.

»Zumindest wartet ein weiches Bett, eine warme Mahlzeit und ein ausgiebiger Nachtschlaf auf uns«, sagte ich, als wir den Kai sahen, doch Terence ruderte daran vorbei.

»Wo willst du hin?« fragte ich.

»Nach Muchings End«, erwiderte er, ohne einen Moment beim Rudern nachzulassen.

»Aber du hast doch selbst gesagt, es sei zu spät für Besuche.« Ich schaute sehnsüchtig zum Kai zurück.

»Weiß ich«, sagte er. »Ich will nur einen Blick darauf werfen, wo sie lebt. Ich werde sowieso nicht schlafen können, so nahe bei ihr, bis ich sie gesehen habe.«

»Nachts ist es auf dem Fluß gefährlich«, wandte ich ein. »Es gibt Untiefen, Wirbel und alles mögliche.«

»Es ist nicht mehr weit«, sagte Terence, energisch weiterrudernd. »Sie sagte, es läge genau hinter der dritten Insel.«

»Wir sehen doch in der Dunkelheit überhaupt nichts. Wir werden uns verirren, über ein Wehr fahren und ertrinken.«

»Da sind wir schon«, sagte Terence und deutete aufs Ufer. »Sie sagte, ich könnte es am Gartenpavillon erkennen.«

Der weiße Gartenpavillon schimmerte schwach im Sternenlicht, und dahinter, jenseits einer sanft gewellten Rasenfläche, lag das Haus. Es war immens groß und bis aufs I-Tüpfelchen victorianisch, mit Türmen, Giebeln und sämtlichem neugotischen Pfefferkuchenkitsch. Es sah aus wie eine kleinere Ausgabe der Victoria Station.

Die Fenster waren dunkel. Gut, dachte ich. Wahrscheinlich sind sie bereits nach Hampton Court gefahren, um Catherine Howards Geist zu wecken oder nach Coventry. Es wird ein Leichtes für mich werden, die Katze zurückzubringen.

»Es ist niemand zu Hause«, sagte ich. »Am besten ist, wir rudern nach Streatley zurück. Im Schwan werden keine Zimmer mehr frei sein.«

»Nein, warte.« Terence schaute zu dem Haus hinüber. »Laß mich noch einen Augenblick auf den geweihten Boden schauen, über den sie wandelt, auf das geheiligte Gemach, in dem sie schläft.«

»Scheint, als hätten sie sich schon zur Nachtruhe begeben«, sagte der Professor.

»Vielleicht haben sie nur die Vorhänge zugezogen«, entgegnete Terence. »Seid mal still.«

Professor Peddicks Idee schien angesichts des linden Abends unwahrscheinlich, aber wir lauschten gehorsam. Vom Ufer her drang kein Laut zu uns. Man hörte nur das leise Schwappen des Wassers, den Wind, der leicht durchs Schilf strich und das verhaltene Quaken der Frösche. Und ein Miauen vom Bug her.

»Da«, sagte Terence. »Habt ihr das gehört?«

»Was?« fragte Professor Peddick.

»Stimmen.« Terence lehnte sich über den Schandeckel.

»Grillen«, sagte ich und schob mich zum Bug hin.

Die Katze miaute wieder. »Da!« sagte Terence. »Hört ihr’s? Da ruft uns jemand.«

Cyril schnüffelte.

»Es ist ein Vogel.« Ich zeigte auf einen Baum neben dem Pavillon. »Dort in der Weide. Eine Nachtigall.«

»Hört sich nicht an wie eine Nachtigall«, sagte Terence. »Im Sommer singen Nachtigallen aus ›reinster Kehle, lassen ihre Seele in inbrunstsel’gem Traum verglühn‹.[49] Das hört sich nicht so an. Horcht mal…«

Vom Bug her kam ein schnüffelndes Geräusch. Ich fuhr herum. Cyril stand auf den Hinterbeinen, die Vorderpfoten auf dem Gepäcksstapel, roch an der Reisetasche und schob sie mit seiner platten Schnauze zum Rand des Stapels.

»Cyril! Nein!« rief ich, und dann geschahen vier Dinge gleichzeitig. Ich hechtete vorwärts, um die Reisetasche zu packen, Cyril wich schuldbewußt zurück und prallte gegen den Weidenkorb, Professor Peddick sagte: »Vorsicht, mein Ugubio fluviatilis.« Er beugte sich zur Seite, um den Teekessel hochzuheben. Terence drehte sich um, sah, wie die Reisetasche das Übergewicht bekam und ließ die Ruder fallen.

Mitten im Sprung versuchte ich, den Rudern und Professor Peddicks Hand auszuweichen und schlug längs hin. Der Professor drückte seinen Kessel mit den Fischen krampfhaft gegen die Brust, und ich bekam eine Ecke der Reisetasche zu fassen, gerade als sie herunterfiel. Das Boot schaukelte wie wild. Wasser schwappte über Heck und Bug. Es gelang mir, die Tasche fester zu packen, sie auf die Heckbank zu setzen und mich selbst zu einer sitzenden Position hochzuziehen.

Ein lautes Platschen ertönte. Ich griff wieder nach der Reisetasche, aber sie war noch da. Ich schaute zum Bug, ob vielleicht die Ruder ins Wasser gefallen waren.

»Cyril!« schrie Terence. »Mann über Bord!« Er zog seine Jacke aus. »Nehmen Sie die Ruder, Professor Peddick. Ned, such den Schwimmgürtel.«

Ich beugte mich über den Bootsrand, um zu sehen, wo Cyril steckte.

»Beeil dich!« rief Terence und zerrte die Schuhe von den Füßen. »Cyril kann nicht schwimmen.«

»Er kann nicht schwimmen?« Ich war verblüfft. »Ich dachte, alle Hunde könnten schwimmen.«

»Stimmt auch. Der Begriff ›paddeln wie ein Hund‹ kommt von der instinktiven Schwimmbewegung, die canis familiaris angeboren ist«, erklärte Professor Peddick.

»Er weiß, wie man schwimmt«, sagte Terence und streifte die Socken ab. »Aber er kann es nicht. Er ist eine Bulldogge.«

Augenscheinlich hatte er recht. Zwar paddelte Cyril tapfer auf das Boot zu, doch waren Schnauze und Nase unter Wasser und er wirkte ziemlich verzweifelt. »Ich komm’ schon, Cyril!« rief Terence und sprang ins Wasser, wobei er eine Welle auslöste, in der er beinahe selbst untergegangen wäre. Er schwamm auf den unermüdlich paddelnden, doch trotzdem immer tiefer sinkenden Hund zu. Inzwischen waren nur noch Cyrils Stirnfalten über Wasser zu sehen.

»Das Boot zur Anlegestelle, nein, steuerbords. Nach links«, rief ich, den Schwimmgürtel suchend, den wir offenbar ganz unten verstaut hatten. »Genauso übel wie auf der Titanic«, murmelte ich. Dann fiel mir ein, daß diese noch gar nicht gesunken war, aber es hatte mir sowieso keiner zugehört.

Terence war es gelungen, Cyril am Halsband zu packen und seinen Kopf über Wasser zu halten. »Näher mit dem Boot«, rief er wasserspuckend, und Professor Peddick kam dieser Bitte nach, indem er fast über ihn ruderte. »Halt! Nein!« schrie Terence, schwenkte seinen Arm, und Cyril ging wieder unter.

»Zur Anlegestelle!« rief ich. »Die andere Richtung!« Ich lehnte mich weit aus dem Boot und packte Terence meinerseits am Genick. »Nicht mich!« japste Terence. »Cyril!«

Gemeinsam schafften wir es, den pitschnassen Cyril ins Boot zu wuchten, wo er mehrere Hektoliter Themsewasser ausspuckte. »Leg ihm eine Decke um«, keuchte Terence, der sich am Bug festklammerte.

»Mach’ ich«, sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. »Jetzt du!«

»Mir geht’s gut«, erwiderte er zähneklappernd. »Hol erst die Decke. Er erkältet sich so leicht.«

Ich holte die Decke, legte sie um die massigen Schultern, die Cyrils Sturz vornehmlich herbeigeführt hatten, und dann wandten wir uns der kniffligen Aufgabe zu, Terence zurück ins Boot zu bekommen.

»Das Boot grade halten«, befahl Terence mit klappernden Zähnen. »Sonst fällt gar noch einer ins Wasser.«

Wenn es darum ging, Anweisungen zu befolgen, unterschied sich Terence in nichts von Professor Peddick. Er versteifte sich darauf, ein Bein über den Bug zu schwingen, eine Bewegung, die den Bug in die gleiche Schräglage brachte wie die Titanic.

»Du wirst uns umwerfen«, sagte ich und zwängte die Reisetasche unter die Bank. »Halt still und laß dich von uns hochziehen.«

»Ich habe das schon dutzendmal gemacht«, versicherte Terence und schwang weiter das Bein hoch.

Der Schandeckel neigte sich zur Wasseroberfläche. Cyril, in seine Decke gehüllt, taumelte und versuchte, sich auf den Beinen zu halten. Der Gepäckstapel im Bug neigte sich bedrohlich zur Seite.

»Ich habe noch nie ein Boot zum Kentern gebracht«, erklärte Terence selbstsicher.

»Dann warte wenigstens, bis ich die Sachen wieder aufgerichtet habe.« Ich schob das Portmanteau an seinen Platz zurück. »Professor Peddick, gehen Sie bitte auf diese Seite.« Und zu dem die Decke nachschleifenden Cyril, der sich entschieden hatte, zu uns herüberzukommen: »Platz! Sitz!«

»Man muß bloß den richtigen Ansatzpunkt finden«, sagte Terence und verlagerte seinen Griff am Schandeckel.

»Warte!« rief ich. »Vorsicht…«

Terence gelang es, das Bein ins Boot zu schwingen. Er zog sich hoch und warf seinen Oberkörper auf den Schandeckel.

»Gott selbst könnte dieses Schiff nicht versenken«, murmelte ich, das Gepäck festhaltend.

»Alles im Lot.« Terence zog sich vollständig ins Boot. »Siehst du! Nichts passiert!« sagte er triumphierend und das Boot kenterte.

Wie wir ans Ufer gelangten, weiß ich nicht. Ich erinnere mich, daß das Portmanteau übers Deck auf mich zuschlitterte wie der Konzertflügel auf der Titanic und daß ich eine Menge Wasser schluckte und mich an den Schwimmgürtel klammerte oder vielmehr was ich dafür hielt und was sich umgehend als Cyril herausstellte, der wie ein Stein unterging. Ich entsinne mich daran, daß ich den toten Mann markierte und daß wir schließlich alle triefend am Ufer saßen und nach Luft schnappten.

Cyril erholte sich als erster. Er taumelte auf die Füße und schüttelte das Wasser aus seinem Fell über uns aus. Terence setzte sich auf, mit dem Blick über den Fluß schweifend.

»›Durch finsterste, grausige Mitternacht, durch peitschenden Graupel und Schnee‹«, zitierte er, »›trieb geisterhaft und bleich das Schiff, zum Felsenriff von Normans Weh.‹«[50]

»Naufragium sibi quisque facit«, sagte Professor Peddick.

Terence starrte aufs Wasser. »Es ist untergegangen«, stellte er fest, genau wie Lady Astor es bei der Titanic getan hatte. Mir kehrten plötzlich die Sinne zurück, und ich stand auf und watete ins Wasser, aber vergebens. Das Boot war verschwunden. Lediglich ein angeschwemmtes Ruder ragte an der Uferböschung halb aus dem Wasser, und in der Flußmitte schaukelte Professor Peddicks Kessel. Weitere Überlebende des Schiffsbruchs gab es nicht. Von der Reisetasche war weit und breit nichts zu sehen.

»›Der Sturm packte das Schiff mit mächtiger Faust, erschütterte es von Heck bis Bug‹«, fuhr Terence fort. »›Er nahm das Tau einer gebroch’nen Spier und band sie damit an den Mast.‹«

Prinzessin Arjumand hatte keine Chance gehabt, so eingekeilt unter der Sitzbank. Wenn ich sie herausgelassen hätte, als sie miaute, wenn ich Terence erzählt hätte, daß ich sie gefunden hatte, wenn ich am richtigen Platz und zur rechten Zeit aufgetaucht wäre, wenn ich nicht die Zeitkrankheit gehabt hätte…

»›Im Morgengrauen, am einsamen Strand, traute ein Fischer seinen Augen nicht recht‹«, zitierte Terence weiter, »›das Meer trieb eines Schoners Mast an Land, ein Mädchen an ihn gebunden mit Taugeflecht.‹«

Ich drehte mich um, um ihm zu sagen, er solle endlich den Mund halten und sah hinter uns im Sternenlicht den Pavillon, zu dem ich die Katze hätte zurückbringen sollen.

Nun, zurückgebracht hatte ich sie und dabei den Mord vollendet, den der Butler begonnen hatte. Und dieses Mal war Verity nicht in der Nähe gewesen, um sie zu retten.

»›Das Salz der See auf ihrer Brust gefroren‹«, deklamierte Terence, »›ihre Tränen verkrustet zu salzigem Naß…‹«

Mein Blick hing am Pavillon. Prinzessin Arjumand war unentdeckt in ihrem Weidenkorb beinahe von einem Zug überfahren worden, zweimal beinahe in die Themse gestoßen worden, einmal von Cyril und ein weiteres Mal von Professor Peddick, und alles hatte sie überlebt, nur um dann hier zu ertrinken. Vielleicht hatte T. J. recht, und sie war dazu bestimmt gewesen, zu ertrinken, gleichgültig, wie sehr Verity, ich oder sonst jemand auch herumpfuschten. Vielleicht war ihr dieses Ende vom Schicksal zugedacht. Die Geschichte, die sich wieder selbst korrigierte.

Vielleicht hatte sie aber auch einfach kein weiteres Leben mehr übriggehabt. Ich zählte fünf ihrer neun Leben, die sie allein in den letzen vier Tagen aufgebraucht hatte.

Ich hoffte, daß es daran lag und nicht an meiner vollständigen Inkompetenz. Aber ich glaubte es nicht. Und ich befürchtete, daß Verity es auch nicht glaubte. Sie hatte Kopf und Kragen riskiert und Dunworthys Zorn in Kauf genommen, um die Katze zu retten. »Ich lasse nicht zu, daß Sie sie ersäufen«, hatte sie gesagt, und ich bezweifelte sehr, daß sie so etwas wie den natürlichen Lauf der Dinge als Entschuldigung akzeptieren würde.

Das letzte, was ich mir wünschte, war ihr zu begegnen, aber es ließ sich nicht umgehen. Trotz seines Schütteins war Cyril immer noch triefendnaß, ebenso Professor Peddick, und Terence sah aus, als sei er am Erfrieren.

»›Welch’ schreckliches Ende nahm die Hesperus‹«, sagte er, und seine Zähne schlugen so heftig aufeinander, daß er kaum mehr rezitieren konnte, »›in Mitternacht und Schnee!‹«

Wir mußten uns abtrocknen und die durchnäßten Kleidungsstücke vom Leib bekommen, und weit und breit gab es kein anderes Gebäude als Muchings End. Es blieb uns nichts anderes übrig. Wir mußten das ganze Haus wecken und um Hilfe bitten, selbst wenn das hieß, Tossie zu begegnen, die fragen würde, ob wir ihre geliebte »Juju« gefunden hätten. Selbst wenn das hieß, Verity zu begegnen.

»Los, komm«, sagte ich und nahm Terence am Arm. »Laß uns zum Haus hinübergehen.«

Er rührte sich nicht von der Stelle. »›Bewahre uns, Heiland, vor solch einem Tod‹«, sagte er, »›am Felsenriff von Normans Weh.‹ Jabez wird fünfzig Pfund von uns verlangen.«

»Darüber können wir uns später Gedanken machen«, sagte ich. »Auf, komm! Wir versuchen es zuerst an der Verandatür. Dort schimmert Licht durch.«

»Ich kann der Familie des Mädchens, das ich liebe, nicht so gegenübertreten«, erwiderte Terence zitternd. »Ich habe nicht einmal eine Jacke an.«

»Hier«, sagte ich, zog meine Jacke aus und gab sie ihm. »Du kannst meine haben. Es wird sie nicht stören, daß wir keine Dinnerkleidung tragen. Schließlich ist unser Boot untergegangen.«

Professor Peddick kam platschenden Schrittes wieder. »Es ist mir gelungen, etwas von unserem Gepäck zu bergen«, sagte er und gab mir die Reisetasche. »Meine Sammlung Fische leider nicht, befürchte ich. Ach, mein weißer Ugubio fluviatilis…«

»Ich kann nicht ohne Schuhe gehen«, sagte Terence. »Ich kann mich vor dem Mädchen, das ich liebe, doch nicht halbnackt zeigen.«

»Hier«, sagte ich und versuchte, meine nassen Schnürsenkel mit einer Hand zu lösen. »Nimm meine. Professor Peddick, geben Sie ihm Ihre Socken.« Während sie damit kämpften, die nassen Socken aus- und anzuziehen, rannte ich hinter den Pavillon und öffnete die Reisetasche.

Prinzessin Arjumand, die nur etwas feucht wirkte, starrte einen Moment lang überrascht aus den Tiefen der Tasche zu mir hoch, kletterte dann geschwind mein Bein hinauf und sprang in meine Arme.

Man sagte, daß Katzen es allgemein haßten, naß zu werden, aber sie schmiegte sich in meine wassertriefenden Ärmel und schloß die Augen.

»Ich habe dir nicht das Leben gerettet«, sagte ich. »Professor Peddick war es.«

Das schien ihr gleichgültig zu sein. Sie schmiegte sich enger an meine Brust und fing erstaunlicherweise zu schnurren an.

»Oh, ausgezeichnet, Prinzessin Arjumand ist hier«, sagte Terence und zog die Jacke straff. Sie schien etwas geschrumpft zu sein. »Ich hatte recht. Sie war die ganze Zeit über hier.«

»Ich glaube nicht, daß es sich für einen Professor der Universität Oxford schickt, ohne Socken herumzulaufen«, meinte Professor Peddick.

»Papperlapapp«, sagte ich. »Professor Einstein hatte auch nie welche an.«

»Einstein?« fragte er. »Ich glaube nicht, daß ich von diesem Gentleman schon mal gehört habe.«

»Kommt noch«, sagte ich und machte mich auf den Weg über den Rasen.

Terence hatte recht gehabt. Sie hatten die Vorhänge geschlossen. Als wir über den Rasen gingen, wurden sie zurückgezogen, ein Licht flackerte schwach auf, und wir konnten Stimmen hören.

»Das ist ja schrecklich aufregend«, sagte eine Männerstimme. »Was machen wir zuerst?«

»Uns die Hände reichen.« Das klang wie Veritys Stimme. »Und konzentrieren.«

»Oh, Mama, frag doch bitte nach Juju.« Das war eindeutig Tossie. »Frag sie, wo sie steckt.«

»Psscht.«

Stille trat ein, während der wir die restliche Rasenfläche überquerten.

»Ist ein Geist anwesend?« rief eine dröhnende Stimme, und ich ließ fast Prinzessin Arjumand fallen, so sehr ähnelte die Stimme der von Lady Schrapnell, aber das war ja unmöglich. Es mußte Tossies Mutter sein, Mrs. Mering.

»Oh, Geist von der Anderen Seite«, rief sie, und ich mußte mich zwingen, nicht wegzurennen, »sprich zu uns, die wir hier im Irdischen weilen.«

Wir bahnten uns einen Weg durch die Heckeneinfassung zu dem gefliesten Weg, der zur der Verandatür führte.

»Sag uns unser Schicksal«, dröhnte Mrs. Merings Stimme. Prinzessin Arjumand kletterte an mir hoch und grub die Krallen in meine Schulter.

»Tritt ein, o Geist«, intonierte Mrs. Mering, »und bring uns Nachricht von unseren Lieben, die wir vermissen.«

Terence klopfte an die Tür.

Wieder trat Stille ein, dann rief Mrs. Mering mit etwas schwächerer Stimme: »Tritt ein!«

»Warte«, sagte ich, aber Terence hatte die Tür bereits geöffnet. Die Vorhänge bauschten sich ins Zimmer, und wir starrten blinzelnd auf das von Kerzen erleuchtete Bild, das sich uns bot.

Vier Personen saßen um einen schwarzverhangenen Tisch, die Augen geschlossen, und hielten sich die Hände: Verity, weißgekleidet, Tossie in Rüschen, ein bleicher junger Mann mit dem Kragen eines Geistlichen und versunkenem Gesichtsausdruck und Mrs. Mering, die zum Glück Lady Schrapnell äußerlich nicht ähnelte. Sie war viel molliger, mit einem beeindruckenden Busen und einem noch beeindruckenderen Doppelkinn.

»Tritt ein, o Geist von der Anderen Seite«, sagte sie, und Terence schob die Vorhänge beiseite und trat ins Zimmer.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. Alle im Zimmer öffneten die Augen und starrten uns an.

Wir mußten ein ziemlich interessantes Bild abgegeben haben, Terence in seiner zusammengewürfelten Kleidung, ich in Socken und wir alle triefend wie Wasserratten, von dem Hund gar nicht zu reden, der immer noch Flußwasser ausspie. Oder der Katze.

»Wir sind gekommen…« setzte Terence an, und Mrs. Mering erhob sich und legte eine Hand auf ihren gewichtigen Busen.

»Sie sind gekommen!« rief sie und fiel in Ohnmacht.

Die Farben der Zeit
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