»Der Fluch hat mich ereilt«, rief das Fräulein von Shalott.Alfred, Lord Tennyson
21. Kapitel
Erklärungen und Gegenvorwürfe • Noch eine Vorahnung • Unsere Leibhaftigkeit wird in Zweifel gezogen • Ein Unwetter… • Das Rätsel der Telegramme ist gelöst • Ein ruhiger Abend zu Hause • Eine Ankunft • Spitznamen aus Kindertagen • Wohltätigkeitsbasare werden Tradition • Verfall und Untergang
Vorwürfe und Gegenvorwürfe dominierten den Rest der Reise. »Hast du nicht gesagt, er hätte seiner Schwester ein Telegramm geschickt?« fragte Terence.
»Das nahm ich an«, sagte ich. »Ich fragte ihn: ›Haben Sie Ihre Telegramme abgeschickt?‹ und er antwortete ›Ja‹ und hielt mir die gelben Empfangsbestätigungen unter die Nase.«
»Wahrscheinlich hat er vergessen, die Telegramme zu bezahlen oder so was Ähnliches. Die Beerdigung ist morgen früh um zehn.«
»Madame Iritosky versuchte mich zu warnen«, sagte Mrs. Mering, drei Kissen und eine zusammengefaltete Decke im Rücken, die Baine ihr eiligst geholt hatte. »›Hüten Sie sich vor Wasser‹, sagte sie. Sie wollte mir sagen, daß Professor Peddick ertrunken ist!«
»Aber er ist nicht ertrunken«, sagte ich. »Es ist alles ein Mißverständnis. Er fiel in den Fluß, und Terence und ich fischten ihn heraus. Wahrscheinlich hat Professor Overforce gedacht, er sei ertrunken, als er ihn nicht mehr fand.«
»Fiel in den Fluß?« fragte Mrs. Mering. »Ich dachte, Ihr Boot wäre gekentert.«
»Tat es auch«, erwiderte Terence. »Aber das war am Tag danach. Wir hörten einen Platscher, und ich dachte, es sei Darwin, weil am Ufer eine Reihe Bäume stand, aber er war’s nicht. Professor Peddick war’s, und es war pures Glück, daß wir gerade in dem Moment vorbeikamen, um ihn zu retten, sonst wäre es aus mit ihm gewesen. Er ging schon zum dritten Mal unter, und es war verdammt schwer…«
»Mr. St. Trewes!« unterbrach ihn Mrs. Mering, offensichtlich wiederhergestellt. »Es sind Damen anwesend!«
Terence schaute verärgert. »Oh, Verzeihung. In der Aufregung des Erzählens…«
Mrs. Mering nickte gnädig. »Professor Peddick fiel in den Fluß, sagten Sie?«
»Nun, eigentlich… Also, Professor Overforce und er stritten sich gerade über Geschichte, wissen Sie, und Professor Peddick sagte…«
Ich hörte nicht weiter zu, sondern starrte gedankenverloren auf die Wand, genau wie Mrs. Mering bei ihrer Vorahnung. Etwas, das jemand gesagt hatte – für einen Moment war es zum Greifen nahe, des Rätsels Lösung, der wichtige Hinweis. Verity hatte recht, wir packten die Sache falsch rum an. Aber es dauerte nur eine Sekunde, dann war es mir entglitten. Es war etwas, das einer von ihnen gesagt hatte. Mrs. Mering? Terence? Ich schielte zu Terence hinüber und versuchte mich zu erinnern.
»…und dann sagte Professor Peddick, daß Julius Cäsar nicht unwichtig gewesen sei, und daraufhin machte Professor Overforce Bekanntschaft mit dem nassen Element.«
»Professor Overforce!« Mrs. Mering winkte Verity, ihr das Riechsalz zu reichen. »Sie sagten doch, Professor Peddick fiel in den Fluß.«
»Eigentlich wurde er mehr gestoßen.«
»Gestoßen!«
Es war zwecklos. Was immer meine Ahnung gewesen war, sie war verschwunden. Und es war eindeutig Zeit, zu intervenieren.
»Professor Peddick rutschte aus und fiel ins Wasser«, sagte ich, »und wir retteten ihn und wollten ihn eigentlich nach Oxford bringen, aber er bestand darauf, mit uns flußabwärts zu kommen. Wir hielten in Abingdon, damit er seiner Schwester ein Telegramm schicken konnte, um sie von seinen Plänen in Kenntnis zu setzen, aber offenbar ging etwas schief, und als er nicht mehr auftauchte, muß sie angenommen haben, er sei tot. Während er mopsfidel und bei uns war.«
Sie roch tief an dem Riechsalz. »Bei Ihnen«, sagte sie und schaute Terence grübelnd an. »Ein kalter Windstoß fuhr ins Zimmer, und als ich hochschaute, standen Sie da im Türrahmen, in der Dunkelheit. Woher soll ich wissen, daß Sie nicht allesamt Geister sind?«
»Hier. Fühlen Sie mal«, sagte Terence und hielt ihr seinen Arm hin. »›Ach, dies allzufeste Fleisch.‹«[70] Sie kniff vorsichtig in seinen Ärmel. »Sehen Sie«, sagte er. »Alles echt.«
Mrs. Mering wirkte nicht überzeugt. »Der Geist von Katie Cook fühlte sich auch solide an. Bei einer Seance legte Mr. Crookes seinen Arm um ihre Taille und sagte, sie fühle sich völlig menschlich an.«
Wofür es eine Erklärung gab und ebenso für den Umstand, daß Geister eine ungewöhnliche Ähnlichkeit mit Menschen hatten, die mit Seihtüchern behangen waren. Mit dieser Art von Argumentation würden wir jedenfalls nie beweisen können, daß wir lebendig waren.
»Und Prinzessin Arjumand war bei Ihnen«, sagte Mrs. Mering, die sich immer mehr für ihre Theorie erwärmte, »von der Madame Iritosky gesagt hatte, sie hätte längst die Schwelle zur Anderen Seite überschritten.«
»Prinzessin Arjumand ist kein Geist«, sagte Verity. »Baine hat sie heute morgen am Fischteich erwischt, als sie gerade Colonel Merings Schwarzen Mauren fangen wollte. Ist es nicht so, Baine?«
»Genau, Miss«, erwiderte er. »Es gelang mir aber, sie zu entfernen, bevor irgendein Schaden entstand.«
Ich schaute ihn an und überlegte, ob dieses ›Entfernen‹ die Mitte der Themse bedeutete oder ob er durch den Zwischenfall mit Verity zu verschreckt war, um dieses Exempel noch einmal zu statuieren.
»Arthur Conan Doyle sagt, daß Geister im Jenseits essen und trinken wie wir auch«, sagte Mrs. Mering. »Er sagt, sie leben genau wie wir, nur reiner und glücklicher, und die Zeitungen würden nie etwas drucken, was nicht stimmte.«
So ging es weiter, bis wir in Reading umstiegen, wo das Thema dazu wechselte, wie unmöglich sich Professor Peddick benommen habe.
»Seine Lieben in solch schreckliche Seelenqualen zu stürzen«, sagte Mrs. Mering, während sie auf dem Bahnsteig stand und Baine zusah, wie er sich mit dem Gepäck abmühte, »zuzulassen, daß sie am Fenster sitzen und verzweifelt auf seine Rückkehr warten, bis nach Stunden alle Hoffnung schwindet – das ist doch der Gipfel der Grausamkeit! Hätte ich gewußt, wie sorglos er den Gefühlen seiner Angehörigen gegenüber ist, nie hätte ich ihm unser Haus geöffnet und unsere Gastfreundschaft angeboten! Niemals!«
»Sollten wir nicht besser telegrafieren und Professor Peddick vor dem Unwetter warnen, das sich nähert?« flüsterte ich Verity zu, als wir in den anderen Zug stiegen.
»Als ich den Fächer holte«, sagte sie und beobachtete Tossie, die mit Terence vor uns herging, »kam da irgend jemand in unser Abteil?«
»Nicht eine Menschenseele«, erwiderte ich.
»Und Tossie war die ganze Zeit über da?«
»Sie ging Baine holen, nachdem ihre Mutter in Ohnmacht gefallen war«, sagte ich.
»Wie lange blieb sie weg?«
»Nur solange, wie sie brauchte, Baine zu holen«, sagte ich und setzte, als ich ihre niedergeschlagene Miene sah, hinzu: »Vielleicht ist sie auf dem Gang mit jemandem zusammengestoßen. Wir sind immer noch nicht zu Hause. Vielleicht trifft sie hier im Zug jemanden. Oder auf dem Bahnhof in Muchings End.«
Doch der Bahnhofsvorsteher, der Tossie ins Abteil half, war mindestens siebzig und auf dem regennassen Bahnsteig in Muchings End kein Mensch. Und zu Hause auch nicht, wenn man von Colonel Mering und Professor Peddick absah.
Ich hätte telegrafieren sollen.
»Hatte eine großartige Idee«, sagte Colonel Mering und kam freudestrahlend durch den Regen geeilt, um uns zu begrüßen.
»Mesiel, wo ist dein Schirm?« unterbrach ihn Mrs. Mering. »Wo ist dein Mantel?«
»Brauch’ beides nicht«, befand der Colonel. »War nur mal draußen, um meinen neuen rotgepunkteten Silbertancho anzuschauen. Bin vollkommen trocken«, setzte er hinzu, obwohl er ziemlich durchweicht aussah und sein Schnurrbart schlaff herabhing. »Konnte nicht abwarten, dir von unserer Idee zu erzählen. Großartig, einfach großartig. Dachten, wir sagen dir’s sofort, stimmt’s, Professor Peddick? Griechen!«
Mrs. Mering, der Baine, einen Schirm über sie haltend, gerade aus der Kutsche half, beäugte Professor Peddick argwöhnisch, als sei sie sich seiner Leibhaftigkeit immer noch nicht ganz sicher. »Kriechen? Wer?«
»Thermopylae«, sagte der Colonel freudig. »Marathon, der Hellespont, die Straße von Salamis. Habe die Schlacht heute durchdacht. Fiel mir so ein. Die einzige Möglichkeit, die Gegend richtig zu beurteilen. Sich die Armeen vorzustellen.«
Es tat einen unheilverkündenden Donnerschlag, den er ignorierte. »Ferien für die ganze Familie. Bestellen Tossies Aussteuer in Paris und besuchen Madame Iritosky. Bekam heute ein Telegramm, daß sie ins Ausland reist. Angenehmer Ausflug.« Er hielt inne und wartete lächelnd auf die Reaktion seiner Gattin.
Diese hatte sich augenscheinlich entschieden, Professor Peddick für lebendig zu halten, zumindest im Augenblick. »Professor Peddick«, sagte sie mit einer Stimme, die so kalt war, daß sie gut und gern mehrere Schals vertragen hätte, »bevor Sie zu diesem Ausflug aufbrechen wollen, beabsichtigen Sie da vielleicht, Ihre Familie über Ihre Pläne zu informieren? Oder lassen Sie zu, daß sie weiter Trauerkleidung tragen wie bisher?«
»Trauerkleidung?« Der Professor holte sein Monokel hervor.
»Wie bitte, meine Liebe?« fragte der Colonel.
»Mesiel«, sagte Mrs. Mering. »Du hast eine Schlange an deinem Busen genährt.« Ihr anklagender Finger richtete sich auf Professor Peddick. »Dieser Mann hat diejenigen getäuscht, die ihm ihre Freundschaft angeboten, ihn aufgenommen haben, aber was noch weitaus schlimmer ist, auch seine Lieben zu Hause.«
Professor Peddick nahm sein Monokel ab und prüfte die Gläser.
»Schlange?«
Es dämmerte mir, daß wir auf diese Art die ganze Nacht hier draußen stehen würden, ohne daß Professor Peddick das Unglück, das ihn heimgesucht hatte, verstehen würde, und ich überlegte, ob ich mich besser einmischte, vor allem, weil es gerade wieder zu regnen begann. Ich schaute zu Verity, aber sie blickte sehnsüchtig auf die leere Auffahrt.
»Professor Peddick…«, begann ich, aber Mrs. Mering hielt ihm schon die Oxford Chronicle vor die Nase.
»Lesen Sie das!« befahl sie.
»Wahrscheinlich ertrunken?« Er setzte das Monokel auf und wieder ab.
»Haben Sie Ihrer Schwester nicht ein Telegramm geschickt?« fragte Terence. »Und ihr mitgeteilt, daß Sie mit uns flußabwärts fahren?«
»Telegramm?« Professor Peddicks Stimme klang unsicher, und er drehte die Zeitung herum, als stünde die Antwort auf der Rückseite.
»Die Telegramme, die Sie in Abingdon wegschickten«, half ich nach. »Ich fragte Sie, ob Sie die Telegramme abgeschickt haben, und Sie sagten ›Ja‹.«
»Telegramme? Ach ja, jetzt fällt es mir ein. Ich schickte ein Telegramm an Dr. Maroli, den Verfasser eines Aufsatzes über die Unterzeichnung der Magna Charta. Und ein zweites an Professor Edelswein in Wien.«
»Sie sollten doch Ihrer Schwester und Ihrer Nichte ein Telegramm schicken«, sagte Terence. »Damit sie wissen, wo Sie stecken.«
»Ach, du meine Güte«, sagte Professor Peddick. »Nun ja, Maudie ist ein vernünftiges Mädchen. Als ich nicht nach Hause kam, wird sie sich schon gedacht haben, daß ich auf einer Exkursion bin. Nicht wie die meisten Frauen, die aufgeregt herumflattern und denken, man sei von einer Trambahn überfahren worden.«
»Das denken sie ja gar nicht«, bemerkte Mrs. Mering erbost. »Sie denken, Sie seien ertrunken. Der Trauergottesdienst ist morgen früh um zehn.«
»Trauergottesdienst?« Professor Peddick blickte auf die Zeitung. »Gottesdienst um zehn Uhr. Christ Church Meadow«, las er. »Wozu, um alles in der Welt, halten sie einen Trauergottesdienst ab? Ich bin nicht tot.«
»Das sagen Sie«, sagte Mrs. Mering mißtrauisch.
»Sie müssen sofort nach Hause telegrafieren«, sagte ich, bevor sie fragen konnte, ob sie seinen Arm befühlen dürfe.
»Ja, sofort«, stimmte Mrs. Mering zu. »Baine, holen Sie Schreibzeug.«
Baine verbeugte sich. »In der Bibliothek ist es bestimmt bequemer für Sie«, sagte er und verfrachtete uns damit gottseidank ins Haus.
Dort brachte er Federhalter, Tinte, Papier und einen Federhalterwischer herbei, der wie ein Igel geformt war, dann auf einem Silbertablett Tee, süße Brötchen und gebutterte Muffins. Professor Peddick verfaßte ein Telegramm an seine Schwester und ein weiteres an den Dekan von Christ Church, Terence wurde eiligst ins Dorf geschickt, sie abzusenden, und Verity und ich nutzten seine Abwesenheit, um uns ins Frühstückszimmer zu schleichen und unseren nächsten Schachzug zu besprechen.
»Der wie aussehen soll?« fragte Verity. »Am Bahnhof war niemand. Hier auch nicht. Ich fragte die Köchin. Den ganzen Tag über war keiner an der Tür. Sobald es zu regnen aufgehört hat, sollten wir meiner Meinung nach zu Dunworthy springen und ihm sagen, daß wir keinen Erfolg hatten.«
»Der Tag ist noch nicht vorbei«, sagte ich. »Wir haben noch das Dinner und den ganzen Abend vor uns. Passen Sie auf, Mr. C wird während der Suppe erscheinen und verkünden, daß Tossie und er bereits seit Ostern heimlich verlobt sind.«
»Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte Verity ohne rechte Überzeugung.
Aber während des Abendessens geschah nichts, außer daß Mrs. Mering wieder von ihrer Vorahnung sprach, die inzwischen kunstvolle Ausschmückungen erfahren hatte. »Und als ich dort in der Kirche stand, war mir, als sähe ich den Geist von Lady Godiva vor mir – angekleidet natürlich –, in einem Gewand von Coventrinerblau, das lange Haar offen, und während ich wie angewurzelt dastand, hob sie warnend ihre schimmernde weiße Hand und sagte: ›Die Dinge sind nicht, was sie scheinen.‹«
Auch Zigarren und Portwein gingen an uns ereignislos vorüber, abgesehen von Colonel Mering, der uns mit einer ausführlichen Beschreibung der Besonderheiten seines neuerworbenen rotgepunkteten Silbertanchos beglückte. Ich hoffte sehnlichst, bei unserer Rückkehr zu den Damen einen schiffsbrüchigen Seemann oder einen enterbten Herzog zu sehen, der von ihnen umringt wurde und dessen Geschichte, wie er sich im Gewitter verirrte, sie begierig lauschten, aber als Colonel Mering die Schiebetüren wieder öffnete, lagerte Mrs. Mering, offenbar von einem neuerlichen Schwächeanfall heimgesucht, auf einem kleinen Sofa und atmete tief in ein duftendes Taschentuch. Tossie saß am Schreibtisch und schrieb in ihr Tagebuch und Verity, die im Schaukelstuhl saß, schaute begierig hoch, als erwarte sie, daß wir den Seemann mitbrächten. Als es an der Haustür klopfte, sprang sie auf und ließ ihre Stickerei fallen, aber es war nur Terence, der vom Telegrafenamt zurückkam.
»Ich hielt es für das Beste, auf eine Antwort von Ihrer Schwester zu warten«, sagte er und gab Baine seine feuchte Jacke und den Schirm. Er händigte Professor Peddick zwei gelbe Umschläge aus.
Dieser nestelte sein Monokel hervor, öffnete die Telegramme und begann sie laut vorzulesen. »Onkel. Erfreut von Dir zu hören. Wußte, daß Dir nichts passiert ist. Alles Liebe. Deine Nichte.«
»Brave Maudie«, sagte er. »Ich wußte, daß sie einen kühlen Kopf bewahren würde. Das zeigt, welch intelligente Geschöpfe Frauen sein können, wenn sie nur die richtige Bildung genießen.«
»Bildung?« fragte Tossie. »Ist sie ästhetisch gebildet?«
Professor Peddick nickte. »Kunst, Rhetorik, die Klassiker, Mathematik.« Er öffnete den zweiten Umschlag. »Nichts von dieser albernen Musiziererei und Handarbeit wie bei Ihnen hier.« Er las laut das zweite Telegramm. »›Horace. Wie konntest Du? Begräbnis angeordnet. Blumen und Sargträger schon bestellt. Erwarte Dich mit dem Zug 9.32. Professor Overforce arbeitet bereits an der Trauerrede.‹ Professor Overforce!« Er stand auf. »Ich muß sofort nach Oxford. Wann geht der nächste Zug?«
»Heute abend geht kein Zug mehr«, sagte Baine, der wandelnde Fahrplan. »Der erste Zug morgen früh fährt um sieben Uhr vierzehn von Henley ab.«
»Da muß ich mit«, sagte Professor Peddick. »Packen Sie sofort meine Sachen. Overforce! Er hat nicht vor, eine Trauerrede halten. Er hat vor, meine Theorie von Geschichte zu seinen Gunsten zu diskreditieren. Er ist auf den Haviland-Lehrstuhl aus! Natürliche Gewalten! Bevölkerung! Mörder!«
»Mörder?« schrillte Mrs. Mering, und ich befürchtete schon, es gäbe eine Neuauflage der Lebendig-oder-Tot-Diskussion, aber Professor Peddick ließ ihr nicht einmal die Chance, nach ihrem Riechsalz zu verlangen.
»Nicht daß Mord in seiner Geschichtstheorie eine Rolle spielt«, fuhr er, das Telegramm umkrampfend, fort. »Der Mord an Marat, der an den zwei jungen Prinzen[71] im Tower, der Mord an Darnley[72] – laut Professor Overforce hat das alles keine Auswirkung auf die Geschichte. Individuelle Aktionen sind für den Lauf der Dinge unwichtig. Ehre zählt in seiner Theorie nicht und auch nicht Eifersucht, Dummheit oder Glück. Nichts davon hat Auswirkungen auf Ereignisse. Weder Sir Thomas Moore noch Richard Löwenherz oder Martin Luther.« Und so weiter und so fort.
Mrs. Mering machte ein paarmal den Versuch, ihn zu unterbrechen, gab es dann auf und sank in die Polster. Colonel Mering nahm seine Zeitung (nicht die Oxford Chronicle), und Tossie, das Kinn in die Hand gestützt, spielte mit einem großen rosafarbenen Federhalterwischer, der einer Nelke glich. Terence streckte am Kamin die Beine aus, und Prinzessin Arjumand rollte sich auf meinem Schoß zusammen und schlief ein.
Regen trommelte gegen das Fenster, das Kaminfeuer knackte. Cyril schnarchte. Verity bearbeitete entschlossen ihre Stickerei, den Blick hin und wieder auf die große Standuhr gerichtet, die stehengeblieben zu sein schien.
»Bei der Schlacht von Hastings«, sagte Professor Peddick, »wurde König Harold durch einen Pfeil, der ihm ins Auge drang, getötet. Ein glücklicher Treffer, der den Ausgang der Schlacht entschied. Wie verhält sich Professor Overforces Theorie zum Glück?«
Jemand betätigte laut den Türklopfer der Haustür, und Verity stach sich mit der Sticknadel in den Finger. Terence fuhr blinzelnd hoch. Baine, der gerade Holzscheite im Kamin nachlegte, erhob sich und ging zur Tür.
»Wer kann das um diese Uhrzeit sein?« fragte Mrs. Mering.
Himmel, dachte ich, bitte, laß es Mr. C sein.
»Natürliche Gewalten! Bevölkerung!« schäumte Professor Peddick. »Wie paßt der Sieg von Khartum in diese Theorie?«
Vom Vestibül her hörte ich Gemurmel, Baines Stimme und die eines anderen Mannes. Ich schaute zu Verity hinüber, die an ihrem Finger lutschte, und dann wieder auf die Tür des Salons.
Baine erschien darin. »Reverend Arbitage«, sagte er, und der Geistliche stürzte ins Zimmer. Regen tropfte von der Krempe seines flachen breitkrempigen Hutes.
»Ich weiß, es ist unverzeihlich von mir, zu so später Stunde zu erscheinen«, sagte er und gab Baine seinen Hut, »aber ich mußte einfach vorbeischauen und Ihnen sagen, welch ein Erfolg das Kirchfest war. Ich war drüben in Lower Hedgebury zu einem Treffen des Armenviertel-Komitees, und jedermann war baß erstaunt über unseren Erfolg. Ein Erfolg…« – er lächelte dümmlich –, »den ich vollkommen Ihrer Idee mit dem Wohltätigkeitsbasar zuschreibe, Mrs. Mering. Reverend Chichester möchte nun bei seinem Mittsommerfest zugunsten der Mission für gefallene Mädchen auch so einen Basar organisieren.«
»Reverend Chichester?« Ich beugte mich vor.
»Ja«, sagte er eifrig. »Er wollte wissen, ob Sie ihm eventuell bei dieser Überraschung Ihre Erfahrung zugute kommen lassen würden, Mrs. Mering. Und Sie beide, Miss Brown und Miss Mering, natürlich auch.«
»Reverend Chichester?« fragte ich. »Ich glaube, ich habe schon mal von ihm gehört. Jung, unverheiratet, mit dunklem Schnurrbart?«
»Reverend Chichester?« fragte der Geistliche. »Um Himmels willen, nein. Neunzig, wenn nicht noch mehr. Außerdem ziemlich rheumatisch, aber immer noch aktiv, wenn’s um gute Werke geht. Und sehr interessiert am Jenseits.«
»Wundert mich nicht«, murmelte Colonel Mering aus den Tiefen seiner Zeitung. »Steht ja auch mit einem Fuß schon über der Schwelle.«
»Der Tag des Gerichts liegt vielleicht für uns alle nur einen Schritt entfernt«, sagte Reverend Arbitage, die Lippen schürzend. »›Fürchtet Gott, und erweist ihm die Ehre! Denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen.‹ Offenbarung, vierzehntes Kapitel, Vers sieben.«
Er war wirklich ein Kriecher. Etepetete, selbstgerecht, langweilig. Der perfekte Partner für Tossie. Und andere schienen auch nicht in Sicht zu sein.
»Arbitage«, sagte ich. »Ist das Ihr vollständiger Name?«
»Bitte?«
»Es gibt heutzutage so viele Menschen mit Doppelnamen«, sagte ich. »Edward Burne-Jones, Elizabeth Barrett Browning, Edward Bulwer-Lytton. Ich dachte, Arbitage sei vielleicht eine Kurzform für Arbitage-Culpep-per oder Arbitage-Chutney.«
»Arbitage ist mein vollständiger Name«, erwiderte er, sich zu voller Größe aufrichtend. »Eustace Hieronymus Arbitage.«
»Und auch kein Spitzname? Nein, sicher nicht, bei Ihrem Beruf«, setzte ich hinzu. »Aber vielleicht in Kindertagen? Meine Schwester nannte mich immer Curls, wegen meiner Babylocken. Hatten Sie lockiges Haar?«
»Ich glaube, ich war bis zum Alter von drei Jahren ziemlich kahl«, sagte Reverend Arbitage.
»Aha. Chuckles vielleicht? Oder Chubby?«
»Mr. Henry«, sagte Mrs. Mering. »Reverend Arbitage möchte uns das Ergebnis des Festes mitteilen.«
»Also«, sagte der Reverend und zog ein in Leder gebundenes Notizbuch aus der Tasche, »wenn man die Unkosten abzieht, bleiben unterm Strich achtzehn Pfund, vier Schilling und acht Pence, mehr als genug, um die Wandgemälde übertünchen und eine neue Kanzel bauen zu lassen. Vielleicht bleibt sogar noch genug übrig, um ein Ölgemälde für die Marienkapelle zu kaufen. Vielleicht einen Holman-Hunt.«
»Was ist Ihrer Meinung nach der Zweck von Kunst, Mr. Arbitage?« fragte Tossie plötzlich.
»Zu erbauen und zu belehren«, sagte er prompt. »Alle Kunst sollte eine Moral ausdrücken.«
»Wie ›Das Licht der Welt‹«,[73] sagte Tossie.
»Ja. ›Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an… ‹ Offenbarung Kapitel drei, Vers zwanzig.« Er wandte sich an Mrs. Mering. »Darf ich Reverend Chichester sagen, daß er mit Ihrer Hilfe rechnen kann?«
»Ich fürchte, nein«, sagte Mrs. Mering. »Wir reisen übermorgen nach Torquay.«
Verity schaute hoch wie vor den Kopf geschlagen. Der Colonel ließ die Zeitung sinken.
»Meine Nerven.« Mrs. Mering warf Professor Peddick einen erbitterten Blick zu. »Zuviel Aufregendes ist in den letzten Tagen geschehen. Ich muß unbedingt Doktor Fawleigh aufsuchen. Sie haben vielleicht schon von ihm gehört. Er ist ein Experte auf dem Gebiet des Spiritismus. Und von dort aus werden wir nach Kent fahren, um Mr. St. Trewes Eltern kennenzulernen und die Hochzeit zu planen.«
»Ach, so«, sagte Reverend Arbitage. »Aber bis August werden Sie doch hoffentlich wieder zurück sein. Unser Sommerfest war ein solcher Erfolg, daß ich beschlossen habe, auch ein Fest am St. Bartholomäustag abzuhalten, und wir brauchen dazu auf jeden Fall eine Wahrsagerin. Und einen Wohltätigkeitsbasar. Mrs. Chattisbourne war eigentlich mehr für ein Whistturnier, aber ich sagte ihr, daß der Wohltätigkeitsbasar unbedingt Tradition werden muß. Und das alles Dank Ihnen. Ich habe bereits Sachen dafür gesammelt. Miss Stiggins hat einen Stiefelknecht gespendet, und meine Großtante sendet mir einen Kupferstich der Schlacht von Naseby.«
»Ah ja, Naseby!« sagte Professor Peddick. »Prinz Ruperts Kavallerieangriff. Ein klassisches Beispiel, wie jemand schon fast den Sieg in der Tasche hat und plötzlich doch noch verliert, und das alles nur aus mangelnder Voraussicht.«
Es entspann sich ein kleines Gespräch über die Nachteile unüberlegten Handelns, dann segnete Reverend Arbitage uns alle und verabschiedete sich.
Tossie nahm kaum Notiz davon. »Ich bin ziemlich müde«, sagte sie, sobald Baine den Reverend hinausgebracht hatte. Sie küßte erst ihren Vater, dann ihre Mutter.
»Du bist so blaß«, sagte Mrs. Mering. »Die Seeluft wird dir guttun.«
»Ja, Mama«, erwiderte Tossie mit einer Stimme, als dächte sie an etwas ganz anderes. »Gute Nacht.« Dann stieg sie die Treppe hoch.
»Es wird Zeit, daß wir uns alle zur Ruhe begeben«, meinte Mrs. Mering und erhob sich. »Es war ein langer und…« – sie fixierte Professor Peddick mit einem Blick so durchdringend wie ein Handbohrer – »ereignisreicher Tag für uns alle, und du, Mesiel, mußt morgen früh aufstehen, um Professor Peddick auf seiner Reise zu begleiten.«
»Zu begleiten?« stotterte Colonel Mering. »Kann meinen rotgepunkteten Silbertancho doch nicht allein lassen.«
»Ich bin sicher, daß es auch dein Wunsch ist, daß Professor Peddick nicht plötzlich wieder von der Bildfläche verschwindet«, sagte Mrs. Mering bestimmt. »Ich bin sicher, daß du nicht dafür verantwortlich sein möchtest, daß eine Familie ein zweites Mal uninformiert und aller Hoffnung beraubt bleibt.«
»Nein, natürlich nicht«, entgegnete Colonel Mering bezwungen. »Freut mich, Sie nach Hause bringen zu dürfen, Professor Peddick.«
Während sie mit Baine über die Abfahrtszeiten sprachen, ging ich zu Verity und flüsterte: »Sobald ich Cyril morgen früh in den Stall gebracht habe, werde ich nach Oxford springen.«
Sie nickte wie betäubt. »In Ordnung.« Ihr Blick schweifte noch einmal umher, als hoffte sie, Mr. C erschiene doch noch. »Gute Nacht«, sagte sie dann und ging die Treppe hoch.
»Komm, Cyril.« Terence warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Zeit für dich, in den Stall zu gehen«, aber ich schenkte ihm keine Beachtung. Ich schaute auf den Schreibtisch, wo Tossie ihr Tagebuch hatte liegenlassen.
»Ich bin gleich oben«, sagte ich und stellte mich seitwärts davor. »Ich will mir nur noch ein Buch aussuchen.«
»Bücher!« bemerkte Mrs. Mering. »Entschieden zu viele Menschen lesen heutzutage Bücher!« und rauschte aus dem Zimmer.
»Komm mit, Cyril«, sagte Terence. Cyril taumelte hoch. »Regnet’s immer noch, Baine?«
»Ich fürchte ja, Sir«, erwiderte Baine und ging, ihnen die Haustür zu öffnen.
»Picketts Angriff!« sagte Professor Peddick zu Colonel Mering. »Die Schlacht von Gettysburg im amerikanischen Bürgerkrieg. Ein weiteres exzellentes Beispiel für unüberlegtes Handeln! Was sagt Overforce zu Picketts Angriff?« Und die beiden schritten aus dem Zimmer.
Ich schloß die Salontür hinter ihnen und eilte zum Sekretär. Das Tagebuch lag offen, der Federhalter und der nelkenförmige rosa Federhalterwischer verdeckten zwei Drittel des Blattes. Oben stand in verschnörkelter Handschrift: »15. Juni«, und darunter: »Heute fuhren wir nach Cov…«
Ich hob den Federhalterwischer. »… entry« las ich, das Y verlor sich im Nichts. Was immer sie auch schreiben wollte, um ihrer Nachkommenschaft den großen Tag zu schildern, sie hatte es noch nicht geschrieben, aber vielleicht gab es in früheren Einträgen Hinweise auf Mr. C.
Ich schloß das Tagebuch, zog Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Reiches, Band Eins und Zwei aus dem Regal hinter dem Sekretär und schob das Tagebuch zwischen die beiden Bände. Dann drehte ich mich mit den Büchern in der Hand um.
Baine stand hinter mir. »Ich bringe Miss Merings Tagebuch gern nach oben zu ihr, damit Sie sich nicht die Mühe machen müssen, Sir«, sagte er.
»Ausgezeichnet«, erwiderte ich und zog es zwischen den Gibbonausgaben hervor. »Ich wollte es ihr gerade bringen.«
»Wie Sie wünschen, Sir.«
»Nein, nein«, sagte ich. »Bringen Sie es hoch. Ich glaube, ich mache vorm Zubettgehen noch einen kleinen Spaziergang.« Eine deutlich lächerliche Bemerkung, denn der Regen schlug gegen die Verandatüren, und eine, der er genauso wenig glauben würde wie die, daß ich Tossies Tagebuch hatte zu ihr hochbringen wollen. Aber er sagte nur: »Wie Sie wünschen, Sir.«
»Kam heute abend jemand an die Haustür?« fragte ich. »Abgesehen von Reverend Arbitage?«
»Nein, Sir.«
»Oder an die Küchentür? Ein Hausierer? Oder jemand, der Schutz vor dem Unwetter suchte?«
»Nein, Sir. Ist das alles, Sir?«
Ja, das war dann alles. Und in einigen Jahren? Die Luftwaffe würde die Royal Airforce hinwegfegen, und die Deutschen würden in Dover landen, und Tossie und Terences Enkel würden am Strand und in Gräben und in Christ Church Meadow und in Iffley gegen sie kämpfen, aber ohne Erfolg.
Die Nazis würden ihre Fahnen vom Balkon des Buckingham Palace flattern lassen und im Paradeschritt durch Muchings End und Oxford und Coventry marschieren. Nun, wenigstens würde Coventry nicht in Flammen aufgehen. Nur das Parlamentsgebäude. Und die Zivilisation.
Bis das Raumzeitkontinuum sich schließlich selbst reparieren würde. Wenn nicht Hitlers Wissenschaftler vorher die Zeitreise entdeckten.
»Ist das alles, Sir?« fragte Baine erneut.
»Ja«, sagte ich. »Das ist alles«, ging und öffnete die Tür. Regen stob herein, und irgendwie schien es passend, kalt und naß zu werden. Ich wollte hinausgehen.
»Ich habe mir erlaubt, Mr. St. Trewes’ Freund in Ihr Zimmer zu bringen, Sir«, sagte Baine.
»Danke«, entgegnete ich dankbar. Ich schloß die Tür, drehte mich und stieg hinter ihm die Stufen hoch.
»Mr. Henry…«
»Ja?« Doch was immer er hatte bemerken wollen, offenbar hatte er es sich anders überlegt. »Ein ausgezeichnetes Buch«, sagte er statt dessen. »Verfall und Untergang.«
»Erbauend und belehrend«, sagte ich und ging zu Bett.