»Sieh mal an! Mir kommt’s vor, als hätten wir das Pferd die ganze Zeit über von hinten aufgezäumt!«Lord Peter Wimsey
26. Kapitel
Ein tiefer Fall • Wie Detektivromane enden • Mrs. Mering gibt dem Colonel die Schuld • Begreifen, was es bedeutet • Ein glückliches Ende für Cyril • Mrs. Mering gibt Verity die Schuld • Eine Seance wird angekündigt • Kofferpacken • Vorahnungen • Mrs. Mering gibt mir die Schuld • Finch ist es immer noch nicht gestattet, zu sprechen • Warten auf den Zug • Des Bischofs Vogeltränke • Begreifen, was es bedeutet
Nun, wie das Ende eines Detektivromans von Agatha Christie war es gerade nicht, wo Hercule Poirot alle im Salon zusammenruft, um die Identität des Mörders bekannt zu geben und jedermann mit seiner erstaunlichen detektivischen Spürnase zu überraschen.
Und auch nicht von Dorothy Sayers, wo der Held zu seinem weiblichen Helfershelfer sagt: »Geben wir nicht ein verteufelt gutes Detektivpaar ab? Wie wär’s, wenn wir die Partnerschaft auf Dauer schließen würden – was meinst du?« und dann einen Heiratsantrag in Lateinisch folgen läßt.
Wir gaben nicht mal ein halbwegs erfolgreiches Detektivpaar ab. Wir hatten den Fall nicht gelöst. Der Fall hatte sich trotz uns gelöst. Schlimmer noch, wir waren solch ein Hindernis gewesen, daß wir außer Gefecht gesetzt werden mußten, bevor der Lauf der Geschichte sich selbst korrigieren konnte. So ist’s eben, wie die Welt endet – nicht mit einem Donnerschlag, sondern mit einem durchgebrannten Pärchen.
Nicht, daß es kein Gewimmer gab – Mrs. Mering tat in dieser Hinsicht ihr Bestes, gar nicht zu reden von Tränen, Jammern und verzweifeltem Pressen des Briefes an ihren Busen.
»Oh, meine Tochter, mein Herzblatt!« schluchzte sie. »Mesiel, steh nicht so rum! Tu was!«
Colonel Mering blickte unbehaglich um sich. »Meine Liebe, was soll ich tun? Nach Tossies Brief zu urteilen, sind sie bereits auf hoher See.«
»Ich weiß auch nicht. Halte sie auf, laß die Heirat annullieren, benachrichtige die Royal Navy!« Sie hielt inne, griff sich ans Herz und rief: »Madame Iritosky versuchte mich zu warnen! ›Gebt acht vor dem Meer!‹ rief sie.«
»Pah! Scheint mir, sie hätte uns besser vorwarnen können, falls sie wirklich Kontakt zur Anderen Seite hätte!« schnaubte der Colonel. Doch Mrs. Mering hörte nicht zu. »Dieser Tag in Coventry, als ich die Vorahnung hatte – oh, wenn ich nur gewußt hätte, was es bedeutete! Vielleicht hätte ich sie retten können!« Sie ließ den Brief zu Boden flattern.
Verity bückte sich und hob ihn auf. »›Ich werde schreiben, sobald wir uns in Amerika häuslich niedergelassen haben‹«, las sie leise. »›Eure reuevolle Tochter, Mrs. William Patrick Callahan.‹« Sie schüttelte den Kopf.
»Weißt du was?« sagte sie. »Der Butler war’s.«
Als sie es sagte, überfiel mich ein ganz komisches Gefühl, wie eine von Mrs. Merings Vorahnungen oder als ob der Boden sich unter mir plötzlich bewegte, und ich dachte plötzlich an die Demonstranten vor der Kathedrale und an Mertons Fußgängereingang.
»Der Butler war’s.« Und dann noch etwas, etwas Wichtiges. Wer hatte das gesagt? Verity, als sie über Kriminalromane sprach? »Es ist immer derjenige, den man am wenigsten verdächtigt«, hatte sie in jener ersten Nacht in meinem Schlafzimmer gesagt. In den ersten paar hundert Büchern war es der Butler, und danach war das zu offensichtlich, und man mußte zu anderen Personen übergehen, die ebenfalls unverdächtig erschienen, die harmlose alte Dame zum Beispiel oder die treu ergebene Ehefrau des Vikars, aber die Leser kamen dem auch rasch auf die Schliche, und so mußte schließlich der Detektiv selbst der Mörder sein oder gar der Erzähler oder…
Aber da war noch etwas gewesen. Jemand hatte gesagt: »Der Butler war’s.« Aber wer? Niemand von hier. Der Kriminalroman war noch nicht einmal erfunden, wenn man von Der Mondstein absah. Der Mondstein. Tossie hatte etwas darüber gesagt, etwas wie man sich nicht gewahr sein kann, ein Verbrechen begangen zu haben. Und noch etwas anderes. Etwas über sich in Nichts auflösen.
»Und die Nachbarn!« wehklagte Mrs. Mering. »Was wird Mrs. Chattisbourne dazu sagen? Und Reverend Arbitage?«
Eine lange Pause trat ein, während der man nur Mrs. Merings Schluchzen hörte, dann drehte sich Terence zu mir um und sagte: »Begreifst du, was das bedeutet?«
»Oh, Terence, Sie armer, armer Junge!« schluchzte Mrs. Mering. »Fünftausend Pfund pro Jahr hätten Sie bekommen!« Sie ließ sich weinend von Colonel Mering aus dem Zimmer führen.
Wir beobachteten, wie sie die Stufen erklommen. Auf halbem Weg wankte Mrs. Mering in ihres Gatten Arm. »Und wir müssen einen neuen Butler engagieren!« sagte sie aufgelöst. »Wo sollen wir den herbekommen? Ich gebe dir vollkommen die Schuld an allem, Mesiel! Hättest du mich englisches Personal einstellen lassen, anstatt irisches…« Sie konnte vor Schluchzen nicht weitersprechen.
Colonel Mering gab ihr sein Taschentuch. »Na, na, meine Gute«, sagte er. »Nimm’s dir nicht so zu Herzen.«
»Begreifst du, was das bedeutet?« sagte Terence, sobald sie außer Sicht waren. »Ich bin nicht länger verlobt! Ich bin frei und kann Maud heiraten. ›O gloriglicher Tag! Callu, callei!‹«[83]
Cyril begriff eindeutig, was es hieß. Er setzte sich aufmerksam auf und begann mit dem ganzen Körper zu wackeln.
»Es ist dir klar, alter Junge, was?« sagte Terence. »Kein Stall mehr. Aus und vorbei.«
Und keine Babysprache, dachte ich. Und keine Gefechte mit Prinzessin Arjumand.
»Von nun an bist du auf Rosen gebettet«, fuhr Terence fort. »Darfst im Haus schlafen, im Zug mitfahren, gar nicht zu reden von all den leckeren Knochen! Maud liebt Bulldoggen über alles!«
Cyrils Gesicht verklärte ein breites sabberndes Lächeln vollkommener Glückseligkeit.
»Ich muß sofort nach Oxford. Wann geht der nächste Zug? Schade, daß Baine fort ist. Er hätte es gewußt.« Er sprang die Stufen hoch. Oben lehnte er sich über das Geländer und sagte: »Glaubst du, sie vergibt mir?«
»Daß du mit dem falschen Mädchen verlobt warst?« Ich nickte. »Eine Kleinigkeit. Passiert alle Tage. Denk an Romeo. Der war auch davor in eine Rosaline verliebt. Julia hat das offenbar nie gestört.«
»›Liebt ich wohl je?‹« zitierte er, die Hand mit theatralischer Gebärde zu Verity gestreckt. »›Nein, schwör es ab, Gesicht! Du sahst bis jetzt noch wahre Schönheit nicht.‹«
Ich schaute auf Verity. Sie blickte, die Hand auf dem Schlußpfosten der Treppe, traurig hinter Terence her.
Morgen wird sie wieder in den 1930ern sein, dachte ich und begriff, was das bedeutete. Zurück, um Detektivromane zu lesen und die Große Depression zu dokumentieren, die wundervollen roten Haare im Pagenschnitt und ihre langen Beine, die ich noch nie gesehen hatte, in Seidenstrümpfen mit Naht. Und ich würde sie nie wiedersehen.
Nein, ich würde sie wahrscheinlich bei der Einweihung sehen. Wenn es mir noch gestattet war, zu kommen. Wenn Lady Schrapnell mich nicht für immer und ewig zu Wohltätigkeitsbasaren verdonnerte, wenn ich ihr sagte, daß des Bischofs Vogeltränke nicht in der Kathedrale gewesen war.
Und falls ich Verity bei der Einweihung sah, was sollte ich zu ihr sagen? Terence brauchte sich nur dafür zu entschuldigen, daß er versehentlich geglaubt hatte, verliebt zu sein. Ich mußte mich dafür entschuldigen, ein derartiger Hemmschuh im Lauf der Dinge gewesen zu sein, daß man mich während des absoluten Höhepunkts in einem Verlies außer Gefecht gesetzt hatte. Nichts, worauf man stolz sein konnte. Genauso gut wie hinter dem Stand mit Galanteriewaren zu stecken.
»Ich werde das alles vermissen«, sagte Verity, den Blick immer noch auf die Treppe gerichtet. »Ich sollte froh sein, daß alles so ein gutes Ende genommen hat und daß das Kontinuum nicht zusammenbricht…« Sie wandte mir ihre wunderbaren Naiadenaugen zu. »Die Inkonsequenz ist doch beseitigt, oder?«
»Es geht ein Zug um neun Uhr dreiundvierzig.« Terence schoß die Treppe hinab, in der einen Hand seinen Hut, in der anderen eine Reisetasche. »Baine hat freundlicherweise einen Fahrplan in meinem Zimmer gelassen. Kommt um elf Uhr zwei in Oxford an. Komm, Cyril, wir werden uns verloben. Wo willst du hin? Cyril!« Er verschwand im Wohnzimmer.
»Ja«, sagte ich zu Verity. »Vollständig beseitigt.«
»Ned, kannst du veranlassen, daß Jabez das Boot zurückbekommt?« Terence erschien wieder mit Cyril. »Und daß mein übriges Gepäck nach Oxford geschickt wird?«
»Natürlich«, sagte ich. »Los, ab mit dir!«
Er schüttelte mir die Hand. »Mach’s gut, Freund, ahoi! Lebwohl, ade! Ich seh dich nächstes Semester.«
»Ich… da bin ich mir nicht sicher«, sagte ich, mir plötzlich bewußt, wie sehr ich ihn vermessen würde. »Mach’s gut, Cyril.« Ich beugte mich hinunter, um seinen Kopf zu tätscheln.
»Unsinn. Du siehst schon viel besser aus, seitdem wir in Muchings End sind. Bis zum Semesterbeginn wirst du vollkommen gesund sein. Wir werden uns prächtig auf dem Fluß amüsieren.« Und fort war er, und der glückliche Cyril ihm hinter drein.
»Ich will, daß sie sofort das Haus verlassen«, tönte Mrs. Merings überreizte Stimme. Wir schauten beide die Treppe hoch. Eine Tür schlug zu. »Kommt gar nicht in Frage!« sagte Mrs. Mering, dann hörte man Gemurmel. »… und sag ihnen…«
Weiteres Gemurmel. »Ich will, daß du sofort nach unten gehst und es ihnen sagst! Sie sind an allem schuld!«
Noch mehr Gemurmel. Dann: »Wenn sie eine ordentliche Anstandsdame gewesen wäre, wäre es niemals…«
Das Schlagen einer Tür schnitt den Rest des Satzes ab, und eine Minute später kam Colonel Mering die Treppe herunter, das Gesicht grämlich. Er schien peinlich berührt.
»Ist für meine arme Frau alles ein bißchen viel gewesen«, sagte er und betrachtete den Teppich. »Die Nerven. Äußerst empfindsam. Ruhe und absolute Erholung ist’s, was sie jetzt braucht. Denke, du fährst am besten zu deiner Tante nach London, Verity, und Sie nach…« Er suchte nach Worten.
»Nach Oxford, Sir«, half ich nach.
»Ah, ja, zu Ihren Studien. Tut mir leid«, sagte er zum Teppich gewandt. »Besorge gern eine Kutsche.«
»Nein, vielen Dank, das geht schon«, erwiderte ich.
»Kein Problem. Werde Baine sagen, daß…« Er brach mit hilflosem Blick ab.
»Ich bringe Miss Brown zum Bahnhof«, sagte ich.
Colonel Mering nickte. »Muß nach meiner lieben Frau sehen«, meinte er und wollte die Treppe wieder hoch. Verity lief hinter ihm her. »Colonel Mering«, sagte sie und folgte ihm halbwegs hoch. »Ich denke, Sie sollten Ihre Tochter nicht enterben.«
Er schaute betreten. »Fürchte, Malvinia wird nicht umzustimmen sein. Furchtbarer Schock, das alles. Butler!«
»Baine – ich meine, Mr. Callahan – hat Tossies Katze davon abgehalten, Ihren Schwarzen Mauren zu fressen«, sagte Verity.
Es war genau das Falsche. »Er hat sie aber nicht davon abgehalten, meinen kugeläugigen perlmuttfarbenen Ryunkin zu fressen«, erwiderte Colonel Mering erbost. »Kostete zweihundert Pfund.«
»Aber er hat Prinzessin Arjumand mitgenommen«, sagte Verity beschwörend, »und er hat verhindert, daß Madame Iritosky Tante Malvinias Rubinenhalsband stehlen konnte. Und er hat Gibbon gelesen.« Sie legte ihre Hände aufs Geländer und schaute zu ihm hoch. »Und sie ist Ihre einzige Tochter.«
Colonel Mering schaute mich hilfesuchend an. »Was meinen Sie, Henry? Wird dieser Bursche von Butler ihr ein guter Ehemann sein?«
»Er will nur ihr Bestes«, sagte ich mit überzeugter Stimme.
Der Colonel schüttelte den Kopf. »Fürchte, meine Frau ist durch und durch entschlossen, niemals wieder mit unserer Tochter zu sprechen. Sagt, von diesem Moment an sei Tossie für sie gestorben.« Bekümmert stieg er ein paar Stufen hoch.
»Aber sie ist doch Spiritistin.« Verity folgte ihm. »Sie ist doch imstande, mit den Toten zu sprechen.«
Das Gesicht des Colonels erhellte sich. »Phantastische Idee! Könnten eine Seance veranstalten.« Glücklich setzte er den Aufstieg fort. »Liebe Seancen. Könnte klopfen ›Vergib‹. Muß klappen. Dachte niemals, daß dieser ganze Blödsinn doch zu was gut sein könnte.« Er klopfte dreimal aufs Geländer. »Phantastische Idee!« Er wollte den Korridor entlang, hielt aber noch mal inne und legte seine Hand auf Veritys Arm. »Solltet packen und so schnell wie möglich zum Bahnhof fahren. Will nur das Beste für euch. Die Nerven, weißt du.«
»Ich verstehe vollkommen.« Verity öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. »Mr. Henry und ich brechen sofort auf.« Sie schloß die Tür hinter sich.
Colonel Mering verschwand im Korridor, wo sich eine Tür öffnete und schloß, aber nicht, bevor nicht Mrs. Merings Stimme gleich die der Herzkönigin in Alice im Wunderland herausgedröhnt hatte: »…endlich verschwunden? Ich sagte dir, daß…« – peng.
Es war Zeit, aufzubrechen.
Ich ging hoch in mein Zimmer, öffnete den Schrank und holte meine Reisetasche heraus. Dann setzte ich mich aufs Bett, stellte sie neben mich und überlegte, was gerade geschehen war. Irgendwie hatte das Kontinuum es fertiggebracht, die Inkonsequenz zu beseitigen und Liebende einander zuzuführen wie in einer Shakespearschen Komödie, obwohl mir nicht klar war, wie es das geschafft hatte. Klar war aber, daß es uns bei dem, was immer es auch getan hatte, nicht hatte dabeihaben wollen. Also hatte es etwas getan, das, nur aber der Zeitreise entsprechend, dem Einsperren in unsere Zimmer gleichgekommen war. Aber warum hatte es uns nach Coventry während des Luftangriffs geschickt, einem Krisenpunkt, wo wir doch nur noch mehr Schaden anrichten konnten? Oder war Coventry selbst der Krisenpunkt? Die Unmöglichkeit, es während des Angriffs zu erreichen, hatte daraufhin gedeutet, daß es ein Krisenpunkt war und logischerweise sollte Ultras Verwicklung in die Sache es ebenfalls zu einem machen, aber vielleicht war der Luftangriff nur off-limits, wenn wir nach des Bischofs Vogeltränke suchten, denn Verity und ich waren ja jetzt dort gewesen. Vielleicht war es off-limits gewesen, um uns die Dinge klarer zu machen.
Doch wozu? Damit wir beobachten konnten, wie Probst Howard die Kerzenleuchter und Regimentsfahnen zur Polizeistation brachte und damit wir sahen, daß des Bischofs Vogeltränke nicht unter den geretteten Gegenständen war? Damit wir sahen, daß sie sich während des Angriffs nicht in Kirche befand?
Ich hätte alles darum gegeben, dies nicht gesehen zu haben und es Lady Schrapnell nicht sagen zu müssen. Doch sie war eindeutig nicht dort gewesen. Ich fragte mich, ob sie jemand gestohlen hatte und wann.
Es mußte am Nachmittag passiert sein. Carruthers sagte, daß Miss Sharpe, die Befehlshaberin des Blumenausschusses, des Bischofs Vogeltränke gesehen hatte, als sie die Kathedrale nach dem Adventsbasar und dem Treffen des »Päckchen-für-unsere-Soldaten«-Komitees verlassen hatte, stehengeblieben war und drei verwelkte Stengel herausgezogen hatte.
Alles begann zu verschwimmen, genauso wie damals, als Finch gesagt hatte: »Sie stehen auf Mertons Sportgelände«, und ich griff haltesuchend nach dem Bettpfosten, als sei er der Fußgängereingang.
Eine Tür wurde zugeschlagen. »Jane!« hörte ich Mrs. Merings Stimme vom Korridor her. »Wo ist mein schwarzes Wollkleid?«
»Hier, Ma’am«, erwiderte Janes Stimme.
»Oh, das geht ja gar nicht!« Wieder Mrs. Merings Stimme. »Es ist viel zu warm für Juni. Wir müssen Trauerkleidung bei Swan und Edgar’s bestellen. Dort hatten sie ein entzückendes schwarzes weiches Crepekleid mit schwarzem Besatz am Oberteil und einem plissierten Unterkleid.«
Eine kleine Pause, entweder für weitere Tränenbäche oder Garderobenplanung.
»Jane! Bringen Sie diese Nachricht nach Nottinghill hinüber. Und kein Sterbenswörtchen zu Mrs. Chattisbourne! Haben Sie verstanden?« Peng – war die Tür wieder zu.
»Ja«, flüsterte Jane eingeschüchtert.
Ich stand da, immer noch den Bettpfosten umklammernd, und versuchte, mir den Gedanken, das seltsame Gefühl wieder in Erinnerung zu rufen, aber es war verschwunden, so rasch wie es gekommen war, und so mußte es Mrs. Mering in der Kathedrale auch gegangen sein. Sie hatte keine Nachricht von der Anderen Seite oder von Lady Godiva erhalten. Sie hatte Baine und Tossie angesehen, und für einen Augenblick hatten sich die Dinge zu ihrer wahren Bestimmung verschoben, und sie hatte gesehen, was passieren würde.
Und dann war es ihr wieder entflohen, denn sonst hätte sie Baine auf der Stelle entlassen und Tossie auf eine große Reise quer durch Europa geschickt. Es mußte so schnell entflohen sein, wie es gekommen war, genau wie bei mir eben, und dieser seltsame zahnfühlende Gesichtsausdruck von ihr war entstanden, als sie sich zu erinnern versuchte, was das Gefühl ausgelöst hatte.
Der Butler war’s. »Wenn ich je irgend etwas tun kann, um Ihnen zu danken, daß Sie Prinzessin Arjumand zurückgebracht haben, werde ich es mit größter Freude tun«, hatte Baine gesagt, und wahrhaftig, er hatte mir gedankt. »Der Butler war’s«, hatte Verity gesagt, und wirklich, er war’s gewesen.
Doch nicht nur Verity. Auch die pelztragende Frau bei Blackwell’s. »Es ist immer der Butler«, sagte sie, und die andere, die mit dem Cyril ähnelnden Pelz über den Schultern, hatte gesagt: »Das erste Verbrechen stellt sich als das zweite heraus. Das wirkliche Verbrechen ist bereits Jahre davor geschehen. Aber niemand weiß, daß es begangen wurde.« Das wirkliche Verbrechen. Ein Verbrechen, dessen sich die Person, die es begangen hatte, nicht bewußt war. Und noch etwas war gesagt worden. Etwas von einer Frau, die einen Bauern geheiratet hatte.
»Aber einen Butler!« Mrs. Merings aufgebrachte Stimme hallte den Korridor hinab, gefolgt von tröstendem Gemurmel.
»Hätte sie niemals einladen dürfen!« sagte Colonel Mering.
»Wenn sie nicht Mr. St. Trewes kennengelernt hätte«, klagte Mrs. Mering, »wäre ihr der Gedanke ans Heiraten überhaupt nicht gekommen.« Ihre Stimme erstarb in schluchzendem Gemurmel, und es war nett zu wissen, daß andere Leute ihre Handlungen hinterfragten, aber auch eindeutig Zeit, aufzubrechen.
Ich öffnete die Kommode und betrachtete die Sachen, die Baine sorgfältig darin gestapelt hatte. Die Hemden gehörten allesamt Elliot Chattisbourne und ins victorianische Zeitalter. Ebenso die Kragen und Manschetten und Nachthemden. Bei den Socken war ich mir nicht sicher, aber ich mußte das Paar getragen haben, als ich hierherkam oder das Netz hätte sich hinterher nicht mehr geöffnet. Natürlich nur, wenn ich damit nicht eine Inkonsequenz erzeugt hätte, in welchem Fall nicht einmal erhöhter Schlupfverlust entstanden wäre.
Und wenn das Kontinuum so begierig gewesen war, Verity und mich loszuwerden. Warum war das Netz nicht einfach geschlossen geblieben, als wir zum ersten Mal von Oxford aus zurückwollten, nachdem wir Dunworthy Bericht erstattet hatten? Warum hatte es sich überhaupt geöffnet, als Verity Prinzessin Arjumand mitnehmen wollte? Baine hatte die Katze nicht ersäufen wollen. Er hätte sich gefreut, Verity mit der Katze im Arm am Gartenpavillon stehen zu sehen, gefreut, daß sie in die Themse gewatet war und sie gerettet hatte. Warum hatte es sich geöffnet, als Verity das allererste Mal nach Muchings End kam? Es ergab alles keinen Sinn.
Ich öffnete die unterste Schublade. Tüchtig, wie er war, hatte Baine meine zu kleinen Hemden zusammengelegt und meine zu kleinen Lacklederschuhe geputzt. Ich packte alles in die Reisetasche und schaute mich im Zimmer um, ob ich nicht noch etwas mitnehmen mußte. Die Rasiermesser nicht, gottseidank. Und auch nicht die silbernen Haarbürsten.
Mein Strohhut lag auf dem Nachttisch. Ich wollte ihn aufsetzen, besann mich dann aber. Es war wohl nicht der Anlaß, forsch auszusehen.
Nichts von allem ergab Sinn. Wenn das Kontinuum nicht gewollt hatte, daß wir uns einmischten, warum hatte es mich dann vierzig Meilen entfernt von Muchings End ankommen lassen? Und Carruthers in einem Kürbisfeld? Warum hatte es sich nach dem Luftangriff drei Wochen lang geweigert, sich für Carruthers zu öffnen? Warum hatte es mich ins Jahr 2018 und 1395 geschickt und Verity ins Jahr 1940? Und die wichtigste Frage von allen – warum schickte es uns jetzt zurück?
»Ein Amerikaner!« schrillte Mrs. Merings Stimme vom Ende des Korridors her. »Es ist alles Mr. Henrys Schuld. Er und seine unmöglichen amerikanischen Ansichten über Klassengleichheit!«
Eindeutig Zeit, aufzubrechen. Ich schloß die Reisetasche und ging auf den Korridor. An Veritys Tür hielt ich und wollte gerade klopfen, ließ es aber auch lieber sein.
»Wo ist Jane?« erschallte Mrs. Merings Stimme. »Warum ist sie noch nicht zurück? Irische Dienstboten! Das ist alles deine Schuld, Mesiel. Ich wollte…«
Ich huschte rasch und lautlos die Treppe hinunter, an deren Fuß Colleen-Jane stand, die Schürze in den Händen zerknüllend.
»Hat sie Sie entlassen?« fragte ich sie.
»Nein, Sorrr, noch nicht.« Sie schaute nervös in die Richtung von Mrs. Merings Zimmer. »Aber sie ist dermaßen wütend.«
Ich nickte. »Ist Miss Brown schon nach unten gekommen?«
»Ja, Sorrr. Ich soll Ihnen sagen, sie wartet am Bahnhof auf Sie.«
»Am Bahnhof?« Dann begriff ich, daß Verity das Netz meinte. »Danke, Jane. Colleen. Und viel Glück.«
»Danke, Sorrr.« Zögernd ging sie die Treppe hoch und bekreuzigte sich dabei.
Ich öffnete die Eingangstür und stand direkt vor Finch, der seinen Schwalbenschwanz und Derby trug und gerade nach dem Türklopfer hatte greifen wollen.
»Mr. Henry!« sagte er. »Genau Sie wollte ich treffen.«
Ich schloß die Tür hinter mir und führte ihn zu einer Stelle, wo wir von den Fenstern aus nicht gesehen werden konnten.
»Ich bin so froh, daß ich Sie noch getroffen habe, bevor Sie abreisten, Sir«, sagte Finch. »Ich stecke in einem Dilemma.«
»Ich bin kaum die Person, die Sie da fragen sollten.«
»Sehen Sie, Sir, mein Auftrag ist beinahe beendet und ich könnte eigentlich morgen früh bereits nach Oxford zurück, aber Mrs. Chattisbourne hat morgen nachmittag zum Tee eingeladen, wegen der Wohltätigkeitsveranstaltung am Tag der Heiligen Anna. Es ist ihr furchtbar wichtig und deshalb wollte ich, damit alles glatt geht, noch bleiben. Dieses Mädchen von ihr, Gladys, hat ein Spatzenhirn und…«
»Und Sie befürchten, daß Sie die Einweihung verpassen könnten, wenn Sie noch ein paar Tage länger bleiben?« fragte ich.
»Nein. Ich fragte Mr. Dunworthy, und er meinte, es sei in Ordnung, sie könnten mich zur selben Zeit wie geplant zurückbringen. Nein, mein Dilemma kommt daher.« Er hielt mir einen viereckigen Umschlag mit den eingravierten goldenen Initialen M. M. hin. »Das ist ein Angebot von Mrs. Mering. Sie möchte, daß ich als Butler zu ihnen komme.«
Also deshalb hatte Colleen-Jane ihren Umhang an gehabt! Ihre einzige Tochter verschwunden, durchgebrannt mit einem Butler, ihr Herz gebrochen – und das erste, was Mrs. Mering tat, war Colleen-Jane zu den Chattisbournes zu schicken, um deren Butler abzuwerben.
»Es ist ein sehr gutes Angebot, Sir«, sagte Finch. »Es ist außerordentlich verlockend.«
»Denken Sie daran, permanent in diesem Jahrhundert zu bleiben?«
»O nein, Sir! Obwohl…«, sagte Finch versonnen, »es Augenblicke gibt, wo ich fühle, daß das hier mein wahres Metier ist. Nein, mein Dilemma ist, daß Muchings End mehr meinem Auftrag entgegenkommt wie die Chattisbournes. Wenn ich alles richtig deute, müßte dieser Auftrag heute nacht beendet sein, also macht es nichts, aber es könnte auch noch mehrere Tage dauern. Und falls dem so ist, wird mein Auftrag…«
»Was ist überhaupt Ihr Auftrag, Finch?« fragte ich.
Er blickte gequält. »Das darf ich Ihnen leider nicht sagen, Sir. Mr. Lewis hat mich zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, und ich war Zeuge von Ereignissen, von denen Sie noch nichts wissen, außerdem habe ich Zugang zu Informationen, die Sie nicht kennen, und ich möchte auf gar keinen Fall den Erfolg meines oder Ihres Auftrags aufs Spiel setzen, indem ich etwas zur unrechten Zeit ausplaudere. Wie Sie wissen, Sir, Feind hört mit.«
Wieder suchte mich jenes seltsame desorientierte Gefühl heim, als ob die Dinge wieder in Bewegung wären und sich neu ordneten, und ich bemühte mich, es festzuhalten, wie ich mich an dem Fußgängereingang festgehalten hatte.
»Feind hört mit.« Wer das gesagt hatte, wußte ich. Ich selbst war es gewesen, als ich über Ultra und Coventry und Geheimnisse, die Krisenpunkte waren, nachgedacht hatte. Es hatte etwas mit Ultra zu tun gehabt und was passiert wäre, wenn die Nazis herausgefunden hätten, daß wir ihren Code entziffert hatten – nein, das ganze war sinnlos. Gerade als die Dinge sich zu bewegen anfingen, war das Gefühl wieder verschwunden.
»Falls mein Auftrag doch noch einige Tage in Anspruch nehmen sollte«, sagte Finch gerade, »läge Muchings End für mich bedeutend günstiger – näher am Netz und am Pfarrhaus. Und es ist auch nicht so, daß ich Mrs. Chattisbourne einfach im Stich lassen würde. Durch eine Agentur in London habe ich bereits einen exzellenten Butler für sie gefunden. Ich habe vor, ihn telegrafisch von der freien Stelle in Kenntnis zu setzen, bevor ich gehe. Aber es scheint mir nicht fair, die Stellung bei Mrs. Mering anzunehmen, wo ich doch weiß, daß ich bald von hier fort gehe. Ich könnte mich ja nach noch einem Butler umsehen, aber…«
»Nein«, unterbrach ich ihn. »Nehmen Sie die Stelle an. Und hinterlassen Sie nichts, wenn Sie gehen. Verschwinden Sie einfach. Es wird Mrs. Mering guttun, wenn sie die Unzuverlässigkeit häuslichen Personals so bitter zu spüren bekommt, so lernt sie wenigstens ihren neuen Schwiegersohn schätzen. Außerdem wird es sie lehren, nicht das Personal ihrer Freunde abzuwerben.«
»Sehr gut, Sir«, sagte Finch. »Ich danke Ihnen. Ich werde ihr also sagen, daß ich die Stelle nach Mrs. Chattisbournes Teegesellschaft antrete.« Er wandte sich zur Tür. »Und machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Kurz vor der Dämmerung ist es immer am dunkelsten.«
Er hob den Türklopfer, und ich beeilte mich, zum Gartenpavillon zu kommen. In letzter Sekunde fiel mir der Overall und der Regenmantel ein, und ich ging in den Weinkeller, um das Bündel zu holen und es in meine Reisetasche zu stopfen, damit ich sie mit durchs Netz nehmen konnte. Der Overall trug ein Luftschutzemblem, und die Firma Burberry hatte erst 1903 damit begonnen, Regenmäntel zu fabrizieren, also erst in fünfzehn Jahren. Das letzte, was wir jetzt noch brauchten, war eine neue Inkonsequenz.
Ich schloß die Reisetasche und machte mich erneut zum Pavillon auf, wobei ich überlegte, ob Verity noch wartete oder bereits nach Oxford gesprungen war, um eine peinliche Abschiedsszene zu vermeiden.
Sie war noch da, in ihrem weißen Hut, die Taschen zu beiden Seiten neben sich abgestellt, als ob sie auf einem Bahnsteig stünde. Ich trat neben sie.
»Tja«, sagte ich und stellte meine Reisetasche ab.
Sie schaute mich durch den weißen Schleier an, und ich dachte, es ist wirklich zu schade, daß ich das Universum nicht allein und mit links gerettet hatte. Und weil ich das nicht hatte, blickte ich auf die Peonien hinter dem Pavillon und sagte: »Wann geht der nächste Zug?«
»In fünf Minuten. Wenn das Netz sich öffnet.«
»Es wird sich öffnen«, erwiderte ich. »Tossie hat Mr. C geheiratet, Terence wird sich mit Maud verloben, ihr Enkel wird während des nächtlichen Luftangriffs auf Berlin dabeisein, die Luftwaffe wird aufhören, Militärflugplätze zu bombardieren und sich London zuwenden, und mit dem Kontinuum wird alles wieder in Ordnung sein.«
»Trotz uns«, sagte Verity.
»Trotz uns.«
Wir starrten auf die Peonien.
»Ich nehme an, du bist froh, daß es vorbei ist«, sagte sie. »Ich meine, jetzt wirst du endlich bekommen, was du wolltest.«
Ich schaute sie an. Sie blickte zur Seite.
»Schlaf, meine ich.«
»Ich bin gar nicht so scharf drauf«, sagte ich. »Ich habe gelernt, ohne auszukommen.«
Wieder starrten wir auf die Peonien.
»Ich nehme an, du kehrst zu deinen Detektivromanen zurück«, sagte ich nach einer weiteren Runde Schweigen.
Verity schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht sehr lebensnah. Immer enden sie damit, daß das Verbrechen aufgeklärt und der Gerechtigkeit Genüge getan ist. Miss Marple schlurft niemals zu einem Luftangriff, während andere die Unordnung aufräumen, die sie verursacht hat.« Sie versuchte zu lächeln. »Was machst du jetzt?«
»Vermutlich Wohltätigkeitsbasare organisieren. Ich befürchte, Lady Schrapnell wird mich zu permanentem Dienst in der Wurfbude verdonnern, wenn sie herausfindet, daß des Bischofs Vogeltränke überhaupt nicht da war.«
»Wo nicht da war?«
»In der Kathedrale. Als wir sie verließen, hatte ich klare Sicht auf den Nordgang. Der Pfosten war da, aber keine Vogeltränke. Es ist schrecklich, Lady Schrapnell das sagen zu müssen, sie hatte sich so auf die Kathedrale versteift. Du hattest recht. So seltsam es auch scheinen mag, jemand hat sie in Sicherheit gebracht.«
Verity runzelte die Stirn. »Bist du sicher, daß du auf die richtige Stelle geblickt hast?«
Ich nickte. »Zwischen die dritte und vierte Säule, auf die Chorschranke der Smithschen Kapelle.«
»Aber das ist unmöglich«, sagte sie. »Sie war dort. Ich habe sie gesehen.«
»Wann? Wann hast du sie gesehen?«
»Direkt, nachdem ich durchkam«, sagte Verity.
»Wo?«
»Im Nordgang. An der Stelle, wo wir gestern waren.«
Die Luft knisterte etwas, und das Netz begann zu schimmern. Verity bückte sich, hob ihre Taschen hoch und trat aufs Gras hinaus.
»Moment mal.« Ich packte ihren Arm. »Sag mir genau, wann und wo du sie gesehen hast.«
Sie schaute nervös auf das schimmernde Netz. »Sollten wir nicht…« – »Wir nehmen den nächsten«, sagte ich. »Sag mir genau, was passiert ist. Du kamst im Allerheiligsten an…«
Verity nickte. »Die Sirenen heulten, aber ich hörte keine Flugzeuge, und in der Kirche war es dunkel. Auf dem Hauptaltar brannte ein kleines Licht und noch eins vor dem Kruzifix. Ich dachte, es wäre besser, nahe beim Netz zu bleiben, für den Fall, daß es sich gleich wieder öffnete. Also versteckte ich mich in einer der Sakristeien und wartete ab. Nach einer Weile sah ich durch die Tür Fackeln und daß die Brandwache in die Kathedrale kam, um hinauf aufs Dach zu gehen. Einer von den Männern sagte: ›Sollen wir nicht besser damit anfangen, die Sachen aus den Sakristeien zu holen?‹, deshalb schlich ich mich in die Mercersche Kapelle und versteckte mich dort. Von dort aus konnte ich den Absetzort im Auge behalten.«
»Und dann fing die Mercersche Kapelle Feuer.«
Verity nickte. »Ich wollte zur Sakristeitür, aber überall war Rauch, und offenbar lief ich im Kreis herum. Schließlich fand ich mich im Chor wieder. Dort habe ich mir dann die Hand an dem Bogengewölbe aufgeschürft. Ich erinnerte mich, daß der Turm nicht brannte, also ging ich auf die Knie runter und arbeitete mich am Geländer entlang, bis ich im Kirchenschiff anlangte, wo weniger Rauch war und ich wieder aufstehen konnte.«
»Und was war dann?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie mit einem besorgten Blick zum Netz. »Wenn es sich nun nicht wieder öffnet? Vielleicht sollten wir in Oxford weiter über das alles reden.«
»Nein«, sagte ich. »Wann hast du dich im Kirchenschiff hingestellt?«
»Ich weiß es nicht genau. Kurz bevor sie damit begannen, die Sachen rauszutragen.«
Der Schimmer flammte zum Lichtschein auf. Aber ich ignorierte es. »Also gut. Du krochst ins Kirchenschiff…«
»Ich kroch ins Kirchenschiff hinunter, und nachdem ich halbwegs unten war, wurde der Rauch weniger, und ich konnte das Westportal sehen. Ich hielt mich an der nächsten Säule fest und stand auf, und dort war sie, direkt vor der Chorschranke. Auf dem Pfosten, mit einem üppigen Bukett gelber Chrysanthemen darin.«
»Bist du sicher, daß es des Bischofs Vogeltränke war?«
»Sie ist unverwechselbar«, antwortete sie. »Ned, was soll das alles?«
»Was hast du dann getan?«
»Okay, sagte ich mir, nun hast du wenigstens etwas zustande gebracht. Du kannst Ned sagen, daß sie während des Angriffs in der Kirche war. Falls du hier heil rauskommst. Ich wollte zur Turmtür, aber der Gang war durch eine Bank blockiert, die umgefallen war und um die mußte ich herumlaufen. Bevor ich den Turm erreicht hatte, kam die Brandwache und holte die Gegenstände.«
»Und?« bohrte ich weiter.
»Ich lief geduckt in die Cappersche Kapelle hinüber und versteckte mich dort.«
»Wie lang warst du dort?«
»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht eine Viertelstunde. Jemand von der Brandwache kam herein und holte die Altarbücher. Ich wartete, bis der Mann wieder fort war, dann ich ging ins Freie, um dich zu suchen.«
»Durch das Südportal?«
»Ja«, sagte sie mit einem Blick aufs Netz, das schrumpfte und blasser wurde.
»Standen Menschen auf den Stufen, als du herauskamst?«
»Ja. Wenn wir die Chance verpassen, nach Hause zu kommen…«
»War irgend jemand von der Brandwache in der Nähe der Vogeltränke?«
»Nein. Sie gingen ins Allerheiligste und die Sakristeien, und einer von ihnen rannte hinunter und holte das Altarkreuz und die Kerzenleuchter aus der Smithschen Kapelle.«
»Und sonst nahm er nichts mit?«
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Ich bin mir sicher. Er mußte wegen des Rauches ganz ums Kirchenschiff herumlaufen zum Südgang. Ich sah, was er dabei hatte. Er rannte direkt an mir vorbei.«
»Hast du einen von der Brandwache in der Draperschen Kapelle gesehen?«
»Nein.«
»Und du selbst warst auch nicht in der Draperschen Kapelle?«
»Das sagte ich dir doch schon. Ich kam im Allerheiligsten an, und dann war ich in der Mercerschen Kapelle und dann im hohen Chor. Das ist alles.«
»Konntest du von dem Platz aus, wo du dich versteckt hattest, das Nordportal sehen?«
Verity nickte.
»Und keiner ging dort hinaus?«
»Es war verschlossen«, erwiderte sie. »Ich hörte, wie ein Mann von der Brandwache zu einem anderen sagte, er solle das Portal aufschließen, damit die Feuerwehr die Schläuche hindurch verlegen könne, und der andere erwiderte, sie müßten von außerhalb löschen, weil die Smithsche Kapelle brenne.«
»Und durchs Westportal? Oder die Turmtür?«
»Die Leute von der Brandwache gingen alle durch die Sakristeitür.«
»Hast du sonst jemanden in der Kathedrale gesehen?« fragte ich. »Außer der Brandwache und den Feuerwehrleuten?«
»In der Kathedrale? Ned, sie stand in Flammen.«
»Wie war die Brandwache angezogen?«
»Angezogen?« fragte Verity verdutzt. »Weiß ich nicht. Uniformen, Overalls. Ich… Der Kirchendiener trug einen Blechhelm.«
»Hatte einer von ihnen etwas Weißes an?«
»Weiß? Nein, gewiß nicht. Ned, was…?«
»Konntest du von deinem Versteck aus das Westportal oder die Turmtür sehen?«
Sie nickte.
»Und niemand verließ die Kathedrale durch das Westportal, während du dort warst? Du hast auch niemanden in der Draperschen Kapelle gesehen?«
»Nein. Ned, was soll das?«
Das Nordportal war verschlossen gewesen, Verity hatte das Südportal genau gesehen und davor hatten die ganze Zeit über Menschen gestanden – die Dachgucker und die zwei Halbstarken am Laternenpfahl. Die Brandwache hatte die Sakristeitür benutzt, und bald, nachdem Probst Howard es mit den Altarbüchern ins Freie geschafft hatte, war diese durch die Flammen versperrt gewesen. Und bei der Sakristeitür hatten auch Menschen gestanden. Der stämmige Luftschutzhelfer machte seine Runden. Und der Drachen vom Blumenausschuß stand Wache am Westportal. Es gab keine Möglichkeit, unbeobachtet aus der Kathedrale herauszukommen.
Es gab keine Möglichkeit, unbeobachtet aus der Kathedrale herauszukommen. Es hatte für mich auch keine Möglichkeit gegeben, unbeobachtet aus dem Labor zu entkommen. Und keinen Platz, mich zu verstecken. Außer im Netz.
Ich packte Verity an den Armen. Ich hatte mich im Netz versteckt, verborgen hinter den Theatervorhängen, und gehört, wie Lizzie Bittner sagte: »Ich würde alles für ihn tun.« In Oxford im Jahre 2018. Wo T. J. ein Gebiet mit rapide ansteigendem Schlupfverlust entdeckt hatte.
»Es ist nur, weil wir nicht so große Schätze wie Canterbury und Winchester besitzen«, hatte Lizzie Bittner gesagt, deren Ehemann ein direkter Nachfahre der Botoners war, welche die Kirche 1385 hatten erbauen lassen. Lizzie Bittner, die gelogen hatte, als sie sagte, die Labortür sei offen gewesen. Die einen Schlüssel dazu besaß.
»Es stellt sich heraus, daß das, was man für das erste Verbrechen gehalten hat, das zweite ist«, hatte die pelzbehangene Dame gesagt. »Das erste Verbrechen geschah schon Jahre davor.« Oder danach. Schließlich sprachen wir hier von Zeitreisen. Und in einer der Waterloo-Simulationen war das Kontinuum mit seiner Selbstkorrektur bis ins Jahr 1812 zurückgegangen.
Und der Hinweis, die Kleinigkeit, die nicht paßte, war der erhöhte Schlupfverlust. Der, der nicht bei Veritys Sprung eintrat, um sie davor zu bewahren, die Katze zu retten und die Inkonsequenz herbeizuführen. Fünf Minuten früher oder später hätten gereicht, um es zu verhindern, aber statt dessen waren es neun Minuten gewesen. Neun Minuten, um sie mitten in den Schauplatz des Verbrechens zu bugsieren.
»Bei jeder der simulierten Inkonsequenzen tritt am Ort des Geschehens ein erhöhter Schlupfverlust auf«, hatte T. J. gesagt. Bei jeder von ihnen. Sogar bei denjenigen, die zu groß waren und vom Kontinuum nicht mehr korrigiert werden konnten. Außer bei unserer.
Alles, was wir hatten, war eine Ballung von Verlusten im Jahr 2018, von der T. J. gemeint hatte, sie sei zu weit entfernt vom Ort des Geschehens. Und Coventry, was ein Krisenpunkt war.
»Ned«, drängte Verity. »Was ist los?«
»Pscht.« Ich hielt mich an ihren Armen fest wie an den grünen metallenen Streben von Mertons Fußgängereingang. Fast hatte ich es, und wenn ich mich nicht durch plötzliche Bewegungen oder Störungen ablenken ließ, würde ich das ganze Schema sehen.
Der Schlupfverlust war zu weit entfernt von uns, und Diskrepanzen traten immer nur in der unmittelbaren Umgebung der Inkonsequenz auf. Und die pelztragende Dame bei Blackwell’s hatte gesagt: »Ich bin froh, daß sie ihn geheiratet hat.« Sie hatte über eine Frau gesprochen, die einen Bauern geheiratet hatte. »Sonst hinge sie auf ewig in Oxford, beschäftigt mit Kirchenausschüssen und Wohltätigkeitsbasaren…«
»Ned?« fragte Verity.
»Pscht.«
»Sie war überzeugt, daß man des Bischofs Vogeltränke gestohlen hatte«, hatte Carruthers gesagt, als er über diese »verbitterte alte Jungfer«, Miss Sharpe, gesprochen hatte, die den Blumenausschuß unter sich hatte.
Und der Luftschutzhelfer hatte zu der grauhaarigen Frau, die das Westportal bewachte, gesagt: »Kommen Sie, Miss Sharpe.« Die grauhaarige Frau, die mich an jemanden erinnerte und die gesagt hatte: »Ich beabsichtige nicht, irgendwo hin zu gehen. Ich bin Vizevorsitzende der Frauengemeinschaft der Kirche und Vorsitzende des Blumenausschusses.«
»Miss Sharpe«, hatte er sie genannt.
Miss Sharpe, die so außer sich gewesen war, daß sie jedermann beschuldigte, im vorhinein von dem Angriff gewußt zu haben. Die einen Brief an den Herausgeber der Lokalzeitung geschrieben hatte.
Einen Brief, in dem sie behauptete, jemand habe von dem Angriff vorher erfahren.
In Coventry, wo man von dem Angriff vorher gewußt hatte. Das, im Gegensatz zu Muchings End, kein historischer Hinterhof war, sondern ein Krisenpunkt und zwar wegen Ultra.
Denn wenn die Nazis herausgefunden hätten, daß wir ihre Enigma-Maschine gefunden hatten, hätte das den Verlauf des Krieges ändern können. Und den Lauf der Geschichte.
Also mußte der einzige Moment, wo jemand durchs Netz dorthin gebracht werden konnte, Teil einer Selbstkorrektur sein.
Ich hatte Veritys Arme so fest gepackt, daß es sie schmerzen mußte, aber ich wagte nicht, sie loszulassen. »Diese junge Frau in der Kathedrale«, sagte ich, »wie war gleich ihr Name?«
»In der Kathedrale?« fragte Verity verblüfft. »Ned, es war niemand in der Kathedrale. Sie stand in Flammen.«
»Nicht während des Angriffs. An dem Tag, an dem wir mit Tossie dort waren. Die junge Frau, die den Geistlichen sprechen wollte. Wie hieß sie?«
»Ich weiß nicht… so ein Blumenname glaube ich«, sagte Verity. »Germanium oder so…«
»Delphinium«, sagte ich. »Nicht ihren Vornamen. Ihren Nachnamen.«
»Ich… er begann mit S. Sherwood? – nein, Sharpe«, sagte Verity, und die Welt drehte sich um hundertachtzig Grad, und ich war nicht am Tor von Balliol, sondern auf dem Sportgelände von Merton und dort, in Christ Church Meadow, stand die Kathedrale von Coventry, das Zentrum des ganzen Geschehens.
»Ned«, drängte Verity. »Was ist denn?«
»Wir haben die Sache ganz falsch herum angepackt«, sagte ich. »Du hast keine Inkonsequenz erzeugt.«
»Aber – die Zwischenfälle«, stammelte sie. »Und der erhöhte Schlupfverlust im Jahr 2018. Es muß eine Inkonsequenz gegeben haben.«
»Gab es auch«, sagte ich. »Und, dank meiner erstaunlichen kleinen grauen Zellen, weiß ich jetzt, wann sie geschah. Und wodurch sie verursacht wurde.«
»Wodurch?«
»Ganz langsam, mein lieber Watson. Ich gebe dir einen Hinweis. Verschiedene Hinweise, besser gesagt. Ultra. Der Mondstein. Die Schlacht von Waterloo. Feind hört mit.«
»Feind hört mit? Ned…«
»Carruthers. Der Hund, der nachts nicht bellte. Federhalterwischer. Tauben. Der am wenigsten Verdächtige. Und Feldmarschall Rommel.«
»Feldmarschall Rommel?«
»Die Schlacht in Nordafrika«, sagte ich. »Wir benutzten Ultra, um Rommels Versorgungskonvoi zu orten und zu versenken und schickten vorsichtshalber davor ein Aufklärungsflugzeug los, das von dem Konvoi gesichtet werden konnte, damit die Nazis nicht mißtrauisch wurden.«
Ich erzählte ihr von dem Nebel und dem Flugzeug, das deshalb den Konvoi nicht fand, dem gleichzeitigen Eintreffen der Royal Air Force und der Flotte und, was Ultra danach getan hatte – das Telegramm, die ausgestreuten Gerüchte, die Nachrichten, die zum Abfangen bestimmt waren. »Wenn die Nazis herausgefunden hätten, daß wir Ultra besaßen, würde das den Ausgang des Krieges verändert haben, also mußte der Geheimdienst ein kompliziertes Manöver ausführen, um den Ausrutscher auszubügeln.« Ich strahlte sie an. »Verstehst du? Es paßt alles zusammen.«
Es paßte alles zusammen. Carruthers, der in Coventry steckte, ich, der ich Terence davon abhielt, Maud zu treffen, Professor Overforce, der Professor Peddick in die Themse stieß, sogar diese elenden Wohltätigkeitsbasare.
Die pelztragenden Damen bei Blackwell’s, Hercule Poirot, Professors Peddicks Reden von dem Großen Plan, all das hatte versucht, es mir zu sagen, und ich war zu vernagelt gewesen, es zu erkennen.
Verity schaute mich besorgt an. »Ned«, sagte sie. »Wieviel Sprünge hast du genau hinter dir?«
»Fünf«, sagte ich. »Der zweite war der zu Blackwell’s, wo ich dem Gespräch dreier pelztragender Matronen lauschte, die eine äußerst erhellende Diskussion über Detektivromane führten, und den ersten, der mich ins Labor im Jahr 2018 brachte, wo ich Lizzie Bittner sagen hörte, sie täte alles um zu verhindern, daß die Kathedrale von Coventry an eine Schar Spiritisten verkauft werde.«
Das Netz begann leicht zu schimmern.
»Was also, wenn eine Inkonsequenz eingetreten war?« fragte ich. »Ein Ausrutscher? Und das Kontinuum, bemüht, den Lauf der Geschichte zu schützen, setzte ein kompliziertes System von Backups und Verteidigungsstrategien in Gang, um das Problem zu beseitigen. Wie Ultra mit seinen Telegrammen und der falschen Fährte. Einen verwickelten Plan, der das Ersäufen von Katzen, Seancen und Wohltätigkeitsbasare und das Durchbrennen von Liebespärchen enthielt. Und Dutzende von Agenten, die sich ihres Auftrags und seines wahren Zwecks nicht einmal bewußt waren.«
Die Peonien glitzerten hell. »In bester Tradition kann ich, wie alle Detektive, dies zunächst nicht beweisen«, sagte ich. »Also, Watson, auf zur Spurensuche.« Ich nahm Veritys Taschen und stellte sie neben die Peonien. »›Schnell, Watson! Eine Droschke!‹«
»Wo fahren wir hin?« fragte sie mißtrauisch.
»Ins Labor. 2057. Um die Lokalzeitungen von Coventry zu überprüfen und wer den Blumenausschuß von 1888 bis 1940 leitete.«
Ich nahm ihren Arm, und wir traten in den schimmernden Kreis. »Und dann«, sagte ich, »werden wir des Bischofs Vogeltränke holen gehen.«
Das Licht wurde intensiver. »Warte mal!« Ich trat noch einmal aus dem Kreis, um meine Reisetasche zu holen.
»Ned!«
»Ich komm’ ja«, sagte ich. Ich öffnete die Reisetasche, nahm den Strohhut heraus, schloß die Tasche wieder und trug sie in den Kreis. Dort stellte ich sie ab und setzte mir den Hut in einer forschen Schräge auf, auf die Lord Peter ziemlich stolz gewesen wäre.
»Ned…« Verity trat zurück, die grünbraunen Augen weit geöffnet.
»Harriet.« Ich zog sie wieder in das bereits glühende Licht.
Dann küßte ich sie, und der Kuß dauerte einhundertsechsundneunzig Jahre.