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Splitter regneten auf Adele und Simon herab, als ein Loch in die Wand geschlagen wurde und sich ein dünner Gegenstand hindurchschlängelte. Etwas Scharfes grub sich der jungen Frau in die Seite. Als es sie packte, erklang ein schrecklicher, fauchender Laut, beinahe wie vor Schmerz. Mit einem Aufschrei bog sich Adele zurück und hieb instinktiv nach dem, was sie festhielt. Ihre Klinge berührte etwas Langes und Knochiges. Einen Arm!
Simon schrie. Die blasse Hand eines anderen Vampirs hatte durch ein weiteres Loch gegriffen und zerrte den Jungen auf die Schottwand zu.
»Nein!« Adele packte Simon und stach auf den Arm ein, der ihn festhielt. Es kam jedoch nicht das erwartete schmerzerfüllte Kreischen von der anderen Seite der Wand, nur der schwelende Gestank brennenden Fleisches von der Chemikalie des Khukri, die noch eine Weile weiterglühen würde.
Eine skelettartige Hand schlug Adele den Dolch aus den zitternden Fingern, sodass er über den Boden schlitterte. Simon wurde von ihr fortgerissen und krachte gegen die splitternde Schottwand. Krallen zerrten an dem Holz, um das Loch hinter Simon zu vergrößern.
Taumelnd mühte sich Adele auf die Füße und wühlte in den Trümmern nach einer anderen Waffe. Ohne eine Waffe waren Simon und sie verloren. Ihre Hand fand etwas Metallisches, schlank und über einen halben Meter lang: einen Marlspieker. Sie wirbelte herum und stach auf den Vampirarm ein, der ihr am nächsten war. Das leise Ächzen, das als Antwort erklang, gab ihr Hoffnung, dass sie sie tatsächlich verletzen konnte.
»Adele!«, schrie Simon panisch, während er krampfhaft versuchte, nicht durch das immer größer werdende Loch gezogen zu werden. Den Vampir auf der anderen Seite schien es nicht zu kümmern, dass er nicht ganz hindurchpasste. Er wollte ihn unbedingt haben.
Erneut schlug Adele auf die Hand ein, die Simons Schulter gepackt hatte. »Halt durch, Simon!« Weniger als ein Fingerbreit trennte ihren Bruder von der Stelle, die sie anvisierte, doch der stählerne Spieß traf sein Ziel und bohrte sich durch das dünne Handgelenk des Vampirs. Die Krallen ließen Simon los, und der Junge brachte sich krabbelnd hinter seiner Schwester in Sicherheit.
Adele hielt den Spieß fest, als habe sie einen zappelnden Fisch harpuniert. Die Hand verdrehte sich unnatürlich und packte das Werkzeug. Dann riss sie sich von dem Spieß los und zerfetzte dabei ihr eigenes Handgelenk, bevor sich der Arm durch die Wand zurück in Sicherheit zog.
Wild blickten sich die Geschwister um, aus welcher Richtung der nächste Angriff kommen würde, und zogen sich zurück, obwohl es wenig gab, wohin sie sich wenden konnten.
Dann zerbarst ein breiter Teil der geschwächten Schottwand dicht am Deck in einer Wolke aus Staub und Holzsplittern. Durch den Nebel aus Rauch starrte Adele in das Gesicht des weiblichen Vampirs, den sie vorhin an Deck durchs Fernrohr gesehen hatte. Nun hinderte nichts mehr die Vampirin daran, hereinzukommen.
Adele zerrte Simon mit sich, als sie zurückwich. Er weinte leise an ihrer Seite. Sie konnte spüren, wie sich die Angst ihres Bruders mit der ihren vermischte. Doch es blieb keine Zeit für tröstende Worte, denn das Gesicht des Todes erschien im Loch. Kopf und Schultern der Vampirin wurden sichtbar, als ein langer, knochiger Arm zielstrebig nach ihnen krallte.
Entschlossen, ihren Bruder zu beschützen, riss Adele den Spieß hoch und stieß erneut zu. Der Marlspieker bohrte sich durch Rippen und Fleisch, grub sich tief ins Holz und nagelte die Vampirin an den Planken fest. Die Kreatur fauchte zähnefletschend und schlug wütend um sich, doch es gelang ihr nicht, sich zu befreien.
Plötzlich erbebte das Schiff, und Adele und Simon wurden aufs Deck geschleudert. Ihr Magen hob sich, als das große Luftschiff jäh absackte. Alles in der Kabine geriet langsam ins Rutschen. Adele packte eine Matratze und versuchte, sie als Schild für sich und Simon zu benutzen.
»Wir stürzen ab!«
Die HMS Ptolemy prallte auf den Boden.
Die Wucht des Aufschlags riss Adele und Simon unter der Matratze hervor und schleuderte sie durch die Luft. Heftig krachten sie gegen die Wände. Adele schien stundenlang taumelnd ins Bodenlose zu stürzen. Ihre Welt bestand aus Lärm und Schmerz. Sie wusste nicht mehr, wo oben oder unten war.
Als es schließlich endete, lag Adele reglos in der flackernden Dunkelheit. »Simon!«, rief sie erstickt. »Simon! Geht es dir gut?« Es kam keine Antwort. Sie hörte nichts – keine Schreie, keine Schüsse oder Explosionen. Heftig zerrte sie an den Matratzen und zusammengerollten Hängematten um sie herum und kämpfte sich auf die Beine, fand aber keinen sicheren Stand. Sie konnte Rauch riechen. Das Schiff brannte. Sie mussten raus.
Dann sah Adele ein kleines Bein, das merkwürdig in die Luft ragte. Verzweifelt krabbelte das Mädchen darauf zu und packte den Knöchel. Sie zerrte die Trümmer beiseite und tastete sich am Körper ihres Bruders entlang, bis sie die Vorderseite seines Mantels zu fassen bekam. Mit aller Kraft zog sie Simon aus dem Trümmerschlund und starrte ihm ins Gesicht. Seine Augen waren offen.
»Sind wir tot?«, fragte er hustend vor Rauch und Staub.
Fest drückte Adele das Gesicht an seine sich schwer hebende und senkende Brust. »Nein. Es geht uns gut. Wir haben es geschafft. Jetzt müssen wir einfach nur warten, bis ein anderes Schiff kommt und uns holt.« Es war ein schwacher Versuch, ihn zu beruhigen. Ihr Blick flog hin und her, doch keine schreckenerregenden Gesichter starrten ihr entgegen.
Zusammen bahnten sich die kaiserlichen Geschwister mit unsicheren Schritten ihren Weg zwischen den durcheinandergeschleuderten Matratzen hindurch zur Tür der Kabine. Ein Aufblitzen fiel Adele ins Auge, und sie sah ihren Dolch unter den Trümmern liegen, dessen chemisch erhitzte Klinge zu einer normalen Waffe abgekühlt war. Mit einem kleinen Triumphschrei hob sie ihn auf und ließ ihn zurück in die Scheide an ihrem Gürtel gleiten, damit er sich wieder auflud. Adeles Schultern und Beine fühlten sich heiß an, doch sie hielt nicht inne, um zu überprüfen, ob sie verletzt war. Besser, das einstweilen nicht zu wissen. Sie traten Wrackteile vor der Tür beiseite, dann zog Adele sie auf. Der Gang draußen war eine Welt aus Trümmern. Hölzerne Planken und Metallstangen, Fässer und zersplitterte Balken bildeten eine zerklüftete Landschaft. Rotröcke, die vor der Tür Wache gestanden hatten, lagen in dem Chaos gefangen. Sie waren alle tot. Adele hielt Simon die Augen zu.
So schnell sie konnten, bahnten sich die beiden ihren Weg von den Überresten der Kabinen hoch zum offenen Kanonendeck. Massive eiserne Kanonen auf ihren hölzernen Lafetten, die jeweils mehrere Tonnen wogen, hatten sich losgerissen und lagen wie Spielzeug oder achtlos hingeworfenes Treibholz verstreut. Matrosen stolperten durch das Wrack. Manche halfen ihren Kameraden, die eingeklemmt oder verletzt waren. Die heiße, staubige Luft war erfüllt von gedämpftem, qualvollem Stöhnen und dem Geruch von Rauch und Blut.
Durch einen langen Riss in der Bordwand des Schiffes konnte Adele den Nachthimmel über ihnen sehen. »Dort hinauf«, sagte sie zu Simon. »Lass uns hinaufklettern.« Sie half dem Jungen, das schiefe Deck zu erklimmen. Dabei klammerten sie sich an alles, was ihnen als Haltegriff dienen konnte. Wrackteile verrutschten unvermittelt unter ihnen und drohten sie abzuschütteln. Doch schließlich erreichten sie das gezackte Loch und stiegen hinaus auf die abfallende Hülle des umgestürzten Rumpfes.
In tiefen Zügen sog Adele die frische Luft ein, dann wandte sie sich zu ihrem stummen Bruder um. »Bist du verletzt?« Sie tastete seinen Kopf und seine Gliedmaßen ab. Sie wollte, dass er etwas sagte, wollte, dass er reagierte.
Der junge Prinz beugte Ellbogen und Knie, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Alles funktioniert.«
»Bei mir auch.« Adele lachte und küsste ihren Bruder auf den Scheitel. »Alles kommt wieder in Ordnung.«
Das Prunkstück der kaiserlichen Flotte war in einen provenzalischen Wald gestürzt und hatte eine Schneise aus entwurzelten Bäumen hinterlassen. Das Luftschiff lag schief auf der Steuerbordseite, der Lenkballon und seine Metallhülle zerfetzt. Masten waren gebrochen und über die großen Erdhügel verstreut, die das abstürzende Schiff zusammengeschoben hatte. Männer krochen aus klaffenden Rissen entlang des Rumpfes und wanderten über den riesigen, gestrandeten hölzernen Wal. Adele half mehreren von ihnen und sprach dabei so ruhig und ermutigend auf sie ein, wie sie konnte. Darin bestand ihre Pflicht während einer Krise. Auch auf dem Boden bewegten sich Männer. Sie sah überlebende Weißgardisten unter ihnen und suchte ohne Erfolg nach Colonel Anhalt und Mitgliedern ihrer Haustruppe. Sie betete, dass Anhalt noch am Leben war.
Adele hob den Blick zum wolkenverhangenen Himmel und suchte nach dem Leuchten der anderen Schiffe der Flotte. Kurz glaubte sie, einen schwachen gelben Schimmer zu sehen, war sich aber nicht sicher. Dann bemerkte sie winzige, huschende Gestalten, die sich von den grauen Wolken abhoben.
Wie war das möglich? Am Boden war es sogar noch wärmer. Warum kamen sie dennoch? Was trieb sie an?
Adele versuchte, Simon zurück in den Rumpf des Schiffes zu schieben, als ein Vampir in ihrer Nähe landete. Die Kreatur packte Adele am Arm, doch sofort ließ sie mit einem fauchenden Schrei wieder los. Eindringlich starrte der Vampir die junge Frau an und wiegte dabei den Kopf wie ein Tier. Er trug ein Durcheinander aus militärischen Uniformen, einschließlich der Jacke eines Generals mit angelaufenen Medaillen und Ehrenplaketten. Doch die seltsame Kleidung bedeutete nichts. Vampire trugen, was immer sie von Leichen oder aus zerstörten Häusern plündern konnten.
Er fauchte weiter in dieser Sprache, die kein Mensch je ergründet hatte. Adele erkannte, ohne zu verstehen wie, dass das Ding über sie redete. Sie konnte keine Einzelheiten in dieser schrecklichen Sprache ausmachen, doch plötzlich wurde ihr klar, dass es bei diesem ganzen Angriff um sie ging. Die Vampire suchten nach ihr!
Und was noch unglaublicher war, dieser »Vampir-General« hatte Angst, sich ihr zu nähern. Adele spürte seine Furcht und machte sie sich zunutze. Angriffslustig ging sie auf ihn zu, und das Ding wich zurück und zeigte die Krallen. Dann hörte Adele ein kurzes, aber erkennbares Ächzen hinter sich. Sie wirbelte herum und sah einen weiteren Vampir, der seine blassen, knochigen Arme um ihren traumatisierten Bruder schlang. Sie tat einen Satz auf die beiden zu, doch das Ding sprang mit Simon in seinem Griff vom Rumpf des Schiffes. Adele erstickte einen Schrei, als sie zusah, wie sie zur Erde fielen. Der Vampir landete hart auf den Füßen und trug Simon davon, durch das hohe Gras in den dunklen Wald hinein.
Schnell kletterte Adele den geborstenen Rumpf des Luftschiffs hinunter. Sie ignorierte den Vampirgeneral, der weiter drohend über ihr schwebte. Ein paarmal verlor sie den Halt und rutschte aus, geriet jedoch nicht in Panik. Die fest entschlossene Prinzessin bemerkte ihre blutigen Hände nicht einmal, als sie sich zu Boden fallen ließ und hinter Simon herrannte, vorbei an verwirrten Soldaten und Matrosen, die versuchten, sich der auf sie herabstürzenden Vampire zu erwehren. Sie hielt nur lange genug an, um einem toten Soldaten einen Säbel aus den Händen zu winden. Dann stürzte sie in den Wald, ohne auf die Zweige und Dornen zu achten, die ihr Gesicht und Körper zerkratzten. Ihr Atem ging in heftigen Stößen, und ihr Herz hämmerte wild.
Auf einer grasbewachsenen Lichtung kam die Prinzessin zu einem Halt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Waldwiese stand ein weiblicher Vampir, gekleidet in schwarze Kniehosen und schwarze Seidenstrümpfe ohne Schuhe, barbusig unter einem dunklen Schwalbenschwanzrock mit goldenen Bändern, die die Schultern schmückten. Die Vampirin war groß und stattlich, aber blass und mit blauen Augen, wie alle ihrer Art. Sie trug ihr ebenholzschwarzes Haar in einem Zopf, der ihr lang über den Rücken fiel. Simon lag zu ihren Füßen, sein Entführer kniete daneben.
Die große Vampirin fauchte und streckte die wohlgeformten Hände aus. Die krallenartigen Nägel, von denen Adele wusste, dass Vampire sie ausfahren konnten wie Katzen, waren eingezogen, um ihren Mangel an Furcht zu demonstrieren. Sie lächelte und sagte mit einem rauen Zischen: »Prinzessin Adele.«
Adele war entsetzt, einen Vampir in ihrer Muttersprache sprechen zu hören und ganz besonders ihren eigenen Namen. Sie starrte den widerlichen Schmarotzer an, der einer schönen Frau so ähnlich sah.
Mit einem Mal hörte sie menschliche Stimmen. Zwei ihrer Weißgardisten rannten auf die Lichtung und an ihre Seite. Der Vampir, der Simon verschleppt hatte, griff bereits an. Beide Soldaten feuerten, und sein Körper explodierte.
Die große Vampirin mit dem langen schwarzen Zopf fletschte die Zähne und setzte sich in Bewegung. Wie aus dem Nichts schien die dunkle Kreatur vor den beiden Soldaten aufzutauchen, als sie hektisch mit den Verschlüssen ihrer Büchsen hantierten. Die beiden Männer lösten sich in einen Regen aus Eingeweiden und Knochen auf, ohne einen weiteren Schuss oder Laut abzugeben. Die Vampirin hielt kurz inne, um sich das warme Blut von den Händen zu lecken.
Adele hörte ein Geräusch unmittelbar über ihrer linken Schulter, wirbelte herum und erblickte eine blasse Gestalt ohne einen Hauch von Soldatenrot oder Matrosenweiß. Sie hieb durch ihr Ziel hindurch, spürte einen kurzen Widerstand an der Klinge und vollendete die Drehung, um sich der hochgewachsenen Vampirin zu stellen, den Säbel bereits wieder in Angriffsstellung. Der Kopf eines Vampirs rollte neben ihr über den Boden. Hinter ihr gab der Körper einen leisen, seufzenden Laut von sich, als er in den Schmutz sank.
Die Prinzessin verspürte weder Triumph noch Ekel – nur Pflichtgefühl und das Gewicht des Schwertes in ihren Händen. Sie war von Natur aus angriffslustig und strotzte vor Unnachgiebigkeit, wie man sie von einem jungen Mädchen nicht erwartete. Das hatte ihr schon immer zum Vorteil gereicht. Doch sie hatte es in den Verteidigungskünsten nie zur Meisterschaft gebracht und während ihrer Fechtkämpfe so manche Abreibung von ihrem Lehrmeister kassiert.
Sie griff die große Vampirin an, wobei sie sich in Gedanken bereits drei Hiebe zurechtlegte. Nur flüchtig nahm sie wahr, wie sich ihre Gegnerin gleichzeitig bewegte.
Adele sah aus dem Staub hoch. Ihre Hände lagen flach auf dem Boden. Der Säbel war verschwunden. Die Vampirin stand über ihr, inspizierte eine klaffende Bauchwunde und einen Schlitz in ihrem Brokatrock.
»Du hast mich verwundet«, sagte sie. »Seit hundert Jahren hat mich kein Mensch mehr verwundet.« Die Kreatur blieb ungerührt und zeigte weder Wut noch ein Verlangen nach Vergeltung. Dennoch beäugte sie Adele neugierig.
»Bitte«, hauchte Adele, »nimm mich, wenn du willst. Aber gib meinen Bruder frei. Er ist nur ein kleiner Junge.«
»Wir werden dich nehmen.« Die Vampirin schlenderte von Adele fort und betrachtete ihre Wunde dabei weiter mit der milden Verärgerung von jemandem, der einen Knopf an seinem Mantel verloren hat. »Aber er ist nicht nur ein kleiner Junge. Er ist der Thronerbe, wenn du fort bist.« Sie hob den Kopf und stieß einen durchdringenden Schrei aus wie das Kreischen eines rostigen Friedhofstors, ein Schrei, der durch die Landschaft zu schneiden schien.
Ein männlicher Vampir glitt zwischen den Bäumen hervor und griff nach Simon. Doch dann fiel plötzlich der Kopf der Kreatur von ihren Schultern. Ein gestiefelter Fuß stieß den enthaupteten Leichnam in den Schmutz.
Ein Mann stand über Simon. Er war groß und schlank, und sein Gesicht wurde von einem Kopftuch verhüllt, ähnlich wie es die Beduinen in der Wüste trugen. Eine Brille mit geschwärzten Gläsern verdeckte seine Augen. Seine Kleidung war dunkelgrau, beinahe schwarz: eine kurze, militärisch anmutende Jacke, Kavalleriehosen mit einem roten Streifen und kniehohe schwarze Reitstiefel. Über alldem trug er einen langen Umhang, dessen Kapuze zurückgeworfen war. Er hatte einen Pistolengürtel umgeschlungen, mit zwei Pistolen in den Holstern. In der linken Hand hielt er ein Langschwert mit Korbgriff, in der rechten einen sehr blutigen Scimitar.
Der Mann sprang auf die große Vampirin zu. »Nehmen Sie den Jungen und laufen Sie!«
Adele erkannte, dass der Ruf des geheimnisvollen Schwertkämpfers ihr galt. Sie rappelte sich auf und rannte zu ihrem lang hingestreckten Bruder. Hinter sich hörte sie bereits das Klirren von Stahl gegen Krallen. Der Fremde in Grau kam ihr eigenartig bekannt vor. Auf unerklärliche Weise hatte sie gleichzeitig Angst um ihn und vor ihm.
Adele nahm Simon auf die Arme und rannte los. Eine Gruppe von Vampiren landete vor ihr auf dem Boden, doch sie starrten an ihr vorbei auf den Kampf. Als sie an ihnen vorüberstolperte, fanden zwei von ihnen wieder zu sich und huschten blitzschnell herbei, um ihr den Weg abzuschneiden. Ihre Bewegungen wirkten nicht länger verwischt. Adele konnte ihr Handeln mit einer Klarheit und Reinheit erkennen, die sie erstaunte.
Doch sie hatte kein anderes Ziel, als Simon zu beschützen. Ungelenk hielt sie ihn mit einem Arm fest und versetzte einem der Vampire einen niederschmetternden Schlag gegen den Kiefer. Dann krallte sie die Finger ins Gesicht des anderen. Die Prinzessin wehrte einen Hieb ab, fing den Arm und stieß dem Vampir einen Fuß vors Knie. Bei einem Menschen wäre der Tritt verheerend gewesen, doch sofort erkannte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte, denn der Vampir zeigte keinen Schmerz. Das Ding packte Adele am Hals, riss die Hand jedoch unvermittelt mit einem Kreischen wieder zurück.
Krallenbewehrte Finger fassten um Adele herum und rissen Simon aus ihrem Griff. Er wurde in die Luft gehoben. Der Junge schrie, während der Vampir ausholte und Simon mit all seiner schrecklichen Kraft davonschleuderte. Die kleine Gestalt des Jungen flog wie aus einer Kanone geschossen durch die Luft und prallte mit Übelkeit erregender Wucht gegen einen Baum.
Beim Anblick ihres reglos daliegenden kleinen Bruders gaben beinahe Adeles Knie nach. Die scheinbar endlosen Augenblicke, die sie miteinander geteilt hatten, blitzten vor ihrem inneren Auge auf und blendeten jeden bewussten Gedanken aus. Alles, was Simon gewesen war, alles, was er hätte sein können, auf das hier reduziert? War dies sein Ende? Ein lebloser Körper in einem Wald in Frankreich. Sie wollte zu ihrem Bruder laufen, doch geifernde Vampire stellten sich ihr in den Weg, griffen und schlugen hart nach ihr, wagten es jedoch kaum, sie zu berühren.
Der Schwertkämpfer stieß seinen Scimitar durch die Schulter der hochgewachsenen Vampirin, und die Wucht des Hiebs schickte sie auf die Knie. Er ließ den orientalischen Krummsäbel in seiner Gegnerin stecken, als er zu Adele herumwirbelte. Drei Vampire warfen sich dem angreifenden Schwertkämpfer in den Weg. Ohne stehenzubleiben, zog er mit der freien Hand eine Pistole aus dem Gürtel, zielte und feuerte. Einer der Vampire wurde von der Wucht der Kugel herumgerissen und brach zusammen. Im nächsten Moment schoss der Schwertkämpfer einem kleinen weiblichen Vampir in den Bauch und schlug die andere Kreatur mit dem Korbgriff seines Langschwerts nieder, sodass sie auf dem Rücken landete. Den Fuß auf der Kehle des niedergestreckten Vampirs stieß er ihm das Schwert ins Herz und feuerte dann einen Schuss in den Kopf der verwundeten kleinen Vampirin, die gerade wieder auf die Beine kam.
Eine Krallenhand kratzte über die Schulter des Schwertkämpfers und zerriss seinen Umhang.
Den nächsten Hieb wehrte er ab und stieß den Angreifer mit einem Tritt von sich. Er legte für einen lähmenden Schuss in den Kopf an, aber nahm plötzlich etwas hinter sich wahr. Er wich seitlich aus und entging einem wilden Hieb der großen, gebieterischen Vampirin, der ihm den Kopf von den Schultern gerissen hätte.
»Du wirst sterben«, zischte seine Gegnerin ihm zu, deren Arm schlaff herunterhing.
Er verschwendete keine Worte, sondern stieß ihr die flache Hand mit solcher Wucht gegen die nackte Brust, dass sie durch die Luft und bis zurück zu den Bäumen flog. Mitten in der Luft veränderte sie ihre Dichte und traf einen Stamm mit nicht mehr als einem sanften Stoß. Sanft schwebte sie zu Boden und richtete sich auf.
Der Schwertkämpfer rannte bereits auf die Prinzessin zu. Er schwang seine Klinge und trennte einem Vampir den oberen Teil des Schädels ab. Mit einer Hand griff er nach unten, um einem reglosen Gardisten zu seinen Füßen den Säbel abzunehmen, und schleuderte ihn in einem Wirbel auf die Vampirin zu. Die Klinge bohrte sich durch die Brust der Kreatur und in den Baumstamm hinter ihr. Vibrierend blieb der Griff zwischen ihren Rippen stecken. Rasend vor Wut schrie sie auf und krallte danach.
Der Schwertkämpfer packte Prinzessin Adele grob am Arm und zerrte sie in den feuchten Wald.