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Zum ersten Mal in den vielen Tagen seit Adeles Ankunft brach die Sonne durch die Wolken. Sie war erfreut darüber, das Sonnenlicht auf dem Gesicht zu spüren, wie es ihr die Wangen wärmte. Die Fenster der Burg erlaubten es nur schmalen Streifen Licht, die Düsternis im Innern zu durchdringen, deshalb entschied sie, einen Spaziergang auf dem Gelände zu machen.
Sie kam in einen ruhigen, streng wirkenden Hof. Ihre Schritte waren die einzigen Laute, die sie begleiteten, bis eine Schar Vögel aufflatterte, als sie näher kam. Adele beugte sich über einen vom Wind gebeutelten Festungswall und blickte auf die Stadt weit unter ihr hinunter. Näher zu ihrer Linken erspähte sie einen merkwürdigen, winzigen Friedhof, der viel zu klein war, um eine menschliche Ruhestätte zu sein. Dort standen zahlreiche Grabsteine, alle ebenfalls sehr winzig.
»Haustiere. Der Garnison.«
Als Adele herumwirbelte, sah sie Gareth gut drei Schritte entfernt auf dem Rand der Brustwehr stehen, unbeeindruckt von der Höhe. Er blickte ebenfalls auf den kleinen Friedhof hinunter. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck des Kummers.
Verdammt soll er sein! Er folgte ihr immer noch.
Ohne sie anzusehen, fuhr er fort. »In den alten Tagen war es den Soldaten gestattet, ihre Haustiere auf diesem kleinen Friedhof zu beerdigen.«
»Und wo wurden die Soldaten beerdigt?«, fragte Adele bitter.
Gareth stieß einen langen Seufzer aus. »Vielleicht auch auf einem Friedhof. Das kann man ihren Familien zuliebe nur hoffen.«
»Du redest, als würde dich das kümmern.«
»Was lässt dich glauben, dass es nicht so ist?« Er schwebte auf den steinernen Pfad herab, während der Wind seinen langen Gehrock aufblähte.
»Seit wann kümmerst du dich um Familie?«
Finster starrte er sie an. »Gib nicht vor, über unsere Familien oder unsere Politik zu richten. Mein Streit mit Cesare ist weit mehr als nur brüderliches Gezänk. Sein Krieg wird das Gleichgewicht aller Clans zerstören.«
Adele lächelte ihn an. »Dann ist das der perfekte Zeitpunkt, um zuzuschlagen, wenn deine Leute schwach und zerstritten sind. Der Sieg meines Vaters wird gewiss legendär sein.«
Traurig schüttelte Gareth den Kopf. »Nein. Krieg wird unsere beiden Völker vernichten. Wir werden mit dem Rücken zur Wand stehen und ums Überleben kämpfen. Dann sind wir am bösartigsten. Die Verluste auf beiden Seiten werden fürchterlich sein.«
Adele würdigte ihn keiner Antwort. Schweigend standen sie da und starrten auf den kleinen Friedhof hinunter. In einer Ecke war frische Erde aufgehäuft.
»Dieses Grab sieht neu aus«, bemerkte sie.
»Ich begrabe einige meiner Katzen hier.«
»Warum?« Das schien nichts zu sein, worüber sich ein Vampir Gedanken machen würde.
Gareth zuckte die Schultern. »Ich dachte, sie mögen vielleicht die Gesellschaft anderer. Ich würde nicht gerne allein sterben oder allein begraben liegen. Warum sollten sie es dann wollen?«
Adele holte jäh tief Luft. In diesem Augenblick wirkte Gareth beinahe menschlich. Sie neigte immer noch dazu, ihn zu vermenschlichen. Hunderte von Mamorus Lektionen hatten sich um genau dieses Thema gedreht. Vampire sahen menschlich aus, verhielten sich menschlich, trugen menschliche Kleidung, doch das war alles Fassade.
Sie rang darum, ihren Zynismus wiederzufinden. »Danke, dass du das Boot weggebracht hast. Sonst hätte ich mich auf meiner Flucht vielleicht noch verletzt.«
Der Prinz runzelte die Stirn. »Ich lasse das Boot reparieren. Es war unsicher und leck, falls du dich erinnerst. Und wir werden es brauchen, um dich aufs Festland zu bringen.«
»Ich werde nie nach Hause zurückkehren, und das weißt du«, versetzte Adele scharf.
Gareths Verhalten veränderte sich mit einem einzigen jähen Schlag, nicht wütend, sondern eiskalt. Seine Geduld war am Ende. »Genug! Es steht so viel mehr auf dem Spiel als nur dein kaiserliches Wohlergehen. Sieh dich doch um!« Er wandte sich von ihr ab und marschierte den gepflasterten Weg entlang.
Adele sah ihm nach, und unerklärlicherweise tat ihr das Herz weh.
Einige Tage später wanderte Adele durch die dunklen Gänge der Burg, als einzige Lichtquelle eine tropfende Kerze in der Hand. Die Erkundungstour lenkte sie von ihren Gedanken an zu Hause ab. Die Räume waren alle überraschend ordentlich, zumindest gab es keine Gerippe oder Trümmer, mit denen die Ecken übersät waren. Nur Katzen. Dieser Ort stellte einen solchen Gegensatz zu dem dar, was sie in London gesehen hatte.
Seit dem Morgen beim Tierfriedhof hatte Adele Gareth kaum zu Gesicht bekommen. Er kümmerte sich um seine einsamen Angelegenheiten, genau wie sie sich um ihre. Es gab Momente, da beobachtete sie, wie er sich mit Leuten aus der Stadt, seinen »Untertanen«, unterhielt. Er war ernst und aufmerksam. Er schien sie anzuhören und ihnen Fragen zu stellen. Bei diesen Gelegenheiten, wenn sich ihre Wege kurz kreuzten, machte er sie nicht so wütend. Er war kein Held aus dem Bilderbuch, der gekommen war, um sie im Sturm zu erobern. Er war ein Prinz mit Pflichten und Verantwortung. Gegen ihren Willen verstand sie diesen Teil von ihm.
Erinnerungen an jene zufriedenen Augenblicke mit Greyfriar und die entspannte Vertrautheit, die sie miteinander geteilt hatten, überfielen sie zu den merkwürdigsten Gelegenheiten. Und seltsamerweise waren sie nicht mehr so bitter. Um die Wahrheit zu sagen, erinnerte sie sich sogar gern daran, wenn auch nur, um ihre Erinnerungen zu studieren und herauszufinden, warum sie nicht in der Lage gewesen war, Greyfriar als den Vampir, der er war, zu erkennen.
Adele kam an einer weiteren Tür vorbei, die leicht angelehnt war, und ihre Kerze flackerte. Das Innere des Raums war unergründlich dunkel, doch vor einem Fenster hob sich umrissartig eine Gestalt ab, die über einen Tisch gebeugt saß und die Hand in einer quälenden Bewegung vor- und zurückschob.
Greyfriar. Gareth, korrigierte sie sich.
Wenn er sie bemerkt hatte, dann ließ er es sich nicht anmerken. Zuerst glaubte Adele, dass er eine Pistole in der Hand hielt und sie vielleicht reinigte. Aber sicher war das doch etwas, das seine menschlichen Diener für ihn erledigen konnten. Plötzlich erkannte sie, dass er eine Schreibfeder in der Hand hielt. Er schrieb.
Ein Vampir schrieb!
Mit einem frustrierten Stöhnen schob Gareth den Stuhl zurück und zerknüllte ein Blatt Papier, das er anschließend durchs Zimmer schleuderte. Adeles Augen wurden schmal, als sie das Knäuel auf einen Haufen zahlreicher weiterer in einer Ecke fallen sah.
Endlich bemerkte Gareth sie und schob einen Stapel Papier auf dem Schreibtisch zur Seite, als wolle er ihn verstecken. »Prinzessin?« Er wirkte beinahe beschämt.
»Was um Himmels willen machst du da?«, verlangte sie zu wissen und marschierte entschlossen zu dem Haufen zerknüllter Blätter. »Setzt du eine Lösegeldforderung auf?«
Gareth erhob sich von seinem Stuhl, machte aber keine Anstalten, sie aufzuhalten, obwohl sein blasses Gesicht angesichts ihrer Entdeckung wie versteinert wirkte.
Sie strich eines der zerknüllten Blätter glatt und erwartete, eine detaillierte Beschreibung ihrer Gefangenschaft und die Forderung nach Lösegeld zu entdecken. Doch stattdessen sah sie nur Gedichte. Die Sprache war ein archaisches Englisch, und die Schrift wirkte altmodisch, mit großen, verschnörkelten Initialen, die jede Zeile eröffneten. Alles war so perfekt proportioniert, dass es schien, als sei es auf einer Druckerpresse gesetzt worden. Doch die Tinte war noch feucht und verwischte unter ihren Fingern. Als sie aufblickte, erspähte sie ein aufgeschlagenes Buch, das vor Gareth auf dem Tisch lag.
Verwirrt sah sie ihn an. »Was ist das hier?«
»Schreiben«, sagte Gareth schlicht und zog trotzig eine Augenbraue hoch.
Adele sah ihn durch eines der Löcher im Papier an. »Du hältst die Feder ein wenig zu fest, wie mir scheint.«
Mit einem Nicken sank Gareth auf seinen Stuhl zurück. »Ich weiß. Es fällt mir schwer, das Instrument zu spüren.« Er ballte die Faust.
Als Adele das Buch auf dem Tisch betrachtete, fiel es ihr leicht, den Teil der Seite zu finden, den er abgeschrieben hatte. Die Nachahmung war perfekt. Er hatte die detaillierten Initialen bis zum letzten Schnörkel kopiert.
»Du bist ein ziemlich guter Zeichner«, sagte Adele.
Er schüttelte den Kopf. »Ich schreibe.«
Sie schob das Buch wieder zu ihm zurück. »Na ja, du malst ab. Aber wie du den Text kopiert hast, ist bemerkenswert. So präzise. Sehr kunstfertig.«
»Dann ist das hier … Kunst?« Gareth nahm ihr das zerrissene Blatt Papier ab.
»Nun, nein. Noch einmal, es ist eine Kopie. Kunst ist, etwas zu erschaffen, beispielsweise einen Text. Der Mensch, der diese Worte ursprünglich schrieb, war ein Schriftsteller, aber alle anderen, die sein Werk kopieren, betrachtet man nicht als Schriftsteller.« Sie verstummte kurz und lächelte. »Als Plagiatoren eigentlich, aber das ist ein völlig anderes Thema.«
»Ich bin verwirrt.« Er legte die Feder nieder. »Erklär es mir. Was ist der Unterschied zwischen diesem Buch und dem, was ich geschrieben habe? Beides sieht exakt gleich aus.«
Adele setzte sich. »Du musst lernen, deine eigenen Worte zu schreiben, deine eigenen Gedanken. Hier …« Sie deutete auf sein Blatt Papier. »Du hast nur mit den Worten von jemand anderem gesprochen, als würdest du eine Geschichte wiedererzählen. Du hast geschrieben, aber nichts erschaffen.«
»Aber das habe ich doch.« Frustriert hielt er das zerknüllte Blatt hoch. »Ich habe es eigenhändig geschrieben. Ich habe Tausende Male gesehen, wie Menschen das getan haben. Als Greyfriar überbringe ich ihnen Botschaften, und sie schreiben sie auf. Genauso, wie ich es hier getan habe.« Er wirkte verwirrt und wütend. »Das ist etwas erschaffen. Die Botschaft stammt von mir.«
»Das ist nahe dran. Du kennst diese Buchstaben, und du weißt, wie du sie lesen musst. Also kannst du auch deine eigenen Worte mit diesen Buchstaben erschaffen. Denk an etwas und schreib es auf. So einfach ist das.«
»Wovon redest du?«
Adele seufzte in milder Verzweiflung. »Wenn du deine Gedanken selbst niederschreibst, dann kann deine wahre Stimme von anderen gehört werden, anstatt durch jemand anderen verwässert zu werden. Das gesprochene Wort hat stets die Eigenart, verdreht zu werden. Besonders wenn es von einer Person zur anderen weitergegeben wird. Wenn deinesgleichen schreiben würden, könntest du Ereignisse bleibend dokumentieren. Andere könnten deine Ideen so lesen, wie du sie gemeint hast.«
»Vampire würden sich nie die Mühe machen, meine Worte lesen zu lernen. Sie verstehen nur den Laut, das gesprochene Wort.« Gareths Tonfall klang bitter.
Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, beugte sich Adele zu ihm vor. »Weißt du, die Menschen hatten einst auch eine rein mündliche Überlieferung. Erst mit der Erfindung von Buchstaben wie in diesem Alphabet …« Sie deutete auf das Buch. »… entstand Schrift. Früher hatten wir Dichter und Barden, die von Stadt zu Stadt reisten, um uns Neuigkeiten und Geschichten zu erzählen. Aber das Schreiben befreite das Leben eines Textes vom Augenblick der Äußerung. Jetzt kann jeder die Geschichten eines Dichters genießen, wann er will, anstatt darauf warten zu müssen, dass der Dichter wieder vorbeikommt.«
»Warum hat eure Art das Schreiben erfunden?« Ehrfürchtig strichen seine langen Finger über die Buchstaben im Buch.
Adele wünschte sich, ihrer Geschichte mehr Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, doch sie wagte sich tapfer weiter. »Kulturelle Veränderungen, schätze ich – hauptsächlich sozial, politisch und wirtschaftlich. Ein Bedürfnis, geschäftliche Transaktionen zu dokumentieren.«
»Meine Kultur wähnt sich all dem überlegen«, bemerkte er verbittert. »Wir haben keine Wirtschaft. Deshalb haben wir auch nicht das Bedürfnis, eine geschriebene Sprache zu schaffen.«
»Um die Trommeln der Veränderung zu schlagen, ist nur ein Einzelner nötig, Gareth.«
Er hob den Kopf und sah Adele mit seinen hellen blauen Augen direkt an. Sein Blick war heimgesucht von Leidenschaft und Entschlossenheit. Unvermittelt erkannte die junge Frau, dass Gareth eifersüchtig auf die Menschen war. Er wünschte sich so sehnlichst, etwas anderes als ein Vampir zu sein. Einen Augenblick lang fand sie diese Erkenntnis schwer zu verkraften.
Mit leiser Stimme stellte er ihr eine Frage. »Würde es dich beleidigen, wenn ich euer Alphabet verwende? Ich glaube nicht, dass ich von Grund auf neu anfangen könnte.«
Erstaunt über die höfliche Frage lachte Adele. »Gareth, du bist ohne Zweifel der verblüffendste Vampir, der mir je begegnet ist.«
»Dann habe ich deine Erlaubnis?«
»Mein Alphabet zu benutzen? Ja, absolut. Es gehört ganz dir.«
»Also, was soll ich schreiben?«
»Was immer du für wichtig hältst. Was wolltest du schon immer einmal sagen? Vielleicht zu jemandem, der weit außerhalb deiner Reichweite ist.«
Gareth senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Denk darüber nach. Dann gibst du mir dein Werk später heute Abend nach dem Abendessen. Ich werde es mir ansehen, und wir können morgen darüber sprechen.«
Aufgeregt straffte er die Schultern. »Ja? Das würdest du tun?«
»Ja, das würde ich.« Die junge Frau erhob sich von ihrem Stuhl und nahm die flackernde Kerze. Sie verließ das Zimmer, wie sie gekommen war, während Gareths Blick unverwandt auf ihr ruhte.
Adele verbrachte den Rest des Abends damit, Morgana in der Küche zu helfen. Sie putzten, kochten, tauschten Geschichten aus und lachten. Es war eigenartig, wie viel leichter ihr das Lachen in der letzten Zeit unter den Leuten Edinburghs fiel. Vielleicht ließ das Gefühl der Bedrohung ein wenig nach. Ihr Leben war zu einer Reihe von Höhen und Tiefen geworden, Augenblicken des Entsetzens und Momenten des Friedens. Sie hatte gelernt, diese kleinen Atempausen der Ruhe in dem ganzen Chaos zu genießen.
Die Dienerin grinste, als sie verschiedene Teller in die hohen Schränke stellte, und deutete dann auf den grau-weißen Kater, der sich um Adeles Beine wand. »Wie ich sehe, hat er Sie ins Herz geschlossen.«
»Scheint so.«
»Das ist gut.«
»Warum?«
»Früher war er ziemlich verschmust, aber das war davor.«
»Wovor?«
»Bevor seine Gefährtin starb. Danach hat er sich zurückgezogen. Die beiden spielten überall in der Burg miteinander. Kannten sich schon, seit sie kleine Kätzchen waren. Jetzt bleibt er für sich und versteckt sich in Ihrem Zimmer. Es ist schön zu sehen, dass er sich wieder für etwas interessiert.«
»Tiere trauern nicht.«
Morgana zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob es Trauer ist. Aber er hat sich verändert. Das ist alles, was ich weiß.«
»Wo kommen alle diese Katzen her? Es sind so viele.«
»Sie haben sich hier eingenistet, als alles andere nur noch Untergang und Gemetzel war.«
»Sind sie … Nahrung für ihn?«
Morgana sah entsetzt aus. »Er würde lieber verhungern, als einer einzigen Katze in diesen Wänden etwas zuleide zu tun. Er ist ziemlich vernarrt in sie, obwohl ich beim besten Willen nicht verstehen kann, warum.«
»Hat die hier einen Namen?«
Morgana schüttelte den Kopf. »Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Es gibt hier zu viele, um ihnen allen Namen zu geben. Ich nenne ihn nur Liebling, aber so nenne ich jede Einzelne von ihnen. Viel einfacher zu merken.« Sie kicherte über ihren eigenen Witz.
Adele kraulte den Kater seitlich am Kinn, und er neigte den Kopf, damit sie noch kräftiger kraulen konnte. Sie würde über einen Namen für diesen speziellen Kater nachdenken. Es musste ein guter Name sein, da er ihr während ihrer schweren Notlage Trost gespendet hatte.
Stunden später, als sie in ihrem Zimmer saß, und Liebling sich schnurrend auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte, klopfte es an der Tür. Auf ihr Geheiß öffnete sie sich, und Baudoin erschien. Er hielt ein silbernes Tablett unbeholfen in den Händen. Stumm blieb er stehen.
Mit einem Nicken bedeutete Adele ihm einzutreten.
Baudoin verbeugte sich kaum merklich. »Mein Herr hat mich gebeten, Ihnen das hier zu bringen.«
Einen Augenblick lang konnte sie sich nicht vorstellen, was es war, doch dann fiel es ihr plötzlich wieder ein, und ihre Aufregung wuchs. »Oh!« Schnell stand sie auf und nahm dabei den verärgerten Liebling auf die Arme. Während sie auf Baudoins steife Gestalt zueilte, betrachtete sie begierig das gefaltete Blatt Papier, das auf dem im Feuerschein funkelnden Tablett lag.
Baudoin trat einen Schritt zurück, beinahe als widerstrebe es ihm, ihr die Notiz zu überlassen.
Seine Miene war verbittert, doch dann fing sich der Diener wieder und hielt der Prinzessin das Tablett entgegen. Sie nahm die Nachricht mit einem dankbaren Nicken an sich und ging zum Kamin hinüber, um besseres Licht zu haben.
Baudoin blieb stehen, und Adele wurde klar, dass er höchstwahrscheinlich neugierig war, was in der Nachricht stand. Doch wie jeder gute Diener wusste er, wo sein Platz war. Er straffte den Rücken, drehte sich auf dem Absatz um und ging, ohne auch nur ein einfaches »Wenn Sie gestatten« über die Lippen zu bringen. Wie überaus frustrierend es für ihn sein musste, Zeuge der Interaktion zwischen seinem Herrn und der Gefangenen zu werden, und bei der Angelegenheit kein Mitspracherecht zu haben, erkannte Adele mit einem Grinsen. Sie wandte sich wieder der Notiz zu, die ihre Neugier äußerst auf die Folter spannte. Was konnte Gareth geschrieben haben? Es war unglaublich aufregend, sein kreatives Bewusstsein wachsen zu sehen.
Schnell faltete sie das Blatt auseinander. Der Atem stockte ihr, und beinahe hätte sie die Nachricht ins knisternde Feuer fallen lassen. Mit einem wehleidigen Maunzen wand sich Liebling in ihren Armen, um besseren Halt zu finden, doch Adele hörte es nicht. Ihr Blick klebte an den Worten der Nachricht.
Es tut mir leid Adayla.
Sie musste die Hand ausstrecken, um sich am Kaminsims festzuhalten. Unter Protest fiel Liebling zu Boden, strich ihr aber fragend um die Beine. Die Bedeutung dieser Nachricht versetzte sie in Erstaunen. Ein Vampir verstand ein Konzept wie Vergebung und sehnte sich danach!
Zum ersten Mal seit so vielen Wochen hörte Adele die Stimme von Greyfriar zu ihr sprechen. Sie schloss die Augen, als sie sich an seinen männlichen Tonfall erinnerte, der einst von Rettung und Hoffnung geflüstert hatte. Die Freude, die sie in seiner Gegenwart gekannt hatte, durchströmte sie wieder. Sie erinnerte sich an das Gewicht seiner Hände auf ihren Schultern in Canterbury und die absolute Sorge um ihr Wohlergehen, die weit über die Rettung einer Thronerbin von Equatoria hinausging. Das hatte sie sich nicht eingebildet.
Ihre Finger strichen über die Buchstaben der Notiz, und sie lächelte über seinen Versuch, ihren Namen zu buchstabieren. Er hatte ihn noch nie in seiner geschriebenen Form gesehen, deshalb hatte er keine Ahnung, wie er ihn nachbilden musste. Jeder Buchstabe war mit so sanfter Präzision geschrieben. Nur die Lettern ihres Namens verrieten ein leichtes Zittern seiner Hand. Es lag solche Macht in Namen.
Sie hatte sich in ihm geirrt, so sehr geirrt. Wenn auch nur eine entfernte Chance bestand, dass er in allem, was er ihr gesagt hatte, aufrichtig gewesen war, dann musste sie dies zu Ende bringen. Um der reinen Möglichkeit des Friedens willen und wegen ihres eigenen Wunsches, dass er es ernst meinte.
Vielleicht steckte ebenso viel von Greyfriar wie von Gareth in ihm. Vielleicht sogar mehr.