28
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Früher Morgennebel hüllte die Stadt Edinburgh ein und ließ sie wie ein unwirkliches und unheimliches Königreich erscheinen. Doch Adele fürchtete sich nicht vor den dunklen, eingefriedeten Höfen oder dem bleiernen Himmel. Gareth ging an ihrer Seite, ihr persönlicher Führer. Wo sie einst zusammengezuckt war, wenn sie seinen Schatten auf den Festungswällen entdeckt hatte, war sie nun dankbar für seine Anwesenheit. Obwohl es kühn und trotzig von ihr gewesen war, als sie sich in jenen ersten Tagen hinaus in die Stadt gewagt hatte, hatte sie stets ein wenig Angst im Herzen gehabt. Sie hatte sich darüber hinweggesetzt, doch das hieß nicht, dass die Angst nicht da gewesen wäre. Diesmal dagegen nicht. Dieser Tag schien eine neue Erfahrung für Adele zu werden.
Es gab noch etwas Neues, das Gareth ihr zeigen wollte. Sie stiegen einen steilen Hügel hinunter, fort von der über ihnen aufragenden Burg, und der Nebel verdichtete sich um sie herum. Ein paar Gestalten spazierten durch den Dunst an ihnen vorbei und gingen ihren Geschäften nach, als sei kein Vampir in Reichweite. Als wären seit mehr als einem Jahrhundert keine Vampire je in diesen Ort gekommen.
Bald schon führte ihr Weg wieder bergan, immer noch nach Süden eine Straße entlang, die einst Candlemaker Row geheißen hatte und auf die sich Adele bisher noch nicht gewagt hatte. Dünne Nebelschwaden waberten um ihre Beine, als sie das Kopfsteinpflaster entlanggingen. Adele sah das große eiserne Tor erst, als sie beinahe unmittelbar davorstanden. Jenseits der schmiedeeisernen Stäbe lag ein herrliches Bauwerk aus altem Stein. Überall um es herum erhoben sich von Kreuzen gekrönte Grabsteine und prächtige Monumente, um die Toten zu segnen und zu ehren. Es war ein Friedhof.
»Was ist das hier?«, fragte Adele.
»Die Leute nennen es Greyfriar’s Kirk«, antwortete Gareth mit einem sanften Lächeln.
Erfreut drehte sie sich zu ihm um. »Das ist dein Namenspatron!«
»Ja. Ich mag diesen Ort. Er hat Geschichte, und mir gefallen die Steine.«
»Es ist ein Friedhof.«
»Ich weiß. Die Ironie ist mir nicht entgangen.« Er stieß die schweren Eisentore auf, und sie betraten den Gottesacker. Manche Friedhöfe waren erfüllt von Grauen und Aberglauben, aber für Adele, und sogar für ihren Bruder, waren sie Orte, die es zu erkunden galt. Ihr Heimatland war berühmt für seine Gräber und letzten Ruhestätten der Toten. Sie faszinierten Adele. Merkwürdigerweise war das noch etwas, das sie mit Gareth gemeinsam hatte.
Die Grabsteine von Greyfriar’s Kirk waren alt und vom Alter dunkel, manche beinahe glatt durch die Verwitterung. Doch auf vielen waren die kunstvollen Inschriften noch erhalten und wunderschön. Die meisten von ihnen waren groß und direkt entlang einer Steinmauer errichtet, die den kleinen Friedhof umgab.
Gareth deutete auf einen der Grabsteine. Er trug eine lateinische Inschrift. »Das ist dieselbe Sprache wie in dem Anatomiebuch, das ich besitze. Ich kann Namen erkennen. Aber weißt du, was der Rest davon bedeutet?«
»Das tue ich.« Adele hatte Latein gelernt. »Das hier ist der Name der Person – der Person, die hier begraben liegt.« Ihr Finger strich über den Nachnamen der in großen, kühnen Lettern ganz oben stand. »Der Rest nennt die Verwandtschaftsbeziehungen. Ein Ehemann, eine geliebte Ehefrau und drei Söhne im Alter von zwei, fünf und sieben Jahren.«
»Das alles steht da?« Gareth berührte die tiefen Gravuren, die dem Lauf der Zeit getrotzt hatten.
»Was ist im Innern der Kirche?«, fragte Adele.
»Ich weiß nicht«, antwortete er abwesend, während er immer noch den Grabstein musterte. »Ich war noch nie im Innern.«
»Warum nicht?«
»Ich ziehe es vor, nicht hineinzugehen.«
Adele starrte ihn an. »Dann ist es also wahr, dass Vampire von religiösen Symbolen abgestoßen werden? Das hast du in Canterbury angedeutet.«
Gareths Blick glitt über ihren Kopf hinweg. »Ich bleibe einfach lieber draußen.«
Sie glaubte ihm nicht. Aber sie konnte nicht von ihm erwarten, dass er ihr die Schwächen seiner Spezies eingestand. Obwohl sie eine ungewöhnliche und einzigartige Beziehung zueinander aufgebaut hatten, war sie die zukünftige Herrscherin des größten Feindes seiner Art.
»Darf ich hineingehen?«, fragte sie.
»Selbstverständlich. Ich werde hier draußen auf dich warten.«
Adele ging auf die Eingangstüren der Kirche zu. Eine davon hing schief in den Angeln, die andere hielt noch sicher und fest. Sie griff nach der schweren, eisernen Klinke und zog die Tür behutsam auf. Zuerst war es dunkel im Innern, doch nachdem sie es durch den ersten Bogengang geschafft hatte, öffnete sich die Kammer zu einer breiten, langen Höhle mit hoch angesetzten Fenstern. Die meisten davon waren zerbrochen, was mehr Licht auf den Boden fallen ließ. Scherben der Buntglasfenster lagen auf den kalten Steinen, und sie bückte sich und versuchte herauszufinden, welches Bild sie einst dargestellt hatten. Sie konnte ein Gesicht oder ein Symbol erkennen.
Schließlich streckte sie sich und wanderte zum Altar, wo ihr ein silbernes Funkeln ins Auge fiel. Es war ein kleines Kreuz an einer Kette, beinahe völlig unter grauem Staub verborgen. Lächelnd holte sie es aus seinem Versteck. Sie entschied, dass es ein Zeichen war, und kniete sich vor den Altar, um ein kleines Dankgebet für den Schutz, der ihr während dieser ganzen schweren Prüfung zuteilgeworden war, zu sprechen. Und ein Gebet der Hoffnung für die Zukunft, wohin sie sie auch immer führen mochte.
Draußen fuhr Gareth jäh zurück. Gänsehaut überzog seinen Körper. Er konnte sich nicht erinnern, an diesem Ort jemals zuvor eine solche Kraft gespürt zu haben. Manchmal, wenn die Menschen in St. Giles, der anderen Kirche, Zeremonien abhielten, konnte er fühlen, wie Wellen der Wärme davon ausgingen, die er als unangenehm empfand. Doch noch nie etwas wie das hier. Die Kraft versengte ihn, und es fiel ihm schwer zu atmen. Der Druck in Gareths Kopf stieg an, bis er gezwungen war, sich aus dem Friedhof zurückzuziehen. Sobald er das Tor passiert hatte, ließ die Qual nach. Er holte tief Luft. Unbewusst begann er, unruhig auf und ab zu laufen, während er auf Adele wartete. Nach mehreren Minuten, als sie immer noch nicht wieder herausgekommen war, trat Gareth ein weiteres Mal auf das große Tor zu, nur um das starke Unbehagen wieder anschwellen zu spüren. Er hielt inne, und ein tiefes Knurren kam ihm über die Lippen. Gerade wollte er besorgt wegen Adeles langer Abwesenheit dennoch über die Schwelle stürmen, als sie endlich ins diffuse Sonnenlicht heraustrat.
Beklommen sah sie sich um, beruhigte sich jedoch wieder, als sie Gareth außerhalb des Tores stehen sah. Es überraschte sie, dass er bei ihrem Näherkommen zurückwich.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
»Nein, nein. Alles in Ordnung.« Kaum merklich wandte er den Kopf ab. Ihr Geruch war scharf, genau wie damals in Canterbury, als er sie beinahe besinnungslos auf den Stufen der Kathedrale gefunden hatte. »Du warst lange fort. Ich war … beunruhigt.«
»Oh, ich bin nur geblieben, um ein kleines Gebet zu sprechen.« Sie betastete das silberne Kreuz, das in ihrer Tasche steckte.
»Ich verstehe.« Seine Haltung verriet eine Spur von Schmerz und Unruhe.
»Geht es dir gut?«
Der Prinz nickte knapp. »Ja.«
»Würdest du gern noch mehr von den Grabsteinen lesen?« Sie trat auf den Friedhof zu, doch er folgte ihr nicht.
»Nein«, antwortete er, begierig darauf, von diesem Ort fortzukommen. »Lass uns woanders hingehen.«
Adele lächelte. »Ich habe nichts dagegen.« Sie nahm seine Hand, bevor er sich abwandte.
Mit einem schmerzerfüllten Fauchen, das seine Zähne entblößte, entriss er sie ihr. Auf seiner Haut glühten rote Blasen, die Adeles Finger hinterlassen hatten.
»Gareth«, rief sie besorgt und streckte instinktiv erneut die Hand nach ihm aus.
»Bitte, Prinzessin, bleib zurück. Bitte fass mich jetzt nicht an.«
»Warum? Was habe ich getan?« Dann verstand Adele. Sie hatte gebetet. Ihre Augen weiteten sich erstaunt. »Es tut mir leid. Mir war nicht bewusst …«
»Mir ebenso wenig«, antwortete er. »Du besitzt große Macht, Adele. Mehr als jeder, dem ich je begegnet bin.«
»Das ist neu für mich«, gestand sie.
Gareths Stirnrunzeln vertiefte sich, während die Wellen weiter von ihr ausstrahlten, und er bemühte sich, nicht noch weiter vor ihr zurückzuweichen. »Lass uns zur Burg zurückkehren.«
»Wie du willst. Vielleicht können wir ein anderes Mal wiederkommen, und dann lese ich dir mehr von den Grabsteinen vor.«
Dankbar dafür, dass das Unbehagen endlich nachließ, neigte er freundlich den Kopf. Er wollte ihr nahe sein, hielt jedoch Abstand. Schweigend gingen sie ein Stück, beide damit beschäftigt, das Ausmaß dessen zu erfassen, was gerade geschehen war.
Adele war hin- und hergerissen zwischen dem Schuldgefühl, Gareth Schmerz zugefügt zu haben, und der erstaunlichen Enthüllung, dass sie eine verwertbare Schwachstelle der Vampire entdeckt hatte. Ihr Kristalltalisman. Die Menhire in England. Canterbury. Und nun dieses Kreuz. Sie standen alle miteinander im Zusammenhang. Es war Magie. Oder Religion. Oder beides. Es war, wie Mamoru es sie gelehrt hatte.
»Wie mache ich das?«, fragte Adele. »Ist es das Beten? In alten Zeiten glaubten wir, religiöse Gegenstände würden Vampire vertreiben. Tun sie das wirklich?«
»Nein«, antwortete er ihr aufrichtig. »Eure Glaubensikonen haben keine Wirkung auf mich. Die Menschen von Edinburgh halten ihre religiösen Gottesdienste ab. Ihre Gebete stören mich ein wenig, aber wenn es ihnen Freude macht, dann soll es so sein. Es ist kein großes Problem für mich. Aber du bist eine völlig andere Angelegenheit.«
»Es tut mir leid wegen deiner Hand.«
»Sie ist schon wieder verheilt.« Er zeigte ihr die Hand, und die Blasen waren tatsächlich so gut wie verschwunden.
»Das ist gut. Ich bin froh darüber.«
Diese schlichte Aussage freute Gareth.
»Bist du denn überhaupt nicht beunruhigt darüber, was das bedeutet?«, fragte Adele. »Machst du dir denn keine Sorgen, was ich tun könnte. Was ich vielleicht tun werde?«
»Warum? Was kann ich dagegen unternehmen?«
»Es könnte eine Möglichkeit darstellen, Vampire zu bekämpfen, deine Art zu vernichten.«
Gareth blieb stehen. »Ich vertraue dir.«
»Vielleicht solltest du das nicht tun.« Seine Gelassenheit war zum Verzweifeln.
»Falls du zu dem Entschluss kommst, dass das für deine Leute das Beste ist, werde ich damit einverstanden sein.«
»Gareth, erinnere mich daran, dir einmal etwas über Macht und Politik zu erklären.«
»Ich bevorzuge Diplomatie.« Adele lachte auf, und Gareth lächelte sie an. »Also, was hältst du von Greyfriar’s Kirk?«
Sie gab sich Mühe, seinem Beispiel zu folgen und ihre Gedanken wieder auf alltägliche Dinge zu richten. »Die Kirche muss einst wunderschön gewesen sein. Ein zauberhafter Ort für Hochzeiten. Aber sie ist klein im Vergleich zu dem Palast, in dem ich heiraten werde.« Sie seufzte. »Weißt du, ich habe völlig das Zeitgefühl verloren, doch ich glaube, dass ich inzwischen bereits verheiratet wäre, wenn dein Bruder mich nicht entführt hätte.«
Der Zug um Gareths Mund verhärtete sich. Am Anfang dieses Abenteuers hatte er kaum einen Gedanken an Adeles bevorstehende Vermählung verschwendet. Nun, da er sie kannte, lastete sie schwer auf ihm. Nur einen Augenblick lang stellte er sich ein anderes Leben vor, eines ohne die Einschränkungen durch Pflicht, Politik und Vorurteile. Es war töricht, und das wusste er, aber der Gedanke, dass Adele diesen Angeber von einem Vampirtöter vorerst zumindest nicht heiratete, wärmte ihn.
Die Prinzessin straffte die Schultern, sodass sie ein wenig größer wirkte, und ihre traurige Miene hellte sich auf, als sie Gareth ansah. Sie lächelte, wie um ihre düsteren Gedanken zu verscheuchen. Sie musste wohl die einzige Frau sein, die je über ihre Vermählung mit einem großen Helden deprimiert war, aber eigenartigerweise kam ihr das wie ein Teil ihrer Vergangenheit und nicht ihrer Zukunft vor. Ein ganzes Leben war in diesen letzten Wochen für sie verstrichen, und ihr altes Dasein wirkte so weit entfernt.
»Um dir die Wahrheit zu sagen, und du bist der Erste, dem ich das eingestehe: Nach allem, was ich über meinen Verlobten gehört habe – ich bin nicht verliebt in Senator Clark.«
»Ach ja?«
»Aber unsere Verbindung ist wichtig für Equatoria. Deshalb tut mein Glück nicht wirklich etwas zur Sache.«
»Das tut mir leid.«
»Es ist nicht deine Schuld. Tatsächlich muss ich sagen, dass du die einzige Person bist, die versucht, die Dinge in Ordnung zu bringen.« Greyfriars Pistolen fühlten sich mit einem Mal schwer an ihren Hüften an. Sie hatten ihr Schutz und Sicherheit geboten, als sie beides gebraucht hatte, doch nun löste sie mit flinken Fingern den Gürtel und reichte ihn Gareth.
»Die habe ich dir doch gegeben«, sagte er verwirrt.
»Ich brauche sie nicht. Ich würde allerdings gerne eine der Pistolen behalten. Zu meinem eigenen Schutz. Aber der Rest gehört dir. Danke für die Leihgabe.«
Er streckte die Hand aus, um den Pistolengürtel zu nehmen, dabei streifte er leicht ihre weiche, behandschuhte Hand. Ein weiterer schmerzhafter Schlag durchzuckte ihn, leichter diesmal, eher eine Warnung als ernsthaft in der Lage zu verletzen. Die Macht durchströmte sie immer noch – es dauerte offenbar, bis sie verebbte. Er ließ sich nichts anmerken und nickte freundlich, als er die Waffen entgegennahm und sich den Gürtel nachlässig über die Schulter warf. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das Band zwischen ihnen, das er für immer verloren geglaubt hatte, war wieder da. Ihr Duft war berauschend.
Dann wehte ein anderer Geruch mit dem Wind heran, und Gareth versteifte sich. Der Ledergürtel glitt von seiner Schulter und fiel aus gefühllosen Fingern zu Boden. Adele ähnlich. Ihre eigene Hand fuhr zu der Pistole in der Tasche ihres Rocks. Sie hatte gelernt, sowohl Gareths als auch Greyfriars Verhalten zu lesen, wenn sie Gefahr spürten. Sie ließ den Blick umherschweifen, sah jedoch nichts.
»Lauf zur Burg!«, befahl Gareth. Mit einem einzigen Satz erhob er sich in die Luft. »Jäger kommen«, waren die Worte, die zu ihr zurückschwebten.
Schnell hob Adele seinen Pistolengürtel auf und floh. Immer wieder sah sie nach oben, während sie über das Kopfsteinpflaster den Hügel empor und auf die aufragende Burg zurannte. Sie entdeckte keine dunklen Gestalten am Himmel. Wenn sie schneller lief, konnte sie vielleicht Baudoin zur Unterstützung schicken. Ihre Angst war zurück, und sie presste den Pistolengürtel fester an die Brust.
Bald sah sie nicht einmal mehr Gareths Silhouette. Auf welche Entfernung konnte er die Ankömmlinge riechen? Weit genug, dass die Jäger sie nicht wahrnehmen konnten?
Es dauerte ewig, zur Burg zu kommen. Adele stieß die großen Türen auf, sodass sie mit einem lauten Knall gegen die Steinmauer prallten. Da sie nur raten konnte, wo Baudoin sich um diese Tageszeit aufhielt, rannte sie zur Küche. Er war nicht dort, dafür aber Morgana, und zusammen suchten sie, bis sie Baudoin fanden. Sein Gesicht wurde hart wie Granit, als sie es ihm berichteten.
»Bleiben Sie drinnen«, sagte er.
»Wie können wir helfen?«
»Halten Sie sich verborgen. Es liegt jetzt an Seiner Lordschaft.«
Adele und Morgana wechselten ängstliche Blicke. Morgana ergriff die Hand der Prinzessin und drückte sie. Adeles erster Impuls war, aus einem Fenster zu sehen, doch sie widerstand dem Drang. Stattdessen vergewisserte sie sich, dass Gareths Pistolen geladen und bereit waren. Sie konnte sich nur vorstellen, was gerade am Himmel über Edinburgh vor sich ging.
Die Luftströmungen waren schnell, und Gareth stieg zügig auf. Zwei entfernte Punkte kennzeichneten die Ankunft von Jägern in seinem Reich. Die Kreaturen waren nicht hinter der Fährte von Vampiren her, deshalb würden sie ihn zwar sehen, aber nicht weiter beachten. Natürlich könnten die Jäger dem Geruch von Greyfriar folgen, doch deshalb trug er in dieser Verkleidung menschliches Blut auf der Haut, um seinen wahren Geruch vor seinen vampirischen Artgenossen zu verbergen. Dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Vielleicht hatte er genug von Adeles Geruch an sich, um sie anzulocken. Tatsächlich schwenkten die Jäger ab und starrten ihn neugierig an, als versuchten sie herauszufinden, warum ein Vampir ähnlich roch wie ihre Beute. Schließlich setzten sie ihren Flug in Richtung Burg fort. Sie hatten Adeles Witterung aufgenommen, und sie waren gut ausgebildete Jäger. Flay benutzte die besten.
Gareth wartete, bis sie unter ihm vorbeiflogen, dann zog er die Arme dicht an den Körper und stieß mit unglaublicher Geschwindigkeit auf sie herab. Heftig prallte er in den Rücken eines der nichts ahnenden Jäger, der vor Überraschung aufschrie, als sein Rückgrat brach. Der Wind rauschte an ihnen vorbei, während sie unkontrolliert zu Boden trudelten. Sogar tödlich verwundet versuchte der Jäger noch, sich herumzuwinden und mit den Klauen nach seinem Angreifer zu schlagen.
Angestrengt hielt Gareth den Jäger fest umklammert. Wenn er ihm genug Raum gab, um zuzuschlagen, würde er ausgeweidet werden. Gareth stöhnte auf, als ihm die Haut an der Schulter bis zum Knochen aufgerissen wurde. Die zweite Kreatur hatte sich bereits auf ihn gestürzt, doch das musste er ignorieren. Gareth entblößte die Fangzähne und grub sie tief in den Nacken des Jägers. Sie zerrissen die taudicken Sehnen und bohrten sich ins Rückenmark. Mit hartem, tiefem Biss riss er an der Gehirnbasis der Kreatur. Sie schlug wild um sich, bevor er ein erlösendes Knacken hörte und ein Zittern durch das Ding lief.
Gareth stieß einen wilden Siegesschrei aus, als er den schlaffen Körper des Jägers losließ. Dann wirbelte er herum, um sich der zweiten Kreatur zu stellen, brannte darauf, eine weitere Bestie zu vernichten. Doch diese war schlau. Sie konnte die Kraft riechen, die in ihrem Gegner aufwallte, und wollte sich nicht erwischen lassen. Sie stieg höher, um Abstand zu gewinnen. Dann drehte sich der Jäger zu Gareth um. In seinem Blick stand weder Überraschung noch Wut. Dazu war ein Jäger zu einfach gestrickt. Er war eine Tötungsmaschine, speziell darauf trainiert, sein Ziel zu jagen und zu töten.
Nun, da er eine gewisse Position der Überlegenheit eingenommen hatte, griff er Gareth an.
Der Prinz warf sich zur Seite, als lange Krallen die Luft durchschnitten, wo er gerade noch geschwebt hatte. Doch der Jäger verdrehte seinen wendigen Körper, streckte einen seiner krallenbewehrten Füße aus und riss eine lange, klaffende Wunde in Gareths Oberschenkel. Dieser packte das haarige Bein des Jägers und zog ihn zu sich. Er würde nicht zulassen, dass die Kreatur ihn umkreiste und erneut zuschlug, um ihn mit den Hieben ihrer Krallen zu schwächen. Gareth war seiner wendigen Schnelligkeit nicht gewachsen. Die einzige Möglichkeit, die Bestie zu Fall zu bringen, bestand darin, dicht in ihrer Nähe zu bleiben, wo ihm seine Kraft einen Vorteil verschaffen konnte, bevor sie nachließ.
Der Jäger kreischte protestierend auf, als er festgehalten wurde. Immer wieder schlug er mit Klauen und Zähnen nach Gareth, der spüren konnte, wie der Blutverlust ihn schwächte. Es fiel ihm schwer, seinen Gliedern zu befehlen, die Bestie festzuhalten. Er drohte den Kampf um Adeles Sicherheit zu verlieren.
Die Angst, dass diese Kreatur sie angriff, verlieh ihm neue Kraft, die grausame Verstümmelung zu ertragen. Er schlang die Arme um den Kopf der Bestie, wobei er die Tatsache ignorierte, dass er dadurch seine Brust ungeschützt ihrem Angriff aussetzte. Dann nahm er den Rest seiner schwindenden Kraft zusammen und riss den Kopf herum. Die Kreatur stieß einen heulenden Aufschrei aus, der abrupt mit einem dumpfen Knacken endete, und erschlaffte in Gareths Griff.
Der angeschlagene Prinz ließ sie los und sah zu, wie sie trudelnd zur Erde weit unter ihm stürzte, gefolgt von Tropfen seines eigenen Blutes. Er war schwer verwundet, das wusste er. Sein Blickfeld wurde grau. Er musste sich zu Boden sinken lassen, bevor er das Bewusstsein verlor. Doch da erklang eine Stimme hinter ihm.
»Eigenartig, dass die Jäger mich zu dir geführt haben.« Die Worte waren durchzogen von Argwohn und Gehässigkeit.
Flay.
Erschöpft wandte sich Gareth zu ihr um. Mitglieder der Pale waren bei ihr. Es zeugte von ihrer absoluten Unverfrorenheit, dass sie so viele ihrer Soldaten in sein Territorium brachte.
Er fletschte die Zähne zwischen blutverschmierten Lippen. »Ich erlaube keine Vampire in meinem Land. Und ganz besonders keine Handlanger meines Bruders.«
Wütend verzog Flay das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse, rang sich jedoch geheuchelte Ehrerbietung ab. »Ich bin auf der Suche nach einer entlaufenen Gefangenen, der Prinzessin Adele. Die Jäger haben ihre Spur bis hierher verfolgt, großer Lord.« Sie starrte hinunter auf den verkrümmten Kadaver eines ihrer Schoßhündchen weit unter ihnen. »Ich weiß, dass sie hier ist. Irgendwo.«
»Verschwinde. Sofort!«
Mit einem grausamen Lächeln zeigte Flay ihre scharfen Eckzähne. »Obwohl sie technisch gesehen deine Gefangene ist, hat Cesare großzügig angeboten, die Verantwortung für sie wieder zu übernehmen.«
»Wie liebenswürdig. Aber ich verzichte.«
»Cesare kommt mit einem Luftschiff, um die Gefangene abzutransportieren, sobald ich sie aufgespürt habe.« Mit einer eleganten Geste deutete Flay auf die Burg in der Ferne. »Vielleicht bietest du mir deine Gastfreundschaft an, während wir auf deinen Bruder warten.«
»Du wirst keinen Fuß auf mein Land setzen. Verschwinde!« Gareth hielt sie mit der einzigen Waffe hin, für die er noch Kraft hatte, indem er den empörten Edelmann spielte. Er musste sich kostbare Zeit verschaffen, bevor Cesare mit Verstärkung ankam.
Die Kriegsführerin ärgerte sich über seinen hochmütigen Tonfall. Jede ihrer Gesten verriet, dass sie sich wünschte, ihn anzugreifen und dieser lächerlichen Scharade des Respekts ein Ende zu setzen. Gareth hatte seine Chance bei ihr gehabt, und er hatte auf ihr Angebot gespuckt.
Flay hielt ihre Wut nur noch mit Mühe im Zaum. »Du machst einen großen Fehler.«
»Vielleicht den schlimmsten, den ich gemacht habe, seit ich es versäumte, dir in London den Kopf abzureißen.« Er konnte spüren, wie das Blut aus seinem schwächer werdenden Körper sickerte, und hielt sich betont aufrecht, damit sie seine Schwäche nicht ahnte. »Geh! Ich werde es dir nicht noch einmal sagen.«
Ihre Augen wurden zu kochendem Stahl. Abrupt drehte sie sich um und flog nach Süden, gefolgt von ihrer Eskorte.
Gareth blieb, wo er war, bis sie nur noch entfernte Punkte am Himmel waren. Dann verließ ihn seine Kraft, und die Dichte und Schwere seines Körpers nahm zu. Hilflos trieb er der Erde weit unter ihm entgegen, und sein tropfendes Blut erreichte sein Ziel vor ihm.