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London war ein Leichenhaus.
Adele roch die Stadt, lange bevor sie sie sah. Trostlose Stunden waren verstrichen, in denen sie in der Kabine des armseligen Luftschiffs eingesperrt gewesen war, mit nichts als den Gedanken an ihren armen Bruder, um ihr Gesellschaft zu leisten. Bei Sonnenaufgang erlaubte man ihr, unter wachsamen Augen an Deck zu kommen. Sie hüllte sich in eine stinkende Decke, um das Zittern in Schach zu halten, das nur zum Teil von der feuchtkalten Luft herrührte.
Als der Schatten des Luftschiffs von der schiefergrauen See auf das wogende Grün Südenglands glitt, keimte ein Funken Faszination in Adele auf, der sie dankbarerweise von ihrer Lage ablenkte. Das Land weit unter ihr war das Land ihrer Vorfahren, ein Reich der Legenden und Helden, das von ihrer Familie in hohen Ehren gehalten wurde. Natürlich war kein Mitglied der kaiserlichen Familie je in Großbritannien gewesen, doch in den chaotischen Jahren der Vampirangriffe waren viele Reliquien und Kunstschätze heimlich fortgeschafft worden. Im kaiserlichen Palast in Alexandria hingen Gemälde der englischen Landschaft, die für Adele genauso gut einen anderen Planeten hätten darstellen können. Doch nun blickte sie auf diese mythische Landschaft hinunter. Sie war verwildert seit jenen großen Tagen der edlen Gutsherren, die ihre preisgekrönten Färsen vorführten, doch man konnte die Konturen der Felder und Weiden aus der Luft immer noch erkennen. Städte und Dörfer allerdings lagen in Ruinen und waren größtenteils verlassen, nur selten und vereinzelt verrieten dünne Rauchfäden die Existenz der menschlichen Herden der Vampire.
Plötzlich wurde Adele von einem fürchterlichen Gestank überwältigt. Sie hustete und hielt sich die widerliche Decke vors Gesicht. Nichts, was sie je erlebt hatte, kam dem ekelerregenden Geruch gleich, der zu ihr emporwehte – nicht einmal die Elendsviertel von Kairo im Sommer. Der Grund für den Gestank tauchte am nördlichen Horizont auf. Ein dunkler Umriss kauerte am glänzenden Band eines Flusses. Es war London, die große Stadt. London, der Sitz des Vampirclans, der Großbritannien regierte.
Es gab viele Berichte über das London des neunzehnten Jahrhunderts, wie es ausgesehen hatte, bevor die Vampire kamen. Die junge Prinzessin war von den Beschreibungen und Bildern der Pracht dieser Stadt verblüfft gewesen. Es war das Zentrum von Kunst, Wissenschaft und Technologie gewesen, das Zentrum der Welt. Jetzt war es das Herz eines leichenhaften Königreichs. Vor Jahrhunderten hatten sich Reisende oft beklagt, dass London stank, nach Rauch und Chemikalien und dichten Menschenmengen. Adele konnte bezeugen, dass es immer noch grauenhaft roch, doch nun war es der Gestank nach Blut und Verwesung.
Sie hatte eine ziemlich klare Vorstellung davon, was sie gleich sehen würde. Seit Jahren erreichten entsetzliche Berichte über den elenden Zustand der großen Städte Nordeuropas den Süden. Adele waren Schauer über den Rücken gelaufen, wenn sie die grausigen Kommuniqués in ihren warmen, nach Zitronen duftenden Gärten gelesen hatte. Doch diese Berichte hatten die Prinzessin in keinster Weise auf die instinktive Reaktion vorbereitet, die sie überfiel, als ihr die eigenen Sinne den Beweis lieferten.
Das marode Luftschiff sank tiefer und näherte sich den Kirchtürmen und Kuppeln und den grässlich schiefergrauen Gebäudekomplexen. Adele sah dunkle Hügel, die auf den Alleen, Straßen und Gassen verstreut waren. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich bei diesen Hügeln um Leichenhaufen handelte. Die weiten Plätze und engen Höfe der Stadt waren mit Knochen übersät. Die Themse hatte gerade Ebbe, und als das Luftschiff darüberglitt, sah Adele weiße Oberschenkelknochen und Rippen aus dem Morast entlang der Uferlinie ragen. Fast alle Glasfenster der Stadt waren zerbrochen, bis auf einige der bunten Bleiglasfenster von Westminster, erstaunlicherweise. Grünes Gras spross zwischen den Pflastersteinen hervor, während üppige Kletterpflanzen ungehindert Gebäude überwucherten und Statuen von einstmals bedeutenden Menschen verhüllten. Das Luftschiff glitt über das eingestürzte Dach des Parlamentsgebäudes hinweg. Dunkle Gestalten klammerten sich an die Außenseite der von Efeu erstickten Ruinen des Uhrturms Big Ben und erhoben sich in die Luft wie Schmeißfliegen von einem Kadaver. Adeles Herz raste vor Entsetzen und Verzweiflung angesichts so vieler von ihnen.
Der Kapitän des Luftschiffs brüllte Befehle und riss Adele aus ihren düsteren Gedanken. Die Blutdiener kletterten in die Takelage. Das Schiff reffte die Segel, krängte leicht und begann langsam, über einer ausgedehnten Ansammlung von Bäumen, an denen gerade die ersten Blätter des Frühlings sprossen, beizudrehen. Das Land unter ihnen war einst ein Park gewesen, doch nun hatte man es eingezäunt, und der Boden zwischen den Bäumen war braun und zertreten. Dann sah Adele, warum. Herden von Menschen, nackt oder in Lumpen gehüllt, schlurften ziellos zwischen den Bäumen umher – Nahrung für die Vampirlords der Stadt. Nur wenige von ihnen machten sich die Mühe, zu dem vorbeiziehenden Schiff hochzublicken. Dann kehrten sie schnell wieder dazu zurück, herumzuwandern oder aus einem Teich zu trinken. Ihre verständnislosen Gesichter waren, selbst aus der Entfernung betrachtet, ausdruckslos wie die von Vieh. Adele wurde übel.
Das Luftschiff kam über dem ausgedehnten, baufälligen Buckingham Palace zum Stillstand. Eine einsame Gestalt stieg vom Dach des Palastes auf, ergriff mit erstaunlicher Anmut die Wanten des Luftschiffs und schwang sich an Bord. Es war Flay. Plötzlich erfasste Wut Adele bei der Erinnerung an ihren Bruder, der achtlos wie ein Spielzeug gegen einen Baum geschleudert worden war, und an das gleichgültige Abschlachten der Menschen, die sich nichts dabei gedacht hatten, ihr als Greyfriars Schützling Unterschlupf zu gewähren. Die Blutdiener wichen schlurfend vor Flay zurück, die nun einen schweren Brokatrock mit breiten Manschetten trug. Er war von einem grellen Grün, das ihre blasse Haut noch fahler leuchten ließ.
»Prinzessin Adele«, sagte die Vampirin. »Willkommen in London.«
Adele ignorierte die Kälte des frühen Abends und ließ die Decke fallen. Es widerstrebte ihr, irgendeine Art von Bequemlichkeit von ihrem Feind anzunehmen. Verächtlich starrte sie der Frau in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. Die kaiserliche Erbin würde der Vampirin nicht die Genugtuung geben, ihre Angst zu zeigen. Nun war es an ihr, das souveräne öffentliche Gesicht nachzuahmen, das ihr Vater während persönlicher Krisen zur Schau trug.
Langsam beugte sich Flay vor und hob die Decke auf. Die Kreatur erwiderte Adeles kalten Blick und warf das Stück Stoff mit kühler Absicht über die Reling. »Prinzessin, ich werde dich nicht länger mit Bequemlichkeit belasten. Ich bin Flay, Kriegsführerin von Prinz Cesare, dem Lord von Irland. Und du bist seine Gefangene.«
Im Dämmerlicht wanderte Adele in einem schmutzigen Außenhof des Towers von London auf und ab, wo man sie ohne weitere Worte abgeladen hatte. Zahlreiche Vampire kauerten auf den Zinnen und sahen mit animalischer Neugier zu ihr herunter. Ein Blutdiener, der einen großen Sack über der Schulter trug, kam aus einer düsteren Türöffnung. Er starrte sie ebenfalls an, aber verstohlen unter gesenkten Brauen wie ein geborener Diener. Der erbärmliche Knecht leerte den Sack mit skelettierten Überresten auf einen Wagen, der bereits voller Knochen war, und schien etwas zu ihr sagen zu wollen, falls er überhaupt zu richtiger Sprache fähig war. Doch dann fehlte ihm der Mut. Adele war dankbar, nicht mit diesem abstoßenden Wesen kommunizieren zu müssen. Zwei Blutdiener stemmten sich mit den Schultern gegen den Wagen und schoben ihn unter einem Torbogen hindurch aus ihrem Blickfeld. Krähen erhoben sich unter aufgeregtem Geschrei von den zerbröckelnden Ruinen und folgten dem quietschenden Knochenkarren.
Als sich Adeles Blick zu den schwarzen Vögeln hob, bemerkte sie zwei Vampire, die über die Mauer auf sie zu schwebten. Einer davon war die Kriegsführerin Flay, der zweite ein feingliedriger Mann, der einen annehmbar förmlichen Anzug mit einem langen Schwalbenschwanzfrack trug. Der Vampir war einige Zentimeter kleiner als Flay, doch als sie geräuschlos auf dem Kopfsteinpflaster landeten, zeigte die Vampirin ihre Ehrerbietung, indem sie ein wenig Abstand hielt.
»Ich bin Cesare«, sagte der Mann, während er langsam an Adele vorbeischritt.
Das war er also. Die Prinzessin starrte ihn an. Cesare. Diese Kreatur hatte jede lebende Seele in Irland umgebracht. Er war eines der größten Monster in der Geschichte. Und sie befand sich in seiner Gewalt. Sie fragte sich, welches Spiel er wohl spielte. Hätte man sie als Nahrung gefangen, wäre sie inzwischen sicher nur noch eine ausgesaugte Hülle. Vielleicht wollte Cesare sie für sich selbst. Möglicherweise hatte er vor, sie langsam zu Tode zu foltern. Es war unmöglich zu ahnen, was im Kopf eines dieser Tiere vor sich ging. Doch Adele war sich sicher, dass sie ihnen nicht das Vergnügen gönnen würde, sie betteln oder weinen zu sehen.
Flay forderte Adele auf, Cesare zu folgen. Sie betraten den Gang, aus dem der Blutdiener eben die Knochen getragen hatte. Die Prinzessin folgte den leichten Schritten des Vampirs eine steinerne Treppe hinauf in einen kalten, düsteren Raum, der bis auf einen Strohhaufen in einer Ecke völlig leer war. Wie rücksichtsvoll, dachte sie grimmig, als sie die Kammer musterte, die Überreste der vorherigen Bewohner zu beseitigen.
»Ich werde ein Feuer brauchen, wenn ihr wollt, dass ich am Leben bleibe«, schnauzte Adele. Cesare wandte sich jäh vom Fenster ab, eindeutig überrascht darüber, dass sie Forderungen stellte. Adele war zufrieden mit dieser Reaktion und fragte scharf: »Was wollt ihr von mir?«
»Ah, gut«, antwortete Cesare und verschränkte die Finger vor der Brust. »Ich will zwei Dinge. Zuerst erzähl mir alles, was du über die Kriegspläne Equatorias weißt. Dann erzähl mir von euren Spionen in Großbritannien.«
Adele lachte, zum Teil aus Erleichterung darüber, dass er Informationen wollte, und nicht nur das Vergnügen, ihr Qualen zuzufügen. »Du weißt nichts über mich, aber ich kann dir versichern, ich werde dir auch nichts erzählen.«
Cesare legte den Kopf schief und antwortete schnell. »Prinzessin Adele, du bist neunzehn Jahre alt. Du wurdest in Alexandria geboren. Deine Mutter, die Kaiserin Pareesa, starb, als du sieben warst, bei der Geburt deines verstorbenen Bruders Simon, Prinz von Bengalen. Dein Vater ist Kaiser Constantine, der Zweite dieses Namens und der Dritte seiner Linie. Sowohl er als auch eure Regierung sind bestürzt über die Aussicht, dass du, eine Frau, seinen Thron erben wirst. Sie befürchten, dass du nicht fähig bist zu regieren und dass unter deiner schwachen Hand die Zerbrechlichkeit des Reiches ersichtlich wird und es in einer Reihe von Rebellionen und Abspaltungen zerfällt. Um eine solche Katastrophe zu verhindern, wurde arrangiert, dass du den Schlächter von St. Louis heiratest, einen …«, Cesare verzog angewidert die Lippen, »… Kriegshelden der Amerikanischen Republik. Diese Verbindung zwischen dir und dem berüchtigten Mörder wird einen Mann auf den Thron setzen und eine Allianz zwischen dem equatorianischen Reich und der Amerikanischen Republik schaffen. Derart vereint, indem man dem verdammten Clark deine kostbare Unschuld opfert, werden die beiden größten Menschenstaaten einen Krieg beginnen, um mein Volk vollständig zu vernichten. Bitte korrigiere mich, falls ich mich in irgendeiner Sache irre.«
Adele lachte erneut. »Es tut mir leid, aber einem Vampir dabei zuzusehen, wie er über Politik spricht, ist so, als würde man einem Affen ein Kleid anziehen und ihn eine Herzogin nennen.« Doch genaugenommen hatte sich der Vampir nicht geirrt. Während manche der Informationen, die Cesare enthüllt hatte, allgemein bekannt waren, erschreckte sie der Gedanke, dass dieser Vampir über ihre persönlichen Angelegenheiten Bescheid wusste. Außerdem war sie zunehmend irritiert von Cesares Menschlichkeit. Vorausgesetzt, die scharfen Fingernägel waren verhüllt, würde diese Kreatur keine ungebührliche Aufmerksamkeit erregen, wenn sie mit einer Tasse Kaffee und einer Zeitung entspannt in einem Café in Alexandria säße.
Ihr Unbehagen musste Adele ins Gesicht geschrieben stehen, denn Cesare lächelte und enthüllte dabei scharfe Zähne. »Affen und Herzoginnen ungeachtet, bin ich gut informiert, Prinzessin. Ich weiß, dass sich eure schwer bewaffneten Kriegsschiffe um die Türme der Flughäfen von Port Said und Malta drängen. Ebenso bin ich darüber im Bilde, dass auf Kuba und Yukatan gewaltige amerikanische Streitkräfte zusammengestellt werden. Außerdem weiß ich, dass eure Leute Spione in meinem Herrschaftsgebiet haben, die wie Käfer umherkrabbeln und sich in den Wäldern verstecken. Einige davon habe ich selbst getötet – nachdem sie mir alles gesagt hatten, was sie wussten. Aber ich will noch mehr wissen. Jahrhundertelanger Überlebenskampf hat unseren Verstand dafür geschärft, welchen Wert Information besitzt.«
»Sogar tollwütige Hunde kämpfen, um zu überleben. Das setzt keinen Verstand voraus.« Adele wandte den Blick ab und starrte auf den Steinboden und ihre von den sandigen Straßen des weit entfernten Alexandria abgewetzten Stiefeln. Sie konnte es nicht ertragen, das hämische Gesicht der Kreatur zu sehen, die Hunderttausende abgeschlachtet hatte. Die junge Frau versuchte, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen und ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen. Cesares Fragen über Spione deuteten darauf hin, dass Geomanten womöglich wirklich existierten oder dass die Vampire zumindest glaubten, menschliche Agenten würden im toten Norden operieren.
Cesares Augenbrauen hoben sich erneut, diesmal, um ihm eine täuschend aufrichtige Fassade zu geben. »Die Meinung eines Menschen bedeutet mir nichts. Tatsächlich hat die menschliche Meinung allgemein seit mehr als einem Jahrhundert keine Bedeutung mehr. Sag mir, erstaunt es eure Gelehrten, dass wir weniger als fünf Jahre brauchten, um die größten Gesellschaften zu zerstören, die eure Art zu bieten hatte. Gesellschaften, die über viele Jahrhunderte hinweg entstanden waren? Fünf Jahre! Nur ein Sekundenbruchteil für uns. Du bist neunzehn. Ich bin fast dreihundert Jahre alt. Und ich werde über achthundert Jahre alt werden. Ich habe an dem Großen Morden teilgenommen. Was du nur als entfernte Geschichte kennst, daran erinnere ich mich mit Genuss.«
Das Lächeln des Vampirs schwand, und er machte ein paar leise widerhallende Schritte auf Adele zu. »Ich verachte eure schwache, gescheiterte Kultur. Maschinen. Bücher. Wozu sollen sie gut sein? Ich benutze eure Namen, weil es mich amüsiert. Ich trage eure Kleider, weil es mich amüsiert. Ich spreche zwölf eurer Menschensprachen, weil es mich amüsiert. Wie viele sprichst du? Eine? Zwei? Aber ich brauche keine Bücher, um sie zu lernen. Ich brauche keine Werkzeuge, um die Welt zu beherrschen.« Cesare war nur wenige Zentimeter größer als Adele, und erneut legte er spöttisch den Kopf schräg, als sie seinem Blick trotzig standhielt. Er hob die Hand, und rasiermesserscharfe Nägel glitten langsam mit einem schwachen, schmatzenden Laut aus seinen Fingerspitzen. »Das hier sind meine Werkzeuge.« Cesare spreizte die krallenbewehrten Finger leicht vor seinem eiskalten Gesicht. »Und das hier. Von hier aus kann ich einen Vogel über dem Ozean sehen. Ich kann Blut riechen, das Meilen entfernt vergossen wird. Ich kann den Wind reiten und zu einem Schatten werden. Ich kann dein Herz schlagen hören. Ich brauche keine Technologie. Als wir uns erhoben, stellten wir uns euch Menschen und euren Maschinen. Eure Kanonen waren nicht mächtig genug. Eure Schiffe und Züge waren nicht schnell genug. Eure Häuser und Paläste waren nicht stark genug. Keine eurer Schöpfungen konnte euch vor mir bewahren. Ich tötete alle von euch, die mir in die Hände fielen, und ich trank euer Blut. Und das werde ich wieder tun, wenn die Zeit gekommen ist.«
Adele blieb stumm. Sie würde mit diesem Ding kein Wort mehr wechseln. Sie hatte keinen Grund, zu streiten oder zu diskutieren. Schweigen würde ihre Waffe werden. Wenn er sie umbrachte, dann sollte es eben so sein.
Cesare zog seine Krallen wieder ein. »Erzähl mir von den Kriegsplänen Equatorias.«
Adele kehrte ihm den Rücken zu und wartete mit angehaltenem Atem auf einen Schlag von hinten.
Mit ruhiger Stimme sagte Cesare: »Erzähl mir von euren Spionen.«
Sie trat ans Fenster, das Cesare vorhin verlassen hatte. Die Sonne ging unter, und die Stadt ergab sich derselben kalten Dunkelheit, die sie jede Nacht tötete. Adele schloss die Augen vor dem unfassbaren Gedanken, ihre erste Nacht an diesem schrecklichen Ort zu verbringen. Die erste Nacht. Das implizierte, dass es viele sein würden. Es war schlimmer als die Angst vor dem Tod.
Sie hörte, wie sich Cesares Schritte in Richtung Tür bewegten, gefolgt von zischenden Worten, die er zu Flay sagte. Und Adele konnte sie verstehen. Die schroffen, fauchenden Laute ergaben einen gewissen Sinn für sie. Sie wusste nicht wie, aber das Erlernen von Sprachen war ihr schon immer leichtgefallen. Adele konnte in dem abstoßenden Fauchen zwar keine konkreten Worte erkennen, doch sie erfasste die Bedeutung und die Absicht.
Cesare wies Flay an, der Prinzessin »gebratenes Fleisch« zu bringen, und Adele wusste, dass der Ausdruck Menschenfleisch bedeutete. Das war zweifellos Cesares Vorstellung von einem Witz. Es ekelte sie so sehr, dass es ihr dankenswerterweise den Bärenhunger verschlug. Wenn sie sie am Leben halten wollten, würden sie letztendlich Brot oder Gemüse auftreiben müssen.
Als Flay die gewundene Steintreppe nach unten glitt, sagte Cesare zu Adele, diesmal in ausgezeichnetem Arabisch: »Ich gebe dir zu essen. Und ich werde dafür sorgen, dass du ein Feuer hast. Wenn wir uns morgen unterhalten, wirst du mir sagen, was ich wissen will, und dann wirst du nach Hause zurückkehren. Diese Tür bleibt unverschlossen. Ich hoffe, du gibst alle Gedanken an Flucht auf, falls du welche hegen solltest. Es gibt keine Möglichkeit. Ich habe bemerkt, dass du einen auffälligen Ring trägst, zweifellos ein Geschenk von Senator Clark. Ich habe ihn dir deshalb nicht weggenommen, weil er dir gehört und wir eure eigentümlichen menschlichen Vorstellungen von Besitz respektieren. Aber in meinem Reich unterscheidet sich selbst der strahlendste Diamant nicht von einem gewöhnlichen Stein, den man auf der Erde findet. Du wirst ihn gegen nichts eintauschen können. Er hat keinen Wert für Vampire, und ebenso wenig, das kann ich dir versichern, für die Menschen unter uns.«
Adele sah weiter unverwandt aus dem Fenster auf den schimmernden Fluss hinaus und auf die dunklen Umrisse, die in seinen Wellen trieben. Ihr Verstand kehrte zurück zu ihrer ehemaligen Welt in Alexandria, die zur selben Zeit existierte wie diese. Simon, der auf die Bäume in seinem Garten kletterte, ihr Plätzchen in der Bibliothek, milde Frühlingstage mit Luft, die nach Zitronen und Flieder duftete, warmer Sand und das endlose Dröhnen und Rauschen der Brandung.
Adeles Hände berührten kalten Stein, und verzweifelt ließ sie die schmerzenden Schultern sinken.
»Ja, ruh dich aus, Prinzessin«, sagte Cesare mit falscher Liebenswürdigkeit.
Schnell straffte Adele den Rücken wieder, doch ihre Reaktion war offensichtlich gewesen. Sie war wütend darüber, vor diesem Ding Schwäche gezeigt zu haben. Dennoch lehnte sie es ab, sich umzudrehen, und bald hörte sie den Klang seiner sich entfernenden Schritte.
Den Rücken an die Wand gelehnt, rutschte sie zu Boden. Die Dunkelheit reduzierte ihre Welt auf eine bloße Armeslänge. Beinahe war sie dankbar dafür. Sie wollte nicht sehen, was dort draußen lauerte. Es war ohne Ausnahme böse. Etwas Böses, das sie verachtete.
Equatoria würde das nicht dulden. Ein Vergeltungsschlag würde folgen, sobald sich die Armeen zur Rache gesammelt hatten. Das wusste Adele ohne jeden Zweifel. Und ohne Zweifel würden die Amerikaner kommen und die bestrafen, die es gewagt hatten, die zukünftige Frau ihres berühmtesten Vampirtöters zu entführen. Sicher war Senator Clark nicht der Typ Mann, der einen solchen Affront hinnahm.
Außerdem war da noch Greyfriar mit seiner unheimlichen Fähigkeit, aus den Schatten aufzutauchen und sie aus der sich ausbreitenden Dunkelheit zu retten. Sie vermisste seine unerschütterliche Gegenwart, die ihr Hoffnung schenkte, wo es keine gab. Seine Abwesenheit ließ die Zeit vor ihr wie einen riesigen Abgrund aufklaffen.
Dennoch, ganz unabhängig davon, welche Aktionen in Gang gesetzt wurden oder bereits im Gange waren, bedeutete das wenig für Adeles Leben. Ihr Schicksal war besiegelt. Cesare würde sie niemals freilassen, und er würde sie töten, sobald der erste Mensch seinen Fuß auf englischen Boden setzte. Das war Gewissheit. Schließlich würde sie mit einem Gefangenen seiner Art dasselbe tun.
Adele hatte nicht die Absicht, wie eine arme, kleine Prinzessin herumzusitzen und darauf zu warten, dass dieser Augenblick kam. Cesare und seine Sippe würden einen schrecklichen Preis bezahlen. Sie würde den Vampirstaat mitten ins Herz treffen. Zweifellos würde Cesare häufig in ihre Reichweite kommen. Vielleicht, wenn sie es richtig anstellte, konnte sie nahe genug an den König, Dmitri, herankommen. Was für ein traumhafter Schlag das wäre! Adele schwor sich, dass sie dem verdorbenen Clan zu diesem wichtigsten Zeitpunkt in der Geschichte den Kopf abschlagen würde. Das würde den dreckigen Hofstaat ins Chaos stürzen und ihn verwundbar machen für die Kriegsmaschinerie, die bald von Süden über die Vampire hereinbrechen würde.
Adele wurde es leicht ums Herz. Mit einem Mal hatte sie keine Angst mehr vor dem Weg, der sich bedrohlich vor ihr abzeichnete. Stattdessen erfüllten sie Aufregung und Erwartung wie ein Rausch, und sie hieß die schwache Wärme willkommen, die sie mit sich brachten und die die Kälte des grauenhaften London verdrängte.
Ihre Hand wanderte zu ihrer Schärpe, in der leider der Dolch ihrer Mutter fehlte.
Sie brauchte eine Waffe.