Freitag, 30. Juli

1

Das Haus lag so dunkel und schweigend, als sei es verlassen. Schwarze Fenster, nirgends ein Lichtschein. Nichts bewegte sich. Nur die Bäume entlang des Zauns im Vorgarten raschelten leise im Nachtwind.

Inga näherte sich von der Vorderseite. Der umständliche Weg über Klippen und Strand hätte ihre Lage auch nicht verbessert, er hätte sie nur Zeit gekostet und ihr Kräfte abverlangt, über die sie nicht mehr verfügte.

Es ist ja auch gleich, von welcher Richtung aus ich in mein Verderben laufe, dachte sie. Sie hätte gern nach Maximilian oder Rebecca gerufen, wagte es aber nicht, solange sie keine Ahnung hatte, was geschehen war. Sie nutzte den Schutz der Bäume, um das Haus zu erreichen. Als sie mit den Händen die dicken, steinernen Mauern berührte, merkte sie erst, dass sie auf den Metern durch den Garten nicht geatmet hatte.

Direkt über ihr befand sich das eingeschlagene Fenster der Toilette. Marius hatte es wieder geschlossen, aber es sollte kein Problem sein, hineinzugreifen und es zu öffnen. Dennoch wollte sie es zuerst bei der Haustür versuchen, die ein paar Schritte weiter lag; sollte sie unverschlossen sein, bot sie jedenfalls die Möglichkeit zu einem leiseren Eintreten.

Die Klinke ließ sich hinunterdrücken, aber die Tür gab nicht nach. Sollte das bedeuten, dass Marius ihr Verschwinden noch immer nicht bemerkt hatte? Denn sonst wäre er doch sicher hier vorn herausgestürmt und hätte bei seiner Rückkehr nicht wieder sorgfältig abgeschlossen. Möglich, aber es konnte sich auch ganz anders verhalten haben. Er war gleich durch die Terrassentür hinausgelaufen, hatte nach ihr gesucht, und war dann dort auch wieder hineingegangen.

Müßig, darüber nachzudenken. Sie hatte einfach keine Ahnung. Es brachte sie nicht weiter, sich ständig Szenarien auszudenken, um sich innerlich auf irgendetwas einzustellen. Denn sie stocherte im Nebel, und jedes Bild, das sie entwarf, musste sie sogleich wieder beiseite legen.

Da sie eine instinktive Angst davor hatte, das Wohnzimmer zu betreten – was wusste sie schon, wer sich dort vielleicht aufhielt –, entschied sie sich nun doch für den Weg durch das Toilettenfenster. Es bereitete ihr keine Probleme, das hoch gelegene Fenster zu öffnen, sie war zum Glück groß genug. Als wesentlich schwieriger erwies es sich, die Kraft zu finden, um sich mit einem Klimmzug auf das Fensterbrett hochzustemmen. Sie sah sich um, ob irgendetwas herumstand, das sie als Tritt benutzen konnte, aber da war nichts, und es wäre zu gefährlich gewesen, lange herumzusuchen. Also musste es so gehen. Wäre da nur nicht das Gefühl gewesen, dass sich alle ihre Muskeln in geschmolzene Butter aufgelöst hätten.

Beim vierten Anlauf war sie oben und schaffte es, ihr rechtes Bein nach innen zu schwingen, so dass sie nun rittlings im Fensterrahmen saß. Ihr Herz raste von der Anstrengung, sie war schon wieder klatschnass, und ihre Beine zitterten so, dass sie zehn Minuten verharren musste, ehe sie an den Abstieg denken konnte. Jedenfalls glaubte sie, es seien zehn Minuten gewesen. Im Grunde hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren und meinte nur, dass alles, was sie tat, atemberaubend langsam geschah.

Endlich rutschte sie auf der Innenseite hinunter, kam mit den Füßen auf der Toilette zu stehen und stieg von dort auf den Fußboden. Zu spät fiel ihr ein, dass dort noch alles voller Glasscherben lag. Erst ein scharfer Schmerz in ihrem rechten Fuß brachte ihr diesen Umstand ins Gedächtnis. Sie jammerte leise auf und fühlte warmes Blut zwischen ihren Zehen hindurchquellen. Als ob ihre Lage nicht auch so schon schlimm genug gewesen wäre, hatte sie sich nun auch noch eine erhebliche Verletzung zugezogen.

Sie sank auf die Toilette und wickelte sich aus dem Toilettenpapier einen dicken Verband um den Fuß, wozu sie fast die ganze Rolle verbrauchte. Vermutlich würde dieses Provisorium nicht lange halten, aber für den Moment blieb ihr keine andere Möglichkeit.

Sie humpelte hinaus in den Flur. Auch hier brannte kein Licht, aber durch die Küche fiel Mondschein herein, und sie konnte in Umrissen die Möbel sehen und die Treppe, die nach oben führte. Es herrschte völlige Stille.

»Maximilian?«, wisperte sie, und dann: »Rebecca?«

Aber natürlich antwortete niemand; sie hatte die Namen beinahe lautlos gehaucht, und selbst jemand, der sich in der Nähe aufgehalten hätte, hätte sie nicht hören können.

So leise sie konnte, schlich sie die Treppe hinauf, wobei sie den schneidenden Schmerz in ihrem Fuß zu ignorieren versuchte. Ebenso den Umstand, dass sich der dürftige Verband aus Klopapier schon nass und klebrig anfühlte und offenbar bereits restlos durchweicht war. Vielleicht würde sie in dieser Nacht hier in diesem Haus verbluten, aber sie dachte, dass das wohl keinerlei Rolle mehr spielte.

Auch oben brannte nirgends Licht, und sie fragte sich, wer es wohl überall im Haus gelöscht hatte. Marius? Maximilian? Und warum?

Sie spähte ins Badezimmer, dann in das kleine Arbeitszimmer. Weiß glänzte der Computer im Mondlicht.

»Maximilian?«, flüsterte sie erneut.

Am Ende des Ganges lag Rebeccas Schlafzimmer, gleich neben der Treppe, die zum Gästezimmer unter dem Dach führte. In ihrem Schlafzimmer war Rebecca zwei Nächte zuvor von Marius überwältigt worden. Hier hatten sich die Hauptstücke des Dramas abgespielt. Hier konnte absolut Entsetzliches auf sie warten.

Inga schob langsam und voller Angst die Tür auf.

Auf dem Fußboden mitten im Zimmer lag eine Gestalt. Sie hörte ein leises, keuchendes Atmen; es klang, als ringe jemand um jeden Atemzug.

»Rebecca?«

Es kam keine Antwort. Nichts war zu hören als das stoßweise Kämpfen um Atem.

Sie huschte ins Zimmer, kauerte neben der Gestalt nieder. Im Schein des Mondes erkannte sie Marius’ kalkweißes Gesicht, das von Schweiß überströmt war. Sein ungewaschenes, stinkendes T-Shirt war nass und roch durchdringend nach Blut. Marius lag hier im Zimmer, schwer verletzt, und verblutete. Sein Atem hörte sich an, als ringe er mit dem Tod.

»Marius«, flüsterte sie. Sie hob seinen Kopf ein wenig an, suchte nach einer Regung in seinem Gesicht. Aber er war wohl bewusstlos, er reagierte nicht auf sie. Sehr vorsichtig legte sie seinen Kopf wieder auf den Boden, nahm seinen Arm hoch und fühlte seinen Puls. Er war schwach und langsam.

Trotz allem, was er getan hatte: Er war ihr Mann, sie hatte ihn geliebt, hatte mit ihm gelebt. Sie konnte ihn nicht hier liegen und sterben lassen.

Wo, zum Teufel, waren Maximilian und Rebecca? Offenbar war Maximilians Vorhaben geglückt, er hatte Marius außer Gefecht gesetzt. Auf welche Weise eigentlich? Hatte er ein Messer gehabt? Eine so stark blutende Wunde konnte man nur mit Hilfe einer Waffe herbeiführen. Oder einer Pistole? Aber dann hätte sie einen Schuss hören müssen. Außerdem hätte er es ihr sicher gesagt, wenn er bewaffnet gewesen wäre. Oder auch nicht. Entnervt und ausgelaugt, wie sie gewesen war, hätte er vielleicht vorsichtshalber überhaupt nichts gesagt.

Draußen im Gang schaltete sie das Licht ein. Sofort sah alles um sie herum normaler, vertrauenerweckender aus. Der weiße hölzerne Schrank, der gewebte Läufer, das Bild an der Wand, das ein Lavendelfeld zeigte … alles war vertraut und friedlich. Und doch lag dort hinten in dem Zimmer ihr Mann, schwer verletzt, um Atem ringend, und er hatte möglicherweise zwei alte Leute, seine Pflegeeltern, auf grausame Weise umgebracht. Es war unvorstellbar. Inga konnte spüren, dass sie über dieser Information in eine Art Schock geraten war, dass das ungeheuerliche Ausmaß dieser Nachricht noch gar nicht wirklich von ihr begriffen wurde. Irgendwann würde sie über all dem, was in den letzten zwei Tagen geschehen war, zusammenbrechen. Dann, wenn der Albtraum endlich vorüber wäre.

Aber war er das nicht schon? Marius stellte keine Gefahr mehr dar. Rebecca war frei. Warum wurde sie, Inga, das Gefühl einer Bedrohung nicht los?

Sie humpelte die Treppe hinunter. Sie konnte sehen, dass ihr Verband am Fuß blutgetränkt war. Wahrscheinlich hinterließ sie rote Abdrücke auf ihrem Weg nach unten. Oben schwamm Marius in seinem Blut. Am Schluss würde dieses Haus einem Schlachthof ähneln.

Sie schaltete auch im unteren Flur das Licht an. Jetzt erst fiel ihr auf, wie durchdringend es hier nach Angebranntem roch. Sie warf einen Blick in die Küche. Auf dem Herd, den irgendjemand inzwischen ausgeschaltet hatte, stand ein Kochtopf mit einer undefinierbaren, schwarz verkohlten Masse darin. Sie erinnerte sich, dass Marius gerade zu kochen begonnen hatte, als sie geflüchtet war.

»Rebecca!«, rief sie. »Ich bin es, Inga! Maximilian! Wo seid ihr?«

Sie hatte das Wohnzimmer erreicht, öffnete die Tür.

Ihre Augen mussten sich an das Dämmerlicht gewöhnen. Die Fensterläden waren geschlossen, kein Mondlicht sickerte ein, aber es brannten ein paar Kerzen. Auf dem Stuhl, auf dem Inga so viele Stunden gefesselt, elend und gequält gesessen hatte, saß nun Rebecca. Sie war nicht gefesselt, aber sie sah entsetzlich aus, was sogar in der seltsam schummrigen Beleuchtung zu erkennen war. Strähnige, wirre Haare, kreidebleich, tiefe Ringe unter den Augen. Ihr gegenüber, auf einem anderen Stuhl, saß Maximilian.

Das Bild drang langsam und schwerfällig in Ingas Bewusstsein, und sie dachte: Wie seltsam. Wieso sitzen die hier bei Kerzenlicht herum?

Im selben Moment, da sie dies dachte, öffnete Rebecca den Mund. Sie schrie so plötzlich, dass Inga entsetzt zusammenfuhr: »Verschwinde, Inga! Lauf weg! Lauf, so schnell du kannst! Er ist wahnsinnig! Lauf doch weg!«

Sie begriff nicht. Marius konnte keiner Fliege mehr etwas zuleide tun. Wusste Rebecca das noch nicht?

Sie wollte ihr antworten, wollte ihr erklären, dass sie keine Angst mehr zu haben brauchte. Da fiel ihr Blick auf Maximilian. Er hatte eine Pistole in der Hand, und er grinste sie an – krank und gemein.

2

»Wie heißt der Ort?«, fragte Kronborg. »Können Sie mir das bitte buchstabieren?«

Er war eigentlich noch gar nicht richtig wach. Es war kurz nach sieben am Morgen, und er befand sich schon wieder in seinem Büro. Außer ihm war noch kein Mensch in der Abteilung. Es roch nach den Desinfektionsmitteln der Putzkolonne vom Vorabend, und natürlich gab es noch kein Zimmer, in dem jemand Kaffee durch seine Maschine laufen ließ. Kronborg, der nicht gefrühstückt hatte, weil er die Einsamkeit am Frühstückstisch noch weniger ertrug als die beim Abendessen, wusste, dass er dringend einen Kaffee brauchte, um klar denken zu können.

Aber egal. Er hatte die aufgeregte Sabrina Baldini am Telefon und musste einfach auf irgendeine Weise funktionieren.

»Le Brusc«, wiederholte er, »Gemeinde Six Fours. Da sind Sie sicher?«

Sabrina klang hektisch. »Ganz sicher. Ich wusste genau, dass noch irgendwo ein Brief sein musste, den mir Rebecca vor ein paar Jahren aus dem Urlaub geschrieben hatte. Da stand auch der Absender. Ich habe die halbe Nacht gesucht … Rebecca wird so heftig bedroht in den Briefen, und Sie hatten ja auch gefragt …. Ich meine, man muss sie warnen, nicht wahr? Ich bin jetzt richtig erleichtert, dass ich die Adresse gefunden habe. Und dass ich Sie so früh erreichen konnte! Um diese Uhrzeit hatte ich gar nicht damit gerechnet! «

»Ich bin ein Frühaufsteher«, behauptete Kronborg. In gewisser Weise stimmte es auch, aber früher war das anders gewesen, und die Gründe für seine veränderten Lebensgewohnheiten waren alles andere als schön. »Also dort, in Le Brusc, hatte sie ihr Ferienhaus?«

»Ja. Zusammen mit ihrem Mann. Ich meine, die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich dorthin zurückgezogen hat, ist recht groß, weil ihr Mann den Ort so geliebt hat. Natürlich kann man es nicht genau wissen, aber …«

»Aber wir können versuchen, sie dort aufzustöbern«, sagte Kronborg. »Das war ein sehr wichtiger Hinweis, Frau Baldini. «

»Ich bin froh, wenn ich irgendetwas tun kann«, sagte Sabrina, »denn ich mache mir die heftigsten Vorwürfe. Schließlich habe ich damals nicht richtig gehandelt, als der kleine Marius anrief. Rebecca wusste überhaupt nichts davon, und nun gerät sie am Ende noch in Gefahr deswegen.«

»Aber vielleicht können wir die Gefahr rechtzeitig abwenden. Dank Ihrer Hilfe.«

»Ja … hoffentlich«, meinte Sabrina zaghaft. Kronborg hatte feine Antennen, er nahm Schwingungen wahr, die andere gar nicht bemerkten. Diese Fähigkeit war unerlässlich in seinem Beruf. Er spürte, dass Sabrina Baldini noch irgendetwas loswerden wollte, sich aber nicht durchringen konnte, den Anfang zu machen.

»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?«, fragte er. »Etwas, wovon Sie meinen, es könnte wichtig sein?«

»Ich möchte Ihre Zeit nicht stehlen«, sagte Sabrina.

»Es ist kurz nach sieben, ich bin ganz allein, niemand will im Moment etwas von mir. Ich habe Zeit für Sie«, sagte Kronborg. Er musste mit den Kollegen in Six Fours telefonieren, aber vielleicht hatte Sabrina etwas Entscheidendes zu sagen, und wenn er sie auf später vertröstete, fand sie überhaupt nicht mehr den Mut.

»Ich … es hat wahrscheinlich mit all dem gar nichts zu tun, aber … ich muss da immer an etwas denken …«

»Sagen Sie es einfach. Manchmal haben Dinge durchaus etwas miteinander zu tun, auch wenn wir die Verbindungen erst gar nicht sehen«, sagte Kronborg geduldig.

»Nun, Sie wissen ja vielleicht, dass ich von meinem Mann getrennt lebe?«

»Sie erwähnten das, ja.«

»Der Grund für unsere Trennung … also der Grund, weshalb mein Mann mich verlassen hat, war …« Es war Sabrina sichtlich peinlich, mit der Sprache herauszurücken. »Ich hatte vor einem Jahr eine Affäre. Genauer gesagt, vom Dezember des vorletzten Jahres bis zum November letzten Jahres.«

Kronborg begann sich nun ebenfalls zu fragen, wo der Zusammenhang liegen mochte. Vielleicht war sein Tonfall Sabrina gegenüber zu väterlich gewesen. Sie brauchte jemanden, bei dem sie ihr Herz ausschütten und ihr Gewissen erleichtern konnte, nachdem sie elf Monate lang ihren wahrscheinlich völlig ahnungslosen Gatten nach Strich und Faden betrogen hatte.

Frauen können so skrupellos sein, dachte er, aber natürlich wusste er genau, dass ihnen die Männer darin in nichts nachstanden.

»Frau Baldini«, setzte er an, mit einer ersten leisen Ungeduld in der Stimme, die ihr zeigen sollte, dass es nicht seine Aufgabe war, anderen Menschen eine Generalbeichte abzunehmen und ihnen am Ende noch die Absolution zu erteilen. Untreuen Ehefrauen schon gar nicht, da war er viel zu sehr gebranntes Kind.

»Mich beschäftigt der Gedanke, dass ich … diesem Mann von der Sache erzählt habe«, sagte Sabrina hastig. »Von der Sache mit Marius Peters. Das muss natürlich gar nichts bedeuten, aber …«

Kronborg war jetzt wieder ganz wach und hellhörig. »Sie haben Ihrem … Liebhaber von Marius Peters erzählt? Weshalb? Ich meine, so wie ich Sie verstanden habe, war Ihnen die Bedeutung dieses Falles bis jetzt doch gar nicht wirklich bewusst?«

Oder es war dir sehr wohl bewusst, dachte er, und du hast aus Bequemlichkeit geschwiegen? Das würde bedeuten, dass dieser arme kleine Junge damals wirklich von allen und jedem verraten wurde.

»Es war mir auch nicht so bewusst. Aber er … also, mein Freund, er wollte immerzu über Rebecca Brandt sprechen. Am Anfang nicht so sehr, aber es wurde dann immer intensiver. Das war schließlich auch der Grund, weshalb ich die Geschichte beendet habe. Weil ich das Gefühl bekam, dass es ihm überhaupt nicht um mich ging. Sondern nur um Rebecca. «

»Kannte er sie denn? Rebecca Brandt, meine ich?«

»Ja«, sagte Sabrina, »ich habe ihn ja in ihrem Haus kennen gelernt. Bei einer Weihnachtsfeier, die sie und ihr Mann veranstaltet haben. Ich war ohne meinen Mann dort, unsere Ehe lief schon nicht mehr besonders gut … Jedenfalls fing die Geschichte zwischen uns da an. Ich dachte, wir hätten eine Zukunft zusammen, aber … wie gesagt, für mich interessierte er sich irgendwann gar nicht mehr.«

»Das müssen Sie mir jetzt alles ganz genau erzählen«, sagte Kronborg. Seine Müdigkeit und seine Verdrossenheit waren wie weggeblasen. Sein Instinkt sagte ihm, dass hier etwas sein konnte. »Wie heißt der Mann?«

»Maximilian. Maximilian Kemper.«

3

Warum hatte sie nicht gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmte? Warum waren ihr nicht die Ungereimtheiten ins Auge gesprungen? Oder war es einfach so, dass man überhaupt nichts mehr realisierte, wenn man, geschwächt und dem Verdursten nahe, nachts durch einen Wald rannte, auf der Flucht vor einem unberechenbaren und gefährlichen Feind?

Inga wusste nur, dass sie einen furchtbaren Fehler gemacht hatte. Maximilian war ihr Retter in der Not gewesen, und nichts von dem, was er sagte, hatte sie stutzig werden lassen. Er hatte Marius’ Bild in der Zeitung entdeckt, hatte die Geschichte dazu gelesen und erfahren, dass die deutsche Polizei fieberhaft nach ihm fahndete. Wäre es da nicht normal gewesen, bei der Polizei anzurufen und zu sagen, was man wusste? Anstatt sich ins Auto zu setzen und auf eigene Faust nach Südfrankreich zu fahren, was eine Verzögerung von zwölf Stunden bedeutete. Zwölf Stunden, in denen viel geschehen konnte.

Aber natürlich war es das richtige Verhalten, wenn man nie vorgehabt hatte, sich an die Polizei zu wenden.

Und dann sein Handy. Spätestens da hätten alle Alarmglocken bei ihr schrillen müssen. Wie konnte er behaupten, der Akku sei leer, wenn er voll geladen war? Darüber konnte es kein Missverständnis geben. Und wie war es überhaupt möglich, dass der Akku des Geräts nach zwölf Stunden Fahrt, in denen es offenbar weder im Auto angeschlossen noch ausgeschaltet gewesen war, nichts an Ladung verloren hatte? Dieser Umstand ließ darauf schließen, dass Maximilian keineswegs eine so weite Reise hinter sich hatte. Vielleicht war er nie fort gewesen. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit über in der Gegend aufgehalten.

Das Handy war im Moment Ingas einziger kleiner Strohhalm. Es klemmte noch immer unter ihrem Nachthemd, das Metall auf ihrer nackten Haut war inzwischen ganz warm geworden. Solange Maximilian keine Ausbuchtung bemerkte oder das Gerät auf den Boden rutschte – oder im schlimmsten Fall zu klingeln begann –, wusste er nicht, dass sie es hatte. Und damit möglicherweise über einen Kontakt zur Außenwelt verfügen konnte. Es war eine minimale Chance, aber sie hielt sich innerlich daran fest, um nicht in Panik zu geraten.

Allerdings zeichnete sich für den Moment keine Gelegenheit ab, irgendjemanden anrufen zu können. Sie und Rebecca saßen seit Stunden in dem abgedunkelten Zimmer, in dem nur der Kerzenschein ein unheimlich flackerndes Licht verbreitete, in Schach gehalten von Maximilians Pistole, mit der dieser in aufreizend lässiger Weise herumspielte. Rebecca kauerte auf demselben Stuhl wie zuvor. Inga war von Maximilian zu einem Ohrensessel in der Ecke des Zimmers dirigiert worden. Sie saß dort sehr verkrampft, bemüht, sich nicht zu bewegen, um das Handy nicht verrutschen zu lassen. Maximilian, der auf und ab ging, sich gelegentlich setzte, dann wieder aufstand, war in der Hauptsache auf Rebecca konzentriert; es hatte den Anschein, als interessiere ihn Inga nicht wirklich. Allerdings musste sie auf der Hut bleiben. Unvermittelt richtete er zwischendurch auch das Wort an sie, und er schaute auch immer wieder zu ihr herüber. Es war ausgeschlossen, dass sie irgendetwas hätte tun können, was er nicht bemerkte.

Er hatte ihr fast beiläufig erklärt, er habe auf Marius geschossen – ein Kissen hatte verhindert, dass man in der Umgebung etwas hatte hören können –, und wahrscheinlich sei er schon tot.

»Oder auf dem besten Weg dorthin.« Er schaute Inga an. »Sorry. Musste sein.«

Sie hatte versucht zu verstehen, was sich hinter alldem verbarg. »Marius … ist Marius überhaupt gefährlich?«

Maximilian hatte gelacht. Ein kaltes und böses Lachen. »Marius? Der ist ein harmloses kleines Stück Hundescheiße. Ziemlich neurotisch, weil er eine recht hässliche Vergangenheit hat. Aber ansonsten … der tut keiner Fliege etwas zuleide! « Dann hatte er wieder gelacht. »Obwohl mich dein blaues Auge schon beeindruckt. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. «

Sie dachte an Marius auf dem Schiff. Als er sie grob in die Kajüte geschubst hatte. Später, hier im Wohnzimmer, als er sie ohrfeigte. Unschön, furchtbar. Aber wahrscheinlich das Äußerste, wozu er unter einer bestimmten nervlichen Anspannung fähig war. Er war kein Killer. Er hätte weder ihr noch Rebecca jemals ernsthaft etwas zuleide getan. Er hätte sie vor Maximilian beschützt. Nun lag er dort oben in Rebeccas Schlafzimmer auf dem Fußboden und verlor literweise Blut, und wenn nicht sehr bald Hilfe käme, wäre er tot, ehe der Morgen anbrach.

Und wir auch, dachte sie voller Gewissheit, wir sind auch tot, ehe es wieder Abend wird.

4

Kronborg gewann ein Bild. Noch war vieles unklar, manche Konturen verwischt. Dennoch war es, als setze sich langsam ein Puzzle zusammen. Es konnte den Anschein, den die Situation hatte, verändern. Es konnte aber auch unbedeutend sein. Das hätte er nicht so genau zu sagen gewusst. Sicher war nur, dass ein Nerv bei ihm zu vibrieren begonnen hatte, und aus Erfahrung wusste er, dass das selten ohne Grund geschah.

Maximilian Kemper war ein Freund des verstorbenen Felix Brandt gewesen, der beste Freund vielleicht, jedenfalls hatte er sich Sabrina Baldini gegenüber dahingehend geäußert. Er war im Hause Brandt aus und ein gegangen, ganz besonders nach seiner Scheidung, die inzwischen sieben Jahre zurücklag.

»Er hat immer erzählt, dass es eine furchtbare Scheidung war«, hatte Sabrina berichtet, »schmutzig und unversöhnlich. Seine Frau muss ihn finanziell sehr ausgesaugt haben.«

Maximilian war bei der besagten Weihnachtsfeier natürlich allein gewesen, ebenso wie Sabrina Baldini, und als die beiden einzigen Singles waren sie irgendwann fast zwangsläufig miteinander ins Gespräch gekommen. Er flirtete heftig mit Sabrina, gab ihr das Gefühl, sie sei begehrenswert und einzigartig, und Sabrina, in ihrer Ehe schon lange einsam und frustriert, ließ sich mit Haut und Haaren auf ihn ein.

»Ich hätte mich ja gleich von meinem Mann getrennt. Diese ganze Heimlichtuerei lag mir überhaupt nicht. Im Gegenteil, es laugte mich psychisch aus. Ich wurde immer dünner und hatte ständig Magenschmerzen. Aber Maximilian wollte nicht, dass wir unsere Beziehung öffentlich machten. Er hatte dafür immer wieder tausend Gründe und Erklärungen parat. Ich war süchtig nach ihm, ich ließ mir alles einreden. Heute denke ich, er wollte tatsächlich nie etwas von mir. Wäre ich plötzlich frei gewesen, wäre ich ihm viel zu anstrengend geworden.«

Sie hatten sich in Hotels getroffen, in einsamen Gasthöfen, auf abseits gelegenen Parkplätzen. Maximilian war in der Anfangsphase ein aufmerksamer, besorgter und feinfühliger Liebhaber. Er nahm großen Anteil an Sabrinas Leben, wollte immer genau wissen, was sie tat, was sie fühlte. Es fiel Sabrina zunächst nicht auf, dass er sich dabei besonders für ihre Freundschaft mit Rebecca interessierte.

»Freundschaft ist da sowieso zu viel gesagt. Ich hatte einige Jahre in ihrer Kinderschutzinitiative mitgearbeitet. Wir waren Kolleginnen, die sich ganz gut verstanden, aber wir erzählten einander im Grunde keine privaten Dinge. Inzwischen war ich ja auch längst bei Kinderruf ausgeschieden. Wenn sie Partys veranstaltete, wie diese Weihnachtsfeier, lud sie mich noch mit ein, aber das bedeutete letztlich auch nur, dass wir uns vielleicht ein – oder zweimal im Jahr sahen. Ich wusste und weiß wenig über sie.«

Verliebt und vernarrt, wie sie in Maximilian war, hatte sie sich dennoch immer bemüht, seine Neugier, was Rebecca anging, zu befriedigen. Irgendwann war Maximilian unverblümter geworden, hatte immer direkter gefragt. Natürlich hatte sich Sabrina gewundert, hatte wissen wollen, was ihn denn so an Rebecca interessiere.

»Ich dachte, er müsste sie doch viel besser kennen als ich. Schließlich war er so gut mit ihrem Mann befreundet und hielt sich so oft im Haus der beiden auf. Er erklärte, er sei ein so großer Bewunderer von Rebeccas Arbeit, und leider sei sie in diesem Punkt überhaupt nicht gesprächig. Mich wunderte das ein bisschen, denn ich hatte Rebecca immer als einen Menschen erlebt, der sich sehr mit seiner Arbeit identifiziert und gern darüber redet. Ohne dass sie die Namen betroffener Personen genannt hätte natürlich. Sie war immer sehr korrekt.« Sabrina hatte einen Moment geschwiegen. Sie und Kronborg hatten zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Telefon miteinander gesprochen. Er war zu ihr gefahren, sie wohnte glücklicherweise nicht weit entfernt vom Präsidium. In einer ruhigen Nebenstraße, im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses. Zu ihrer Wohnung gehörten eine schöne, große Terrasse und ein sonniger Garten.

»Seit ich die Drohbriefe bekomme, habe ich nach fünf Uhr nachmittags den ganzen Sommer über nicht mehr draußen gesessen«, hatte Sabrina erzählt. Auch jetzt saßen sie einander im Wohnzimmer gegenüber. Sabrina hatte einen starken, sehr guten Kaffee gemacht und ein paar gebutterte Toastscheiben auf den Tisch gestellt. Es war halb acht gewesen.

Endlich Kaffee, hatte Kronborg voller Dankbarkeit gedacht, und sogar etwas zu essen.

Er wusste, dass es richtig gewesen war, Sabrina persönlich aufzusuchen. Für viele Menschen war es viel schwieriger, am Telefon zu sprechen als von Angesicht zu Angesicht. Er würde mehr erfahren, wenn sie ihm in die Augen schauen konnte.

»Ich wollte ihn um keinen Preis verlieren. Ich dachte damals, ich könnte nicht leben ohne ihn.« Zu Geständnissen dieser Art hätte sie sich am Telefon wahrscheinlich nicht hinreißen lassen. »Also kramte ich in meinem Gedächtnis herum nach Details aus meiner Zeit bei Kinderruf. Details über Rebecca natürlich. Über Projekte, die sie inszeniert hatte, Veranstaltungen. Über ihre Erfolge und ihre Fehlschläge. Es … es war viel mehr, als ich hätte sagen dürfen.« Sie hatte ihn ganz verzweifelt angesehen. »Und ich schäme mich heute so dafür.«

Kronborg fragte sich, welch eine Art Mann dieser Maximilian war. Er musste eine starke Faszination auf Frauen ausüben. Denn Sabrina war keineswegs der klassische Opfertyp, der sich verkauft für ein winziges bisschen Zuneigung und Wärme. Sie war attraktiv und selbstbewusst, wenn auch im Moment vom Gang der Ereignisse eingeschüchtert. Die Einrichtung der Wohnung und auch ihre eigene Aufmachung verrieten, dass sie wohlhabend war. Auf den ersten Blick wäre nie ersichtlich geworden, dass sie sich von einem Mann ausnutzen und hinhalten ließ. Kronborg hatte allerdings schon allzu oft erlebt, dass auf diesem Gebiet der äußere Eindruck häufig trog.

»Ich wollte, dass er zufrieden mit mir ist. Aber er forderte nur mehr und mehr …«

»Haben Sie mit Rebecca Brandt darüber gesprochen?«

»Nein! Nein, mit niemandem. Ich war … ich bin ja noch verheiratet. Keine Menschenseele hat erfahren, dass ich ein … ein Verhältnis hatte.«

Kronborg formulierte seine nächste Frage sehr vorsichtig. »Kam Ihnen jemals der Gedanke, dass … nun, dass Maximilian Kempers Interesse an Rebecca über die normale Faszination eines mit ihrem Mann gut befreundeten Fast-Familienmitglieds hinausging? Dass es vielleicht gar nicht so sehr ihr Engagement für Kinder war, was ihn derart reizte? Sondern dass es … die Frau Rebecca war?«

Er hatte natürlich ins Schwarze getroffen. Sabrinas Augen verdunkelten sich.

»Mehr als einmal«, sagte sie heftig, »wirklich, mehr als einmal kam mir dieser Gedanke. Wir redeten ja nur noch über sie! Wir redeten überhaupt nicht mehr über uns. Geschweige denn über eine gemeinsame Zukunft oder darüber, wann wir uns endlich öffentlich zu unseren Gefühlen bekennen wollten. Aber wenn ich etwas davon andeutete, er könne … verliebt sein in Rebecca, wurde Maximilian richtig wütend. Ich bekam dann fast Angst vor ihm. Außerdem fing er an zu drohen, er könne mich jeden Moment verlassen. Das war damals für mich eine entsetzliche Vorstellung.«

Er nickte. Er konnte ihr ansehen, was sie mitgemacht hatte. Sabrina Baldini hatte sehr traurige Augen, und sie strahlte eine tiefe Erschöpfung aus, die in Kronborg auf eine unerklärliche Weise die Gewissheit auslöste, dass sie sie nie mehr loswerden würde.

»Wie kamen Sie darauf, ihm von Marius Peters zu erzählen? «, fragte er.

Sie biss die Lippen aufeinander. Sie sah auf einmal sehr verletzlich und jung aus.

»Er … er drängte wieder nach Informationen. Er meinte, wenn jemand so viele Jahre einer gemeinnützigen Tätigkeit nachgeht wie Rebecca, dann müsste es doch auch einmal einen Skandal gegeben haben. Ich sagte natürlich, da sei keiner gewesen, außerdem hätte er den ja wohl selbst mitbekommen – als enger Freund der Familie sowieso, aber auch, weil eine Skandalgeschichte ja sicherlich in der Zeitung gestanden hätte. Er wurde wieder einmal ziemlich aggressiv. In den Jahren seiner Ehe, ließ er mich wissen, habe er sehr wenig Kontakt mit den Brandts gehabt, denn Rebecca habe seine geschiedene Frau nicht besonders gemocht. Und die Zeitung … nicht jeder Skandal stehe schließlich in der Zeitung. Es gebe ja auch vertuschte Skandale. Veruntreuung von Geldern beispielsweise, was ja sicherlich von einem Verein wie Kinderruf tief unter den Teppich gekehrt würde, um nicht die Anerkennung der Gemeinnützigkeit zu verlieren.« Sie atmete tief. Ihre Augen waren jetzt leicht gerötet. »Aber ich konnte ihm nicht helfen. Rebecca Brandt hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Jedenfalls nicht, dass ich es bemerkt hätte. Aber sowieso kann ich mir das bei ihr nicht vorstellen. Sie ist eine durch und durch integre Person.«

Kronborg nickte langsam. Er ahnte, was kam.

»Maximilian Kemper ließ Sie nicht in Ruhe, nicht wahr?«

Sabrina schüttelte den Kopf. Sie war sehr blass; die Auseinandersetzung mit jener dunklen Phase ihres Lebens fiel ihr schwerer, als sie wahrscheinlich erwartet hatte.

Andererseits, dachte Kronborg, muss sie es irgendwann einmal loswerden. Die Last erdrückt sie ja fast.

»Er war … wie ein Terrier, der sich festgebissen hat. Unnachgiebig. Böse, gehässig und aggressiv, wenn er nicht bekam, was er wollte. Ich begann seine Ausbrüche zu fürchten. Trotzdem konnte ich die Zeit von einem Treffen zum anderen mit ihm kaum aushalten. Er quälte mich. Rief tagelang nicht an. Ließ mich von seiner Sekretärin abwimmeln, wenn ich in seiner Klinik anrief. Zu Hause ging er nicht an den Apparat. Wie oft ich damals weinend auf seinem Anrufbeantworter landete … ich weiß es nicht. Manchmal sah ich ihn zwei Wochen lang nicht und fürchtete, alles sei zu Ende. Von meinem Mann lebte ich längst in tiefer innerer Distanz. Ich war verzweifelt. Krank vor Einsamkeit und Sehnsucht. Dann plötzlich verabredete er sich wieder mit mir. Nahm mich in die Arme, flüsterte all die zärtlichen Worte, die ich so gut kannte. Und brauchte. Aber unweigerlich …«

»… kam er wieder auf sein Lieblingsthema«, vollendete Kronborg, als Sabrina stockte, »eine Verfehlung in der Vergangenheit Rebecca Brandts.«

»Ja. Und ich wusste ja inzwischen, womit ich zu rechnen hatte, wenn ich nicht funktionierte: mit wochenlangem Liebesentzug. Ich hatte Angst. Wie eine Verrückte begann ich in meinem Gedächtnis zu kramen. Ich wusste, dass es nichts gab, was man Rebecca wirklich hätte anlasten können, aber ich überlegte, ob man nicht irgendetwas hindrehen konnte … Ich weiß, dass ich damit einen Verrat an ihr beging, dass ich bereit war, ihren guten Ruf, ihr Ansehen meiner kranken, verkorksten Beziehung zu Maximilian Kemper zu opfern … aber ich konnte nicht anders. Ich hasste mich, aber …« Sie sprach nicht weiter, hob nur hilflos die Schultern.

Irgendwann war ihr Marius Peters eingefallen. Er war nicht im Mindesten ein dunkler Fleck auf Rebecca Brandts weißer Weste, aber er war in der Geschichte von Kinderruf ein ungutes Vorkommnis, wie es Sabrina nannte.

Ein ungutes Vorkommnis.

Der Begriff, einmal ausgesprochen, schwebte im Zimmer wie ein hässlicher Geruch, der sich nicht verflüchtigen will.

Ein ungutes Vorkommnis.

Sabrina schaute Kronborg an. Ihre Augen waren noch dunkler geworden. Ihre Hände hätten vielleicht gezittert, hätte sie sie nicht ineinander verkrampft in ihren Schoß gedrückt. Die Knöchel an ihren Fingern traten weiß hervor.

Kronborg wusste, dass sie nun an den Kern ihrer Verzweiflung gelangten. An das, was die Ursache für Sabrina Baldinis lebenslange Erschöpfung war. Was vielleicht auch die Ursache für ihre Verstrickung in die Geschichte mit Kemper gewesen war und für das Scheitern ihrer Ehe.

Der Fall Marius Peters.

Er musste sie konfrontieren, ihm blieb nichts anderes übrig. Er konnte ihr ansehen, dass sie ohnehin wusste, dass er es wusste.

»Sabrina«, sagte er vorsichtig, »wenn Ihnen auf das Drängen Kempers hin schließlich Marius Peters als ein ungutes Vorkommnis einfiel, dann heißt das, dass Sie sich nach den Telefonaten mit dem damals kleinen Jungen nicht ganz so entspannt und in der sicheren Gewissheit, alles getan zu haben, zurücklehnten. Dann heißt das, Sie wussten, dass Handeln angebracht gewesen wäre, dass dies aber aus irgendwelchen Gründen Schwierigkeiten gemacht hätte. Dann heißt das, dass auch Sie bewusst weggesehen haben.«

Sie erwiderte nichts, stand abrupt auf, wurde noch bleicher, als sie es ohnehin schon war, und ehe Kronborg reagieren konnte, fiel sie lautlos in sich zusammen und lag gekrümmt in der anrührenden Haltung eines Embryos auf dem Wohnzimmerteppich. Noch bevor Kronborg zu Wiederbelebungsmaßnahmen ansetzte, dachte er, dass diese schöne, müde Frau selbst ohnmächtig nur mit größter Anmut wurde.

5

Er hatte sie geliebt. Er hatte sie wie verrückt geliebt. Wenn sie jetzt behauptete, dies nicht begriffen, nicht bemerkt zu haben, dann log sie. Genau genommen stritt sie nicht völlig ab, etwas von seinen Gefühlen mitbekommen zu haben. Nur deren Intensität, dieses Sie-haben-können-oder-Sterben, das sich in ihm abgespielt hatte, wollte sie nicht realisiert haben. Aber natürlich, ihr ging es darum, ihren Kopf zu retten. Sie passte jetzt genau auf, was sie zugab und was nicht.

Sie waren beide so jung noch gewesen, Studenten, unbeschwert, das Leben vor sich. Sie saß im Hörsaal vor ihm, er sah immer ihre langen schwarzen Haare, die sie wie ein Mantel einhüllten. Aber es war nicht allein ihr Aussehen gewesen, was ihn anzog. Sie war attraktiv, aber er kannte Mädchen, die waren schöner, fröhlicher, strahlender. Rebecca war kein Trauerkloß, aber sie war ernsthafter als die anderen, oft ein wenig in sich gekehrt. Man konnte mit ihr über das Elend in der Welt diskutieren, und manchmal kam sie mit Listen an, auf denen sie Unterschriften gegen irgendeinen Missstand oder für irgendein wohltätiges Projekt sammelte. Er hatte das entzückend gefunden. Er selbst glaubte nicht daran, dass sich die Welt auch nur in Ansatzpunkten verändern ließ; wer es dennoch probierte, kämpfte gegen Windmühlen und verschliss sinnlos Kräfte, und für gewöhnlich fand er Menschen dumm und irrational, die so etwas taten. Seltsamerweise nicht bei Rebecca. Irgendetwas in ihr ließ ihn anders fühlen und denken als sonst. Es war eine Kraft in ihr, die er rückhaltlos bewunderte. Manchmal dachte er, es sei auch diese Kraft, weshalb er so unbedingt ein Teil von Rebecca werden wollte. Um etwas abzubekommen von dieser Stärke, dieser Unbeirrbarkeit. Er sah die Geliebte in ihr, die Frau, die Mutter. Vielleicht war das zu viel. Vielleicht hatte ihn das sprachlos werden lassen.

Denn er war sonst nie auf den Mund gefallen. Als gut aussehender, intelligenter junger Mann, der er war, hatte er nie Probleme mit Mädchen gehabt. Er fing nicht an zu stottern oder wurde rot, wenn er mit ihnen sprach, oder fand keine Worte. Bei keiner war ihm das je passiert – nur bei Rebecca. Ihre Gegenwart lähmte ihn, verunsicherte ihn. Wenn sie ihn ansprach, wurde ihm heiß, und er gab ihr völlig idiotische Antworten, für die er sich hinterher hätte ohrfeigen können. Er redete dummes Zeug in ihrer Gegenwart, und hinterher analysierte er sein Verhalten und fand, dass er ein Versager war. Sie konnte nichts an ihm finden. Ein schwitzender Jüngling mit feuchten Handflächen, der ziemlichen Unsinn von sich gab. Was hätte sie an ihm reizen sollen?

 

Es hatte sie ja auch nichts gereizt. Sie hatte sich in seinen Freund Felix verliebt, und wenn man anfangs noch hatte hoffen können, dass sich diese Liaison als vorübergehende Verirrung herausstellen würde, so war recht bald klar, dass es sich um die ganz große Liebe handelte. Felix hatte von zwei Seelen gesprochen, die sich gefunden hatten. Lieber Gott, er hatte zuvor nicht gewusst, dass Felix derart theatralisch sein konnte. Zwei Seelen, die durch die Welten irrten und schließlich in irgendeinem verdammten Hörsaal der Universität München aufeinander trafen. Schwachsinn. Schrott. Sätze wie die kamen aber natürlich gut an bei den Frauen. Klar, dass Rebecca darauf abfuhr. Mehr, als auf das nervöse Gestammel des jungen Mannes, der hinter ihr saß und abwechselnd rot und blass wurde, wenn sie sich nur umdrehte.

Ich habe von deinen Gefühlen nichts gewusst. Damals nicht.

Er hatte eine Waffe, er hatte sie in seiner Gewalt, und diese überflüssige Inga auch, derer er sich ebenfalls würde entledigen müssen. Inga, das hatte ihn amüsiert, hatte von seinem Spiel tatsächlich nicht die geringste Ahnung gehabt. Was bewies, dass Marius wirklich selbst seiner Frau gegenüber dichtgehalten hatte. Wie vereinbart. Braver Junge.

Später hatte Rebecca dann schon etwas gemerkt. Das hatte sie ja selbst zugegeben, vor einigen Tagen in ihrer Küche, als er mit ihr sprach. Nach seiner Scheidung, als er zu einem Dauergast im Hause Brandt geworden war, da hatte sie zu spüren begonnen, dass sie mehr für ihn war als die Frau seines besten Freundes. Er nahm an, dass sie mit Felix darüber gesprochen hatte, und die Tatsache, dass beide weiterhin einen normalen Umgang mit ihm gepflegt hatten, ließ ihn manchmal fast rasend werden vor Wut. Denn das hieß nichts anderes, als dass sie ihn kein bisschen ernst genommen hatten. Er verzehrte sich bis fast zur Besinnungslosigkeit nach der Frau seines Freundes, und den juckte das nicht im Geringsten, weil er ihn für vollkommen ungefährlich hielt. Vielleicht hatte er mit Rebecca zusammen sogar über ihn gelacht. Wenn er daran dachte, hätte er der Schlampe am liebsten sofort eine Kugel durch den Kopf gejagt. Wie sie dort saß und ihn ängstlich anstarrte! Er hätte auch Angst gehabt an ihrer Stelle. Sie musste sterben, das war klar, aber sie sollte auch wissen, warum. Sie sollte wissen, dass sie sein Leben zerstört hatte, und sie sollte wissen, welch genialen Plan er geschmiedet hatte, sich dafür zu rächen. Leider war er den Wunsch, ihr zu gefallen, noch immer nicht ganz losgeworden. Sie sollte, ehe sie starb, kapieren, wie schlau und gerissen er war.

Aber es war klar, er musste sich beeilen. Denn draußen war es hell, der Tag hatte begonnen, und er stand hier und redete und hatte gar nicht bemerkt, wie die Stunden verrannen. Das Problem war, dass sein ganzes Vorhaben darauf fußte, dass Marius am Ende für den Täter gehalten wurde, aber Marius lag da oben in Rebeccas Schlafzimmer und verreckte oder war schon tot, und wenn Inga und Rebecca allzu lange Zeit danach über den Jordan gingen, würde ein Gerichtsmediziner herausfinden, dass Marius dafür nicht mehr hatte verantwortlich sein können.

 

Er hatte so lange auf diesen Moment gewartet. Vor ihr zu stehen, und sie war ihm ausgeliefert und musste ihm zuhören. Musste sich konfrontieren mit allem, was sie ihm angetan hatte. Da war der Schmerz, der ihm fast das Herz zerrissen hatte, als er für Felix bei der Hochzeit den Trauzeugen spielen musste. Dann seine eigene, eilig geschlossene Ehe, mit der er sich von seinen Gefühlen hatte ablenken wollen, und deren Scheitern ihm schon im Moment des Jawortes völlig klar gewesen war. Die Alte hatte ihn dann später auch noch gründlich abgezockt, so dass er jede Menge Geld verloren hatte und sein Anwesen draußen am Starnberger See hatte verkaufen müssen.

Seine Wochenenden mit den Brandts, die so qualvoll waren, weil er ständig dem Geknutsche und Händchenhalten der beiden Dauerverliebten zusehen musste. Und die Nächte in dem Gästezimmer, in denen er Stunde um Stunde wach lag, von der Eifersucht fast bis zum Wahnsinn gequält, weil er sich vorstellen musste, was die beiden jetzt in ihrem Schlafzimmer taten, weil er sie ständig in leidenschaftlichen Umarmungen vor sich sah.

Scheiße, ihm trat noch jetzt der Schweiß auf die Stirn, wenn er daran dachte. Wahrscheinlich hatten die beiden nicht halb so viel gevögelt, wie er sich das ausgemalt hatte, aber das war im Grunde jetzt auch egal, schon ein einziges Mal wäre zu viel gewesen, denn Rebecca hätte seine Frau sein müssen, seine ganz allein. Natürlich hatte er manchmal gedacht, es sei besser, das Haus der beiden nicht mehr zu betreten, sich all die Schmerzen nicht mehr anzutun. Aber er hatte es nie ausgehalten. Auf Rebeccas Nähe zu verzichten war noch schlimmer gewesen, er war sich wie ein Junkie auf Entzug vorgekommen, unfähig zu arbeiten, unfähig sich zu konzentrieren, krank vor Sehnsucht und Verlangen. Er war wieder und wieder rückfällig geworden, war ihr nachgelaufen wie ein Hund, um wenigstens ein Lächeln, ein Wort, einen Blick zu bekommen. Ob sie sich vorstellen konnte, wie gedemütigt er sich gefühlt hatte?

Ja, das konnte sie. Die Angst in ihren Augen sagte es ihm. Sie begriff, was er durchgemacht hatte, und konnte ermessen, wie groß sein Hass sein musste.

Allein die Notwendigkeit, die Freundschaft zu Felix aufrechtzuerhalten! Keinen Menschen auf der Welt wünschte er so innig zum Teufel wie ihn, aber mit ihm zu brechen hätte ihn aus Rebeccas Umfeld katapultiert, also musste er weiter auf gute, alte, bewährte Männerfreundschaft machen. Manchmal hatte er geglaubt, kotzen zu müssen.

Rebecca sprach nicht viel, aber als er von seinem Wunsch redete, Felix auf den Mond zu schießen, hatten sich ihre Augen plötzlich geweitet.

»Hattest du etwas mit seinem Unfall zu tun?«

Lässig ließ er die Pistole am gekrümmten Zeigefinger herumschwingen. Gern hätte er Felix’ Unfall auf seine Kappe genommen und ihr gezeigt, dass er in der Lage gewesen war, im Kampf um sie Gott zu spielen. Aber was Felix anging … da hatte er tatsächlich seine Hände nicht im Spiel gehabt. Felix war netterweise ganz von allein frontal mit einem durchgedrehten Geisterfahrer zusammengekracht, der in Selbstmordabsicht an jenem nebligen Oktobermorgen vor beinahe einem Jahr über die Autobahn gejagt war.

 

Die Beerdigung. Viele hatten Felix das letzte Geleit gegeben, der Friedhof war schwarz von Menschen gewesen. Patienten, Kollegen, Freunde. Felix war beliebt gewesen, sein plötzlicher, viel zu früher Tod hatte größte Bestürzung und Trauer ausgelöst. Ganz vorn am Grab die Witwe, seine Rebecca, ganz in Schwarz natürlich, gestützt von irgendeiner Freundin, einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin aus ihrem blöden Kinderrettungsverein. Er hatte angeboten, an diesem Tag an ihrer Seite zu sein, und so hätte es sich auch gehört, denn er war Felix’ bester Freund gewesen, und diese Rolle über Jahre durchzuhalten war ihn hart genug angekommen. Aber sie hatte abgelehnt.

Viele hatten ihm gesagt, er sehe sehr blass und elend aus, und natürlich hatte man das auf die Erschütterung wegen des Todes seines Freundes geschoben. In Wahrheit war alles viel schlimmer gewesen: Die Nachricht vom Tod Felix’ war ihm im ersten Moment wie die Antwort auf alle seine Gebete erschienen, aber schon wenig später hatte er begriffen, dass sich seine Situation nur verschlechtert hatte. Rebecca würde in endloser Trauer versinken und sich nie im Leben auf eine Beziehung mit einem anderen Mann, schon gar nicht mit ihm, einlassen, und von nun an würde er auch in ihrem Haus nicht mehr ein – und ausgehen können, denn das hätte sie als anstößig und ungehörig empfunden. Der Kontakt würde sich auf ein Minimum beschränken, eine Karte zu Weihnachten und zum Geburtstag, und vielleicht würde sie sich irgendwann überreden lassen, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen, obwohl ihm selbst das, wenn er sie so anschaute, angesichts ihres Schmerzes unwahrscheinlich und zumindest in absehbarer Zeit völlig ausgeschlossen schien.

Er würde sie verlieren. Sie hatte ihn alles gekostet: seine Ehe, sein Haus. Die Chefarztstelle. Für nichts. Für gar nichts.

Die Chefarztstelle. Er war so dicht dran gewesen. Er war ein Könner, er hatte gute Beziehungen, er hatte Charisma. Er hatte einfach alles, was ihn zum Chefarzt prädestinierte. Leider hatte er auch ein kleines Alkoholproblem. Weil er das Alleinsein manchmal nicht ertrug, weil er es nicht ertrug, Rebecca und Felix zu sehen, weil er nicht damit klarkam, dass er sein wunderschönes Haus hatte verkaufen müssen, um die Schlampe auszubezahlen, die er irrsinnigerweise geheiratet hatte … Er war keineswegs ständig betrunken, er lallte nicht, er roch nicht nach billigem Fusel, lief nicht unrasiert durch die Gegend – Herrgott, er war kein verdammter Penner! Es hatte nur einmal die Sache mit dem Führerschein gegeben, da hatten sie ihn gestoppt, als er abends in der Gegend herumfuhr, unfähig, die Leere und Stille seiner Wohnung zu ertragen, und zerrissen von seiner Sehnsucht nach Rebecca. Er hatte einen ziemlich hohen Promillewert gehabt, was ihm seltsam vorkam, er musste mehr getrunken haben, als ihm bewusst gewesen war. Aber wie auch immer, er war für ein Dreivierteljahr den Führerschein losgewesen. Er dachte, er hätte das ziemlich gut getarnt, aber es mussten sich Gerüchte gebildet haben, und wahrscheinlich war dann auch alles aufgebauscht worden … Jedenfalls hatte er Nachforschungen angestellt, nachdem die Chefarztstelle an einen anderen vergeben worden war, und er hatte herausgefunden, dass von ihm behauptet wurde, er sei nicht ganz unanfällig für Alkohol. Einen erstklassigeren Karrierekiller als diese Charakterisierung konnte sich ein Mann, der Chefarzt werden wollte, gar nicht wünschen. Fantastisch. Diese Sache war gelaufen, und Rebecca konnte sich nun auch noch seine geplatzten Berufswünsche ans Revers heften.

Wenn er es sich richtig überlegte, war es auf der Beerdigung gewesen, dass erstmals in ihm der Gedanke erwacht war, Rebecca müsse sterben, damit er eine Chance hätte, ins Leben zurückzufinden.

Vielleicht war er auch deshalb so blass gewesen. Er hatte diesen Entschluss ja keineswegs leichten Herzens gefasst. Zu erkennen, dass man die Frau töten musste, die man liebte, konnte einem schon alle Farbe aus den Wangen treiben. Schließlich war er kein Verbrecher. Im Gegenteil. Als Arzt hatte er sich der Aufgabe verschrieben, Menschenleben zu retten, Menschen zu heilen. Aber es wurde ihm mit jeder Minute, die der Tag voranschritt, klarer, dass es auf dieser Welt nur Platz gab für ihn oder Rebecca, und nachdem es Rebecca gewesen war, die ihn rücksichtslos und verächtlich behandelt hatte, stand für ihn fest, wer von ihnen beiden gehen musste. Und er würde es geschickt anfangen. Raffiniert. Er würde sich Zeit nehmen. Er war kein versoffener, liebeskranker Trottel! Sie sollte schon wissen am Ende, wen sie verschmäht hatte. Wessen Leben sie fast zerstört hätte.

Fast. Denn wäre sie erst tot, das fühlte er voll herrlicher Gewissheit, dann konnte sein Leben neu beginnen. Dann wäre er frei. Er würde sich seiner unerträglichen Einsamkeit entledigen und endlich wieder eine Beziehung mit einer anderen Frau eingehen. Er würde keinen Tropfen Alkohol mehr trinken und noch einmal nach einem Chefarztposten streben. Er würde ein schönes Haus kaufen mit einem großen Garten, und er war nicht zu alt, dann auch noch Vater zu werden. Kinder, die fröhlich im Garten tobten. Ein Hund, der zwischen ihnen spielte. Eine Frau, die ihn in die Arme schloss, wenn er abends nach Hause kam.

Leben. Einfach leben.

Die Bilder, die vor ihm abliefen, waren so schön, so warm, dass er hätte weinen mögen.

Dann hatte er in der Menge plötzlich Sabrina Baldini entdeckt. Sie war mit ihrem Mann gekommen und sichtlich darum bemüht, ihrem Liebhaber nicht zu begegnen. Unangenehme Situation für sie. Sie sah schlecht aus, aber er hatte sich ja auch seit mindestens zwei Wochen nicht mehr bei ihr gemeldet. Und in Anwesenheit ihres Mannes konnte sie ihm deswegen nicht eine ihrer tränenreichen Szenen machen. Armes, frustriertes Wesen. Wenn sie wüsste, wie satt er sie hatte. Dennoch war sie von unschätzbarem Wert gewesen. Er hatte alles aus ihr herausgefragt, was es an Wissenswertem über Rebecca gab. Zunächst in der unbestimmten Absicht, etwas gegen sie in der Hand zu haben für den Fall, dass ihn dies zu irgendeinem Zeitpunkt der Erfüllung seiner sie betreffenden Wünsche näher bringen könnte. Doch nun hatte er einen Plan, einen wundervollen Einfall, und plötzlich war es ganz klar für ihn, wie es weitergehen würde. Gedanken blitzten in ihm auf und füllten sich mit immer neuen Ideen und genialen Schachzügen, und er musste richtig aufpassen, dass ihn seine Gesichtszüge nicht verrieten, denn sicher begannen seine Augen zu leuchten, und man konnte ihm ansehen, wie schnell und freudig es hinter seiner Stirn arbeitete.

Schnell und freudig, schnell und freudig, schnell und freudig …

Hatte er diese Worte gerade stakkatoartig wiederholt? Oder nur gedacht? Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. Diese hellen Streifen hinter den Scharnieren der geschlossenen Fensterläden - der Tag schritt voran.

Er musste sich beeilen. Er sah Rebecca an, sie hatte wirre Haare, wirkte bleich, übernächtigt, hatte aufgesprungene Lippen, aber war so schön, so überirdisch schön. Er musste ihr von Marius erzählen, ehe er sie tötete. Er musste ihr erzählen, was er mit Marius’ Pflegeeltern getan hatte. Er musste ihr einfach alles erzählen. Es war wichtig. Aber ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Und die wollte er mit ihr allein verbringen. Nur er und sie.

Wie es immer, von Anfang an, hätte sein sollen.

Er starrte Inga an. Sie störte. Sie störte ganz entschieden. Warum war die dumme Person nicht im Auto geblieben?

»Lästig«, sagte er, »du bist so lästig.«

Er stand auf. Inga starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.

6

Inga wusste, dass sie sterben mussten, sie und Rebecca, am Ende dieses Schauspiels. Maximilian hatte es oft genug erwähnt, während seiner langen wirren Reden, die von seiner unerfüllten Liebe handelten und von den Fehlschlägen in seinem Leben, für die er in vollem Umfang und ausschließlich Rebecca verantwortlich machte. Die Zeit, die ihnen blieb, war die Zeit, die er brauchte, seine kranke Seele vor ihnen auszubreiten. Danach kam das Ende. Und als er sie plötzlich fixierte mit diesen kalten, starren Augen, war sie überzeugt, dass es für sie jetzt so weit war.

»Ich will mit Rebecca allein sein«, sagte er, »dich geht das alles eigentlich überhaupt nichts an.«

Weshalb er sie nicht sofort abknallte, wusste sie nicht. Weshalb er sich die Mühe machte, Rebecca mit der Wäscheleine, aus der sich Inga Stunden vorher befreit hatte, zu fesseln, und dann grob Ingas Arm zu greifen, sie auf die Füße zu ziehen und aus dem Zimmer zu bugsieren, konnte sie sich nicht erklären. Sie dachte zuerst, er werde sie in den Garten zerren und dort erschießen, aber er hastete mit ihr die Treppe hinauf, zog sie hinter sich her den Gang entlang zu Rebeccas Schlafzimmer, in dem der schwer verletzte Marius auf dem Fußboden lag. Die ganze Zeit über dachte sie nur: Lieber Gott, lass ihn das Handy nicht entdecken! Lass es nicht runterfallen. Wenn er mich nicht gleich tötet, ist es unsere einzige Chance.

In der Zimmertür gab er ihr einen kräftigen Stoß, und sie torkelte gegen Rebeccas Frisierkommode, stieß schmerzhaft mit dem Oberschenkel an die Kante und schrie auf. Zum Glück klemmte das Handy an ihrer anderen Hüfte. Sie konnte gerade noch die Hand darauf pressen, sonst wäre es zu Boden gefallen.

»Um euch beide«, sagte Maximilian, »kümmere ich mich später.«

Er knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal herum.

Inga brauchte ein paar Sekunden, ehe sie sich bewegen konnte. Sie lebte noch immer, was sie als ein Wunder empfand, und er hatte das kostbare Handy nicht entdeckt, was vielleicht das noch größere Wunder war. Es kostete sie einige Überwindung, an sich herab auf den verletzten Fuß zu schauen. Auf dem Weg nach oben hatte sie ihren blutdurchtränkten, notdürftigen Verband irgendwo verloren, aber offenbar hatte die Wunde wenigstens endlich zu bluten aufgehört. Daran zumindest würde sie nicht sterben.

Sie zog das Handy unter ihrem Nachthemd hervor, schob es ein Stück weit unter die Kommode. Falls Maximilian plötzlich hereinkam, sollte er es nicht sehen. Dann wandte sie sich Marius zu.

Er atmete noch, und es schien ihr sogar, als habe sich sein Zustand ein wenig verbessert. Puls und Herzschlag waren stabiler, sein Atem ging gleichmäßiger.

Er kann es schaffen, dachte sie in jäher Erleichterung, wenn jetzt schnell Hilfe kommt, kann er es schaffen.

Sie robbte zu der Kommode zurück, fischte das Handy hervor, kroch wieder zu ihrem schwer verletzten Mann. »Marius«, wisperte sie, »ich hole Hilfe.«

Er öffnete die Augen. Seine Lider flatterten, sein Blick war im ersten Moment verschwommen, wurde dann aber klarer.

»Inga«, sagte er voller Staunen.

Er erkannte sie. Ihr schossen die Tränen in die Augen, voller Erleichterung und Rührung.

»Marius«, fragte sie eindringlich, »weißt du die Notrufnummer der französischen Polizei?«

Er schien angestrengt zu überlegen. »Ich … ich glaube nicht«, murmelte er schließlich. Er versuchte sich aufzurichten, aber sein Kopf fiel sogleich wieder auf den Boden zurück. »Was ist passiert? Wo … ist Maximilian?«

»Er hat auf dich geschossen, Marius. Jetzt ist er unten im Haus, mit Rebecca. Marius, er wird uns alle töten. Wir müssen um Hilfe telefonieren. Ich habe sein Handy. Maximilians Handy!«

Wieder trat der angestrengte Blick in seine Augen. »Ich … ich weiß diese Nummer einfach nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Ich … wollte mit Rebecca von hier fortlaufen. Da kam er plötzlich. Maximilian. Ich … er schoss. Ja, er schoss auf mich, ehe ich … irgendetwas sagen … oder tun konnte …«

»Ich weiß. Er ist verrückt. Er wird Rebecca töten, weil er glaubt, dass sie sein Leben zerstört hat, und uns, weil wir davon wissen.«

Und wir haben nur noch so verdammt wenig Zeit, dachte sie verzweifelt.

Sie hatte keine Ahnung, bei welcher deutschen Polizeidienststelle sie landen würde, wenn sie den Notruf aus dem Ausland anwählen würde. Würde man ihrer wirren Geschichte Glauben schenken und die Hebel in Le Brusc in Bewegung setzen?

»Ich rufe Mama an«, sagte sie entschlossen, »die soll die Polizei verständigen.«

Warum war ihr dieser Einfall nur nicht eher gekommen? Vorhin im Auto etwa? In Windeseile tippte sie die Nummer ihrer Eltern ein. Sie musste den Vorgang zweimal wiederholen, weil ihre Hände so heftig zitterten, und sie immer wieder auf falschen Zahlen landete. Bitte seid zu Hause, betete sie stumm.

Ihre Mutter nahm beim ersten Klingeln ab, so als habe sie neben dem Apparat gesessen. »Ja?«, fragte sie. Ihre Stimme klang rau und verweint.

»Mama?«

»Inga? Inga, um Gottes willen, bist du es? Wie geht es dir? Wo bist du? Inga, hör zu, du musst …«

Sie fiel ihrer Mutter hastig ins Wort. »Mama, ich brauche Hilfe. Du musst die Polizei verständigen. Marius und ich sind …«

»Du musst dich vor Marius in Acht nehmen! Inga, die Polizei in Deutschland sucht ihn. Ein Kommissar hat mit mir gesprochen. Marius hat zwei Menschen umgebracht. Er ist gefährlich. Er ist …«

»Mama, das ist ein Irrtum, aber das ist jetzt egal. Wir haben nicht viel Zeit. Wir werden hier festgehalten und sind in Lebensgefahr. Bitte rufe diesen Kommissar an, der mit dir gesprochen hat. Er soll sofort die französische Polizei verständigen. Er wird wissen, was zu tun ist. Aber es muss jetzt alles ganz schnell gehen.«

»Wo seid ihr?«

Sie nannte Rebeccas Adresse. Sie konnte hören, dass ihre Mutter hastig kritzelnd die Worte notierte.

»Inga … bitte pass auf dich auf!«

»Mama, bitte beeil dich!«

 

Ihr blieb nur zu warten. Wie schnell würden die Dinge in Bewegung gesetzt werden? Ihre Mutter würde in rasender Eile agieren, das war klar, und sie würde den gesamten europäischen Polizeiapparat auf die Füße scheuchen, wenn es sein musste. Zum Glück hatte sie bereits gewusst, dass ihre Tochter in Gefahr war, und offenbar war auch die Polizei längst auf Marius’ Fährte. Zu Unrecht zwar, aber das würde sich später klären lassen. Für den Augenblick war nur wichtig, dass niemand lange fragte oder an der Dringlichkeit des Hilferufs zweifelte. Jetzt sollten alle so schnell sie konnten funktionieren.

Das Warten quälte. Inga hatte, kaum dass sie das Gespräch mit ihrer Mutter beendet hatte, aus dem Fenster geschaut und die Möglichkeiten einer Flucht auf diesem Weg abgeschätzt, aber es war ihr sofort klar geworden, dass sie diesen Gedanken nicht weiter verfolgen musste. Für einen Sprung befanden sie sich in viel zu großer Höhe, und es gab hier nichts, woran man sich hätte hinablassen können, keine Regenrinne, kein Spalier, nichts. Kurz erwog sie, Bettlaken aneinander zu knoten und so ein Seil herzustellen, aber sie hatte wenig Vertrauen in die Haltbarkeit einer solchen Konstruktion. Außerdem hätte dies alles bedeutet, Marius zurückzulassen, und letztlich erschien ihr dies undenkbar.

»Die Polizei wird kommen«, flüsterte sie ihm zu, »und dann sind wir in Sicherheit.«

Er versuchte zu lächeln. »Klar. Das sind wir dann.«

»Warum hast du mir nie etwas erzählt, Marius?« Noch während sie fragte, überlegte sie, ob es wohl wichtig war, dies jetzt zu klären. Ob es in dieser Situation überhaupt wichtig war, irgendetwas zu klären. Aber die Alternative war, zu schweigen und auf das Hämmern des eigenen Herzens zu lauschen. Das mochte schwerer sein.

»Erzählt?«

»Von deiner Kindheit. Von deinen Eltern. Dass du bei Pflegeeltern warst. Warum habe ich nichts erfahren?«

Er antwortete nicht.

Bin ich eigentlich sicher, dass er es nicht doch war, der die beiden alten Leute umgebracht hat? Er braucht Hilfe, so viel steht nach alldem fest. Aber ist er ein Gewaltverbrecher? Wie hängt das alles zusammen? Wann werde ich wissen, wer er ist?

Sie glaubte schon, er sei eingeschlafen, da öffnete er die Augen. »Maximilian«, sagte er.

Sie nickte. »Er ist krank. Ich kann nur beten, dass die Polizei hier ist, ehe er völlig durchdreht.«

»Er wollte meinen Albtraum beenden.«

»Maximilian? Was wollte er?«

Das Sprechen fiel Marius schwer. Es klang ungeduldig, als er antwortete: »Er wusste … davon. Er hat mich verstanden. Die … ganze Qual … hat er verstanden …«

»Du meinst die Qual deiner Kindheit?«

»Sie … hörte nicht auf. Nie.«

»Ich verstehe. Und Maximilian wollte dir helfen?«

Ein schwaches Nicken. »Ja.«

»Es war geplant, dass wir hier landen, nicht? Bei Rebecca. «

»Er … meinte, ich soll mit ihr reden. Ihr erzählen, wie ich im Stich gelassen wurde. Er sagte, nur so könnte ich damit fertig werden. Indem … ich mich an die Leute wende, die … die damals verantwortlich waren.« Er hustete. Das Sprechen fiel ihm sehr schwer. »Ich … mir leuchtete das ein. Ich dachte, es könnte wirklich die Rettung werden. Zwar … war mir mehr an der Frau vom Jugendamt gelegen. Aber Maximilian sagte, die … die eigentlich Schuldige sei Rebecca. Die Frau vom Jugendamt habe Angst um ihren Job gehabt. Aber für … für Rebecca gebe es keine Entschuldigung.«

Inga, die bislang nur Teile der Geschichte kannte, konnte nur mutmaßen, was Marius meinte. »Du hattest sie um Hilfe gebeten? Als Kind? Aber sie kennt deinen Namen überhaupt nicht.«

Wieder nickte er mühsam. »Sie … wusste von nichts. Maximilian hatte … hatte behauptet, sie hätte es gewusst. Sie hätte es … ihm gesagt. Aber in Wahrheit … ich … hatte mit einer Mitarbeiterin geredet. Die Sache ist … nie an Rebecca weitergeleitet worden.«

Das Puzzle vervollständigte sich. »Es war kein Zufall«, sagte Inga, »dass uns Maximilian in jenem Dorf auflas?«

»Nein. Ich … hatte ihn angerufen und ihm gesagt, wo wir sind. Das war verabredet. Er sollte uns auf dem letzten Stück mitnehmen und auf dem Grundstück neben Rebecca absetzen. Von ihm hatte ich übrigens auch die Campingausrüstung. «

»Aha. Aber das Auto, von dem du am Anfang sprachst … das uns ein Freund leihen wollte …?«

Er lächelte schwach. »Sorry. Das … hatte ich erfunden. Um … dich für den Plan … zu gewinnen …«

»Und dann wolltest du das Gespräch mit Rebecca suchen. Aber weshalb hast du dann versucht, mit dem Schiff abzuhauen? «

»Ich bekam Angst.«

»Angst? Wovor?«

»Vor … mir. Vor allem. Davor, die Sache wieder aufzurollen. Ich wollte nur noch weg. Ich … fühlte mich … diesem Vorhaben nicht gewachsen. Zu viele Bilder … verstehst du? Zu vieles, das wieder … auftauchte …« Seine Sprechweise wurde immer schleppender. Inga brannten tausend Fragen auf den Lippen, aber sie begriff, dass sie ihn zu sehr anstrengte. Vielleicht würden sie beide dieses Drama überstehen, dann bliebe endlose Zeit, über alles zu sprechen. Aber nicht jetzt. Marius war schwer verletzt. Er brauchte seine ganze Kraft, um am Leben zu bleiben.

»Versuch zu schlafen«, bat sie, »du erklärst mir alles später. «

»Ich … bin sehr müde.«

»Ich weiß. Schließ einfach die Augen. Es ist jetzt nur wichtig, dass du gesund wirst.« Es ist mir wirklich wichtig, dachte sie fast erstaunt, trotz allem, was war. Ich will eine zweite Chance für ihn.

Sie betrachtete sein Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen, seine Lider zuckten. Sie kannte jede Linie in seinen Zügen, und die Vertrautheit erfüllte sie mit Wärme. Der Ausdruck dieses Gesichts hatte sie zu Anfang fasziniert, später irritiert und irgendwann mit Furcht erfüllt: Es war die jungenhafte, fröhliche Unbekümmertheit, die man auf den ersten Blick wahrnahm, um dann zu erkennen, dass darunter sehr alter Schmerz, tiefe Verletzungen ihre Spuren hinterlassen hatten. Marius war ein Maskenträger. Er hatte zu viel durchlitten, um anders als im Zustand einer andauernden Tarnung überleben zu können.

Zärtlich streichelte sie den eigenwilligen Haarbüschel über seiner Stirn. Marius öffnete die Augen, sah sie an. Sehr mühsam hob er den Arm, berührte vorsichtig mit der Hand die geschwollene Haut um Ingas Auge. Sie zuckte vor Schmerz unter dieser Berührung.

»Es tut mir Leid«, sagte er leise, »das hier tut mir sehr Leid.«

»Mach dir keine Sorgen deswegen. Schlaf jetzt.« Sie lächelte. Er erwiderte ihr Lächeln.

Und in genau diesem Moment hörten sie, wie der Schuss fiel. Er durchbrach die Stille des heißen, provenzalischen Vormittags laut und brutal.

Beide, Marius und Inga, fuhren entsetzt zusammen. Marius versuchte sich aufzusetzen, sank aber sogleich wieder auf den Boden zurück.

»Scheiße«, flüsterte er heiser, »er hat Rebecca abgeknallt! «

Inga zitterte am ganzen Körper. »Und gleich kommt er zu uns.« Sie schluckte. Ein großer, heißer Ballen Watte schien ihren Mund auszufüllen.

Zu spät. Wann immer die Polizei kommt, es wird zu spät sein. Es wird zu spät sein.

Sie starrte auf die Tür und wartete auf die Schritte, die jeden Moment auf der Treppe erklingen mussten.

Sie wartete darauf, ihrem Mörder gegenüberzustehen.

Aber alles blieb still, und nichts regte sich im Haus.