Donnerstag, 22. Juli

1

Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Karen hatte nur oberflächlich und unruhig geschlafen und war sofort wach, richtete sich auf und lauschte in die Dunkelheit. Ihr Herz raste. Die Anzeige auf dem Radiowecker neben ihrem Bett sagte ihr, dass es halb drei war. Ein Anruf zu dieser Zeit konnte nichts Gutes bedeuten.

Das Telefon schrillte erneut, es klang viel lauter als am Tag.

»Wolf«, wisperte sie, »das Telefon!«

Wolf knurrte etwas Unverständliches, knäulte sich sein Kissen um den Kopf und rollte sich auf den Bauch. Es war klar, dass er nicht aufstehen würde, und so schwang Karen ihre Beine aus dem Bett und tappte zu dem Apparat, der im Flur stand.

Sie nahm den Hörer ab.

»Ja?«, fragte sie. »Hallo?«

Zuerst konnte sie überhaupt nichts hören. Dann nahm sie etwas wahr am anderen Ende der Leitung, das wie Atmen klang. Ein gepresstes, angestrengtes Atmen.

»Hallo?«, fragte sie noch einmal. »Wer ist denn da?«

Wieder bekam sie keine Antwort, aber das Atmen klang ein wenig lauter. Es war gespenstisch, und ihr fielen Geschichten ein, die sie gehört und gelesen hatte: von Männern, die zu den unmöglichsten Uhrzeiten bei Frauen anriefen, sich an ihrer Verwirrung oder Furcht weideten und darüber eine perverse sexuelle Befriedigung fanden. Allerdings stießen diese Männer meist Obszönitäten oder Drohungen aus, während dieser Anrufer überhaupt nichts sagte. Zudem – und sie hätte gar nicht genau sagen können, weshalb sie diesen Eindruck hatte – klang das befremdliche Atmen nicht wie das erregte Keuchen eines Triebtäters. Eher schienen es Atemzüge der Angst zu sein – und der Anstrengung. Als ringe jemand um Atem und schaffe es nicht, gleichzeitig noch etwas zu sagen.

Es mochte an diesem Eindruck liegen, weshalb Karen dem Impuls widerstand, einfach den Hörer aufzulegen und so schnell wie möglich in ihr warmes Bett zurückzukriechen.

»Bitte sagen Sie doch etwas«, sagte sie.

Der unbekannte Anrufer schien ein Wort formen zu wollen, aber es kam nur ein gepresster Laut heraus. Der Atem war noch leiser geworden, klang röchelnd jetzt.

»Sagen Sie mir Ihren Namen«, bat Karen, »ich werde sonst auflegen.«

Nur der Atem, schwach und unregelmäßig.

»Hören Sie, wer auch immer Sie sind, ich kann nichts für Sie tun«, sagte Karen. »Sie müssten mir Ihren Namen oder Ihre Adresse oder Telefonnummer nennen. Ich kann sonst wirklich nichts machen.«

Sie wartete. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, ob eine oder zwei Minuten oder länger. Sie merkte nur, dass trotz der warmen Sommernacht Kälte an ihren nackten Beinen emporkroch, dass sie fröstelnd von einem Fuß auf den anderen trat. Und dass etwas Bedrohliches nach ihr griff, dass irgendetwas soeben in ihr Leben eindrang, das nichts mit ihrer bisherigen Wirklichkeit zu tun hatte.

»Ich muss jetzt auflegen«, sagte sie hastig, tat es und starrte dann den Telefonapparat an, als erwarte sie von ihm eine Erklärung oder sonst eine Reaktion, und sei es nur ein erneutes Klingeln. Aber nichts tat sich. Die Nacht war wieder so still und so ruhig, als sei nichts geschehen.

Karen huschte ins Bett zurück. Sie wusste, dass es ihr nun überhaupt nicht mehr möglich sein würde, einzuschlafen.

»Wolf«, flüsterte sie.

Er brummte: »Was ist denn?«

»Das war ganz komisch eben. Jemand war am Telefon, aber er hat nichts gesagt. Nur geatmet.«

»Irgendein Scherzkeks. Es gibt so Leute.«

»Ich weiß nicht … er … oder sie … atmete ganz seltsam.«

Wolf gähnte.» Dann wird’s so ein Perverser gewesen sein. Der hat sich an deiner Stimme aufgegeilt.«

»Es war nicht diese Art von Atmen. Es war …« Wenn sie es nur in Worte fassen könnte. »Als ob jemand wirklich in Not sei. Hilfe bräuchte. Jemand, der schlecht Luft bekommt, und der sich bemüht, etwas zu sagen …«

Wolf gähnte erneut. »Karen, du hast eine blühende Fantasie. Du bildest dir höchst eigenartige Dinge ein. Aber weißt du, was nett wäre? Wenn du das nicht mitten in der Nacht tun würdest. Es gibt Menschen, die haben hart zu arbeiten tagsüber, und die brauchen ihren Schlaf.«

»Ich habe diesen Anrufer ja nicht bestellt!« Plötzlich kam ihr ein Gedanke, sie richtete sich auf. »Und wenn es meine Mutter war?«

»Deine Mutter ruft doch nicht um diese Zeit bei dir an!«

»Wenn sie Hilfe braucht, schon.« Karen machte sich häufig Sorgen um ihre Mutter. Sie lebte ganz allein in der großen Wohnung, die ihr verstorbener Mann ihr hinterlassen hatte, und widersetzte sich hartnäckig den Bestrebungen ihrer Tochter, sie zum Umzug in eine kleinere Wohnung in der Nähe der Familie zu überreden. Am liebsten hätte Karen sie zu sich geholt, doch wann immer sie dieses Thema angeschnitten hatte, war Wolf in heftigen Protest ausgebrochen.

»O Gott, nein. Bloß das nicht! Deine Mutter ist eine nette Frau, Karen, aber mit meiner Schwiegermutter unter einem Dach – das brauche ich nun wirklich nicht! Schlag dir das lieber schnell aus dem Kopf!«

»Ich werde bei Mama anrufen«, entschied Karen und stieg erneut aus dem Bett. »Ich finde sonst keine Ruhe.«

Wolf stöhnte. »Also wirklich, Karen, du bist manchmal einfach unmöglich! Lass die arme Frau doch schlafen. Ich meine, wie kann man so hysterisch sein? Was glaubst du, wie viele Menschen nachts von irgendwelchen Witzbolden angerufen werden, ohne dass sie nachher solch einen Wirbel veranstalten? «

Aber sie war schon draußen, stand erneut am Telefon und wählte die Nummer ihrer Mutter. Es dauerte eine ganze Weile, bis die alte Dame sich meldete. Sie klang verschlafen und war äußerst erstaunt, als sie begriff, dass es ihre Tochter war, die sie anrief. »Liebe Güte, Karen! Ist etwas passiert? Ist etwas mit den Kindern? Oder mit Wolf?«

Wie sich herausstellte, hatte sie mit dem geheimnisvollen Anruf nichts zu tun, und sie war auch sehr verwundert über Karens Vermutung, sie könnte nachts bei ihr um Hilfe bitten.

»Also, da würde ich doch gleich den Notarzt anrufen«, sagte sie, und dann fügte sie vorwurfsvoll hinzu: »Ich muss sagen, du hast mich jetzt ganz schön erschreckt. Ich habe richtig Herzklopfen. Mach so etwas nicht mehr, Karen. Was ist los mit dir? Du bist ein bisschen überspannt in der letzten Zeit, habe ich den Eindruck.«

Der Vorwurf traf, schließlich behauptete Wolf das Gleiche. Karen merkte, dass sie wieder einmal am liebsten zu weinen begonnen hätte.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie, mit einer Stimme, die sogar in ihren eigenen Ohren piepsig und unsicher wie die eines Schulmädchens klang.

»Na ja, neulich erzähltest du mir, du könntest niemanden finden, der eure Post versorgt, wenn ihr im Urlaub seid, und mir kamst du dabei so aufgeregt vor. Als sei das ein weltbewegendes Problem!«

Das hätte mit Wolf abgesprochen sein können. Wir müssen wirklich einmal mit Karen reden! Sie wird immer komischer. Regt sich über Dinge auf, die gar nicht zum Aufregen sind. Es ist nicht leicht mit ihr. Sie war doch mal eine ganz vernünftige Person!

»Das hat sich geklärt«, sagte sie und fand, dass es geradezu unerträglich so klang, als rechtfertige sie sich, »ich meine, das mit der Post. Ich habe jetzt jemanden.«

»Na bitte. Nur nicht immer gleich die Pferde scheu machen! Ich koche mir jetzt einen Kamillentee. Gott, so ein Anruf mitten in der Nacht kann einen wirklich erschrecken!«

Ja, und umso mehr, wenn am anderen Ende jemand nur atmet, dachte Karen, aber dass ich mich aufgeregt und erschrocken habe, finden alle seltsam. Ich werde überspannt und hysterisch genannt. Mama hingegen macht sich einen Beruhigungstee und meint, sie sei völlig in Ordnung.

Karen zog die Bettdecke bis unters Kinn. Sie hatte das Bedürfnis, sich tief in eine Höhle zu verkriechen, Wärme und Geborgenheit zu finden und allein zu sein. Einfach nur allein. Am besten wäre es, wenn außer ihr überhaupt niemand sonst auf der Welt wäre.

»Und«, kam es natürlich von Wolf, »war deine Mutter der Mensch mit dem Furcht erregenden Atmen?«

»Nein«, sagte Karen kurz.

»Sieh an«, meinte Wolf, »dafür ist sie jetzt wach, hat sich vermutlich ziemlich aufgeregt und muss mal wieder einen Kamillentee trinken, um sich zu beruhigen. Das hast du gut gemacht, Karen, wirklich! Kompliment!«

Warum trifft er immer, immer ins Schwarze?, fragte sie sich voller Trostlosigkeit. Sie starrte mit weit offenen Augen in die Dunkelheit. An Wolfs Atemzügen konnte sie hören, dass er rasch wieder einschlief.

Wenn ich die Kraft hätte, dachte sie plötzlich, wenn ich die Kraft hätte, würde ich ihn verlassen.

Dieser Gedanke, mit all seinen Konsequenzen, erschreckte sie so sehr, dass sie sich für den Rest der Nacht mit ihm auseinander setzte und darüber zeitweilig sogar den seltsamen Anruf vergaß.

2

Im Hafen von Le Brusc schabten die Fender an den Seiten der Schiffe leise gegeneinander, hörbar trotz des Geschreis und Gelächters der vielen Menschen ringsherum, der lauten Rufe der Möwen und des Bellens einiger Hunde, die mitten im Gewühl der Hafenpromenade auf- und abschossen und miteinander spielten. Leise klirrten die Fallen an den Masten. Ein leichter Wind strich vom Meer heran, ohne die geringste Abkühlung zu bringen. Es war, als trage er den heißen Sand Afrikas in sich. Nicht eine einzige Wolke zeigte sich am Himmel.

»Das Schiff sieht gut aus«, sagte Maximilian anerkennend. »Sie haben es wirklich sehr zuverlässig gewartet, Albert! «

Albert war von dem Lob sichtlich erfreut, schob seine Fischermütze verlegen auf dem Kopf hin und her und strahlte über sein braun gebranntes Gesicht.

»Es macht mir Spaß. Es ist so ein schönes Schiff. Ich sorge gern dafür.«

»Eine Vindö!«, rief Marius begeistert. Er stand neben den beiden Männern und betrachtete die Libelle mit Kennermiene. »Es muss toll sein, mit ihr zu segeln!«

Maximilian sah ihn erstaunt an. »Verstehen Sie etwas davon? «

»Klar. Ich hab meinen Segelschein, und ich bin schon an ziemlich vielen Orten gesegelt. Auch Nordsee. Mein Alter hat mich immer mitgenommen, der war ganz verrückt mit diesem Sport.«

»Hm«, machte Maximilian. Er hatte Marius und Inga im Auto mit nach Le Brusc genommen, damit Inga noch einmal den Arzt aufsuchen und Marius Lebensmittel einkaufen konnte, und zwischendurch hatte er sich kurz die Libelle ansehen wollen. Er kannte das Schiff, er war oft mit Felix darauf gesegelt. Rebeccas Frage, ob er es haben wolle, hatte ihn überrascht; er hätte nicht gedacht, dass sie in der Lage wäre, Felix’ Kleinod wegzugeben.

»Ich werde mal mit Rebecca sprechen«, sagte er, »vielleicht erlaubt sie, dass Sie und Inga einmal damit segeln. Dann könnten Sie draußen vom Schiff aus baden gehen. An den offiziellen Stränden wird man zu dieser Jahreszeit ja verrückt.«

»Das wäre wirklich nett«, sagte Marius und strahlte über das ganze Gesicht. »Wir haben wenig Geld, wir könnten uns kein Schiff mieten. Also, ich glaube, das fände auch Inga ganz toll!«

Sie verabschiedeten sich von Albert und gingen zum Auto zurück. Dort wartete Inga, deren Arztbesuch bereits beendet war. Zu ihrer Erleichterung heilten die Wunden schnell und gut, sie würde schon bald wieder problemlos laufen können.

Als die Männer eingestiegen waren und Maximilian den Motor anließ, fragte Inga unvermittelt: »Was ist eigentlich mit ihr?«

Maximilian sah sie an. »Mit wem?«

»Mit Rebecca. Frau Brandt, meine ich. Sie ist unheimlich traurig. Sie lächelt nie, und sie sieht furchtbar unglücklich aus.«

»Sie hat vor einem Dreivierteljahr ihren Mann verloren. Ein Autounfall, er stieß frontal mit einem Geisterfahrer zusammen. Es war ein furchtbarer Schock. Und ich fürchte, sie hat sich immer noch nicht davon erholt.«

»Lebt sie ständig hier?«

»Früher war es nur ein Ferienhaus, aber jetzt hat sie sich ganz dorthin zurückgezogen, und das ist natürlich überhaupt nicht gut für sie. Im Prinzip kennt sie hier keinen Menschen, außer dem Hafenmeister, und mit ihm verbindet sie auch nur eine oberflächliche Bekanntschaft. Sie ist sehr allein.«

Sie hatten den Ort hinter sich gelassen. Eine schmale Straße führte durch den Wald. Es war dämmrig hier und trotz des sonnigen Hochsommertages überraschend düster.

»Verdammt einsam da oben, wo sie wohnt«, meinte Marius. »Es ist eine tolle Landschaft, aber sie ist nicht typisch für die Gegend, finde ich.«

»Warten Sie, bis Sie erst das dunkle Felsgestein des Kaps sehen. Das ist absolut einmalig«, sagte Maximilian. »Es gibt dem Kap eine fast bedrohliche Ausstrahlung. Für Segler ist es übrigens wirklich eine riskante Ecke. Im Meer vor dem Kap gibt es unberechenbare Strömungen, und die See kann dort wirklich sehr wild sein.«

»Wovon lebt Rebecca?«, fragte Marius.

Maximilian warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er blickte in ein unbefangenes, offenes Gesicht.

» Felix – ihr Mann – hat sie gut versorgt. Er war ein sehr bekannter und wohlhabender Arzt. Sie muss nicht arbeiten und kann sich ganz ihrem Schmerz hingeben.« Die letzten Worte sagte er voller Verbitterung.

Marius sah ihn an. »Sie war sehr glücklich mit ihrem Mann, oder?«

Maximilian lachte traurig. »Glücklich? Das klingt im Zusammenhang mit Felix und Rebecca fast banal. Sie waren ein Traumpaar. Wer hätte gedacht, dass sie so früh auseinander gerissen würden? Als Felix starb, war er gerade vierundvierzig geworden. Rebecca war zweiundvierzig. Das ist … das war nicht gerecht.«

Alle drei schwiegen, während sich das Auto über steile, enge, holprige Straßen hinaufschraubte. Zwischen Bäumen und Felsen tauchten immer wieder kleine Fetzen Meer auf, blau leuchtend, glitzernd in der Sonne. Knorrige, uralte Olivenbäume mit bizarr verbogenen Stämmen und Ästen standen an den Wiesenrändern, und ihre Blätter waren wie helles Silber unter dem strahlenden Licht.

»Hier ist auch nicht immer Sommer«, sagte Maximilian unvermittelt, »auch hier gibt es lange, dunkle Winternächte, neblige Herbstmorgen und Tage, an denen es von morgens bis abends nicht aufhört zu regnen und die Wolken mit dem Meer zu einer grauen Masse verschmelzen. Wie muss es dann sein, so allein da oben? Wie kann sie das aushalten?«

Obwohl er mehr zu sich selbst gesprochen hatte, wandte sich Inga ihm zu. »Sie machen sich große Sorgen um sie, nicht wahr?«

» Ja. Er – ich meine Felix – war mein bester Freund. Ich empfinde Verantwortung für seine Witwe. Aber ich weiß nicht, was ich tun kann.«

»Sie hatten keine Kinder?«

»Nein. Das hat irgendwie nicht geklappt. Aber Rebecca hat sich unheimlich für Kinder engagiert. Sie hatte angefangen, Medizin zu studieren, schwenkte dann aber um und wurde Diplompsychologin. Vor fünfzehn Jahren gründete sie einen Verein, der sich um Problemfamilien, um misshandelte Kinder, aber auch um gewalttätige Eltern kümmerte. Mit Sorgentelefon und Einzelgesprächen und Gruppentherapien und alles Mögliche mehr. Rebecca ging darin auf. Ihr Verein – Kinderruf hieß er – hatte einen sehr guten Ruf, arbeitete eng mit den verschiedenen Jugendämtern zusammen. Diese Frau«, er schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad, eine Geste, die weniger aggressiv als hilflos wirkte, »diese Frau, die da wie ein lebloser Schatten in der Einsamkeit vor sich hin vegetiert, war bis vor einem knappen Jahr eine lebhafte, engagierte Person, von morgens bis abends von Menschen umgeben, ständig im Einsatz für andere, voller Ideen, voller Energie. Dabei lebensfroh und optimistisch. Sie war ein sehr positiver Mensch mit einem guten Einfluss auf andere. Es ist unbegreiflich, dass sie nun …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er fragte sich, ob es tatsächlich nicht zu begreifen war. Wenn man sie und Felix gekannt und gemeinsam erlebt hatte, dann war klar, dass sein Tod ihr Herz und Seele aus dem Leib gerissen haben musste. Dennoch, davon war er überzeugt, steckte irgendwo in ihr die alte Rebecca, tief vergraben unter dicken Schichten von Verzweiflung und Melancholie und unbewältigter Trauer. Das Problem war, dass sie niemandem die Möglichkeit einräumen würde, zu der alten Rebecca vorzudringen und sie wieder zum Leben zu erwecken. Sie hatte ihr früheres Leben so radikal abgebrochen, dass es außer ihm wohl kaum noch jemand wagen würde, die Grenzen, die sie mehr als deutlich gesetzt hatte, zu überschreiten.

Für den Rest der Fahrt sprach niemand mehr. Maximilian überlegte, wie seine nächsten Schritte aussehen sollten. Gleich am Abend seiner Ankunft hatte er drüben in Sanary ein Hotelzimmer genommen; er hatte nicht gewagt, Rebecca zu fragen, ob er ihr Gästezimmer benutzen durfte, und sie hatte es auch nicht angeboten. Seitdem hatte er sie zweimal gesehen, und jedes Mal hatte sie alles andere als erfreut gewirkt. Seine Besuche bei ihr konnte er überhaupt nur noch mit seinem Interesse an dem Schiff rechtfertigen, und auch damit würde er sie nicht ewig hinhalten können. Im Grunde hatte er sich ohnehin längst gegen die Libelle entschieden. Sie erinnerte ihn zu stark an Felix. Vielleicht würde er sich irgendwann ein neues, ein ganz anderes Boot kaufen.

Er ließ Marius und Inga vor dem unbebauten Grundstück aussteigen und sah ihnen einen Moment lang nach. Beide trugen Shorts und hatten schon leicht gebräunte Beine. Inga humpelte noch ein wenig. Marius schwenkte die weiße Plastiktüte, in der sich seine Einkäufe befanden, lässig hin und her.

Wie sorglos man in diesem Alter noch sein kann, dachte Maximilian, Sonne, Meer, ein Zelt, Zweisamkeit – das reicht völlig aus, um glücklich zu sein.

Er rollte die paar Meter weiter bis zu Rebeccas Gartentor, stieg aus, wappnete sich innerlich gegen Kummer und Ablehnung, die ihn empfangen würden. Das Tor quietschte, als er es öffnete.

Sie hört das Quietschen und seufzt bestimmt genervt, dachte er deprimiert.

Er traf sie auf der rückwärtigen Veranda. Sie hängte Wäsche auf ein Gestell, ein paar T – Shirts, Unterwäsche, Socken. Sie sah Maximilian nicht an.

»Ich habe für die jungen Leute gewaschen«, sagte sie, so als müsse sie eine Erklärung für ihre Tätigkeit abgeben. »Die junge Frau – wie heißt sie noch? Inga? Sie kam heute früh zu mir und fragte, ob es unten im Dorf einen Waschsalon gibt. Da habe ich angeboten …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

»Ich hoffe, ich habe dir da nichts eingebrockt«, meinte Maximilian unbehaglich, »indem ich die beiden mitgebracht habe.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ewig werden sie ja nicht bleiben.«

»Sicher nicht.« Er sah ihr zu. Sie hatte noch immer die raschen Bewegungen einer Frau, die Dinge schnell erledigt, weil ihre Zeit knapp ist.

Ach, Rebecca, dachte er traurig.

»Ich wollte schon heute früh zu dir«, sagte er, »aber dann habe ich erst noch die jungen Leute ins Dorf gefahren. Inga war noch mal beim Arzt, und Marius wollte einkaufen. Bei der Gelegenheit habe ich auch ein paar Dinge für dich besorgt. « Er hob eine Einkaufstüte hoch, die er neben sich auf die Steinfliesen gestellt hatte. »Obst, Käse und einen sehr guten Rotwein. Ich dachte … vielleicht essen wir heute Abend zusammen?«

Sie antwortete nicht.

»Ich war auch am Hafen«, fuhr er fort, »und habe mir noch mal die Libelle angesehen. Und mit Albert gesprochen. Er hat sie gut in Schuss gehalten.«

» Und – möchtest du sie nun haben?«

»Ich bin mir nicht sicher. Sie erinnert mich sehr an Felix.«

»Du musst nur Ja oder Nein sagen. Wenn du sie nicht willst, ist es auch kein Problem.«

»So einfach ist das nicht.«

»Ich kann dieses Problem für dich nicht lösen.«

»Wenigstens siehst du, dass eines da ist.«

Wieder entgegnete sie nichts, und in seiner Hilflosigkeit plötzlich wütend, fuhr er sie an: »Verdammt, Rebecca, du bist doch nicht die Einzige, die trauert! Du hast deinen Mann verloren. Ich habe meinen besten Freund verloren. Felix’ Eltern haben ihren Sohn verloren. Es ist … wir müssen doch alle irgendwie weitermachen! Es hilft nichts. Sein Leben ist zu Ende. Nicht unseres. Dagegen können wir nichts machen.«

Sie hängte das letzte Handtuch auf, nahm den leeren Wäschekorb hoch. Zum ersten Mal sah sie ihn an, und wieder erschrak er vor der Leere in ihren Augen.

»Rebecca«, sagte er leise.

Ihr Mund verzog sich in einem Ausdruck von Ärger und Resignation. »Lass es mich auf meine Weise bewältigen«, sagte sie, »und bewältige du es auf deine.«

»Aber du bewältigst es doch überhaupt nicht!«, sagte er heftig, um im nächsten Moment zu begreifen, dass er sie mit seinen Worten und Ausbrüchen nicht erreichte. Es war so sinnlos. Wie er sich das eigentlich auch schon vorher gedacht hatte. Felix’ Tod hatte sie für ihn und für jeden anderen Menschen unerreichbar gemacht, und alles, was bei seinem Besuch in Le Brusc vermutlich herauskommen würde, war, dass ihrer beider Freundschaft – jedenfalls die kläglichen Reste davon – auch noch kaputtging.

»Essen wir nun heute Abend zusammen?«, fragte er. Sie zögerte, nickte aber schließlich. Sie wollte höflich sein, zeigte aber nicht das mindeste Anzeichen von Freude.

Er wandte sich zum Gehen, aber dann fiel ihm noch etwas ein. »Der junge Mann«, sagte er, »scheint ein erfahrener Segler zu sein. Er war begeistert von der Libelle. Er würde gern einmal mit seiner Frau zusammen segeln. Könntest du dir vorstellen, das zu erlauben?«

Ohne zu wissen, warum, hätte er eher mit einer Absage gerechnet. Aber zu seiner Überraschung zuckte sie nur mit den Schultern.

»Warum nicht«, sagte sie.

3

Noch immer, wenn sie mittags zum Briefkasten ging, wurde sie von der Angst ergriffen, er könnte sich wieder gemeldet haben. Genau genommen, wusste sie natürlich nicht, ob es sich überhaupt um einen Er handelte, aber sie hatte von Anfang an und ohne zu zögern die Möglichkeit ausgeschlossen, eine Frau könnte ihr die hässlichen Briefe schreiben. Es war nicht so, dass es in den Briefen von Schilderungen exzessiver Gewalt gewimmelt hätte. Aber sie waren von einer perfiden Bedrohlichkeit, die grauenhafte Angst erzeugte. Im Übrigen war schon mehrfach der Begriff Todesstrafe gefallen. Vielleicht war es dieses sadistische Spielen mit der Furcht, was sie einer Frau nicht zutraute, obwohl sie sich manchmal fragte, ob sie damit an einem Rollenbild festhielt, das längst überholt war und vielleicht ohnehin nie existiert hatte.

Egal eigentlich, dachte Clara, während sie den Gartenweg entlanglief und das Herzklopfen verfluchte, das sich unweigerlich wieder eingestellt hatte; egal, wer diese Gemeinheiten fabriziert hatte. Sie waren widerlich und furchtbar, aber seit zwei Wochen gab es keine Briefe mehr, und ich sollte mich deshalb jetzt nicht aufregen.

Trotzdem zitterte ihre Hand, als sie den Briefkasten aufschloss. Es waren eine Zeitschrift und einige Briefe angekommen, und früher hätte sie sich gefreut und überlegt, wer wohl geschrieben haben mochte. Jetzt war sie so voller Nervosität, dass sie außer Furcht und Beklemmung nichts empfinden konnte. Sie hätte es vorgezogen, wenn der Briefkasten leer gewesen wäre.

Das ist doch wirklich absurd, dachte sie.

Beim Durchblättern erkannte sie, dass kein Brief von ihm dabei war. Die Drucktypen seines Computers kannte sie inzwischen, sie hätte ihn sofort herausgefiltert. Kein wohlbekannter Aufkleber auf einem Umschlag mit ihrem Namen. Frau Clara Weyler. Und dann die Adresse.

Die Telefonrechnung war gekommen, ein Brief ihrer Schwester aus dem Mallorca-Urlaub, eine Aufforderung zur Teilnahme an einem Preisausschreiben und eine Ansichtskarte von den Malediven.

Wer ist denn gerade auf den Malediven?, fragte sie sich, während sie erleichtert registrierte, dass ihr Herzschlag in den normalen Rhythmus zurückfand und ihre weichen Beine an Stabilität gewannen.

Sie ging zum Haus zurück, überflog dabei die Karte.

Agneta. Sie erinnerte sich an Agneta. Ihre einstige Kollegin, vor vielen Jahren. Eine nette, blonde, sehr natürliche Schwedin. Agneta hatte einen ziemlich wohlhabenden Mann geheiratet – er war im Vorstand einer großen Warenhauskette, wenn Clara das richtig im Gedächtnis hatte –, und daher waren Fernreisen wahrscheinlich keine Seltenheit für sie. Sie lebte natürlich im Münchener Nobelviertel Grünwald und jettete vermutlich ständig in der Welt herum.

»Es ist herrlich«, schrieb sie, »Sonne ohne Ende, tiefblaues Meer, tiefblauer Himmel, heller, warmer Sand. Ich lerne tauchen! Habe dabei das Gefühl, allem entfliehen zu können. Ich war ziemlich mit den Nerven fertig, hatte unschöne Erlebnisse in der letzten Zeit. Erzähle ich dir alles, wenn ich zurück bin – würde gerne mal wissen, was du davon hältst. Bis dahin alles Liebe, Agneta.«

Das Herzklopfen wurde wieder stärker. Clara blieb stehen.

Was meinte Agneta?

Sie hatten sich seit ungefähr drei Jahren nicht mehr gesehen. Ohnehin waren sie nie dicke Freundinnen gewesen. Kolleginnen, die sich gut verstanden, die einander sympathisch waren, aber mehr nicht. Außer in beruflichen Fragen hatte nie eine den Rat der anderen gesucht, selten hatten sie über Privates gesprochen. Clara war bei Agnetas Hochzeit mit dem reichen Typen gewesen, und pflichtschuldig hatte sie ein halbes Jahr später Agneta zu ihrer eigenen Hochzeit mit Bert eingeladen. Ja, und sie hatte ihr eine Anzeige geschickt, als im vergangenen Jahr Marie geboren wurde. Daher hatte Agneta die Adresse. Aber sie hatte ihr noch nie eine Ansichtskarte geschickt, geschweige denn ihr gegenüber von Problemen gesprochen, zu denen sie ihre Ansicht hören wollte.

Das passte nicht. Agneta hatte eigene Freundinnen, Clara auch. Warum also …?

Es sei denn …

Clara schaute wieder auf die Karte, die ganz leise in ihrer Hand zitterte. Agneta schrieb nicht einfach von einem Problem. Sondern von unschönen Erlebnissen in der letzten Zeit. Und davon, dass sie ziemlich mit den Nerven fertig gewesen sei.

Es war genau das, was sie, Clara, auch von sich gesagt hätte. Unschöne Erlebnisse, die hatte sie, weiß Gott, gehabt, und eine Frau, die mit weichen Knien zum Briefkasten ging, deren Hände zitterten, wenn sie ihn öffnete, die abends nicht einschlafen konnte und nachts bei jedem Geräusch hochschreckte, war wohl eindeutig mit den Nerven fertig.

Agneta hatte die gleichen Briefe erhalten, und sie wandte sich an die ehemalige Kollegin, weil die Briefe etwas mit ihrer einstigen gemeinsamen Arbeit zu tun hatten. Es machte für sie keinen Sinn, irgendeine Freundin oder Bekannte anzusprechen. Es musste jemand von damals sein. Aus der Zeit, da sie beide beim Jugendamt gearbeitet hatten.

Clara ging ins Haus zurück, schloss sehr sorgfältig die Haustür hinter sich. Es war ein heißer Tag, und für gewöhnlich hätten alle Türen offen gestanden, um die Wärme und den Duft des Hochsommers in die Räume fluten zu lassen. Seitdem sie die Briefe bekommen hatte, wagte es Clara jedoch kaum noch, auch nur ein Fenster schräg zu stellen. Die Angst hatte sich in ihr Leben geschlichen, hatte sich dick und breit darin eingenistet und schien nicht gewillt, es wieder zu verlassen. Alles hatte sich verändert. Und das gerade jetzt. Ausgerechnet. Seit der Geburt Maries im September des letzten Jahres hatte Clara Tag für Tag immer wieder gedacht, wie schön, wie glücklich und wie vollkommen sich doch alles in ihrem Leben gefügt hatte. Nicht, dass sie früher ein Trauerkloß gewesen wäre. Sie hatte auch ihren Beruf gemocht. Am Anfang zumindest. Später … hatte er an den Nerven gezerrt, und sie hatte genau gespürt, dass sie im Grunde zu zart besaitet war, um sich dauerhaft mit der harten, oft allzu brutalen Welt derer zu konfrontieren, die auf der Schattenseite der Gesellschaft lebten und mit Wut und Gewalt die Frustration über ihr Dasein kompensierten. Es war lange Jahre in Ordnung gewesen, aber dann hatte sie sich verabschiedet, und sie war froh darüber. Sie liebte Bert und war sicher, dass sie mit ihm für immer zusammen bleiben würde. Er war nicht reich, und wahrscheinlich würden sie nie auf die Malediven fliegen wie Agneta, aber sie hatten ihr Auskommen, wie man so sagte, und noch dazu hatte Bert von seinen Eltern das kleine Häuschen geerbt, vor den Toren Münchens, fast schon ländlich gelegen. Marie würde mit einem Garten aufwachsen, in dem sie spielen konnte, und mit Wiesen und Wäldern, die gleich jenseits des Gartenzauns begannen. Ebenso wie ihre Geschwister. Clara wollte noch mehr Kinder, aber sie war schon einundvierzig, und wer wusste, ob ihr das Glück noch einmal vergönnt sein würde. Wenigstens hatte sie Marie. Sie ging auf in ihrer Mutterrolle. Sie hätte nichts, aber auch gar nichts in ihrem Leben verändern mögen.

Sie wollte nur, dass dieser Mensch ihr nicht mehr schrieb. Obwohl sie ahnte, dass die Angst sie selbst dann, wenn nie wieder ein Brief käme, nicht verlassen würde. Jedenfalls nicht für lange Zeit. Der Typ war irgendwo da draußen. Sie würde nie mehr so tun können, als habe es ihn nicht gegeben.

Sie stellte die Karte von den Malediven vor das Schlüsselbrett im Eingang. Ein warmes, sonniges Bild. Agneta hatte es gut, sie war so weit weg. Aber sie musste natürlich zurückkommen. Dauerhaft konnte sie ihren Ängsten auch nicht entfliehen.

Clara nahm sich vor, am Abend noch einmal mit Bert über das alles zu sprechen. Natürlich kannte er die Briefe, aber er hatte sie als Spinnerei abgetan.

»Irgendjemand macht sich einen Spaß daraus, solchen Blödsinn zu verschicken«, hatte er gemeint, »und du solltest das nicht ernst nehmen, Schatz. Hunde, die bellen, beißen nicht.«

Ob er die Dinge anders einschätzen würde, wenn er erfuhr, dass auch Agneta …?

Sie konnte sich vorstellen, was er sagen würde. Das wissen wir doch noch gar nicht! Deine Fantasie geht wieder einmal mit dir durch. Lass Agneta erst einmal zurückkommen, dann erfahren wir mehr.

Sie seufzte. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie keineswegs ein Opfer ihrer Fantasie war, sondern sehr genau und richtig kombiniert hatte. Aber es würde gut tun, Berts ruhige Stimme zu hören, und sich von ihm – wenigstens für eine kurze Dauer – in das Gefühl hineinwiegen zu lassen, das alles sei harmlos und unwichtig.

Und jetzt würde sie nach Marie sehen. Und sich um den Haushalt kümmern. Und dann einkaufen, irgendetwas richtig Schönes für sich und Bert am Abend.

Wer immer das da draußen war, sie mochte sich nicht ihre kleine, heile Welt zerstören lassen.