Mittwoch, 28. Juli

1

Als sie aufwachte, war sie im ersten Moment überzeugt, höchstens ein paar Augenblicke geschlafen zu haben. War sie nicht gerade erst aus dem Bad zurückgekommen? Aber dann knipste sie das Licht an und schaute auf ihre Uhr. Es war Viertel vor vier in der Nacht.

Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte, aber was auch immer es gewesen war, es hatte sie mit einem Schlag hellwach sein lassen. Das war ungewöhnlich, normalerweise brauchte sie ziemlich lange, um klar denken zu können und zu wissen, wer sie war und wo sie war. Diesmal jedoch war sie geradezu überwach und aufmerksam.

Ihre Unruhe vom Abend hatte sich verschärft.

Sie schwang die Beine aus dem Bett, trat an die geöffnete Luke und lehnte sich hinaus. Wie so oft in den letzten Nächten hier unten am Meer überwältigten sie auch diesmal wieder Klarheit und Nähe des Sternenhimmels. Der Wind hatte ein wenig an Stärke gewonnen, die Bäume rauschten lauter.

Das hat mich wahrscheinlich geweckt, dachte sie, der Wind in den Bäumen.

Vielleicht war das auch der Grund für ihre Unruhe. Der ständige Wind hier am Meer. Aus ihrer Münchener Stadtwohnung kannte sie das nicht.

Sie ging ins Bett zurück, schaltete das Licht aus, legte sich in die Kissen zurück. Schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Sie vernahm ihren eigenen harten, schnellen Herzschlag. Sie öffnete die Augen wieder. Es war unmöglich. Sie war so wach, dass an Schlaf überhaupt nicht zu denken war.

Sie verließ wieder ihr Bett und überlegte, dass sie vielleicht ein Glas Wasser trinken sollte. Oder unten im Wohnzimmer ein wenig fernsehen. Das würde sie beruhigen – wenn sie auch keine Ahnung hatte, weshalb sie überhaupt so aufgeregt war –, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass Rebecca etwas dagegen haben würde.

Sie zog einen Morgenmantel über, den ihr Rebecca geliehen hatte, und schlüpfte in orangefarbene Badeschuhe aus Plastik. Sie hatte sie noch kurz vor der Abreise gekauft, weil sie sich in die Duschen öffentlicher Campingplätze niemals barfuß gewagt hätte. Überhaupt hasste sie Camping.

Aber ich hatte ja immer Angst, dass Marius ausrastet, wenn ich einen seiner Vorschläge nicht toll finde.

Sie öffnete ihre Tür, lauschte ins Haus. Sie konnte kein Geräusch vernehmen. Es hätte sein können, dass Rebecca selbst schlaflos herumtappte, und dass sie, Inga, davon geweckt worden war, aber es herrschte völlige Stille, und nirgendwo war ein Lichtschein zu entdecken.

Leise huschte sie ihre Leiter hinunter und dann die Treppe, die ins Erdgeschoss des Hauses führte. In der Küche nahm sie ein Glas aus dem Schrank, ließ Wasser aus der Leitung hineinlaufen, trank in kleinen Schlucken. Sie fragte sich, weshalb sich ihr Herzschlag nicht beruhigen mochte. Sie versuchte sich zu erinnern, was ihr ihre Großmutter, die ständig unter Schlaflosigkeit gelitten hatte, über alle möglichen Teesorten erzählt hatte, mit denen man dem Übel beikommen konnte, aber ihr fiel nichts ein, ihr Gedächtnis war wie leer gefegt. Überdies hätte Rebecca den betreffenden Tee wahrscheinlich gar nicht im Haus gehabt.

Ich hätte auch gar nicht die Ruhe, jetzt einen Beruhigungstee zu trinken, dachte sie und lachte gleich darauf nervös über diesen paradoxen Gedanken.

Sie stellte das Glas ab und ging ins Wohnzimmer hinüber. Sie knipste die Stehlampe in der Ecke an und schaltete den Fernseher ein. Sie geriet in eine Talkshow, die offensichtlich aus dem Mittagsprogramm wiederholt wurde, und in der völlig zerrüttete und zerstrittene Ehepaare von einer madonnenhaft dreinblickenden Moderatorin, die im Nebenberuf Psychologin war, wieder zusammengeführt werden sollten. Das Pärchen, das gerade an der Reihe war, beschimpfte einander auf das Übelste, und Inga fand, dass es wenig Hoffnung für die beiden gab. Da ihr Französisch nur mäßig war, musste sie sich sehr konzentrieren, um dem Streit folgen zu können, und zuerst dachte sie, dies sei jetzt genau das Richtige, um sie wieder müde zu machen. Doch nach zehn Minuten war ihr klar, dass ihre Konzentration nur an der Oberfläche stattfand. Ihr Herz schlug wie rasend. Wacher und angespannter konnte sie nicht sein.

Das ist doch nicht normal, dachte sie.

Sie schaltete den Fernseher wieder ab und nahm sich aus einem Zeitungskorb neben dem Kamin ein paar Illustrierte. Deutsche Ausgaben, und alle mindestens ein Jahr alt. Rebecca musste sie in glücklicheren Zeiten gekauft und gelesen haben; mit dem Rückzug in die völlige Isolation war offenbar auch jegliches Interesse für Klatsch und Tratsch aus der Heimat in ihr erloschen.

Inga nahm sich vor, in ihr Bett zurückzukehren und zu lesen. Manchmal half ihr das. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, jemals so aufgewühlt und nervös gewesen zu sein.

Als sie an der kleinen Gästetoilette, die sich hier unten im Haus befand, vorbeikam, fiel ihr auf, dass die Tür offen stand. Das tat sie sonst nie, und Inga meinte auch, sich zu erinnern, dass sie geschlossen gewesen war, als sie am Abend zu Bett gegangen war. Obwohl sie es natürlich nicht hätte beschwören können.

Ihre Unruhe stieg. Sie wollte die Tür schließen, als ein deutlicher Luftstrom sie streifte. Zugluft mitten im Haus.

Sie spähte in das kleine Bad.

Sie konnte nicht gleich etwas erkennen, denn es gab nur das Licht der Sterne, aber es war sofort klar, dass das Fenster offen sein musste, denn der Wind wehte von draußen herein.

Wer lässt denn hier das Fenster offen?, fragte sie sich verwirrt, doch im nächsten Moment hatten sich ihre Augen schon an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte erkennen, dass das Fenster nicht einfach nur offen stand. Die Scheibe war eingeschlagen, und die Scherben bedeckten den Fußboden des Bades.

Jemand war durch dieses Fenster eingestiegen.

Jemand war im Haus.

Vermutlich hatte sie das Klirren der Fensterscheibe geweckt. Aber das anschließende Gefühl der Bedrohung war von ihrem Instinkt getragen worden – von dem untrüglichen Instinkt, den wilde Tiere haben und der ihnen auf unerklärliche Weise das Nahen einer Gefahr signalisiert, noch ehe die Anzeichen greifbar geworden sind.

Sie zog sich, so leise sie konnte, zurück, stand jetzt mitten im Flur, atmete kaum und überlegte, was sie nun am besten tat. Wenn sich jemand im Haus befand, wo hielt er sich auf? Wieso zeigte er sich nicht? Er musste mitbekommen haben, dass jemand wach geworden war. Sie hatte sich bemüht, Rebecca nicht zu wecken, aber sie hatte immerhin Licht gemacht im Wohnzimmer, und der Fernseher war gelaufen. Es konnte dem Einbrecher nicht entgangen sein.

Oder war er schon wieder weg? Hatte er Geld gesucht, es gefunden und war dann abgehauen?

Aber nichts schien durchwühlt und durchsucht. Und auch ihr Gefühl der Beunruhigung war um nichts weniger geworden. Die feinen Härchen an ihren Armen standen hoch, ihr Herz raste, sie war hellwach und angespannt.

Verschwinde, sagte eine innere Stimme, verschwinde so schnell du kannst. Hol Hilfe! Tu es, solange du noch die Möglichkeit hast.

Sie hätte später nie zu sagen gewusst, weshalb sie diese Stimme, die so eindringlich für Flucht plädierte, nicht in ihrer ganzen Bedeutung erkannte. Stattdessen machte sich der Gedanke, dass sie Hilfe brauchten, am Telefon fest. Die Polizei. Sie würde die Polizei alarmieren.

Das Telefon befand sich im Wohnzimmer, und dort war niemand. Sie hatte die Chance, unentdeckt das Gespräch führen zu können. Wieder lauschte sie nach oben. Der Eindringling musste oben sein; einen Keller hatte das Haus nicht, und in den Räumen im Erdgeschoss – Wohnzimmer, Küche und Gästebad – hielt sich niemand auf. Es herrschte völlige Stille. Sie wünschte, sie hätte irgendein Geräusch gehört. Nichts war bedrohlicher als dieses absolute Schweigen.

Sie schlüpfte aus den Plastikschuhen und huschte barfuß und vollkommen lautlos ins Wohnzimmer. Diesmal verzichtete sie darauf, das Licht einzuschalten. Sie kannte sich einigermaßen aus, und überdies waren ihre Augen nun ausreichend an die Dunkelheit gewöhnt.

Das Telefon stand auf einem Bücherregal, und Inga wusste, dass im Fach darunter das Telefonbuch lag. Sie zog es heraus, trat näher ans Fenster, um das Licht der Sterne und des Mondes auszunutzen. Die Nummer der Polizei stand gleich auf der ersten Seite, zwischen den Nummern von Feuerwehr und Notarzt. Lautlos die Zahlenfolge vor sich hinmurmelnd, hob Inga den Telefonhörer ab.

Die Leitung war tot.

Sie drückte auf die Gabel, noch einmal, und dann wieder, nun schon hektischer, aber nichts war zu hören. Tot, tot, tot.

Okay. Konnte Zufall sein, eine Störung, aber das Telefon konnte auch manipuliert worden sein, und das bedeutete höchste Gefahr, weil es dann möglicherweise nicht einfach um einen Einbruch ging, bei dem der Täter nur schnell etwas stehlen und dann so rasch wie möglich verschwinden wollte. Wer sich die Zeit nahm, das Telefon lahm zu legen, hatte mehr vor.

Inga meinte, dass ihr Herzschlag längst das Haus hätte vibrieren lassen müssen. Sie musste hier weg. So schnell wie möglich. Sie konnte sich jetzt nicht um Rebecca kümmern. Sie musste sehen, dass sie Hilfe holte.

Ihre Schuhe. Ihre Schuhe standen im Flur. Egal. Es war zu riskant, sie zu holen. Sie musste jetzt und hier zur Verandatür hinaus, und sie musste eben barfuß bis in den Ort laufen, auch wenn ihre Füße wahrscheinlich blutig geschnitten waren, bis sie ankam.

Sie bewegte sich auf die Tür zu.

Der plötzlich aufflammende Lichtschein traf sie jäh und unerwartet und kam ihr vor wie ein Pistolenschuss, den jemand ohne Warnung auf sie abfeuerte.

Entsetzt schrie sie auf und fuhr herum.

In der Wohnzimmertür stand Marius.

Er sah verändert aus. Er war in der kurzen Zeit überraschend mager geworden, hatte struppiges Haar bekommen, und Kinn und Wangen waren von Bartstoppeln bedeckt. Seine Kleidung wirkte fleckig und abgerissen. Er war barfuß, und seine Füße waren dunkelbraun von Dreck. Er hätte ein Landstreicher sein können, der seit Jahren auf der Straße lebte. Als er näher kam, stellte Inga fest, dass ein unangenehmer, säuerlicher Geruch von ihm ausging.

»Hallo, Inga«, sagte er.

Sie sah sich hektisch um. Die Telefonschnur war durchschnitten, lag kaputt und unbrauchbar mitten auf dem Wohnzimmerteppich. Die Verandatür war verschlossen. Bis sie sie entriegelt hätte, wäre er neben ihr. Sie hatte keine Chance zur Flucht.

Es ist Marius, sagte sie sich, entspann dich!

Tatsächlich wurde sie ein wenig ruhiger. Es war Marius. Der Mann, mit dem sie seit zwei Jahren verheiratet war. Er mochte ein durchgeknallter Typ sein, und es war klar, dass sie mit ihm nicht zusammenbleiben würde, aber er hatte noch nie die Hand gegen sie erhoben, und …

Außer auf dem Schiff. Als er sie in die Kajüte stieß. Als er in Kauf nahm, dass sie sich den Hals brach.

Sie schluckte. Sie sah ihm in die Augen und erkannte, wie krank er war. Und begriff endlich, dass sie um ihr Leben hätte laufen müssen.

»Hallo, Marius«, stieß sie hervor, und es war nicht viel mehr als ein undeutliches Krächzen.

Er lächelte.

2

Wolf sprach die Tatsache, dass Karen aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen war, an diesem Morgen endlich an. Er war während des Frühstücks sehr schweigsam gewesen, hatte nicht einmal auf die eifrigen Fragen der Kinder reagiert, die sich natürlich alle um das Verbrechen im Nachbarhaus drehten. Da ihm dieses Thema sehr auf die Nerven gehen musste, hätte Karen erwartet, dass er irgendwann gereizt dazwischenfahren würde, aber er kaute nur sein Brötchen in sich hinein, trank in kleinen Schlucken seinen Kaffee und vermittelte den Anschein, ihn gehe das alles nicht das Geringste an. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit stand er nicht als Erster auf und verließ das Haus, sondern er blieb schweigend sitzen und wartete, bis Karen die Kinder verabschiedet hatte und in die Küche zurückkehrte.

Sie sah ihn an. Er erwiderte ihren Blick. »So«, sagte er, »du hast vor, von nun an immer im Gästezimmer zu schlafen?«

»Ich habe alle meine Sachen nach oben gebracht. Ja.«

»Gibt es dafür einen besonderen Grund?«

»Ich finde, es passt nicht mehr zu uns, gemeinsam in einem Bett zu schlafen«, sagte Karen.

Wolf hob die Augenbrauen. »Ach ja? Weshalb nicht?«

Sie schaute jetzt zum Fenster hinaus. Die Margeriten auf der kleinen Küchenterrasse wiegten ihre weißen Köpfe im leisen Morgenwind. Es würde wieder ein herrlicher Hochsommertag werden.

»Das weißt du doch«, sagte sie leise. Sie mochte nicht mit ihm sprechen. Sie hatte sich so oft gewünscht, mit ihm reden zu können, über ihre Ehe, über die Kälte und Distanz, die sich eingeschlichen hatten, aber es war nie möglich gewesen. Nun, da er Fragen stellte, fühlte sie sich bedrängt. Sie sah keinen Sinn mehr in einer Klärung.

»Ich weiß gar nichts«, sagte Wolf, »ich vermute nur, dass du noch immer dieser verrückten Theorie anhängst, ich hätte ein Verhältnis mit der Mitarbeiterin, die mich neulich zum Mittagessen begleitet hat, und ich kann dazu nur sagen, dass …«

»Das ist gar nicht mehr wichtig«, sagte Karen, »ob du ein Verhältnis hast oder nicht. Du hast mich verlassen. Innerlich. Schon vor langer Zeit. Dabei ist es unerheblich, ob du zu einer anderen Frau abgewandert bist oder ohne Beziehung lebst. Du hast für mich nur noch Kälte und Verachtung übrig. Und damit kann ich nicht leben.«

»Kälte und Verachtung? Könntest du mir mal erklären, woran du das festmachst?«

Sie seufzte. Er würde es ja doch nicht verstehen.

»Es ist … dieser Eindruck setzt sich aus vielen Kleinigkeiten zusammen«, sagte sie, bereits im Vorfeld erschöpft, weil sie wusste, dass er ihre Worte zerpflücken würde und es daher im Grunde sinnlos war, sie überhaupt zu sagen. Er würde es nicht zulassen, dass aus dem, was sie Kleinigkeiten genannt hatte, ein Gesamtbild entstand, er würde vorher jeden einzelnen Punkt widerlegen und bagatellisieren, sie würden sich im Kreis drehen, und am Ende würde kein Ergebnis stehen.

»Am Sonntag, zum Beispiel. Du verbringst den ganzen Tag mit den Kindern im Schwimmbad, und …«

»Ach! Das machst du mir jetzt zum Vorwurf? Das muss man sich wirklich mal anhören! Weißt du eigentlich, wie viele Frauen darum betteln, dass ihre Männer etwas mit den Kindern unternehmen, und weißt du, wieviele Männer dazu nicht die allergeringste Lust haben? Aber ich, der ich nach einer verdammt harten Woche meinen kompletten Sonntag opfere, damit die Kinder ein bisschen Spaß haben, werde dafür noch beschimpft!«

Sie hatte ihn nicht beschimpft, aber es würde nichts bringen, darauf hinzuweisen.

»Niemand hat mich gefragt, ob ich nicht vielleicht auch mitkommen möchte. Immerhin gehöre ich ja auch zur Familie. «

»Oh, Verzeihung! Dann habe ich dich bislang wirklich falsch eingeschätzt! Ich hätte nie gedacht, dass es dir Spaß bereitet, einen ganzen Tag bei glühender Hitze in der absolut drangvollen Enge eines öffentlichen Schwimmbads zu verbringen! Auf der Liegewiese konnten wir kaum unser Handtuch ausbreiten, so voll war es dort, und im Wasser war es schlechthin unmöglich, auch nur einen einzigen Schwimmzug zu tun. Aber bitte, ich werde es mir merken. Du liebst derartige Freizeitvergnügungen, und beim nächsten Mal trete ich dir meinen Part nur zu gern ab.«

Sie hätte ihn darauf hinweisen können, dass er von abtreten gesprochen hatte, nicht von Gemeinsamkeit, aber auch das kam ihr sinnlos vor, und sie ließ es sein.

»Am Abend«, sagte sie, »du hast die Kinder abgesetzt und bist verschwunden. Es gab keine Erklärung für mich, nichts. Kein Hinweis, wann du wiederkommen würdest, ob du vorhattest, mit uns zu essen … du warst einfach weg.«

Er verdrehte die Augen. »Großes Sakrileg, ich weiß. Ich vergesse immer, dass ich mich bei dir an – und abzumelden habe, und dass meine Schritte deiner Zustimmung bedürfen. Gelegentlich habe ich dennoch das Bedürfnis, mich als freier und erwachsener Mann zu fühlen, kannst du dir das vorstellen? So war es zum Beispiel am Sonntagabend. Ich war fix und fertig nach diesem Tag! Müde, geschlaucht, kaputt. Wie du weißt, gibt es für mich kaum etwas Schöneres, als mich in großen, lärmenden Menschenmengen aufzuhalten, vor allem, wenn sie so dicht sind, dass du in einer Woge von Schweiß stehst, ständig angerempelt wirst und alle zwei Minuten einen Federball an den Kopf bekommst. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte allein sein. Ich konnte das Geplapper meiner eigenen Kinder nicht mehr ertragen. Und auch nicht …« Er sprach nicht weiter.

Karen erriet, was er hatte sagen wollen. »Und mich konntest du auch nicht ertragen«, ergänzte sie.

Wolf rührte in seiner Tasse. Der Kaffee darin musste längst kalt sein. »Sei ehrlich, Karen. Was hätte mich denn erwartet? Du hättest gequengelt, weil du den ganzen Tag allein warst, du hättest mich aus vorwurfsvollen Augen angesehen, und als Krönung hättest du schließlich wieder mit den verschwundenen Nachbarn angefangen und herumlamentiert, dass man etwas tun müsse … Und wenn ich ganz großes Glück gehabt hätte, wärst du auch noch mit meinem angeblichen Verhältnis angekommen. Ich hätte das an jenem Abend einfach nicht mehr ertragen.«

Sie war zusammengezuckt. Trotz der Resignation, die sich immer weiter in ihr auszubreiten begann, tat es weh, seinen Überdruss zu hören, seine Abwendung von ihr.

Ich hätte das an jenem Abend einfach nicht mehr ertragen. Das hieß nichts anderes als: Ich hätte gerade dich an jenem Abend einfach nicht mehr ertragen.

Sie flüchtete vor ihrem Schmerz, indem sie ihre Trumpfkarte zog. »Was die Nachbarn betrifft«, erklärte sie, kühler als ihr zumute war, »so musst du zumindest jetzt zugeben, dass ich so falsch nicht lag. Auch wenn ich dich offenbar entsetzlich mit meinen bösen Ahnungen genervt habe.«

»Darum geht es doch gar nicht«, sagte Wolf. Es war klar, dass er ihr die Genugtuung, Recht gehabt zu haben, nicht einfach überlassen würde. »Es geht nicht darum, ob du Recht hattest oder nicht. Es geht um die Art, wie du damit umgegangen bist. In erster Linie ging es uns nichts an, was mit den Lenowskys passiert war. Wir hatten sie noch nicht lange als Nachbarn, und wir kannten sie kaum. Diese Distanz lag übrigens weit mehr an ihnen als an uns, wie du mir mehrfach erklärt hast. Sie wollten ganz eindeutig kein wirklich nachbarschaftliches Verhältnis aufbauen.«

»Aber …«

»Nichts aber. Wer sich derart zurückhält, kann nicht erwarten, dass sich die Menschen der näheren Umgebung engagiert um ihn kümmern, wenn irgendwelche Unstimmigkeiten auftreten. Du meintest, es trotzdem tun zu müssen. Gut. Du bist ein freier Mensch und siehst derlei Dinge offenbar anders als ich. Was ich nicht verstehe, ist, weshalb du mich dauernd mit hineinzuziehen versucht hast. Was könnte man tun? Muss man nicht etwas tun? Wolf, lass uns doch etwas tun!« Er hatte sie, allerdings nur leicht übertrieben, nachgeäfft. »Kannst du nicht begreifen, dass mich das rasend macht? Du möchtest etwas Bestimmtes tun, aber aus irgendeinem Grund bist du zu unsicher oder traust dich nicht recht, und nun soll ich dazu gebracht werden, das Gleiche zu wollen wie du, um es dann mit dir zusammen durchzuziehen. Warum, verdammt noch mal, wenn du so überzeugt warst, im Fall Lenowsky handeln zu müssen, hast du es dann nicht einfach getan? Warum bist du nicht gleich da drüben eingestiegen oder hast die Polizei alarmiert oder sonst irgendetwas? Warum hast du nur ständig und unablässig an mir herumgezerrt und genörgelt?«

Sie starrte ihn an. Sie hatte alles erwartet, aber nicht diesen Vorwurf.

»Aber«, sagte sie, »du hast mir doch völlig den Mut genommen. Du hast mir ständig erklärt, wie unmöglich es ist, was ich vorhabe. Dass ich spinne, hysterisch bin. Dass ich mich langweile in meinem Leben und deshalb anfange, mir idiotische Geschichten auszudenken. Dass ich uns alle blamiere und unmöglich mache, wenn ich etwas unternehme, und es sich hinterher als überflüssig herausstellt. Ich dachte doch irgendwann, ich kann es gar nicht wagen, etwas zu tun, ohne dass ich hinterher für alle Zeiten von dir dafür angefeindet werde!«

Wolf probierte einen Schluck Kaffee, verzog aber angewidert das Gesicht und setzte seine Tasse rasch wieder ab. »Eiskalt«, sagte er. Er stand auf. Wie immer verströmte er ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Er war mit sich und allem, was er sagte und tat, vollkommen im Reinen. »Genau«, sagte er, »genau das ist es, Karen. Ich fand es völlig falsch, was du vorhattest. Und du fandest es richtig. Und? Was wäre das normale Verhalten gewesen?«

Sie biss sich auf die Lippen. »Sag’s mir«, flüsterte sie.

»Das normale Verhalten«, sagte Wolf, »wäre gewesen, dass du genau das tust, wozu es dich drängt, und was nach deiner Überzeugung richtig ist. Ganz gleich, was ich sage.«

Sie glaubte nicht recht zu hören. In ihren Ohren dröhnte es.

Das glaube ich jetzt nicht. Ich glaube nicht, was er da sagt.

»Es hätte bedeutet«, fuhr Wolf fort, »dass ich wieder Achtung vor dir hätte haben können. Verstehst du? Ich möchte nicht ein kleines Mädchen als Frau haben, das mich aus ängstlichen Augen ansieht und jeden seiner Schritte von mir abgesegnet haben will. Ich will eine erwachsene Frau. Eine, die ihren Weg geht. Die auch einmal das Risiko auf sich nimmt, dass ich wütend auf sie bin. Dass wir Streit haben. Dass ich es vollkommen unmöglich finde, was sie tut. Eine Frau, die zu sich steht und zu den Dingen, die sie für wichtig und richtig hält. Und wenn die ganze Welt anderer Meinung wäre.«

Karen sah ihn fassungslos an. »Wie könnte ich denn eine solche Frau sein? Wenn du mir immer nur deine Verachtung zeigst?«

»Umgekehrt«, sagte Wolf, »du musst es umgekehrt sehen. Wärst du eine solche Frau – hätte ich dann noch einen Grund, dir meine Verachtung zu zeigen?«

Er ging zur Tür. Er würde jetzt das Haus verlassen. Das Gespräch war beendet. Er hatte gesiegt.

Sie wollte ihn nur noch erschüttern. Diese glatte, gelassene Überlegenheit mit irgendetwas ins Wanken bringen.

»Ich fahre übrigens nicht mit in die Türkei!«, schleuderte sie ihm nach. »Und an diesem Plan ändert sich unter Garantie nichts!«

»In Ordnung«, sagte er gleichmütig, »dann lässt du es eben.«

Die Tür fiel hinter ihm zu. Es hatte nicht den Anschein, als habe Karen ihn mit ihrer Ankündigung treffen können.

Sie blieb allein in der stillen Küche zurück.

3

Es hatte sie fassungslos gemacht, von Marius gefesselt zu werden. So fassungslos, dass sie sich nicht einmal dagegen gewehrt hatte. Obwohl ihr das, wie sie dachte, wahrscheinlich kaum etwas genützt hätte. Er war stark, und seine unverkennbare Entschlossenheit machte ihn noch stärker. Inga hätte nicht zu sagen gewusst, auf welches Ziel sich seine Entschlossenheit richtete, aber es war, als werde er von irgendetwas angetrieben, die Schritte zu gehen, die er ging. Nichts und niemand würde ihn aufhalten können.

Irgendwoher hatte er eine Wäscheleine aufgetrieben, vermutlich aus dem kleinen Raum, der sich gleich neben der Küche befand und in dem Waschmaschine und Trockner standen. Er hatte die Leine in der Hand, als er Inga im Wohnzimmer überraschte, sie hatte das nur nicht gleich gesehen.

»Du bist nicht ertrunken«, hatte sie nach den ersten Schrecksekunden und ihrem gestammelten »Hallo, Marius« festgestellt.

»Nein«, sagte er, »ich bin nicht ertrunken.«

Ihr Zusammentreffen unter diesen Umständen – mitten in der Nacht in Rebeccas Haus, in das er offenbar gewaltsam eingedrungen war – war alles andere als normal, aber ein Instinkt hatte Inga das Gefühl gegeben, es könne lebensrettend für sie sein, wenn sie sich dennoch so verhielt, als finde sie seinen Auftritt nicht allzu befremdlich. Das würde ihr auch helfen, ihre eigene Angst im Zaum zu halten.

»Warum hast du dich nicht schon eher gemeldet? Ich war verrückt vor Sorge!« Übertreibe nicht, warnte die innere Stimme, er ist vielleicht irre, aber nicht dumm. Er weiß, dass du nach der Szene auf dem Schiff nicht mehr in Angst und Sorge um ihn vergangen bist.

»Ich meine«, setzte sie hinzu, »da bleibt ja auch noch viel zwischen uns zu klären.«

Er hatte sie mit einem hintergründigen Lächeln angesehen. »Bleibt es das?«

»Siehst du das anders?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Es spielt vielleicht alles keine Rolle mehr.«

»Die Küstenwache hat nach dir gesucht. Wie bist du über Bord gegangen? Ich habe ja überhaupt nichts mehr mitbekommen. «

»Der Baum mit dem Großsegel«, sagte er, »hat mich voll erwischt. Ich bin über Bord gefegt worden wie ein Stück Zeitungspapier.«

»Warst du bewusstlos?«

»Ich glaube nicht. Höchstens einen kurzen Moment. Aber ich konnte mich vor Schmerz nicht bewegen. Ich dachte, dass mindestens eine, wenn nicht mehrere Rippen gebrochen sind. Ich hing in meiner Schwimmweste, und das Schiff trieb ab, und ich konnte nichts tun …« Wieder zuckte er mit den Schultern.

»Und dann?«, fragte Inga, während gleichzeitig die verschiedensten Gedanken durch ihren Kopf jagten. Wo ist Rebecca? Warum ist er nicht einfach direkt zu mir gekommen? Warum nachts durchs Fenster? Was hat er vor?

»Irgendwann fing ich mich«, sagte er. »Es gelang mir, mich wieder zu bewegen. Zu schwimmen. Ich ging in einer winzigen, einsamen Bucht an Land und schlug mich zu Fuß hierher durch.«

»Warst du bei … warst du bei Rebecca?«, fragte Inga. Sie versuchte, gleichmütig zu klingen. Sie hatte Angst, obwohl sie sich einzureden versuchte, dass es nur ihre übertriebene Fantasie war, die ihr schreckliche Bilder vorgaukelte. Es musste nichts passiert sein. Es musste auch weiterhin nichts passieren.

Aber er ist krank!

In seine Augen trat ein angestrengter Ausdruck. »Hör zu, Inga«, sagte er, »wir haben ein Problem.«

»Wegen Rebecca?«

Er nickte. »Ich kann nicht von hier abreisen, ohne sie zur Rechenschaft zu ziehen, das wirst du verstehen. Ich hatte nur gehofft … nun, ich wollte mich mit Rebecca erst befassen, wenn du abgereist bist. Seit zwei oder drei Tagen beobachte ich das Haus und warte … warte …, aber du scheinst dich hier dauerhaft einnisten zu wollen?« Den letzten Satz formulierte er als Frage.

Seit Tagen beobachtete er das Haus! Sie konnte sich kaum mehr einreden, dass er harmlos sein sollte.

»Morgen«, sagte sie, »morgen wollte ich …« Sie verbesserte sich: »Heute … es ist ja schon heute. Am Abend geht mein Flug von Marseille.«

Marius wirkte fast ein wenig bekümmert. »Dann bin ich um Haaresbreite zu früh gekommen. Aber das lässt sich nun nicht mehr ändern. Sowieso habe ich fast den Verdacht, zwischen euch hat sich ein … freundschaftliches Verhältnis entwickelt? «

Wie hätte sie das abstreiten sollen? Sie war tagelang bei Rebecca geblieben, und wenn Marius sie beobachtet hatte, wusste er, wie oft sie zusammengesessen und geredet hatten.

»Ich mag sie«, sagte sie leise, »aber du hast ja schon auf dem Schiff angedeutet, dass es irgendwelche Schwierigkeiten zwischen euch gibt.« Sie hob hilflos die Hände. »Marius, willst du mir nicht erklären, was es damit auf sich hat? Siehst du, ich tappe völlig im Dunkeln. Es scheint sich um ein Vorkommnis zu handeln, das vor unserer gemeinsamen Zeit liegt, zumindest habe ich offenbar nicht das Geringste davon mitbekommen. Ich habe auch mit Rebecca darüber gesprochen. Sie hat auch keine Ahnung, was du meinen könntest. Warum setzen wir drei uns nicht zusammen und sprechen über das alles? Vielleicht entpuppt es sich ja auch als ein Missverständnis, und wir könnten es klären, und …«

Er unterbrach sie scharf. »Da gibt es nichts, was misszuverstehen wäre, kapiert? Gar nichts, absolut nichts. Darüber muss auch nicht mehr gesprochen werden. Was denkst du eigentlich? «, fuhr er sie an. »Denkst du, ich gebe dieser Person auch noch die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen? Sich reinzuwaschen? Willst du das? Willst du, dass sie sich rauswindet und so tut, als wäre sie ein Unschuldslamm?«

Das Thema schien ihn fast durchdrehen zu lassen.

»Ich will es nur verstehen«, sagte Inga, »und Rebecca auch. Gib uns doch diese Möglichkeit!«

Es war deutlich, dass ihn dieser Disput in Rage brachte. Er machte ein paar Schritte auf und ab, wobei seine Bewegungen etwas Aggressives und Unbeherrschtes hatten.

»Uns«, sagte er, »merkst du, dass du von uns sprichst? Als ob ihr eine Einheit bildetet! Du und diese …« Er spuckte das Wort förmlich aus: »Diese Sozialarbeiterschlampe

Inga zuckte zusammen. Seine Wut stand beinahe greifbar im Raum.

»Marius«, sagte sie vorsichtig.

Er blickte sie finster an. »Ich kann dich nicht gehen lassen. Du würdest sofort zur Polizei rennen, um den Kopf deiner geliebten Rebecca aus der Schlinge zu ziehen!«

Es war ein naiver Versuch, dennoch unternahm sie ihn. »Nein, Marius. Was immer ihr zu klären habt, klärt es. Ich verspreche dir, dass ich nach Deutschland fliege und mich nicht um deine Angelegenheiten kümmere.«

Jetzt war sein Blick verächtlich. »Inga, Inga«, sagte er, »hältst du mich für so dumm? Du hast Angst vor mir und würdest mir jetzt alles zusagen. Und du hast Angst um Rebecca. Du vibrierst geradezu vor Angst. Und du denkst, dass der gute Marius ganz schön durchgeknallt ist, stimmt’s?«

Sie wich seinen Augen aus. Er lachte leise. »Klar denkst du das. Seit ich mit dem Schiff abhauen wollte. Seit ich dich in die Kajüte gestoßen habe. Und nun tauche ich auch noch mitten in der Nacht hier auf. Zerschlage das Badezimmerfenster und tappe leise im Haus herum. Du würdest alles daransetzen, zu verhindern, dass ich Rebecca jetzt verhöre!«

»Nein, Marius, ich schwöre dir, dass …«

Mit zwei großen Schritten war er neben ihr, packte ihren Arm und drückte ihr dabei seine Finger, die sich anfühlten, als seien sie aus Stahl, so fest ins Fleisch, dass sie aufschrie – vor Schmerz und vor Schreck.

»Versuche nie wieder, mich zu verscheißern, hörst du? Nie wieder! Ich bin nicht dumm! Ich bin nicht der Letzte! Behandle mich nie wieder so!«

Sie starrte ihn an. Er schüttelte sie. Sie meinte, er breche ihr dabei den Arm.

»Sag Ja! Sag, du bist nicht der Letzte, Marius! Sag es!«

Sie schluckte trocken. »Du bist nicht der Letzte, Marius.«

Er ließ sie los. In ihrem Arm pochten die Nerven.

»Ich will dir etwas sagen, Inga: Deine teure Rebecca liegt oben auf dem Fußboden in ihrem Schlafzimmer. Gefesselt. Sie hat einen Knebel in ihrem Mund, und sie wird keine Hilfe herbeischreien können. Ich lasse mich von dir nicht daran hindern, zu tun, weshalb ich hergekommen bin. Und deshalb wirst du hierbleiben. So lange, bis ich mit Rebecca fertig bin!«

In diesem Moment erst hatte sie die Wäscheleine in seinen Händen gesehen. Und begriffen, dass er sie auch fesseln würde. Und sich nicht im Mindesten gewehrt, als er damit anfing. Wohl auch deshalb, weil sie genau wusste, dass es überaus gefährlich wäre, ihn zu reizen.

Er hatte sie auf einen Stuhl gedrückt, ihre Arme hinter die Lehne gezogen und sie dort zusammengebunden.

»Tut mir Leid«, sagte er etwas sanfter, während er vor ihr kniete und ihre Füße an die Stuhlbeine fesselte, »aber du hättest ja abreisen können. Niemand hat dir gesagt, dass du mit ihr Freundschaft schließen sollst!«

Als er das Zimmer verließ, hatte sie voller Panik gefragt: »Wohin gehst du?«

Aber er hatte sie ignoriert, und sie hatte seine Schritte auf der Treppe verklingen hören. Sie wollte hinter ihm herrufen, wollte ihn dazu bringen, dass er bei ihr blieb, dass er mit ihr redete, aber sie schluckte ihren Schrei im letzten Moment hinunter. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Vielleicht war es besser, allein zurückzubleiben. Vielleicht fand sich eine Möglichkeit für sie, zu flüchten.

Schon recht bald allerdings hatte sie gemerkt, dass er sie auf eine Art gefesselt hatte, die es ihr unmöglich machte, sich rasch zu befreien. Er hatte die Wäscheleine so eng zusammengezogen und vielfach verknotet, dass ihr nicht der geringste Bewegungsspielraum blieb und sie daher keine Möglichkeit sah, ihre Glieder aus den Schlingen zu ziehen. Sie wusste, dass sich Wäscheleinen mit der Zeit lockerten, dass sie sich dehnten. Falls Marius nicht alle paar Stunden aufkreuzen und die Haltbarkeit seiner Fesselung überprüfen würde, müsste sich irgendwann eine Möglichkeit für sie finden, sich herauszuwinden. Aber das konnte zwölf Stunden oder mehr dauern. Und so lange würde er sie wahrscheinlich kaum allein lassen. Sie brauchte zumindest etwas zu trinken zwischendurch oder musste auf die Toilette. Oder wären ihm derlei Bedürfnisse seiner Opfer völlig gleichgültig?

Sie drängte die aufkeimende Panik zurück. Nur nicht die Nerven verlieren. Inmitten dieses unbegreiflichen Albtraums wäre dies das Schlimmste, was ihr passieren könnte.

Den Rest der Nacht hatte sie hellwach verbracht. Anspannung und Aufregung verhinderten, dass sie einschlief, aber auch die wachsenden Schmerzen in ihren Gelenken. Marius hatte dafür gesorgt, dass ihre Durchblutung nicht mehr richtig funktionierte. Ihre Füße wurden immer kälter, in den frühen Morgenstunden begannen die Zehen heftig zu kribbeln. Aus ihren nach hinten verdrehten Armen strahlten die Schmerzen in Hals und Schultern aus. Immer wieder musste sie gegen die Panik kämpfen, die ständig auf der Lauer lag und zahlreiche Versuche unternahm, sie anzufallen. Inga dachte an absterbende Glieder und an unerträgliche Schmerzen, und dann merkte sie, wie ihr sofort der Schweiß am ganzen Körper ausbrach und ihr Atem flach wurde. Sie musste sich mit aller Kraft dazu zwingen, wieder ruhig und tief durchzuatmen.

Er lässt dich nicht einfach verrecken. Er hat es auf Rebecca abgesehen, nicht auf dich. Gegen dich hat er im Grunde nichts. Er will nicht, dass du leidest. Und das ist deine Chance. Du musst ruhig bleiben, um keinesfalls den richtigen Moment zu verpassen. Den Moment, da du Hilfe holen kannst.

Draußen dämmerte der nächste heiße, wolkenlose, von Lavendel – und Pinienduft geschwängerte Hochsommertag in der langen Kette herrlicher Tage heran. Inga, die die wachsenden Schmerzen in ihrem verkrampften Körper immer schlechter verdrängen konnte, versuchte, sich Bilder und Eindrücke der vergangenen Woche ins Gedächtnis zu rufen und sich damit abzulenken. Sie sah sich und Rebecca am Frühstückstisch auf der Veranda, sie roch den Kaffee und spürte den Geschmack des frisch aufgebackenen Baguettes, das mit Butter und Mirabellenmarmelade bestrichen war. Der Morgenwind umfächelte ihr Gesicht. Er spielte in Rebeccas langen, dunklen Haaren. Dieses traurige Gesicht, der abwesende Ausdruck, der verriet, dass Rebecca ständig in ihre Vergangenheit lauschte …

Nein, sie durfte jetzt nicht an Rebecca denken. Inga kehrte jäh in die Wirklichkeit zurück. Rebecca, die, vielleicht noch viel schlimmer und brutaler zusammengeschnürt als sie selbst, oben in ihrem Zimmer lag, ausgeliefert an einen Geisteskranken, der einen obskuren Racheplan verfolgte. Eine Rache, von der niemand, außer Marius selbst, wusste, worauf sie sich eigentlich gründete. Der niemand deswegen auch etwas entgegenhalten konnte. Die voller Willkür und von einem erschreckend tiefen Hass geprägt war.

Oder wusste Rebecca doch etwas? Inga war bislang einfach davon ausgegangen, dass Rebeccas Verwirrung und Ahnungslosigkeit wegen Marius’ offenkundiger Abneigung gegen sie echt waren. Sie hatte den Eindruck gehabt, dass sich Rebecca deswegen angestrengt den Kopf zerbrochen hatte, jedoch zu keinem Ergebnis gekommen war. Aber wie sicher konnte sie sein? Vielleicht gab es Untiefen in Rebeccas Leben, die diese sehr geschickt und überzeugend verbarg. Vielleicht wusste Rebecca ganz genau, worum es ging. Vielleicht war Rebecca gar nicht wegen des Todes ihres Mannes aus Deutschland verschwunden, vielleicht lief sie vor ganz anderen Dingen davon. Vor schwarzen Flecken in ihrer Vergangenheit, die es ihr hatten geraten scheinen lassen, so tief sie nur konnte unterzutauchen. Aber hätte sie dann nicht Marius erkennen müssen? Oder – falls er ihr zuvor nicht persönlich begegnet war – doch bei der Nennung seines Namens erschrecken müssen? Wäre es nicht unter diesen angenommenen Umständen natürlich gewesen, wenn sie mit Erschrecken und Furcht auf Ingas Mitteilung, dass Marius Rachepläne gegen sie verfolgte, reagiert hätte? Ihre ratlose Verwunderung hatte sehr aufrichtig gewirkt. Auch hatte sie nichts unternommen, sich zu schützen. Sie hatte weder das Haus verbarrikadiert noch geplant, einen neuen, unbekannten Ort aufzusuchen. Sie hatte keinen Moment lang Angst gezeigt. Sie war melancholisch und gedankenversunken wie immer gewesen. Sie hatte Interesse gezeigt an der Beziehungsgeschichte zwischen Marius und ihr, Inga, und das war ungewöhnlich gewesen für eine derartig depressive Frau, aber trotz ihres Interesses hatte sie zu keinem Zeitpunkt nervös oder unsicher gewirkt. Zwischen den einzelnen Gesprächen war sie stets wieder in ihre eigene Welt abgeglitten. Wenn sie geschauspielert hatte, so hatte sie dies mit atemberaubender Geschicklichkeit getan.

Aber, so rief sich Inga wieder zur Ordnung, es hatte keinen Sinn, Rebecca zur Täterin zu machen, nur um die Angst vor Marius zu besiegen. Sie hätte sein Verhalten so gern verstanden, weil sie spürte, dass ihre Furcht sie nicht mehr so beherrschen würde, wenn sie erst begriff, was geschehen war. Aber ganz gleich, was Rebecca in der Vergangenheit verbrochen haben mochte, es machte nichts von Marius’ Verhalten besser. Nicht sein Verhalten auf dem Schiff, nicht das, was er in der vergangenen Nacht gezeigt hatte. Er war eine tickende Zeitbombe.

Ich bin nicht der Letzte!

Irgendwann waren sein Selbstwertgefühl und seine Selbstachtung von jemandem zerstört worden. So schwer und so nachhaltig, dass er sich davon nicht erholen konnte, dass er in einer offenkundig schweren Psychose lebte. Es musste nicht Rebecca gewesen sein, die ihn gebrochen hatte. Sie konnte, unwissentlich und ungewollt, zu irgendeinem Zeitpunkt, an den sie sich nicht erinnerte, Salz in die Wunde gestreut haben. Inga war inzwischen überzeugt, dass etwas Derartiges ausreichen konnte, Marius fast um den Verstand zu bringen.

Es war nicht zu ergründen. Inga starrte aus dem Fenster. Die Sonne kletterte höher. Es mochte nach neun, vielleicht halb zehn am Vormittag sein. Von oben aus dem Haus war nicht ein einziger Laut zu hören. Seit Stunden schon nicht.

Was geschah dort im ersten Stock?

Es war heiß. Ingas Zunge klebte an ihrem ausgedörrten Gaumen. Die Füße kribbelten. Die Arme schmerzten.

Vielleicht war der Zug der Wäscheleine ein kleines bisschen lockerer geworden; Inga hoffte jedenfalls, dass sie sich dies nicht aus reinem Wunschdenken heraus einbildete. Wann immer sie die Kraft fand, trotz der höllischen Schmerzen ihre Armmuskeln anzuspannen, stemmte sie sich gegen ihre Fesseln. Noch war nicht daran zu denken, dass sie sich herauswinden konnte. Aber wenn ihr noch einige Stunden Zeit blieben …

Nicht aufgeben, redete sie sich gut zu, nicht aufgeben und bloß nicht durchdrehen!

Wenn sie nur einen Schluck Wasser bekäme!

In ein paar Stunden, das war ihr klar, würde es für sie nicht mehr in erster Linie darum gehen, ihre Fesseln loszuwerden. Bis dahin würde der Durst ihre schlimmste Bedrohung sein. Und selbst wenn sie sich befreien konnte, blieb es fraglich, ob ihre Füße sie noch trugen. Sie schienen langsam abzusterben. Wahrscheinlich konnte sie schon jetzt nicht mehr auf ihnen stehen.

Ihr schossen die Tränen in die Augen. Vor lauter Verzweiflung, und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, auf keinen Fall zu weinen.

Verdammt, hör auf!, sagte sie sich, aber die Tränen flossen nur noch heftiger.

Immerhin, dachte sie, würde sie in späteren Jahren – falls es spätere Jahre für sie gab und sie diesen Irrsinn überlebte – immer Verständnis für ihre Schwäche haben.

In einer Lage wie der ihren war es erlaubt, zu weinen.

4

Ein Stück Normalität war in Claras Leben zurückgekehrt. Sie war noch immer angespannt, wenn sie zum Briefkasten ging, um nach der Post zu sehen, aber mit jedem Tag, der verging, ohne dass wieder einer der schrecklichen Briefe auftauchte, wurde sie ein wenig ruhiger. Ihre Knie zitterten nicht mehr so sehr, wenn sie aus dem Küchenfenster blickte und den Postboten die Straße entlangkommen sah, und sie hatte nun sogar zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine ganze Nacht durchgeschlafen, ohne zwischendurch aufzuwachen und, von Herzrasen geplagt, eine Stunde lang in die Dunkelheit zu starren, deren Undurchdringlichkeit ihr grausame Bilder spiegelte.

Vielleicht war das Schlimmste überstanden. Vielleicht hatte sich der Irre ein neues Opfer gesucht, das er schikanieren konnte. Vielleicht hatte er sie zufällig ausgewählt und ebenso zufällig wieder fallen gelassen. Wogegen natürlich der Umstand sprach, dass auch Agneta betroffen gewesen war. Sie waren Kolleginnen gewesen. Das machte einen Zufall wiederum höchst unwahrscheinlich.

Bert war an diesem Mittwoch wieder frühmorgens zur Arbeit aufgebrochen, nicht ohne einen wehmütigen Blick auf seine kleine Familie zu werfen. Clara, die Marie auf dem Schoß hielt und fütterte, im Licht der einfallenden Morgensonne. Die Tür zum Garten stand offen, es roch nach taufeuchtem Gras, und man konnte die Vögel laut zwitschern hören.

»Wie gerne bliebe ich bei euch«, hatte er seufzend gesagt, »ich versäume so viel Zeit mit Marie! Macht euch einen schönen Tag. Geh viel in den Garten mit der Kleinen, Clara! Die Luft ist gesund für sie!«

Clara hatte Marie in ihren Laufstall auf der Terrasse gesetzt, dafür gesorgt, dass sie im Schatten war und ihren stoffbezogenen Zauberwürfel bei sich hatte, der beim Herumkullern Musik machte. Sie selbst räumte das Haus auf, putzte das Badezimmer und sortierte die trockene Wäsche vom Vortag. Sie hatte viel zum Bügeln heute. Sie würde sich das Bügelbrett auch auf die Veranda stellen.

Um kurz nach zehn Uhr klingelte das Telefon. Es war Agneta, und kaum dass Clara die Stimme ihrer einstigen Kollegin erkannte, merkte sie, wie ihr Gaumen trocken und ihre Beine weich wurden. Die Angst saß noch viel dichter unter der Oberfläche, als sie in ihrer Euphorie wegen der durchschlafenen Nacht vermutet hatte.

»Hallo, Agneta«, sagte sie betont munter, »wie geht’s?«

»Ich habe gestern den ganzen Tag Nachforschungen angestellt. « Agneta kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich habe mit so ziemlich allen Kolleginnen von damals telefoniert. Es war gar nicht so einfach, weil einige inzwischen auch anderswo arbeiten, oder sie haben geheiratet, sind weggezogen und haben andere Namen.«

»Und?«, fragte Clara. Sie hatte wieder das altvertraute Herzrasen.

»Keine. Keine hat solche Briefe erhalten. Und ich wüsste nicht, warum jemand in dieser Sache lügen sollte.«

Aus irgendeinem Grund empfand Clara diese Aussage als beruhigend. Sie wusste nicht genau, warum, aber es war ihr lieber, dass sie und Agneta die einzigen Betroffenen waren, als dass sie hätte erfahren müssen, dass das gesamte Jugendamt mit Drohbriefen überzogen wurde.

»Allerdings«, fuhr Agneta fort, »habe ich dann doch noch jemanden gefunden, dem das Gleiche passiert ist wie uns.«

Clara umklammerte den Telefonhörer so fest, als wolle sie ihn zerquetschen. Also doch. Die Kreise wurden größer.

»Erinnerst du dich an Sabrina?«, fragte Agneta. »Sabrina Baldini? Die mit diesem gut aussehenden Italiener verheiratet ist?«

Clara kam der Name nur vage bekannt vor. »Ich kann sie im Moment nicht einordnen«, sagte sie.

»Ich kannte sie vom Studium her. Sie war auch Sozialpädagogin, aber nach ihrer Heirat hörte sie auf zu arbeiten. Sie war dann nur noch zeitweise für eine Privatinitiative tätig, die sich der Gewaltprävention in Familien verschrieben hatte. Kinderruf hieß die Einrichtung.«

»Kinderruf«, wiederholte Clara, »ja. Ich kannte die Organisation. Ich hatte ein paarmal mit ihnen zu tun.«

»Sabrina betreute zwei – oder dreimal in der Woche das so genannte Sorgentelefon. Kinder und Jugendliche konnten dort ihre Probleme schildern, sie konnten anonym bleiben, aber auch unter Nennung ihres Namens gezielt um Hilfe bitten. «

»Und diese Sabrina hat auch …?«

»Ich weiß gar nicht, wie ich darauf kam, sie anzurufen. Sie gehörte ja nur ganz kurz zu uns. Aber ich stolperte plötzlich über ihren Namen und ihre Nummer in meinem Adressbuch, und da dachte ich, warum frage ich nicht auch sie.« Agneta machte eine kurze Pause.

»Und das war ein Volltreffer«, sagte sie.

Claras Herz schlug schnell und so hart und laut, dass sie meinte, man müsste es sogar durch das Telefon hören können. Auf der Terrasse krähte Marie, dudelte der Zauberwürfel seine Melodien. Nicht eine Wolke hatte sich vor die strahlende Sonne geschoben, und doch kam es Clara vor, als verdunkle sich der heiße Tag.

»Ich habe Sabrina in einem absolut desolaten Zustand angetroffen«, fuhr Agneta fort, »sie war ganz überwältigt, meine Stimme zu hören, und im nächsten Moment fing sie dann auch schon an zu weinen. Sie hat mir einiges erzählt … Ihr Mann hat die Scheidung eingereicht und ist auch schon daheim ausgezogen, weil Sabrina offenbar ein längeres Verhältnis mit einem anderen Mann hatte. Der hat sie aber auch verlassen. Sie ist total allein und völlig am Boden zerstört.«

»Aber …«

»Warte. Die Probleme mit den Männern sind nicht der einzige Grund für ihre angeschlagenen Nerven. Sabrina bekommt seit Anfang Mai Drohbriefe – und zwar genau in der Art und in dem Stil, wie auch unsere waren.«

»Oh«, sagte Clara. »War sie bei der Polizei?«

»Zweimal. Man hat sie wohl auch ernst genommen, aber ihr letztlich im Grunde nur sagen können, dass man nichts für sie tun könne. Es gibt keine Möglichkeit zu ermitteln, woher die Briefe stammen.«

»Und … und für wie gefährlich hält man bei der Polizei den Verfasser?«, fragte Clara beklommen.

Agnetas Stimme klang gleich etwas fröhlicher. »Das ist die wirklich gute Nachricht. Man hält ihn eigentlich nicht für gefährlich. Man meint, es könnte sogar ein Jugendlicher sein, der sich einen Spaß daraus macht, jemanden richtig zu erschrecken, und der die Tragweite dessen, was er da tut, nicht überblickt. Denn es ist ja nichts von all dem, was in den Briefen angedroht wird, auch nur andeutungsweise passiert.«

»Wann hat sie den letzten Brief bekommen?«

»Vor etwas mehr als drei Wochen. Also ähnlich wie bei uns.«

Clara mühte sich ab, all die Informationen in ihrem Kopf in eine Ordnung zu bringen. Sie war so erschrocken, dass sie Schwierigkeiten hatte, klar und logisch zu denken.

»Aber«, sagte sie schließlich, »als die Polizei Sabrina und ihrem Mann versicherte – oder es zumindest für wahrscheinlich erklärte –, dass der Briefeschreiber harmlos sei, wusste sie natürlich nichts von unseren Briefen. Da sah es so aus, als sei Sabrina ein Einzelfall.«

»Ja. Aber ändert das etwas?«

»Ich weiß nicht«, sagte Clara, »aber es gibt doch der Angelegenheit eine andere Dimension, findest du nicht? Sabrina Baldini ist nicht irgendein zufällig ausgewähltes Opfer. So wenig wie du oder ich. Wir haben alle drei einen gemeinsamen Nenner: unsere Arbeit beim Jugendamt. Was doch eigentlich bedeutet, dass der oder die Täter in irgendeiner Weise auch aus diesem Umfeld stammen müssen.«

»Aber Sabrina hat dort nie gearbeitet«, meinte Agneta, »ihre Arbeit ging lediglich in die gleiche Richtung wie unsere. «

»Das reicht doch schon. Da ist doch ein klarer Zusammenhang. Mit Kinderruf hatten wir schließlich auch zu tun.«

»Ich werde noch einmal versuchen, alles, was damals war, zu rekonstruieren«, sagte Agneta. Sie klang verzagt. »Das wird nicht einfach sein. Sabrina bei Kinderruf. Ich in der Abteilung Sozialdienst. Du bei der Erziehungshilfe. Aber …«

»Da ging vieles Hand in Hand«, sagte Clara. Sie lauschte nach draußen. Marie krähte noch immer vergnügt vor sich hin. Sie würde sie von jetzt an keine Minute mehr allein im Garten lassen. Die alte Angst war wieder da.

»Ich denke auch noch mal ganz genau nach«, sagte sie, »vielleicht fällt mir ein Fall ein, an dem jemand beteiligt war, dem ich derartige Briefe zutrauen würde. Aber meinst du nicht auch, dass jetzt doch der Zeitpunkt gekommen ist, zur Polizei zu gehen?«

»Lass mich das noch einmal überschlafen«, bat Agneta. Clara vermutete, dass sie in Wahrheit die Angelegenheit noch einmal mit ihrem Mann besprechen wollte. »Wir müssen auch bedenken, Clara, dass wir alle drei nun schon seit drei Wochen keine Briefe mehr erhalten haben. Vielleicht ist die Sache ohnehin zu Ende.«

»Vielleicht«, meinte Clara wenig überzeugt. Sie fröstelte trotz des heißen Tages. »Vielleicht ist es vorbei, Agneta, aber keine von uns kann im Moment schon wieder in ihr normales Leben zurückkehren. Vielleicht können wir es nie mehr, wenn die Sache ungeklärt bleibt. Ich fühle mich nicht sicher. Und du dich auch nicht, wenn du ehrlich bist.«

»Nein«, gab Agneta zu, »ich fühle mich auch nicht sicher.«

Beide schwiegen sie einen Moment. Clara lauschte die ganze Zeit über angespannt nach draußen. Sie würde jetzt Marie hereinholen. Sofort. Und dann die Gartentür sorgfältig verschließen.

»Ich rufe dich morgen an«, sagte Agneta schließlich, »und bis dahin ist uns entweder eingefallen, um welche Geschichte es sich handeln könnte. Oder wir gehen zur Polizei, ohne zu wissen, um was es geht. Ich verspreche dir, Clara, wir unternehmen etwas.«

Sie verabschiedeten sich. Clara lief sofort hinaus, räumte den Laufstall ins Wohnzimmer und setzte Marie hinein, die zu weinen begann, weil sie draußen bleiben wollte. Sie verschloss sorgfältig die Verandatür, überzeugte sich, dass auch sonst überall im Haus Türen und Fenster verschlossen waren.

Sie sperrte den herrlichen Tag aus, seine Sonne und seine Wärme, die brummenden Bienen und tanzenden Falter, den Duft der Blumen und den des warmen Grases.

Sie sperrte das Leben aus – aber nicht ihre Angst.

5

Kommissar Kronborg saß wieder einmal im Wohnzimmer, auf demselben Sessel wie am Abend zuvor. Trotz der Hitze war er wie stets korrekt gekleidet. Dankbar hatte er ein Glas Wasser akzeptiert und schon fast leer getrunken. Eine sehr blasse Karen saß ihm gegenüber.

»Dieses Ehepaar«, sagte Kronborg, »Fred und Greta Lenowsky, scheint tatsächlich nicht einen einzigen Angehörigen gehabt zu haben. Es gibt keine Kinder, keine Geschwister, keine Nichten und Neffen, offenbar nicht einmal Cousins oder Cousinen. Zwei völlig allein stehende Menschen, die nur noch einander hatten. Sie waren wohl sehr einsam.«

»Sie schienen aber auch keinen Kontakt zu wollen«, sagte Karen. »Als ich mich ihnen als neue Nachbarin vorstellte, waren sie nicht direkt unfreundlich, aber auch alles andere als herzlich. Sie erweckten nicht den Anschein, als ob sie eine nähere Bekanntschaft mit uns aufbauen wollten. Eher hatte ich den Eindruck, mein Besuch wäre ihnen etwas lästig.«

»Wir haben noch einmal mit den Nachbarn auf der anderen Seite gesprochen«, sagte Kronborg. »Demnach gab es wohl eine Putzfrau, die regelmäßig zweimal die Woche ins Haus kam. Anhand des Adressbuches von Frau Lenowsky haben wir ihre Nummer ermittelt und sie kontaktiert. Sie erklärte, sie sei zu Beginn der letzten Woche von Fred Lenowsky angerufen worden. Er habe ihr gesagt, er und seine Frau würden für drei Wochen verreisen, sie brauche also nicht zu kommen. Sie war sehr überrascht, zum einen, weil sie drei Tage zuvor dort gewesen war und niemand etwas von einer längeren Reise erwähnt hatte. Zum anderen, weil sie normalerweise dann, wenn die Lenowskys verreisten, gebeten wurde, mehrmals in der Woche in ihr Haus zu gehen und sich um die Post und die Blumen zu kümmern. Sie sprach das auch an, aber Fred Lenowsky hat ihr äußerst schroff erklärt, sie solle sich um nichts kümmern und keinesfalls herüberkommen. Woraufhin sie sehr gekränkt war, und, wie sie sagt, nun unter keinen Umständen mehr einen Finger rühren wollte. Also kümmerte auch sie sich nicht mehr um die beiden alten Menschen und um das Haus.«

»Aber Fred Lenowsky stand bereits unter Druck«, vermutete Karen.

Kronborg nickte. »Massiv vermutlich. Er musste dafür sorgen, dass die Putzfrau keinesfalls plötzlich aufkreuzte. Wahrscheinlich hatte er ein Messer an der Kehle. Er hat nicht einmal versucht, ihr versteckt irgendeinen Hinweis zu geben. «

»Oder ihm ist so schnell keine Möglichkeit eingefallen. Ich glaube nicht, dass ich in einer solchen Situation noch halbwegs klar denken könnte.«

»Was mich beschäftigt«, sagte Kronborg, »ist die Frage, woher der Täter von der Existenz der Putzfrau wusste. Natürlich muss das nicht von Bedeutung sein; die Lenowskys waren alt und bewohnten ein ziemlich großes Haus. Dass sie, um es sauber zu halten, Hilfe in Anspruch nahmen, musste auch einer Person, die nicht mit den Lebensgewohnheiten dort vertraut war, als ziemlich wahrscheinlich erscheinen. Verängstigt, wie sie ganz sicher waren, dürften sie das Vorhandensein einer Putzfrau sofort zugegeben haben, als sie gefragt wurden. Sehr zu Recht zitterten sie schließlich um ihr Leben. Es könnte aber auch sein, dass der Täter eben doch etwas besser Bescheid wusste über die Abläufe im Hause Lenowsky. Was wieder zu der Theorie führen würde, dass es sich um einen Bekannten handelte. Schließlich musste er ja auch nicht einmal einbrechen. Er wurde ohne Schwierigkeiten eingelassen oder verfügte sogar über einen Schlüssel.«

Karen war noch etwas anderes aufgefallen. »Die Putzfrau wurde angerufen? Aber dann hätte doch deren Nummer in der Wahlwiederholung sein müssen, nicht unsere!«

»Die Putzfrau wurde von Fred Lenowskys Handy angerufen. Ebenso wie der Pizzaservice einen Tag später. Der Täter hat sich das Handy wahrscheinlich gleich zu Anfang geschnappt. Wenn wir davon ausgehen, dass es sich um nur eine Person handelt – was wir nicht sicher wissen, aber es wurde jedenfalls nur eine Pizza bestellt –, so musste er die ganze Zeit über zwei Menschen bewachen. Das erzeugt Stress, und so war ein schnurloser Apparat, mit dem er sich frei bewegen konnte, für ihn sicher sinnvoller als das Festnetztelefon, für das es nur den einen Apparat im Wohnzimmer gab.«

Karen musste an den Pizzakarton denken, den Pit so entgeistert in den Händen gehalten hatte.

»Da wurde wirklich noch Pizza bestellt«, sagte sie, »ganz normal, als wäre nichts geschehen.«

»Sie haben beim Pizzaservice den Ausfahrer ermittelt, der die Pizza an jenem Tag – Dienstagmittag letzter Woche – zu den Lenowskys gebracht hat. Man kannte sie dort nicht als Kunden, es war das erste Mal, dass sie bestellten. Der junge Mann erinnert sich, dass ihm eine alte Frau öffnete, der Beschreibung nach Greta Lenowsky. Es hatte allerdings lange gedauert, er hatte mehrfach geklingelt und war schon fast so weit gewesen, unverrichteter Dinge wieder zu gehen. Er sagt, die alte Frau habe wie ein Gespenst ausgesehen. Er dachte, sie sei krank. Sie trug einen Morgenmantel, hatte ungekämmte, struppige Haare und ein kalkweißes Gesicht. Sie öffnete die Tür nur einen Spalt breit. Sie sprach kein Wort, und ihre Hand zitterte, als sie die Pizza entgegennahm. Sie gab ihm das genau abgezählte Geld und schloss sofort wieder die Tür.«

»Und das kam ihm nicht seltsam vor?«, fragte Karen.

Kronborg zuckte mit den Schultern. »In gewisser Weise schon, aber er meinte, alte Menschen seien oft seltsam, gerade wenn jemand Unbekanntes an der Haustür klingelt. Er hatte es eilig, er musste weiter – er hat einfach nicht länger über Greta Lenowsky nachgedacht. Er sagt, dass es natürlich möglich sei, dass jemand schräg hinter ihr gestanden habe. Der winzige Spalt der geöffneten Haustür habe es für ihn unmöglich gemacht, etwas zu sehen.«

Karen strich sich die Haare aus der Stirn. Sie merkte, dass sie schwitzte. »Sie hatten keine Chance«, sagte sie leise, »in ihrem eigenen Haus, umgeben von Nachbarschaft, hatten die Lenowskys keine Chance, mit dem Leben davonzukommen.«

»Und wir werden uns nicht gerade leicht tun, ihren Mörder zu fassen«, meinte Kronborg. Er sah müde und frustriert aus. »Ein altes Ehepaar, seit langem nicht mehr berufstätig, ohne Verwandte und ohne Freunde, in größtmöglicher Distanz auch zur Nachbarschaft lebend und überdies seit vier Jahren erst am Ort des Geschehens zu Hause – das ist wie eine glatte Felswand. Wenig Möglichkeiten, die Füße zu setzen und Halt für die Hände zu finden.«

»Am ehesten bieten sich wohl noch Gelegenheiten über Fred Lenowskys Beruf«, sagte Karen. »Ein so erfolgreicher Anwalt muss viele Menschen gekannt haben.«

»Er muss sie aber nicht an sich herangelassen haben«, sagte Kronborg. »Ein Mann kann höchst erfolgreich seinen Beruf ausüben und dennoch von niemandem gekannt werden. Aber Sie haben natürlich Recht. Seine berufliche Zeit ist unser einziger Einstiegspunkt.« Er erhob sich und baute sich dabei zu seiner überaus imposanten Größe auf. »Ich hoffe, ich muss Sie nicht mehr so oft belästigen«, sagte er. »Wissen Sie, ich komme so oft hierher, weil ich wohl immer noch hoffe, Ihnen fällt irgendetwas äußerst Wichtiges ein. Sie sind neben dem Gärtner der einzige Mensch, dem etwas dort drüben seltsam vorkam, und Sie haben zudem auch noch das Haus zehn Tage lang intensiv beobachtet. Sie haben es beobachtet, während der Mörder darin sein Unwesen trieb. Darin könnte für uns eine große Chance stecken.«

Auch Karen stand auf. »Ich fürchte, ich habe Ihnen alles gesagt. Dennoch zerbreche ich mir natürlich ständig den Kopf, und vielleicht fällt mir ja tatsächlich noch etwas ein.« Sie glaubte es nicht wirklich. Wer immer der Mörder der Lenowskys gewesen war, er hatte sich sehr geschickt verhalten. Niemand hatte ihn zu Gesicht bekommen. Außer der schrecklichen Tat selbst hatte er keinerlei Spuren hinterlassen.

Eine Frage brannte noch auf ihrer Zunge, die ganze Zeit schon, aber sie hatte bislang nicht gewagt, sie zu stellen, weil sie die Antwort fürchtete. Kronborg, der sie wie stets sehr genau und eindringlich musterte, begriff, dass sie etwas bedrückte.

»Ja?«, fragte er.

Sie schluckte. »Ich … wollte nur wissen … Sie sagten, der Täter habe Greta Lenowsky mit Messerstichen getötet. Wie … nun, wie kam Fred Lenowsky ums Leben?«

Auch Kronborg zögerte einen Moment. »So, wie Sie ihn gefunden haben«, sagte er dann. »Sein Mörder hat es sich leicht gemacht – und Fred Lenowsky sehr schwer. Er hat ihn dort ins Bad gesetzt und gefesselt und den Kopf nach oben gebunden, einen Knebel in den Mund gesteckt, und ihn dann einfach sitzen lassen. Lenowsky ist verhungert und verdurstet, er hatte sicher mit Atemnot zu kämpfen wegen des Knebels, und der hochgebundene Kopf muss ihm nach einigen Stunden unerträgliche Schmerzen bereitet haben. Lenowsky ist sehr langsam und sehr qualvoll gestorben.«

»Aber …« Sie konnte Kronborg nicht ansehen, sie starrte an die gegenüberliegende Wand ihres Wohnzimmers, betrachtete angelegentlich den kleinen gerahmten Druck eines Sonnenblumenfeldes von van Gogh, der dort hing. Es war zu schlimm, was sie hörte; für den Moment konnte sie ihr Entsetzen, das in ihren Augen zu lesen sein musste, mit niemandem teilen. »Aber … warum … so … so entsetzlich grausam? «

»Hass«, sagte Kronborg, »hinter dieser Tat steckt ein atemberaubender Hass. Und das bringt mich immer wieder an den Punkt, inzwischen mit ziemlich großer Sicherheit zu glauben, dass die Lenowskys nicht die zufälligen Opfer irgendeines Irren geworden sind. Da war jemand krank vor Hass auf Fred Lenowsky, und der Moment in Lenowskys Leben, da dieser Hass entstand, da die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden – und daran muss Lenowsky wissentlich oder unwissentlich beteiligt gewesen sein –, dieser Moment muss zu finden sein. Dann kommen wir weiter.«

»Ich hoffe, Sie finden diesen Moment«, sagte Karen. Ihre Stimme klang brüchig.

»Das hoffe ich auch«, sagte Kronborg.

6

Als Inga Schritte auf der Treppe hörte, erstarrte sie und hielt sofort inne in ihren unaufhörlichen Versuchen, ihre Fesseln zu lockern. Die Wäscheleine war schon viel nachgiebiger geworden, aber es war noch nicht daran zu denken, sie abzustreifen. Wenn Marius nun jedoch feststellte, dass sie sich auf dem Weg zur Befreiung befand, würde er in Sekundenschnelle ihre Arbeit von Stunden zunichte machen. Und am Ende auch noch wütend werden. Sie hatte Angst vor ihm. In Wut mochte sie ihn nicht erleben.

Er beschäftigte sich eine Weile in der Küche. Geschirr klapperte, Gläser klirrten. Dann zog Kaffeeduft durch das Haus. Inga spürte wieder brennend ihren Durst. Sie hatte auch Hunger, aber der war nicht so schwer zu ertragen. Der Durst quälte sie weit mehr.

Eine Viertelstunde später kam Marius ins Zimmer, einen großen Becher Kaffee in der Hand. Er trank jedoch selbst daraus, offenbar hatte er ihn nicht für Inga bestimmt. Lautlos und inbrünstig betete sie, er möge sich nicht ihre Fesseln ansehen.

»Marius«, sagte sie, »ich habe so schrecklichen Durst.«

Er trat an sie heran und hielt ihr seinen Kaffee unter die Nase, aber sie schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Kaffee dem Körper Wasser entzieht; es schien ihr nicht ratsam, davon zu trinken.

»Könnte ich ein Glas Wasser haben?«, fragte sie.

Er überlegte. »Warum nicht?«, meinte er schließlich. »Ich habe nichts gegen dich, Inga, wirklich nicht. Ich verstehe nur nicht, wieso du dich mit dem Stück Dreck da oben eingelassen hast.«

Sie versuchte es erneut. »Weil ich nichts über sie weiß. Im Unterschied zu dir. Du weißt etwas, aber wenn du mir nicht davon erzählst, werde ich nie begreifen, weshalb sie ein … ein Stück Dreck ist.«

Wieder überlegte er. Endlich schien er so etwas wie Logik in ihren Worten zu erkennen. »Du hast Recht. Du kannst es eigentlich nicht wissen.«

»Ja, siehst du, und dabei würde ich es so gern wissen. Vielleicht hast du ja völlig Recht mit deiner Abneigung gegen Rebecca, und …«

Er unterbrach sie grob. »Vielleicht! Vielleicht! Wieso zweifelst du? Ich habe natürlich Recht. Natürlich

Sie musste vorsichtiger sein. Er war völlig durchgedreht. Jedes falsche Wort von ihr konnte ihn in Rage bringen.

»Sicher hast du Recht«, sagte sie in besänftigendem Ton, »es tut mir Leid, wenn ich gerade den Eindruck erweckt habe, deine Worte anzuzweifeln.«

Er trank in hastigen Zügen seinen Kaffee. Dass er Inga ein Glas Wasser hatte bringen wollen, schien er schon wieder vergessen zu haben.

»Ich habe keine Lust, mit dir zu streiten«, sagte er, als sein Becher leer war. »Ich wünschte, du wärst überhaupt nicht hier. Du hast mit alldem nichts zu tun. Ich frage mich, weshalb ich nicht noch einen Tag warten konnte. Dann hättest du im Flugzeug gesessen!«

Inga überlegte, wie weit sie es riskieren konnte, sich bei ihm einzuschmeicheln. Es konnte für sie durchaus von Vorteil sein, mit ihm eine Solidarität herzustellen, aber sie durfte dabei nicht plump vorgehen. Er war zweifellos geisteskrank, aber er war nicht dumm. Sie dachte daran, mit welcher Leichtigkeit und Brillanz er daheim sein Studium absolvierte.

Unterschätze ihn nicht, warnte ihre innere Stimme.

»Vielleicht sollte es so kommen«, sagte sie, »vielleicht sollte ich noch hier sein.«

Er sah sie misstrauisch an. »Wieso?«

»Nun … ich meine … wir sind immer noch verheiratet. Bis vor wenigen Tagen war noch alles in Ordnung zwischen uns. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass so etwas geschieht – ich fliege allein nach Deutschland zurück, und du … beschäftigst dich hier mit Rebecca, ohne dass ich auch nur das Geringste davon weiß. Wir haben doch alles geteilt. Warum nicht auch das hier?«

»Was genau meinst du?« Er war immer noch misstrauisch. Inga wusste, dass sie sehr vorsichtig sein, jedes Wort abwägen musste.

»Ich meine das, was dich mit Rebecca verbindet. Ich meine den Vorwurf, den du ihr machst. Kannst du dir nicht vorstellen, dass es mich kränkt, davon überhaupt nichts zu wissen? Es scheint eine so große Rolle in deinem Leben zu spielen, aber du möchtest nicht, dass ich davon erfahre. Ich verstehe nicht, warum. Ich verstehe nicht, warum du mich von den Dingen, die in deinem Leben offenbar von besonderer Wichtigkeit sind, ausgeschlossen hast!«

Sie hielt inne. Sie wusste, dass sie überzeugend gewesen war, weil sie wirklich empfand, was sie gesagt hatte.

Marius mochte seine stachelige Abwehr noch nicht aufgeben. »Das ist alles meine Sache. Du hast dich doch früher für mein Leben auch nicht interessiert!«

»Das ist doch nicht wahr. Du hast mir nur nie gesagt, dass es in deinem Leben Episoden gab, die sehr … schmerzhaft oder kränkend für dich waren und dich bis heute verfolgen. Wenn ich dich nach deiner Vergangenheit fragte, nach deiner Familie, nach Freunden von früher, bist du immer ausgewichen. Du warst immer der fröhliche Marius, der das Leben leicht nimmt, der alle Probleme löst, der sein Studium wie nebenher absolviert und jede Menge Zeit findet für lustige und abenteuerliche Unternehmungen. Wie sollte ich darauf kommen, dass es … Untiefen gab in deinem Leben?«

Du hast es genau gespürt. Du wusstest, dass etwas nicht stimmt mit ihm. Aber du hast ja jede Menge Energie darauf verwandt, alles, was dich nachdenklich hätte stimmen können, sofort zu verdrängen.

Marius’ Augen sahen für einen Moment genauso aus wie früher. Klar und freundlich. Der kranke Ausdruck war verschwunden. Aber Inga wusste, dass sie sich nichts vormachen durfte. Marius konnte von einem Moment zum anderen wieder ihr Feind werden. Er war gefährlich, das durfte sie keinesfalls vergessen.

»Du hast Recht«, sagte er sanft, »ich wollte nicht darüber sprechen. Es geht mir besser, wenn ich nicht daran denke. Warum soll ich mir das Leben verderben? Ich habe ein gutes Leben vor mir, verstehst du? Ich werde mein Examen mit Auszeichnung machen. Ich werde ein Spitzenanwalt werden. Mir werden die renommiertesten Kanzleien offen stehen. Warum sollte ich mich mit Dingen beschäftigen, die lange vorbei sind?«

Er sah so normal aus, blickte sie so fragend und offen an, dass Inga die Absurdität der Situation besonders deutlich wurde: dass sie hier vor ihm saß und an Händen und Füßen gefesselt war, dass irgendwo oben im Haus Rebecca ebenfalls gefesselt lag oder saß und man nur beten konnte, dass sie überhaupt noch am Leben war.

Er ist gefährlich. Vergiss es keine Sekunde lang!

»Das Schlimme ist«, sagte sie, »dass wir unsere Vergangenheit nicht loswerden können. Wir können sie immer wieder über Phasen hinweg verdrängen, aber zwischendurch taucht sie auf und steht vor uns und macht uns das Leben schwer. Wir entkommen ihr nie wirklich, vor allem nie endgültig. Es ist besser …« Sie sah ihn an, versuchte herauszufinden, ob ihre nächsten Worte ihn wieder von ihr wegtreiben konnten. Er sah entspannt aus.

»Es ist besser, wir stellen uns ihr irgendwann«, fuhr sie fort, »wir schauen in ihr Gesicht, versuchen sie zu akzeptieren und von nun an mit ihr zu leben. Nur dann können wir sie verarbeiten.«

Er begann auf seiner Unterlippe herumzukauen. »Verarbeiten«, wiederholte er, »denkst du, man kann alles verarbeiten? Alles?«

Sie vernahm eine leise Vibration in seiner Stimme. Sie musste auf der Hut sein.

»Manches ist sehr schwer zu verarbeiten«, sagte sie.

Ein Schatten glitt über sein Gesicht. Seine Augen blickten nicht mehr so offen drein. Er war dabei, sich wieder in jene Welt zu verabschieden, in der ihn die Dämonen schrecklicher Erinnerungen beherrschten und peinigten.

»Schwer«, sagte er, »schwer! Was weißt du schon davon? Du hast es doch niemals schwer gehabt in deinem Leben! Bei dir war doch immer alles in Ordnung! Das Leben auf dem Land! Das reetgedeckte Häuschen! Deine fürsorgliche Mutter, dein liebevoller Vater, deine vielen reizenden Geschwister … bei euch ging’s doch zu wie bei der Walton – Familie! Woher willst du etwas davon verstehen, wie das Leben für manche anderen Menschen aussieht?«

Sie sah ihn beschwörend an, hoffend, sie könnte ihn zurückhalten, ihr wieder völlig zu entgleiten.

»Vielleicht hatte ich es viel einfacher als du. Vielleicht wird es mir schwer fallen, dein Leben und dein Schicksal wirklich zu verstehen. Aber gib mir doch eine Chance. Erzähle mir von dir. Es kann doch auch sein, ich verstehe dich besser, als du denkst. Ich kann dir helfen. Und womöglich siehst auch du selbst viel klarer, wenn du endlich darüber sprichst und nicht mehr alles in dir verschließt!«

Er kaute immer heftiger auf seiner Unterlippe herum. Ihre Worte bewegten ihn, wühlten ihn auf.

Wenn er redet, dachte sie, dann habe ich einen Fußbreit Boden gewonnen. Wenn er mir vertraut, kann ich Einfluss auf ihn nehmen.

Wenn es nur nicht zu spät war für Rebecca. Sie durfte nicht nach ihr fragen, das hätte in diesem heiklen Moment alles zerstört, aber innerlich vibrierte sie vor Nervosität.

Was hast du mit Rebecca gemacht?

»Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. Er sah jetzt fast kindlich aus, unschlüssig, etwas verlegen. »Ich weiß nicht, ob es Sinn hat. Ob du das verstehen kannst!«

»Gib mir die Chance«, bat sie.

Er begann auf und ab zu gehen. Seine Bewegungen waren aggressiv, an der Grenze zum Unkontrollierten.

»Vielleicht willst du dann nichts mehr mit mir zu tun haben! Wenn du erst einmal weißt, woher ich komme!«

Es gelang ihr, eine Mischung aus Empörung und Gekränktsein in ihren Blick zu legen. »Wie schätzt du mich denn ein? Dass ich Menschen danach beurteile, woher sie kommen? Ich muss sagen, wenn das so ist, kennst du mich ganz schön schlecht!«

Für den Moment hatte sie ihn an der Angel. Er schaute sie reumütig an. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht verletzen. Du hast mir nie etwas getan.«

»Ich habe dich geliebt«, sagte Inga.

»Liebst du mich jetzt nicht mehr?«, fragte Marius.

Sie zögerte. »Du hast mich ausgeschlossen. Vielleicht, wenn ich dich wieder verstehe …«

»Ja.« Sie erreichte ihn mit ihren Worten. Überzeugte ihn. Er sah ein, dass er nicht offen genug gewesen war. Dass Offenheit die Grundlage einer Beziehung war. Inga konnte in seinen Zügen erkennen, wie all diese Gedanken abliefen. Sie wagte, einen ersten Funken Hoffnung zu schöpfen. Hoffnung, dass sie lebend aus diesem Drama herauskommen würde.

»In Ordnung. Ich werde dir alles erzählen«, sagte Marius in einer Art feierlichem Ernst. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich Inga gegenüber. Dass sie noch immer gefesselt war, dass er noch immer kein ausgeglichenes Verhältnis zwischen ihr und sich hergestellt hatte, schien er nicht zu bemerken. Inga wagte nicht, davon anzufangen. Wenn er den Verdacht schöpfte, dass sie ihn austricksen wollte, war alles verloren.

»Also, wo fange ich an?« Marius strich sich mit der Hand über das Gesicht. Er sah müde aus und viel älter, als er war. Noch immer roch er so schrecklich ungewaschen.

»Ich fange bei meiner Familie an«, verkündete er schließlich. »Du sollst wissen, woher ich komme. Inga, mein Vater ist der schlimmste Bastard, den du dir denken kannst. Er säuft, er schläft bis in die Puppen, und wenn er zwischendurch einmal Arbeit findet, verliert er sie nach kürzester Zeit wieder, weil er an den meisten Tagen seines Lebens zu betrunken ist, um überhaupt sein Bett zu verlassen. Ich habe in der übelsten Gegend von München gelebt. Hochhäuser. Sozialwohnungen. Meine Mutter ist eine Schlampe. Sie säuft fast genauso viel wie mein Alter, und wenn sie beide richtig zugedröhnt sind, fangen sie an, aufeinander einzuschlagen. Sie sind so kaputt, wie du dir zwei Menschen überhaupt nur vorstellen kannst. Als ich fünf Jahre alt war, brach mir mein Vater den Arm. Nicht aus Versehen, nein. Er war wütend, weil er in der Wohnung kein Geld fand, um Schnaps zu kaufen, und er verdächtigte mich, an die Familienkasse gegangen zu sein. Die Familienkasse war ein leeres Gewürzgurkenglas, in dem sich gelegentlich etwas Geld befand – Sozialhilfe, die nicht sofort versoffen wurde. Das Glas stand ganz oben auf einem Regal, und ich konnte überhaupt nicht drankommen, nicht mal, wenn ich auf unsere schrottreife Trittleiter stieg. Aber das interessierte meinen Vater nicht. Er packte mich, legte meinen linken Arm über eine Stuhllehne und brach den Knochen. Einfach so, als zersplitterte er ein Streichholz. Er meinte, das würde mich davon abhalten, je wieder Geld zu nehmen, das mir nicht gehört.«

Marius hielt inne. Er sprach sehr gleichmütig, fast ohne Bewegung.

Inga schluckte. Ihr Mund fühlte sich an, als sei er mit Glaswolle gefüllt. »Mein Gott«, sagte sie leise.

»Ja, so war das«, sagte Marius. Er stand auf, machte wieder ein paar Schritte auf und ab. Dann blieb er direkt vor Inga stehen. »Und jetzt denkst du sicher: Wie schrecklich! Wie asozial! Wie sehr muss Marius seine Eltern gehasst haben? «

Sie hörte den Unterton in seiner Stimme und reagierte mit Vorsicht. »Ich denke, es waren trotzdem deine Eltern.«

Er nickte. »Genau. Ganz genau. Sie konnten auch ganz anders sein, weißt du. Sie waren total solidarisch. Einmal haben mir andere Jungs beim Spielen meinen Ball abgenommen. Ich war fünf Jahre alt und kam heulend nach Hause. Mein Vater lag mit grausamen Kopfschmerzen im Bett, aber als ich ihm die Geschichte erzählt hatte, stand er auf, zog sich an und ging mit mir zu den sämtlichen Eltern der anderen Jungs und machte einen riesigen Zirkus. Und als wir den Jungen gefunden hatten, bei dem der Ball war, musste er ihn mir zurückgeben. Wir gingen zusammen nach Hause, mein Vater und ich, und ich hatte den Ball im Arm und dachte, ich platze fast vor Stolz. Und ich dachte, eigentlich kann mir gar nichts mehr passieren, weil mich ja mein Vater beschützt. Es war ein gutes Gefühl.« Er lächelte. Er setzte sich wieder. Inga, die den Atem angehalten hatte, atmete lautlos aus.

»Das war ein richtig gutes Gefühl«, wiederholte Marius. Er lächelte wieder. »Es gab oft gute Gefühle. Und oft schlechte. Das Schlimme war, dass man nichts berechnen konnte. Alles war Willkür. Aber inmitten dieser Willkür, dieser guten und schlechten Gefühle, der abscheulichen Augenblicke und der schönen Momente hatte ich meinen Platz. Er war mir vertraut. Er gehörte mir. Ich war ein Teil dieser beiden durchgeknallten Alkoholiker. Manchmal fühlte ich mich für sie verantwortlich. Manchmal hatte ich Angst vor ihnen. Manchmal liebte ich sie.« Er sah Inga an. »Kannst du das verstehen?«

»Ja.« Sie nickte. »Ja, ich denke, das kann ich verstehen.«

Er atmete tief durch.

»Und dann begann das Desaster«, sagte er.

7

Er saß bei Rebecca im Zimmer, einer gefesselten, mucksmäuschenstillen Rebecca, und überlegte, wann die fremde Frau zum ersten Mal erschienen war. Ganz sicher, bevor sein Vater ihm den Arm gebrochen hatte. Also war er selbst jünger als fünf Jahre gewesen. Vier vielleicht, oder erst drei? Nein, eher vier. Er erinnerte sich recht gut an sie, und von etwas, das er im Alter von drei Jahren erlebt hatte, würde er vielleicht nicht so klare Bilder haben.

Sie hatte eines Tages im Wohnzimmer gesessen und sich mit seinen Eltern unterhalten. Es kam so selten Besuch zu ihnen – eigentlich fast nie, nur manchmal die Nachbarin, von der Mama behauptete, sie habe es auf Papa abgesehen, und man sich fragte, was sie damit meinte –, dass er ganz aufgeregt gewesen war. Er hatte die Frau hier im Haus noch nie gesehen. Sie war klein und dünn, und er fand, dass sie einen schönen Pullover anhatte. Aus roter Wolle, die sehr flauschig wirkte. Er hätte den Pullover gern angefasst, um zu fühlen, ob er so weich war, wie er aussah, aber er traute sich nicht.

Er begriff nicht, worüber die Erwachsenen redeten. Genau genommen redete sein Vater gar nichts, sondern starrte mit schwimmenden Augen aus dem Fenster. Mama sprach ohne Punkt und Komma, und sie hatte einen hektischen, schrillen Unterton in der Stimme. Er mochte es nicht, wenn ihre Stimme so klang. Fast immer begann sie dann irgendwann zu schreien, und oft warf sie dann Gegenstände nach dem Vater. Einmal hatte sie einen Aschenbecher durch die Fensterscheibe geschmissen.

Die fremde Frau hatte eine angenehme Art zu sprechen. Leise und beruhigend. Sicher regte sie sich nicht ständig auf, so wie Mama. Er entsann sich, überlegt zu haben, wie es sein musste, das Kind einer Frau zu sein, die mit solch einer Stimme sprach. Es war eine recht schöne Vorstellung gewesen.

Als die Frau weg gewesen war, hatte Mama begonnen, herumzuschreien und eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Sie hatte Papa beschimpft, weil er in ihre Wut nicht einstimmen mochte. Papa hatte aber vielleicht gar nicht begriffen, dass die fremde Frau da gewesen war. Er hatte sie nicht einmal angeschaut und kein Wort zu ihr gesagt. Es war ungerecht von Mama, so über ihn herzufallen, wenn er doch gar nicht wusste, worum es ging.

Die fremde Frau war von nun an ziemlich oft gekommen. Sie hieß Frau Wiegand, und sie war wirklich recht nett. Sie unterhielt sich auch mit ihm oft, ließ sich seine Sammlung getrockneter Blätter zeigen und war beeindruckt von seinen Fußballerkarten. Eigentlich mochte er sie, aber es wäre ihm trotzdem lieber gewesen, sie wäre weggeblieben, weil Mama nach ihren Besuchen immer so furchtbar schlechte Laune hatte. Die ließ sie dann an Papa aus. Irgendwann wurde ihm klar, dass ihr Familienleben besser funktioniert hatte, als es Frau Wiegand noch nicht gab.

Das war der Moment, als seine Einstellung ihr gegenüber kippte. Jetzt stimmte er völlig mit seiner Mutter überein. Die sagte oft über Frau Wiegand: »Die Alte soll doch zum Teufel gehen!«

Und genau das fand er jetzt auch.

Er begann sie zu hassen. Nachts, wenn er im Bett lag, malte er sich Dinge aus, die man mit ihr tun könnte. Um sie zu bestrafen und um sie unschädlich zu machen. Er hatte tolle Sachen im Fernsehen gesehen. Eines hatte ihm besonders gefallen: Eingeborene auf einer Südseeinsel hatten einen bösen Piraten, der zuvor ihr Dorf hatte niederbrennen lassen, hingerichtet. Zu diesem Zweck hatten sie die Stämme zweier Palmen, die in einigem Abstand voneinander wuchsen, so weit es nur ging zusammengebogen und mit Stricken festgebunden. Dann hatte man den Piraten in einiger Höhe dazwischen gefesselt, mit einem Arm und einem Bein an die eine Palme, mit dem anderen Arm und dem anderen Bein an die andere Palme. Dann waren die Stricke, die die Bäume zusammenhielten, mit einem Schwert durchtrennt worden, und die Bäume waren in ihre alte Position zurückgeschnellt. Der Pirat war zerrissen worden.

Es machte Spaß, sich Frau Wiegand zwischen zwei solchen Palmen vorzustellen. Er fing an, sich richtig am Abend darauf zu freuen, ins Bett zu gehen und sich seinen Fantasien ungestört hinzugeben.

Einmal fragte er Mama, wer denn Frau Wiegand sei und weshalb sie immer wieder zu Besuch käme.

Mama hatte gesagt: »Sozialarbeiterin!« Sie hatte das Wort mit größter Verächtlichkeit ausgesprochen. »Weißt du, was das ist?«

Er hatte es nicht gewusst.

»Das sind Leute, die mischen sich in die Angelegenheiten von anderen. Das ist ihr Beruf. Sie kontrollieren andere und stecken ihre Nasen in deren Angelegenheiten. Frau Wiegand meint, dass wir ohne sie nicht zurechtkommen. Dass sie nach uns sehen muss. Sie denkt, dass deine Mama und dein Papa nicht in der Lage sind, allein mit dem Leben klarzukommen und dich großzuziehen! Wie findest du das?«

Er hatte es empörend gefunden.

Aber als Papa ihm den Arm brach, da war die Alte natürlich nicht da gewesen! Einmal hätte er sie wirklich brauchen können. Er hatte geschrien wie am Spieß, sein Leben lang würde er diese mörderischen Schmerzen nicht vergessen. Mama musste mit ihm ins Krankenhaus. Sie war schneeweiß im Gesicht gewesen und hatte ihm eingebläut, er solle sagen, dass er beim Fußballspielen ganz unglücklich gestürzt sei.

»Wenn du das nicht sagst, kommt Frau Wiegand und nimmt dich uns weg. Sie denkt dann, dass sie den Beweis hat, dass wir dich nicht großziehen können. Dabei weißt du, dass Papa dich liebt, nicht wahr? Du hast ihn nur so schrecklich wütend gemacht, weil du das Geld weggenommen hast!«

Er hatte geweint und gezittert und ihm war übel gewesen vor Schmerzen, zu übel, um ein Wort hervorzubringen, sonst hätte er noch einmal beteuert, dass er das Geld nicht genommen hatte.

»Wenn sie dich erst mal hat«, hatte Mama gesagt, »dann gibt sie dich nie wieder an uns zurück. Weißt du, was mit dir passiert? Du kommst in ein Heim. Mit ganz vielen anderen Kindern und ganz strengen Erziehern. Man darf dort nie ein Wort sagen, und nachts wird man am Bett festgebunden, damit man nicht wegläuft. Es gibt wenig zu essen, manchmal tagelang gar nichts, und wenn man etwas angestellt hat, wird man in einen dunklen Keller gesperrt, in dem es von Ratten wimmelt. Manche Kinder haben sie dann dort sogar vergessen. Die sind von den Ratten bis auf die Knochen abgenagt worden!«

Er hatte gekotzt, und dem Arzt hatte er gesagt, er sei beim Fußballspielen unglücklich gestürzt. Das hatte er auch Frau Wiegand erklärt, die ihn wieder und wieder über den Unfall auszufragen versuchte. Sie glaubte die Geschichte mit dem Fußballspielen nicht, das merkte er. Aber je mehr sie fragte, um so konsequenter beharrte er auf seiner Version. Er wusste ja jetzt, was sie wollte. Ihn fortbringen in dieses Heim. Zum Glück hatte ihn seine Mutter gewarnt.

Es gab keinen Menschen, dem gegenüber er so vorsichtig war wie Frau Wiegand. Von ihm würde sie nichts erfahren über das, was in der kleinen Familie geschah. Und was geschah auch schon? Bis auf den gebrochenen Arm war ihm noch nie etwas wirklich Schlimmes zugestoßen. Manchmal hungerte er, weil seine Eltern zu betrunken waren, um einkaufen zu gehen oder etwas zu kochen, aber irgendwie gelang es ihm immer, bei den anderen Kindern etwas zu schnorren, ein Stück Schokolade oder ein paar Brausebonbons. Und wenn Mama gut drauf war, gab es sowieso keinen Grund mehr zur Klage, dann briet sie ihm Fischstäbchen und machte ihm einen ganzen Berg Kartoffelbrei dazu, schön sahnig, wie er ihn mochte. Noch heute lief ihm das Wasser im Mund zusammen, wenn er an Mamas Kartoffelbrei dachte. Er hatte ihn später nirgendwo mehr so köstlich gefunden.

»Verstehst du?«, fragte er. »Es war alles in Ordnung. Es war alles in Ordnung!« Er trat mit dem Fuß gegen den Bettpfosten. Er hätte am liebsten irgendetwas zerschlagen, aber er wusste, dass er sich beherrschen musste. Er durfte nicht ausrasten. Er musste seinen Verstand zusammenhalten.

Er sah Rebecca an. Sie saß in dem Lehnsessel in der Ecke, ganz still und starr, aber er hatte sie auch so zusammengeschnürt, dass sie sich nicht bewegen konnte. Er hatte ihr ein zusammengeknäultes Taschentuch in den Mund geschoben und anschließend ihre gesamte untere Gesichtshälfte mit Paketklebeband zugepappt. An der Art, wie sie laut und angestrengt Luft durch die Nase einsog, konnte er erkennen, dass ihr das Atmen sehr schwer fiel. Ihre dunklen Augen waren weit aufgerissen. Er sah die Angst darin. Sie hatte Todesangst.

Gut so.

Und das Beste war: Sie musste ihm zuhören. Zum ersten Mal nach all den vielen, langen Jahren musste ihm jemand zuhören. Diesmal konnte sie ihn nicht abschütteln wie ein lästiges Insekt, diesmal konnte sie ihn nicht einfach ignorieren oder so tun, als rede er einfach nur Unsinn. Sie musste ihn ernst nehmen, ob sie wollte oder nicht. In ihrer Situation war jeder Versuch, Herrin der Lage zu werden, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er bestimmte, was passierte. Er hoffte, dass sie das begriffen hatte.

»Meine Eltern liebten mich«, sagte er. Es tat gut, diesen Satz zu sagen, es löschte etwas von dem Schmerz in ihm. Er warf Rebecca dabei einen scharfen Blick zu, er wollte wissen, ob es in ihr den geringsten Zweifel an der Richtigkeit dieser Worte gab. Dann hätte er ihr seine Faust ins Gesicht geschmettert. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Aber er konnte keinen Zweifel erkennen. Nur Angst. Nichts als nackte Angst. In ihm keimte der furchtbare Verdacht, dass sie ihm vielleicht doch nicht richtig zuhörte. Dass sie so mit ihrer Angst beschäftigt war, dass seine Worte an ihr vorüberrauschten. Ein bisschen hatte es den Anschein. Sie blickte gar so panisch drein.

Vielleicht war es auch nicht gut, sie derart um Atem ringen zu lassen. Es wirkte sich bestimmt nachteilig auf ihre Konzentration aus. Er musste sich darauf besinnen, dass sein Hauptanliegen darin bestand, sie zum Zuhören zu zwingen. Er durfte sich nicht ins eigene Fleisch schneiden. Er musste klug vorgehen. Er brauchte sie bei klarem Verstand.

»Ich werde dir den Knebel aus dem Mund nehmen«, sagte er, »aber solltest du einen Laut von dir geben oder gar schreien, kriegst du sofort wieder den Mund verschlossen. Ist das klar?«

Sie nickte.

Er riss grob das Klebeband von ihrem Gesicht. Sie tat keinen Mucks, aber vor Schmerz schossen ihr die Tränen in die Augen. Er zog das Taschentuch aus ihrem Mund. Sofort rang sie um Atem, hustete und keuchte. Sie tat so, als sei sie kurz vor dem Ersticken gewesen. Wenn sie meinte, sie könnte Mitleid in ihm erregen, dann hatte sie sich geirrt. Er konnte kalt sein wie eine Hundeschnauze. Genau wie sie.

»So«, sagte er. Er legte das Taschentuch auf den Frisiertisch und warf das benutzte Klebeband in den Abfalleimer. »Du weißt jetzt, wie sich das anfühlt, nicht? Wenn du nicht parierst, mach ich’s beim nächsten Mal noch schlimmer für dich. Kapiert?«

Sie nickte wieder. Er hätte gewettet, dass sie gern nach Wasser gefragt hätte. Nach bald acht Stunden mit einem Taschentuch im Maul musste sie halb verrückt sein vor Durst. Aber sie wagte es nicht. Sie wagte es nicht, weil er ihr verboten hatte, einen Laut von sich zu geben.

Natürlich durfte sie nicht dehydrieren. Dann war ihre Konzentration erneut beim Teufel. Er würde ihr Wasser bringen. Aber nicht sofort. Sie sollte schon noch ein bisschen zappeln.

»Ich frage mich«, sagte er, »wie man so ein Mensch wird wie du. Ich meine, wir alle bilden uns aus entsprechend den Anlagen, die wir mitbekommen haben. Die genetischen Anlagen, aber auch die, die uns durch Erziehung und Umfeld sozusagen aufgenötigt werden. Und da würde ich immer gern wissen, was bei Menschen wie dir schief läuft. Woher nimmt jemand die Überheblichkeit zu glauben, er sei berufen, sich permanent in das Leben anderer Menschen einzumischen? Ihre Lebensweise zu beurteilen? Und einzugreifen, wenn er meint, mit dieser Lebensweise sei irgendetwas nicht in Ordnung? Und ebenso selbstherrlich nicht einzugreifen, auch wenn etwas tatsächlich ganz und gar nicht stimmt?«

Sie antwortete nicht. Ihm fiel ein, dass er ihr angedroht hatte, er werde sie wieder knebeln, wenn sie den Mund aufmachte.

»Du kannst reden«, sagte er, »aber nicht schreien oder etwas in der Art. Und bleib beim Thema, klar? Versuch nicht, mich abzulenken oder mich in irgendetwas zu verwickeln, worüber ich gar nicht sprechen möchte.«

Sie nickte.

»Ich …« Ihre Stimme klang verändert. Vermutlich deshalb, weil ihr Mund so trocken war. »Ich weiß nicht genau, wovon Sie sprechen.«

Er lächelte. Das hatte er erwartet. Leute ihrer Art waren sehr groß darin, sich dumm zu stellen. Sie hatten nie eine Ahnung von irgendetwas und versuchten sich damit unschuldig zu machen. Wer nichts begreift, hat nichts zu verantworten. Leider kamen sie damit nur allzu oft durch.

»Okay«, sagte er, »okay. Ich helfe dir ein bisschen auf die Sprünge, ja? Sorgentelefon. Sagt dir das etwas?«

Er hatte das Thema gewechselt. Den Aufbau seiner Vorgehensweise verlassen. Er hatte mit ihrer Jugend beginnen wollen, hatte in langen Gesprächen – Verhören! – analysieren wollen, was in ihrer Kindheit sie zu dem verkorksten Menschen gemacht hatte, der sie heute war.

Er wischte sich über die Stirn. Das Sorgentelefon hätte noch gar nicht an der Reihe sein sollen. Aber es drängte. Es zerriss ihn fast.

Gut. Dann würde er sich später mit ihrer Kindheit beschäftigen, überlegte er. Mit ihrer zweifellos beschissenen Kindheit!

Ihre Augen blickten wachsam drein. Sie wollte keinen Fehler machen.

»Ja. Natürlich sagt mir das etwas. Aber ich weiß noch nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Er lächelte wieder. Vielleicht kapierte sie es wirklich nicht. Leute wie sie waren auch ziemlich gut im Verdrängen. Sie schoben unangenehme Vorkommnisse und Begebenheiten ihres Lebens ganz weit weg, so weit, dass sie sie selbst irgendwann nicht mehr fanden. Und dann redeten sie sich ein, diese Dinge seien nie geschehen.

»Aha. Du weißt nicht, worauf ich hinauswill. Dann werde ich dir jetzt einmal etwas zeigen.«

Er hatte den Zettel immer aufbewahrt. Seit nunmehr dreizehn Jahren trug er ihn mit sich herum. Tief in seinem Geldbeutel vergraben, hinter den Führerschein geschoben. Inga hatte ihn nie entdeckt. Aber Inga hatte auch noch nie in seinen Sachen geschnüffelt. Das gehörte zweifellos zu ihren guten Eigenschaften. Nicht herumzuwühlen, wo es sie nichts anging. Die Kehrseite der Medaille war natürlich, dass sie sich nicht interessierte. Jedenfalls nicht für ihn. Nicht für die Lasten, die er mit sich herumtrug …

Eine leise, aber deutliche Stimme in seinem Hinterkopf hob an und erklärte ihm, er sei jetzt nicht gerecht. Inga hatte nach seinem Leben gefragt. Wieder und wieder. Da war sogar eine Szene gewesen am Morgen ihrer Hochzeit, bevor sie zum Standesamt aufgebrochen waren. Inga im weißen Sommerkleid, einen Strohhut auf den blonden Haaren, einen Strauß lachsfarbener Rosen mit weißen Bändern daran in den Händen. Inga, mit Tränen in den Augen.

»Ich habe Angst. Ich weiß nichts über dich. In ungefähr einer Stunde bin ich deine Frau, und ich habe keine Ahnung von dir und deinem Leben. Ich verstehe das nicht. Ich verstehe dein Schweigen nicht!«

Sie hat gefragt. Aber du hast nicht antworten können. Weil du nicht darüber sprechen kannst. Weil es zu wehtut!

Er schob die Stimme weg, schob die Bilder weg. Das passte jetzt nicht, das lenkte ihn ab, verunsicherte ihn, machte ihn nervös. Er würde jetzt reden. Er würde auch Inga alles sagen. Aber in seinem Tempo. In seinem Rhythmus.

Er zog den Zettel hervor. Die Tinte darauf war verblasst in all den Jahren. Ganz hell war sie, nur noch schwer erkennbar. Dennoch, wenn man sich anstrengte, konnte man die Zahlen lesen. Die krakelige Kinderschrift. Kariertes Papier. Aus einem Schulheft herausgerissen.

»Na!« Er hielt ihr den Zettel vor die Nase. »Sagt dir das hier etwas?«

Sie kniff die Augen zusammen, bemühte sich, die blass gewordenen Zahlen zu entziffern. Ein Ausdruck tiefen Staunens glitt über ihr Gesicht. Er sah es mit Genugtuung.

»Das ist unsere Nummer. Früher. Die Nummer unseres Sorgentelefons!« Sie starrte ihn an.

Er hatte sich zu ihr gebeugt, nun richtete er sich auf.

»Ja«, sagte er, »die Nummer deines Sorgentelefons!« Er sprach das Wort voller Zynismus und Bitterkeit aus. »Und erinnerst du dich vielleicht auch noch an den kleinen Jungen, der dort anrief und um Hilfe flehte? Und der diese Hilfe nicht bekam? Hörst du? Der diese Hilfe nicht bekam von dir, du verdammtes Drecksstück!«

Die letzten Worte schrie er.

Da sah er erstes Begreifen in ihren Augen flackern. Und dann Entsetzen.

8

Agnetas Stimme klang anders als sonst. Hektischer, nervöser. Sie hatte sich kaum gemeldet, da wusste Clara schon, dass irgendetwas passiert sein musste.

»Hast du diese Geschichte in der Zeitung gelesen?«, fragte Agneta sofort und ohne jede Einleitung. »Die über das alte Ehepaar, das so bestialisch im eigenen Haus ermordet wurde? «

Clara hatte darüber gelesen. Aber nur flüchtig. Im Unterschied zu vielen anderen Menschen konsumierte sie derartige Geschichten ungern, verspürte nicht die geringste Sensationslust. Nur Grauen. Sie schaute sich nicht einmal Krimis im Fernsehen an, so wenig konnte sie Gewalt und Verbrechen ertragen.

Ihr wurde plötzlich schlecht. Der Bericht über das Ehepaar war an diesem Morgen auf der Titelseite der Zeitung gewesen, mit einer fetten, roten Schlagzeile überschrieben. Grausamer Mord an hilflosem Rentnerehepaar! Clara hatte nichts Genaues wissen wollen, hatte aber ein paar Brocken aus dem Text aufgeschnappt. Demnach handelte es sich um ein besonders scheußliches und brutales Verbrechen, das bei jedem, der damit in Berührung kam, Entsetzen und Erschütterung auslöste. Wenn Agneta deswegen anrief, konnte das nichts Gutes bedeuten.

»Sag nicht, die haben solche Briefe bekommen wie wir«, sagte sie und merkte, dass dabei ihre Stimme zitterte. Sie hätte den Bericht vielleicht doch sorgfältiger lesen sollen.

»Nein. Das heißt, ich weiß es nicht, aber ich würde es nicht für ausgeschlossen halten«, sagte Agneta. »Mich hat gerade Sabrina Baldini angerufen.«

»Und?«

»Sie kennt diese Leute. Nicht näher, aber … Sagt dir der Name etwas? Lenowsky?«

Eine Glocke schlug in Claras Gehirn an. Lenowsky.

Ich will es nicht wissen. Es ist so lange her. Ich will nie wieder etwas damit zu tun haben!

»Ich kenne den Namen«, sagte sie. Ihr Atem ging schwer.

»Also, pass auf«, sagte Agneta. »Sabrina wusste ziemlich schnell, um wen es geht. Der Name war ihr sofort bekannt, und nachdem sie in den letzten zwei Stunden noch ein paar Erkundigungen eingezogen hat, ist sie ganz sicher: Dieses Ehepaar, Greta und Fred Lenowsky, hat vor achtzehn Jahren ein Pflegekind zugewiesen bekommen. Vom Jugendamt. Von uns, sozusagen.«

Bitte nicht!

»Ein Pflegekind«, wiederholte Clara, um irgendetwas zu sagen.

»Sie hatten sich beworben«, fuhr Agneta fort, »sehr wohlhabende Leute, er ein angesehener Rechtsanwalt, der in Wirtschafts- und Politikerkreisen verkehrte. Sie konnten keine eigenen Kinder haben, und vor einer Adoption schreckten sie aus irgendwelchen Gründen zurück. Na ja, und du weißt selbst, wie händeringend wir Pflegestellen suchten. Die Leute schienen sehr geeignet.«

»Wird das … Pflegekind in der Zeitung erwähnt?«, fragte Clara. »Ich meine, gibt es zwischen dem Kind und dem … dem Mord einen Zusammenhang?«

Aus den Augenwinkeln schielte sie zu dem Strohkorb in der Ecke, in dem sie ausgelesene Zeitungen sammelte, ehe sie sie zum Altpapiercontainer brachte. Die Zeitung von heute lag zuoberst. Sie sollte sie noch einmal hervorholen. Sie hatte entsetzliche Angst vor dem, was sie lesen würde.

»Das Kind muss inzwischen über zwanzig sein, und es gibt möglicherweise keinen Kontakt mehr zu den Pflegeeltern«, erklärte Agneta. »Jedenfalls steht in der Zeitung, die Lenowskys hätten keine Kinder, und die Polizei suche überhaupt vergeblich nach irgendwelchen Verwandten. Ein Pflegekind wird nicht erwähnt; wie auch, seine Existenz geht ja aus dem Familienbuch oder anderen Familiendokumenten nicht hervor. Sabrina will jetzt die Polizei informieren.«

»Natürlich. Das muss sie tun. Glaubt Sabrina, dass …?«

»Was?«

»Dass die beiden von dem Kind … ich meine, von dem jetzigen jungen Mann oder der jungen Frau …?«

»Mann«, sagte Agneta, »es war ein kleiner Junge, der damals vermittelt wurde. Du meinst, ob er etwas mit dem Verbrechen zu tun hat?«

»Aber warum sollte er?«, fragte Clara.

Sie konnte nicht länger ausweichen.

»Sabrina erinnert sich, dass es Probleme gab wegen dieses Kindes. Der Junge wandte sich nämlich an das Jugendamt, nachdem er etwa vier Jahre bei den Lenowskys gelebt hatte. Er bat um Hilfe. Er werde misshandelt und wolle unter allen Umständen fort von seinen Pflegeeltern.«

Etwas explodierte in Claras Kopf. Der Fall stand vor ihr, so klar und präsent, als sei kein Tag vergangen, seitdem man im Jugendamt über das Kind diskutiert hatte.

»Marius«, sagte sie, »Marius hieß er.«

Agneta sagte vorsichtig: »Du warst damals …«

»Ich war zuständig. Aber ich …«

»Du bekamst Anweisung von oben, dich nicht darum zu kümmern. Man werde das auf der Ebene des Sozialdezernenten regeln.«

»Stimmt. Ich … mir waren die Hände gebunden …« Ihr war schwindlig. Sie merkte, dass ihr Atem flach ging.

»Sabrina war damals bei Kinderruf. Sie betreute das Sorgentelefon. Der kleine Marius rief auch dort an. Allerdings erst ein Jahr später. Er war damals elf.«

Clara antwortete nicht. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Ihre Beine waren zu schwach, sie zu tragen.

»Sabrina wandte sich ebenfalls an das Jugendamt. Man erklärte ihr dort, der Fall sei überprüft worden, aber es habe sich herausgestellt, dass hinter den Anschuldigungen des Kindes gegen seine Pflegeeltern nichts stecke. Sabrina war beruhigt. Ich meine, wir wissen alle, dass es so etwas gibt. Kinder, die behaupten, misshandelt zu werden, aber in Wahrheit ist da nichts dran.«

»Aber ich habe nichts überprüft«, sagte Clara.

»Kam dir das nicht seltsam vor? Dass sich plötzlich die Kreise um den Oberbürgermeister herum um etwas kümmern wollten, was in deine Zuständigkeit fiel?«

Clara versuchte tief durchzuatmen. Ihr Herz raste.

Sie sah die Clara von damals vor sich. Sehr jung, sehr engagiert. Ihr war sofort klar gewesen, dass etwas nicht stimmte. Sie kannte Lenowsky. Sie mochte ihn nicht. Sie hätte ihm nie ein Pflegekind gegeben. Aber auch das war auf einer anderen Ebene entschieden worden.

»Ich habe Marius den Lenowskys nicht zugeteilt«, sagte sie, »ich hatte Anweisung von oben, es zu tun. Lenowsky und der OB waren enge Freunde. Er hat sich über ihn um ein Pflegekind beworben. Was hätte ich denn tun sollen?«

»Du hättest …«, Agneta stockte. Es war zu einfach, so viele Jahre später über die damals noch so junge Clara zu richten.

»Ich hatte Angst«, sagte Clara leise, »ich wollte nicht in Schwierigkeiten geraten. Ich habe … ich habe mir das dann auch alles zurechtgeredet. Ich dachte mir, der Oberbürgermeister geht dort bei den Lenowskys wahrscheinlich ein und aus. Er hat sich bestimmt überzeugt, ob etwas an den Behauptungen des Jungen dran ist. Wer lässt schon ein Kind im Stich, das misshandelt wird?«

Agneta schwieg einen Moment.

»Wir«, sagte sie schließlich, »wir haben den kleinen Marius womöglich im Stich gelassen.«

»Aber woher willst du das wissen? Agneta, wir wissen es doch nicht

»Er rief später noch einmal bei Sabrina an. Völlig verzweifelt. Er flehte sie an, ihm zu helfen. Sabrina sagt, sie hätte nicht den Eindruck gehabt, dass da ein Kind fantasiert oder sich wichtig machen will. Sie ging wieder zum Jugendamt, hakte noch einmal genauer nach. Erfuhr aber auch nur, der Fall sei sorgfältig geprüft worden, es gebe nicht den kleinsten Hinweis, der die Behauptungen des Kindes untermauere. «

»Und wenn das stimmte?«

»Und wenn es nicht stimmte?«

Beide Frauen schwiegen. Clara fragte sich, wer da so laut atmete, sie oder Agneta. Sie begriff schließlich, dass sie es war.

»Sabrina und ich finden es seltsam, dass Marius sich nicht bei der Polizei meldet«, sagte Agneta schließlich. »Ich meine, in allen Zeitungen wird von dem Verbrechen berichtet. Die Polizei bittet um Hinweise und fahndet sozusagen nach Bekannten oder Angehörigen. Wäre es da nicht normal, wenn ein Pflegesohn, der von seinem sechsten bis achtzehnten Lebensjahr bei dem Ehepaar gelebt hat, sich an die Polizei wenden würde?«

»Wir haben Juli«, sagte Clara, »Marius kann verreist sein. Die meisten Leute sind es jetzt. Er kann irgendwo im Ausland sein und nicht das Allergeringste von der ganzen Geschichte mitbekommen haben.«

»Möglich«, meinte Agneta, aber sie klang nicht überzeugt.

Clara holte tief Atem.«Was möchtest du mir eigentlich sagen, Agneta?«

»Begreifst du das nicht?«, fragte Agneta.

»Ich …«, begann Clara, aber Agneta unterbrach sie: »Wir haben diese Geschichte von damals. Eine reichlich dubiose Geschichte, das musst du zugeben. Ein Kind wird an eine Pflegestelle vermittelt, und zwar in einem ziemlichen Hauruckverfahren über die Köpfe der zuständigen Jugendamtsmitarbeiter hinweg. Dann meldet sich der kleine Junge, und zwar sowohl beim Jugendamt als auch später bei einer privaten Initiative zum Schutz misshandelter Kinder. Er bittet um Hilfe, erklärt, dass er gequält wird und dass er unter allen Umständen diese Pflegestelle wieder verlassen möchte. Abermals wird gemauschelt und die Angelegenheit offenbar über den persönlichen Kontakt einiger einflussreicher Herren, die sich vom Golf- und Segelclub her kennen, geregelt. Jahre später werden die Pflegeeltern bestialisch ermordet, und die Sozialarbeiterinnen, die an dem Fall beteiligt waren, erhalten hasserfüllte Drohbriefe. Der einstige Pflegesohn ist scheinbar untergetaucht. Muss ich dir noch erklären, was ich denke?«

Clara presste eine Hand aufs Herz, als könne sie damit sein heftiges Jagen beruhigen.

»Du könntest dich trotzdem irren.«

»Ja«, sagte Agneta, »das könnte ich. Und du kannst mir glauben, ich wäre selten so erleichtert über einen Irrtum wie in diesem Fall.«

»Ich verstehe immer noch nicht ganz, was du eigentlich damit zu tun hast«, sagte Clara. »Warst du an dem Fall überhaupt beteiligt?«

»Ganz am Rande«, antwortete Agneta. »Die Mitarbeiterin vom Sozialdienst, die damals die Familie des kleinen Marius betreute, war Stella Wiegand. Du erinnerst dich? Sie fiel ein Dreivierteljahr aus wegen ihrer Krebserkrankung. In dieser Zeit habe ich die Familie übernommen. Stella kam dann aber zurück. Sie hat auch den Kindesentzug veranlasst. Insofern hatte ich mit dem eigentlichen Drama nichts zu tun. Aber da Stella später am Krebs starb und somit von niemandem mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann, muss ich heute offenbar in meiner Funktion als die Zwischenlösung von damals herhalten.«

»Ach so«, flüsterte Clara. Sie hatte eigentlich ganz normal sprechen wollen, aber ihre Stimme mochte ihr nicht gehorchen. Sie hatte so sehr gehofft, dass sich zwischen Agneta und der Geschichte von damals keine Verbindung herstellen ließe, denn das hätte den Verdacht, dass hier ein durchgedrehtes ehemaliges Pflegekind Amok lief und Rache für seine leiderfüllte Kindheit nahm, ins Wanken gebracht. Aber nun schien auch Agneta zumindest einen kleinen Anteil an der Angelegenheit zu haben, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie und Sabrina mit ihrer Theorie Recht hatten, wurde größer.

»Und was nun?«, fragte sie. Ihre Stimme klang immer noch komisch. Sie würde es nicht lesen! Sie würde nicht lesen, was der Typ dem älteren Ehepaar alles angetan hatte. Sie wollte es nicht wissen!

»Sabrina ruft heute noch die Polizei an«, sagte Agneta. »Sie wird berichten, was sie weiß. Sie wird auch von den Drohbriefen erzählen.«

»Auch von denen an uns?«

»Natürlich. Clara, hier ist ein Doppelmord passiert! Wir können jetzt nicht mehr schweigen. Glaub mir, ich finde das furchtbar genug, und ich werde mir eine Menge Ärger mit meinem Mann einhandeln deswegen. Denn natürlich wird uns die Polizei nun auch ausquetschen, und wenn wir Pech haben, geht das alles haarklein wochenlang durch die Presse! «

»Unser Versagen von damals.« Clara konnte schon wieder nur flüstern. »Das beleuchten sie dann auch.«

»Ja«, sagte Agneta, »das wird wohl so sein.«

Sie hatte nicht versagt. Clara konnte an Agnetas Stimme hören, wie erleichtert sie darüber war. Wenn auch der Täter wohl in ihr eine der Schuldigen sah – die Polizei, die Presse, die Gesellschaft konnte es nicht.

Aber sie, Clara, konnte sich durch nichts aus ihrer Verantwortung winden. Man würde gnadenlos über sie urteilen. Eine korrumpierbare Person, die ein Kind im Stich gelassen hatte, weil sie sich nicht mit ihren Vorgesetzten anlegen mochte. Wen würde es noch interessieren, wie hilflos sie sich damals gefühlt hatte? Wie unsicher? Wie schwierig es für sie gewesen war, ein klares Bild zu gewinnen und die Situation richtig zu beurteilen?

Es ist viel einfacher, Jahre später zu wissen, was richtig oder falsch war, dachte sie, aber es kann so schwer sein, wenn man sich mittendrin befindet.

»Man wird mich fertig machen«, sagte sie. »Sie werden kübelweise Dreck über mir ausgießen. Vielleicht können wir überhaupt nicht hier wohnen bleiben! Man wird mir alle Schuld zuweisen, und …«

Sie war den Tränen nahe.

Agneta klang kühl. »Clara, dreh jetzt nicht durch. Verstehst du, es bleibt uns jetzt nichts übrig, als mit offenen Karten zu spielen. Auch dir nicht. Gerade dir nicht. Clara, da draußen läuft ein völlig durchgeknallter Typ herum, der bereits zwei Menschen abgeschlachtet hat. Und uns hat er bereits im Visier, da brauchen wir uns doch nichts mehr vorzumachen. Der schreibt uns die Briefe nicht bloß zum Spaß. Sie sind die Ankündigung dessen, was er vorhat. Wollen wir wetten, dass die Lenowskys ebenfalls solche netten Schreiben erhalten haben? Clara«, sie wurde sehr eindringlich, »du hast gar keine Wahl mehr. Die Polizei muss alles wissen. Wir brauchen ihren Schutz. Und zwar so schnell wie möglich.«

»Meinst du, dass …«

»Verlass heute mit Marie besser nicht das Haus. Öffne niemandem die Tür. Sei vorsichtig.«

Mein Leben stürzt in sich zusammen. Wenn diese Geschichte in der Presse auftaucht, wird nichts mehr so sein wie vorher. Alles, was ich mir aufgebaut habe, bricht ein. Meine kleine Familie. Das Haus. Der Garten. Unsere beschauliche Welt.

Sie wollte nicht weinen. Jedenfalls nicht, solange Agneta ihr noch zuhörte. Agneta, die so souverän auftreten konnte. Weil sie nicht wirklich Dreck am Stecken hatte. Weil sie, schön und reich, wie sie war, auch aus dieser Tragödie unbeschadet hervorgehen würde. Abgesehen davon, dass sie vielleicht ermordet wurde, falls es der Polizei nicht gelang, den Killer zu schnappen.

Wir alle werden vielleicht ermordet.

Es war kaum der Moment, sich über ihren guten Ruf aufzuregen. Sie hatte weit größere Probleme, da hatte Agneta Recht.

»Ich werde aufpassen«, versprach sie, doch dann legte sie, abrupt und ohne sich zu verabschieden, den Hörer auf.

Sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.

9

Gegen Mittag erschien Marius im Wohnzimmer und brachte Inga ein Glas Wasser. Er hielt es ihr wortlos an die Lippen, und sie trank in großen, gierigen Zügen. Sie hatte auch Hunger, obwohl sie sich wunderte, wie sie in ihrer Lage Hunger empfinden konnte: Gefesselt auf einem Stuhl zu sitzen und zu erleben, dass der eigene Mann offenbar den Verstand verloren hatte, sollte ausreichen, jedem den Appetit zu verderben. Stattdessen krampfte sich ihr Magen mit einem wütenden Knurren zusammen.

»Kann ich auch etwas zu essen haben?«, fragte sie, als das Glas leer war.

Der Fremde, mit dem sie verheiratet war und den sie nicht mehr erkannte, runzelte die Stirn. »Ich müsste nachsehen«, sagte er. »Ich kann nicht einkaufen gehen, verstehst du?«

»Natürlich nicht«, stimmte sie zu, »aber du musst schließlich irgendwann auch etwas essen.«

Er sah sehr erschöpft aus.

»Wie spät ist es?«, erkundigte er sich.

Inga blickte zu der Uhr auf dem Kaminsims hin. »Es ist fast ein Uhr. Marius, ich müsste auch dringend endlich auf die Toilette.«

»So spät schon? Ein Uhr?« Er wirkte überrascht. »Ich merke kaum, wie die Zeit vergeht. Ich habe lange mit Rebecca gesprochen. Viele Stunden, glaube ich.«

»Marius, ich …«

»Nein. Du kannst jetzt nicht zur Toilette.«

Resigniert wagte sie eine andere Frage. »Wie … geht es Rebecca? Ist sie in Ordnung?«

»O ja«, sagte Marius, »sie ist in Ordnung. Sie ist sogar sehr in Ordnung. Menschen wie sie sind immer in Ordnung. In ihrem Leben ist doch alles nach Plan gelaufen!«

Hatte es Sinn, mit ihm über Rebeccas Depressionen zu sprechen? Über die Katastrophe, die der Tod ihres Mannes angerichtet hatte? Darüber, dass Rebecca die Letzte wäre, die von sich sagen würde, in ihrem Leben sei alles nach Plan gelaufen?

Sie entschied sich dagegen. Sie hatte nicht den Eindruck, dass sie mit derlei Überlegungen zu Marius vordringen würde. Vielleicht löste sie sogar einen erneuten Aggressionsschub aus. Er sollte das Gefühl bekommen, dass sie auf seiner Seite stand. Nicht auf der Rebeccas.

»Du hast ihr deine Lebensgeschichte erzählt?«, fragte sie stattdessen. Sie selbst tappte, was diese Geschichte anging, noch immer im Dunkeln. Sie wusste jetzt, dass Marius aus asozialen Verhältnissen stammte, dass seine Eltern Alkoholiker und offenbar kaum in der Lage gewesen waren, ein Kind großzuziehen. Gleichzeitig verrieten seine Bildung, seine Sprache, sein Benehmen, dass es von irgendeinem Zeitpunkt an einen anderen Einfluss in seinem Leben gegeben haben musste. In dem Milieu, das er ihr geschildert hatte, konnte Marius nicht zu dem Mann geworden sein, der er war.

»Vielleicht solltest du für uns alle etwas zu essen machen«, schlug sie vor, »auch für Rebecca. Was immer du ihr zu sagen hast, sie kann sich bestimmt viel besser konzentrieren, wenn sie nicht völlig entkräftet ist. Meinst du nicht auch?«

»Ich habe keine Lust zu kochen«, sagte Marius, »ich habe so viel zu tun …« Er rieb sich die Schläfen, als plagten ihn Kopfschmerzen. »Es gibt so vieles zu sagen …«

»Du siehst ganz kaputt aus. Als hättest du seit Tagen nicht geschlafen und nicht gegessen. Du brauchst Ruhe, Marius. Du bist mit den Kräften und den Nerven am Ende, und ich denke …«

Er lächelte. »Das hättest du gern, nicht? Dass ich mich schlafen lege. Und dass du die Gelegenheit zur Flucht nutzen kannst!«

»Wie sollte ich denn fliehen?« Ihre Fesseln waren inzwischen sehr locker geworden. Sie hielt den Atem an, dass er nicht auf die Idee käme, die Verschnürung zu kontrollieren. Sie meinte, dass es keine ganze Stunde mehr dauern könnte, bis sie in der Lage wäre, sich zu befreien.

»Ja«, sagte Marius nachdenklich, »wie solltest du fliehen? «

Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Er lächelte so seltsam.

Plötzlich war er mit einem einzigen Schritt hinter ihr und zerrte mit einem solch heftigen Ruck an den Nylonschnüren, dass Inga schmerzerfüllt aufschrie. Die Seile schnitten scharf wie Messer in ihr Fleisch.

»Du tust mir weh, Marius! Du tust mir weh!«

»Du hast ja ganz schön intensiv gearbeitet, während du hier so schwach und hungrig und durstig auf deinem Stuhl gesessen hast«, stellte er fest. »Alle Achtung, man muss dir ein Kompliment machen! Aber so warst du immer, nicht wahr? Still und zäh und beharrlich! Und dabei die Welt aus großen blauen Augen anschauen und in Sicherheit wiegen!«

Er kam hinter ihrem Rücken hervor und baute sich vor ihr auf. Dann schlug er ihr zweimal ins Gesicht, ihr Kopf flog erst nach rechts, dann nach links. Sie sah Sterne vor den Augen und glaubte einen Moment lang, sie werde die Besinnung verlieren. Der Schmerz war atemberaubend.

»Nein!«, schrie sie.

Er starrte sie hasserfüllt an. »Die ganze Zeit habe ich schon den Verdacht«, sagte er, »ich spüre es. Ich habe es vom ersten Moment an gespürt. Du hast dich mit ihr zusammengetan. Du bist ihre Freundin geworden. Du bist auf ihrer Seite! Gib es zu!«

Sie wimmerte leise. Ihr Kopf dröhnte, ihre Wangen brannten wie Feuer. Sie merkte, dass ihr Tränen aus den Augen liefen.

»Du sollst es zugeben!«, schrie Marius.

Sie weinte. Sie konnte nicht sprechen.

Er trat wieder hinter sie, zerrte an den Fesseln, schnürte ihre Handgelenke so zusammen, als wolle er sie dabei zerbrechen. Er fesselte, knotete, vergewisserte sich immer wieder, dass die Seile so fest saßen, wie es nur ging. Inga hörte ihn dabei keuchen. Sie konnte seine Wut spüren, seinen heillosen Hass.

Endlich schien er mit seinem Werk zufrieden. »Da kommst du nicht mehr raus«, sagte er, »und im Übrigen werde ich dich jede Stunde kontrollieren. Du wirst keine Gelegenheit mehr finden, unbeobachtet irgendwelche Dinge zu treiben, die mich ins Unglück stürzen sollen.«

Er stand jetzt wieder vor ihr, und unwillkürlich wich Inga mit dem Kopf zur Seite. Doch der gefürchtete Schlag blieb aus.

»Ich hätte nie gedacht, dass es zwischen uns beiden so weit kommt«, sagte er, und sie meinte, aufrichtiges Bedauern in seiner Stimme zu hören. »Du bist meine Frau, Inga. Wir haben einander Treue versprochen. Und dass wir gemeinsam durch unser Leben gehen wollen. Seite an Seite. Was ist daraus geworden?«

Es fiel Inga schwer zu sprechen. Ihr Mund fühlte sich taub an. Dennoch versuchte sie, Worte zu formen.

»Du hast mich von deiner Seite gestoßen«, sagte sie. Ihre Stimme klang seltsam, fand sie. Aber vielleicht hörte sie auch nicht mehr richtig. Sie hatte den Eindruck, dass ihr rechtes Ohr etwas abbekommen hatte. »Du hast mir bis jetzt nicht erklärt, was eigentlich los ist. Du hast mir nie etwas über dein Leben erzählt. Ich habe keine Ahnung von dir. Ich weiß nicht, was Rebecca dir getan hat. Ich sehe nur, was du mir antust. Du hast mich gefesselt. Du hast mich stundenlang dürsten lassen. Du lässt mich hungern. Du schlägst mich. Du verbietest mir, auf die Toilette zu gehen. Wundert es dich denn, dass ich wegmöchte?« Sie sah ihn an, konnte spüren, dass sie ihn erreichte. Er wirkte ein wenig nachdenklich. Das Schlimme war nur, dass sie inzwischen erlebt hatte, wie rasch sein Wahnsinn jedes Verständnis, jedes Entgegenkommen in ihm innerhalb weniger Sekunden auslöschen konnte. Es blieben immer nur sehr kurze Spannen, in denen er bei klarem Verstand ansprechbar war.

»Du lässt mir ja keine Wahl«, erklärte er. »Ich habe euch in den letzten Tagen beobachtet, das sagte ich ja schon. Ihr seid Freundinnen geworden. Du und dieses … dieses jämmerliche Stück Dreck da oben.«

»Was hat sie dir getan?«

Sein Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Es ist so schwer, Inga. Es ist so sehr schwer, darüber zu sprechen. Ich bin doch der Letzte für dich. Der Allerletzte.«

»Nein.«

»Doch. Ich bin das immer gewesen. Du hast mich immer verachtet. Wegen meiner Herkunft, und weil ich mich nie habe durchsetzen können.«

»Ich habe doch von deiner Herkunft nie etwas gewusst. Und selbst wenn, hätte ich dich doch nicht verachtet! Wie kannst du ein so falsches Bild von mir haben?« Wenn ihr nur das Sprechen nicht so schwer fiele! Zudem hatte sie inzwischen den Eindruck, als schwelle ihr Ohr von innen zu. Er hatte irgendetwas an oder in ihrem Kopf verletzt. Die Schmerzen rasten durch ihre Stirn. »Niemals habe ich von dir gedacht, du seist der Letzte. Nie, nie, nie!«

Er nickte nachdenklich. »Ja, ich habe dir ja auch vertraut. Ich wusste, du meinst es ehrlich mit mir.«

Sie begann sich an die fehlende Logik in seinen Reden zu gewöhnen. Er warf ihr vor, sie verachte ihn, habe ihn immer verachtet, und im nächsten Moment versicherte er, ihr stets vertraut, ihre Ehrlichkeit gespürt zu haben.

Er ist total gefährlich, sagte ihre innere Stimme, denn er ist keine Sekunde lang berechenbar. Du kannst dich auf nichts einstellen. Du sagst etwas, und es kann gerade noch das Richtige gewesen sein, und im nächsten Moment löst es eine Katastrophe aus.

Sie hätte ihn gern gebeten, ihre Fesseln ein wenig zu lockern. Er hatte sie zu fest zusammengezurrt, ihre Hände würden bald absterben. Aber sie wagte nicht, etwas zu sagen. Wenn er es als einen Versuch wertete, ihn auszutricksen, wurde er womöglich wieder gewalttätig.

»Du kannst mir vertrauen«, sagte sie, »daran hat sich nichts geändert.«

Wieder legte sich die Feindseligkeit über sein Gesicht. »Das habe ich gemerkt. Du hast versucht zu fliehen.«

»Deine Fesseln schnüren mir das Blut ab. Ich habe versucht, ein wenig mehr Spielraum zu haben.«

»Erzähl mir nichts«, sagte er verächtlich, »du hältst dich für sehr schlau und mich für ziemlich dumm. Sowie du die kleinste Gelegenheit hättest, würdest du versuchen, dich aus dem Staub zu machen. Du hast keine Ahnung von mir. Ich wette, du denkst, dass ich ziemlich durchgeknallt bin, und dass man versuchen sollte, mir möglichst schnell zu entkommen. Aber dass es die Gesellschaft ist, in der es vorn und hinten nicht stimmt und in der furchtbare Dinge passieren, das will dir nicht in den Kopf!«

»Du gibst mir keine Möglichkeit, etwas von dem zu verstehen, was dich so sehr umtreibt.«

Er nickte nachdenklich. »Es ist schwer für mich, darüber zu sprechen. Sehr schwer. Manchmal kann man es kaum aushalten, über die Qualen zu reden, die einem das Leben zugefügt hat.«

Inga musste sich sehr anstrengen, um sich auf seine Worte zu konzentrieren. Der Schmerz in ihrem Ohr verstärkte sich, und ihre abgeschnürten Hände waren kalt und taub. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen und hätte ihn angefleht, ihr zu helfen, sie loszubinden, ihr zu erlauben, sich hinzulegen, um Erleichterung zu finden. Sie war jedoch sicher, dass er sich nicht würde erweichen lassen, und dass er sich ihr gegenüber nur wieder verschließen würde.

Sie wagte einen Vorstoß. »Du hast erzählt, dass du dich in der Welt deiner Eltern und in dem Leben mit ihnen eingerichtet hattest. Dass du zurechtkamst. Dass dann jedoch das Desaster , wie du es nanntest, begann. Ist es … hat man dich von deinen Eltern getrennt?«

Er nickte; er wirkte dabei ein wenig theatralisch, aber vielleicht waren es echte und aufwühlende Gefühle, die ihn in diesem Moment bedrängten. »Man hat mich ihnen weggenommen. Als ich sechs Jahre alt war. Kindesentzug nennt man so etwas. Kein Mensch hat mich gefragt, ob ich das eigentlich will. Oder wie ich mich dabei fühle.«

Das stimmte nicht; er entsann sich einer Frau, die ausgiebig mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte sich sehr einfühlsam gegeben und immer wissen wollen, ob er sich dieses und jenes vorstellen konnte, und ob er nicht Lust hätte, für eine gewisse Zeit bei anderen Menschen zu wohnen, die es sehr gut mit ihm meinten. Damals hatte er das alles nicht wirklich begreifen können, aber im Nachhinein schien es ihm, dass er schon als der kleine Junge, der er gewesen war, das sichere Gefühl gehabt hatte, dass diese ganze Fragerei aufgesetzt war und dass er überhaupt nicht mitzureden hatte. Dass die Dinge bereits entschieden waren, und dass es nur noch um eine Show ging. Ja, eine Show. Mit dem Thema: Wir beziehen das Kind mit ein und müssen uns hinterher nicht vorwerfen lassen, seine Wünsche und Bedürfnisse ignoriert zu haben.

»Was … was war der Auslöser?«, fragte Inga. »Für den Kindesentzug, meine ich.«

Marius sah sehr angestrengt aus. »Es ist so schwer, sich zu erinnern … Es war nicht die Sache mit dem Arm … oh, ich weiß, die Sozialtussi, die uns betreute, hat Alarm geschlagen. Und meine Lehrerin. Ich war einige Tage nicht in die Schule gekommen, und niemand hatte mich entschuldigt.«

»Du warst in der ersten Klasse?«

»Ja. Und gegen Ende des Schuljahrs fehlte ich, und sie erreichten auch niemanden bei mir daheim.«

»Warum gingst du nicht in die Schule?«

Er schüttelte den Kopf. »Weißt du, da fehlen Bilder in meinem Kopf. Ich erinnere mich einfach nicht richtig. Ich weiß nur, was man mir später erzählt hat. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass sie mich belogen haben.«

»Wer ist sie

»Meine Pflegeeltern. Sie hatten es von Anfang an darauf abgesehen, einen Keil zwischen mich und meine richtigen Eltern zu treiben. Sie tischten mir Schauergeschichten auf.«

»Was erzählten sie?«

»Dass ich allein in der Wohnung war. Dass meine Eltern tagelang verschwunden gewesen sein sollen. Irgendwie … war angeblich zuerst meine Mutter abgehauen. Und mein Vater bildete sich dann ein, sie sei mit einem Liebhaber durchgebrannt. Er soll sich in den Kopf gesetzt haben, die beiden aufzustöbern und zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei konnte er mich nicht brauchen, und …«

»Und?«, fragte Inga leise.

Es war echter Schmerz in Marius’ Augen. Er atmete schwer. Inga überlegte, wie weit sie gehen durfte. Sie hatte eine tickende Zeitbombe vor sich. Sie durfte sich nicht von der Vertrautheit seiner Züge, seiner Stimme in Sicherheit wiegen lassen. Er war ihr Mann. Sie hatten gute Zeiten miteinander gehabt. Sie durfte nicht vergessen, dass er jetzt ein anderer war.

»Und? Was tat dein Vater mit dir?«, fragte sie noch einmal.

Marius’ Atem klang lauter. Plötzlich verzerrte sich sein Mund. Sein ganzes Gesicht sah aus wie eine groteske Fratze. »Er kettete mich an!«, schrie er. »Kannst du dir das vorstellen? Er kettete mich im Bad an! Das Bad hatte kein Fenster, und er ließ das Licht nicht brennen. Es war dunkel. Meine Hände waren gefesselt, und ich war mit einer Kette um den Fuß der Toilette festgebunden. Mein Vater sagte, das sei zu meinem Besten, und er wäre am nächsten Tag wieder da. Er verpisste sich und kam nicht wieder. Verstehst du? Er kam tagelang nicht wieder, und ich dachte, ich müsste sterben. Ich hatte nichts zu essen und nichts zu trinken, und ich hatte Todesangst. Meine Mutter war nicht da, und ich schrie, und niemand hörte mich. Niemand. Ich war ganz allein

Sein Gesicht glänzte von Schweiß. Seine Augen waren weit aufgerissen und sehr dunkel. Die Todesangst des kleinen, verlassenen Jungen stand in ihnen zu lesen, und unwillkürlich versuchte Inga an ihren Fesseln zu zerren; nicht weil sie fliehen wollte, sondern weil sie das überwältigende Bedürfnis spürte, ihn in ihre Arme zu ziehen, ihn zu streicheln, zu trösten. Ihm Wärme und Halt zu geben und die Qual aus seinen Augen zu vertreiben.

»Warum hast du mir das nie erzählt?«, fragte sie hilflos. »Warum hast du nie davon gesprochen?«

Sie bekam keine Antwort.

10

»Und?«, fragte Wolf. »Wie ist es? Gedenkst du, irgendwann wieder in unserem gemeinsamen Schlafzimmer einzuziehen, oder bleibt die Dachkammer der Dauerzustand?«

Er war spät nach Hause gekommen – es war nach neun Uhr –, und es war ihm anzumerken, wie sehr ihn der Umstand irritierte, dass ihm Karen nicht wie sonst entgegeneilte und sich rasch anschickte, für ihn noch einmal den Abendessenstisch zu decken und ein Glas Wein einzuschenken. Sie war ihm überhaupt nicht entgegengekommen, sondern auf der Veranda sitzen geblieben, wo sie im Schein der Gartenlaterne in einem Buch las.

Wolf war hinaufgegangen und hatte sich umgezogen; nun erschien er in Jeans und T-Shirt und leise verunsichert draußen bei ihr.

Karen sah von ihrem Buch auf. »Ich habe nicht alles dort hinaufgeschafft, um es gleich wieder nach unten zu bringen. Ich fühle mich wohl, so ganz für mich.«

»Aha.« Er ließ sich auf einen anderen Stuhl fallen. »Du hast also vor, dass wir von nun an getrennt leben. Unter einem Dach, aber dennoch getrennt.«

»So leben wir doch schon die ganze Zeit.«

»Ja? Ich habe das nicht so gesehen, aber wenn du meinst …« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Und mein Abendessen kann ich mir dann in Zukunft auch selber machen?«

»Es steht etwas für dich in der Küche. Du musst es dir nur aufwärmen.«

»Schön. Man fühlt sich wirklich umsorgt, wenn man nach Hause kommt.«

Karen erwiderte nichts. Ihr war klar, dass er ihr Verhalten für eine Strategie hielt, und vermutlich überlegte er sich bereits den Gegenzug. Er war überrascht worden, das hatte ihn ins Hintertreffen gebracht, aber Wolf war nicht der Mann, der eine solche Situation auf sich beruhen lassen würde.

Was ihr ein Gefühl der Gelassenheit gab, war der Umstand, dass sie in Wahrheit keine Strategie verfolgte. Er hatte noch nicht begriffen, dass er an jenem Sonntag zu weit gegangen war, als er abends die Kinder absetzte und wortlos weiterfuhr. Nicht, weil dieses Verhalten so besonders und außergewöhnlich schlimm gewesen wäre. Aber es war der berühmte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Seit jenem Abend war nichts mehr wie vorher. Sie hatte ihn losgelassen. Und es begann sich eine Leichtigkeit in ihr auszubreiten, die sich viel zu verführerisch anfühlte, als dass Karen sie aufs Spiel gesetzt hätte, indem sie erneut nach ihm griff.

Wolf machte eine Kopfbewegung zu dem Nachbarhaus hinüber. »Und? Irgendetwas Neues vom … vom Schauplatz des Verbrechens

Da er dieses Thema für gewöhnlich strikt mied, verriet seine Frage, welch intensive Verlegenheit er zu überspielen suchte.

Karen nickte. »Kronborg war heute Morgen da. Und am späten Nachmittag noch einmal.«

»Oh! Kronborg war gleich zweimal heute hier! Warum überrascht mich das nicht wirklich? Er ist inzwischen täglicher Gast bei uns. Lade ihn doch mal zum Essen ein! Ich würde unser neues Familienmitglied gern näher kennen lernen! «

»Du hast mich gefragt. Und ich habe geantwortet. Ich verstehe deinen Zynismus nicht!«

Wolf schwieg. Nach einer Weile fragte er: »Was hat Kronborg gewollt?«

»Sie haben etwas sehr Entscheidendes herausgefunden: Die Lenowskys hatten einen Pflegesohn. Er ist inzwischen erwachsen und verheiratet, aber er hat von seinem sechsten Lebensjahr an bei ihnen gelebt.«

»Einen Pflegesohn? Ein Adoptivkind also?«

Karen schüttelte den Kopf. »Nein. Ein adoptiertes Kind wird ein vollständiges Mitglied der Adoptionsfamilie, hat den identischen Status wie ein leibliches Kind. Ein Pflegekind ist etwas ganz anderes. Kronborg hat mir das erklärt. Wenn das Jugendamt über einen Gerichtsbeschluss Eltern das Kind wegnimmt, weil die Eltern ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind, das Kind vernachlässigt oder misshandelt haben, dann wird ein Platz in einer Pflegefamilie gesucht, weil das für ein Kind natürlich viel besser und gesünder ist, als in einem Heim zu landen. Solche Pflegeplätze sind wohl nicht einfach zu finden, denn die Menschen, die sie anbieten, lassen sich damit auf ein Kind ein, das ihnen jederzeit wieder weggenommen werden kann. Beispielsweise, wenn sich in der Herkunftsfamilie etwas ändert, die Eltern erfolgreich einen Alkoholentzug oder eine Psychotherapie absolvieren und wieder als erziehungstauglich eingestuft werden. Dann kann ihnen ihr Kind zurückgegeben werden, und die Pflegefamilie hat nicht die geringste Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Denn anders als bei einer Adoption gibt es keine rechtliche Bindung zwischen ihr und dem Kind. Vermutlich spielen sich da manchmal ziemliche Dramen ab. Ich denke, man muss sehr stark sein, um sich für ein solches Projekt zur Verfügung zu stellen.«

»Hm«, machte Wolf, »und die Lenowskys haben sich also in einem solchen Projekt engagiert? Seltsam. So wie du sie geschildert hast, hätte ich nicht an eine soziale Ader in ihnen geglaubt!«

Karen zuckte mit den Schultern. »Menschen, die andere zurückweisend behandeln, müssen nicht unbedingt ohne jedes soziale Engagement sein. Oder gewesen sein. Die Lenowskys waren alt. Vielleicht waren sie früher anders. Aufgeschlossener und spontaner. Wer weiß das!«

»Tja«, sagte Wolf.

»Jedenfalls«, fuhr Karen fort, »hatten sie wohl Glück mit ihrem Pflegesohn. Er blieb seine ganze Kindheit und Jugend über bei ihnen. Seine leiblichen Eltern drifteten völlig in den Alkohol ab. Die Mutter, sagt Kronborg, hat sich vor etlichen Jahren buchstäblich zu Tode gesoffen, und der Vater ist seit langem unauffindbar. Lebt womöglich auf der Straße. Der Sohn konnte jedenfalls nicht dorthin zurück.«

»Und wieso erzählt Kronborg dir das alles?«, fragte Wolf. »Ich meine, können die uns jetzt nicht irgendwann mal mit der Sache in Ruhe lassen? Du hast doch wirklich genug getan, indem du das Massaker dort überhaupt entdeckt hast! Muss Kronborg jetzt jeden Tag hier aufkreuzen und dir haarklein vom Stand der Dinge berichten?«

»Das Problem ist, dass der Pflegesohn nicht zu erreichen ist«, sagte Karen. »Er ist inzwischen verheiratet, und sie wissen auch, wo er wohnt, aber dort ist niemand. Kronborg wollte wissen, ob ich jemals einen jungen Mann bei den Lenowskys habe ein – und ausgehen sehen. Eventuell auch in der Zeit, in der … nun, in der die Lenowskys bereits gefangen gehalten wurden.«

Wolf runzelte die Stirn. »Was will er denn damit sagen? Dass dieser Pflegesohn eventuell …?«

»Ich weiß es nicht. Kronborg hielt sich sehr bedeckt. Zwischen den Zeilen habe ich aber herausgehört, dass … ja, irgendwie gibt es den Verdacht, dass das Verhältnis zwischen den Lenowskys und diesem jungen Mann nicht besonders gut war. Dass es wohl schon mit dem Kind Probleme gab, und dass die Pflegestelle Lenowsky im Nachhinein nicht mehr als glückliche Lösung angesehen wird.«

»Verdächtigt er den Pflegesohn?«

»So direkt hat er das nicht gesagt. Zumindest erscheint es ihm merkwürdig, dass er verschwunden ist.«

»Er wird verreist sein. Das ist im Sommer doch nichts Besonderes. «

»Natürlich. Aber der junge Mann ist bislang wohl der einzige Anhaltspunkt überhaupt.«

»Und da Kronborg am Schwimmen ist und endlich mal einen Fortschritt vorweisen muss, krallt er sich jetzt in diese neue Theorie.«

»Ich weiß gar nicht, ob er eine Theorie hat«, sagte Karen, »er wollte ja nur wissen, ob …«

»Und? Hast du diesen ominösen jungen Mann je gesehen? «

Karen schüttelte den Kopf. »Nein. Nie. Ich habe noch nie einen jungen Mann dort drüben gesehen. Was nicht so viel sagt, wir wohnen ja noch nicht lange hier. Aber die anderen Nachbarn haben auch nie jemanden gesehen. Das hat mir die Alte erzählt.« Sie machte eine Kopfbewegung zu dem Haus hin, in dem die alte, missmutige Frau lebte. »Und die Lenowskys haben die Existenz dieses Pflegesohns auch nirgends erwähnt. Keiner wusste etwas darüber.«

»Was die Vermutung erhärtet, dass sich die Lenowskys mit dem jungen Mann überworfen und vielleicht den Kontakt abgebrochen hatten. Aber deswegen muss er noch lange nicht ihr Mörder sein!«

»Nein. Aber völlig ausschließen kann man es auch nicht.«

Wolf erhob sich. Als großer, breitschultriger Schatten stand er vor dem Schein der Gartenlaterne. »Zum Glück sind nicht wir es, die das klären müssen«, sagte er. »Wir haben schließlich auch genug eigene Sorgen. Wie ist es? Du willst wirklich nicht mit uns in den Urlaub fahren?«

»Nein. Ganz sicher nicht.«

»Und weiterhin dort oben schlafen?«

»Ja.«

Er nickte langsam. »Ich denke nicht, dass ich mich dauerhaft auf diese Art, eine Ehe zu führen, einlassen kann.«

Er wollte ihr drohen. Er hatte noch nicht verstanden, dass er sie nicht mehr erreichte.

»Nach den Ferien«, sagte Karen, »müssen wir zusammen überlegen, wie es weitergeht.«

»Ich habe ja in der Türkei ausgiebig Zeit, darüber nachzudenken«, sagte Wolf.

Als er im Haus verschwunden war, ziemlich steifbeinig und beleidigt – er fühlte sich ungerecht und undankbar behandelt – , lehnte sich Karen in ihrem Stuhl zurück und atmete tief durch. Die Nacht war so warm und samtig, so voller Sterne. Voller leiser Stimmen. Die Kühle des Herbstes schien noch in weiter Ferne zu liegen. Den ganzen August hatte sie noch vor sich. Ihr Lieblingsmonat. Mit seiner Reife und Fülle und den satten Farben, mit seiner Wärme und mit seiner allerersten Melancholie des bevorstehenden Abschieds. Sie würde ihn hier in ihrem Garten verbringen, zusammen mit Kenzo. Ohne Wolf, ohne die Kinder.

Schon die ganze Zeit über fragte sie sich, wie wohl das Gefühl hieß, das sich langsam, jeden Tag etwas mehr, in ihr auszubreiten begann. Ein schönes Gefühl, ein beglückendes Gefühl, aber zugleich auch beängstigend. Sehr fremd. Es war voller Versprechungen, aber es schien auch Bedrohliches bereitzuhalten.

Zum ersten Mal an diesem Abend, in diesem Moment, dämmerte ihr die Antwort.

Das Gefühl hieß Freiheit.