Dienstag, 27. Juli

1

An diesem Dienstag beschloss Karen, aus dem gemeinsamen Schlafzimmer mit Wolf auszuziehen. Die Situation war für sie unerträglich geworden – gerade nach dem Wochenende, an dem er viel zu Hause gewesen war und es dennoch fertig gebracht hatte, fast kein Wort mit ihr zu sprechen. Seit dem Zusammenstoß an jenem Abend hatte sich die eisige Kälte, die er ihr entgegenbrachte, noch verstärkt, auch wenn Karen zuerst geglaubt hatte, dies sei eigentlich gar nicht mehr möglich.

Sie hatte am Samstagabend den Anlauf unternommen, eine Aussprache herbeizuführen. Die Kinder hatten Übernachtungsbesuch und vergnügten sich mit ihren Freunden im Keller, wo sie ein Tischtennisturnier organisierten. Karen hatte im Kamin auf der Terrasse ein Feuer angezündet. Wolf kam erst nach neun Uhr aus seinem Arbeitszimmer, als die Dunkelheit der Julinacht bereits hereingebrochen und der Garten voll dunkler Schatten, Blätterrauschen und einem geheimnisvollen Wispern war. Karen trug ihre neuen Jeans, in denen sie, wie sie im Spiegel noch einmal festgestellt hatte, wirklich eine tolle Figur hatte, und ein tief ausgeschnittenes T – Shirt. Sie hatte sich geschminkt und zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Parfüm benutzt.

Vielleicht, hatte sie gedacht, war ich wirklich zu nachlässig geworden.

Dann jedoch gewann sie den Eindruck, dass Wolf ihr verändertes Aussehen überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Er kam auf die Terrasse, sah sie dort sitzen und wollte wieder im Haus verschwinden, aber sie sprach ihn an.

»Wolf! Du bist fertig? Setz dich doch noch ein bisschen zu mir. Es ist ein wunderschöner Abend!«

Stirnrunzelnd betrachtete er das flackernde Feuer im Kamin. »Wieso hast du denn ein Feuer angemacht? Willst du grillen?«

Mut und Hoffnung sanken unter seinem unwirschen Ton. »Nein … ich fand nur … es sieht doch ganz romantisch aus, oder? Ich … ich denke, wir haben die Romantik in unserem Leben sehr vernachlässigt.«

Er seufzte. »Und jetzt willst du sie wieder einführen, oder was?«

Sie stand auf – er sollte ihre tolle, schlanke Figur sehen –, trat an den Gartentisch, nahm ein unbenutztes Glas und zog die Champagnerflasche, an der sie selbst sich schon reichlich bedient hatte, aus dem Kühler. Sie schenkte ihm ein, reichte ihm das Glas. »Für dich.«

Er nahm es, wartete aber nicht ab, um mit ihr anzustoßen, sondern trank ein paar Schlucke. Er trat an den Rand der Terrasse, betrachtete das dunkle, stumme Nachbarhaus.

»Die sind offenbar länger weg«, sagte er.

Sie stellte sich zu ihm. Kenzo, der sich neben dem Kamin zum Schlafen zusammengerollt hatte, hob den Kopf und knurrte.

»Sei still, Kenzo«, sagte Karen, »lass endlich das Haus in Ruhe!«

»Kläfft er das Haus immer noch an?«, fragte Wolf.

»Ständig. Irgendwann werden sich die Leute ringsum sicher beschweren. Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist.«

Wolf zuckte mit den Schultern.

»Niemand kümmert sich um den Garten drüben«, sagte Karen, »die Pflanzen vertrocknen immer mehr.«

Wolf seufzte wieder. »Das geht uns doch gar nichts an. Musst du dich unbedingt in Angelegenheiten mischen, die mit dir nichts zu tun haben?«

»Ich mische mich gar nicht ein. Der Gärtner … also der Gärtner dieser Leute sprach mich an und …« Sie verstummte. Sie hatte nicht den Eindruck, dass Wolf ihr zuhörte, und sie merkte, dass sie schon wieder den Boden unter den Füßen verloren hatte. Ihre Inszenierung mit Kaminfeuer, Champagner und Parfüm war ihr bereits entglitten. Sie stand schon wieder da wie ein in die Enge getriebenes Tier und hörte sich Rechtfertigungen stammeln, die niemanden interessierten. Sie verstand einfach nicht, wie es jedes Mal passieren konnte: Er hatte das Haus zuerst angesprochen mit der Bemerkung, die Nachbarn seien länger verreist. Sie war lediglich darauf eingegangen, und in Sekundenschnelle hatte er es so gedreht, als hechele sie ständig die Angelegenheiten anderer Leute durch. Gelangweilte Hausfrau mit dem nervtötenden Hang, sich in Dinge zu mischen, die sie nichts angingen.

Es stimmte nicht, aber es gelang ihr auch nicht, ihm das klar zu machen. Es gelang ihr insgesamt nicht, das schlechte Bild, das er von ihr hatte, zu verändern.

Ich bin ihm nicht gewachsen, dachte sie und kämpfte verzweifelt gegen die aufsteigenden Tränen, ich bin nicht klug genug für ihn, nicht schlagfertig genug, nicht selbstsicher genug. Ich bin eine graue, unscheinbare Maus, und vermutlich bedauert er es zutiefst, mich geheiratet zu haben. In seinem Leben habe ich nur noch die Funktion, seine Kinder großzuziehen. Wenn sie erwachsen sind, wird er gehen.

»Wolf«, sagte sie bittend. In ihrer Stimme klangen die unterdrückten Tränen, was ihn, wie sie wusste, sicher schon wieder wütend machte. »Wolf, es war doch mal anders zwischen uns. Was … ich meine, was ist passiert? Warum hat sich alles verändert?«

Er wandte sich ihr zu. Im Schein der Gartenlaterne konnte sie sein Gesicht klar erkennen. Es war ohne die geringste Wärme oder Sympathie.

»Worüber beschwerst du dich jetzt schon wieder? Glaubst du nicht, es könnte mal einen Tag geben, an dem du nicht jammerst und klagst?«

» Vielleicht, wenn ich verstehen könnte …« Sie biss sich auf die Lippen. Die verdammten Tränen. Sie ruinierten jeden ihrer Versuche, ein sachliches Gespräch mit ihm zu führen.

»Was verstehen? Uns? Mich? Dich selbst? Ach, ich erinnere mich, dein Problem ist ja, dass ich ein Verhältnis mit einer Kollegin habe, nicht wahr? Ist es das, was du zu verstehen versuchst?«

»Ich hatte nicht gesagt, dass du …«

»Nein? Komisch! Wie unterschiedlich man doch Aussagen interpretieren kann. Hast du mir nicht eine filmreife Szene deswegen hingelegt? Passenderweise an einem Abend, an dem ich besonders müde und abgekämpft war und dann noch zu einem für mich wichtigen Termin wegmusste. Aber was interessieren dich schon meine wichtigen Termine! Oder meine Abgespanntheit! Schließlich gibt es Wichtigeres, worum du kreisen kannst. Dich selbst. Deine Bedürfnisse. Deine Probleme. Deine Sorgen und Nöte! Wie solltest du dich da noch mit meinen beschäftigen?« Er zog zynisch die Augenbrauen hoch und kippte seinen Champagner hinunter.

Sie schluckte ein paarmal, biss sich auf die Lippen. Sie durfte nicht heulen. Ein einziges Mal musste es ihr gelingen, mit ihm zu reden, ohne zu heulen!

»Ende der übernächsten Woche«, sagte sie, »wollen wir in den Urlaub fahren. Wie stellst du dir das vor? Zwei Wochen in einem Hotel, wir beide, in dieser Verfassung?«

»O nein!«, rief er und fuhr sich theatralisch mit der Hand durch die Haare. »Jetzt stelle bitte nicht auch noch den Urlaub in Frage! Wenn ich mich richtig erinnere, warst du es, die darum gekämpft hat, dass wir fahren! Ich fand das in diesem Jahr ein bisschen zu teuer, nachdem wir gerade das Haus gekauft haben. Aber Madame flennte wieder einmal herum, dass wir doch schließlich eine Familie seien, und so ein Urlaub sei wichtig, und nur dann finde man Zeit füreinander, und die Kinder, und ich, und bla bla bla … Bis ich mich habe erweichen lassen und wieder ein paar Tausender hingeblättert habe, um …«

Sie merkte, dass er sich in Wut zu reden begann. »Ich will doch den Urlaub nicht absagen«, sagte sie schnell und mit zittriger Stimme, »ich weiß nur nicht, ob …«, ihre Stimme schwankte bedenklich, »ob ich es zwei Wochen mit dir in einem Hotelzimmer aushalte, so wie du …«

»Wie ich was?«

»Wie du mit mir umgehst.«

»Wie gehe ich denn mit dir um?«, fragte er kalt.

Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Es war hoffnungslos, antworten zu wollen.

»Scheiße«, sagte er und stellte klirrend sein Glas ab, »es ist Samstagabend. Es ist auch mein Wochenende. Bitte versuche nie wieder, mich zu einem verdammten Kaminfeuer-und-Champagner – Event im Garten zu überreden, wenn du mir in Wahrheit nur wieder etwas vorheulen willst!«

Er verließ die Terrasse. Drinnen knallte die Wohnzimmertür. Kenzo jaulte auf.

So war der Samstag verlaufen.

Am Sonntag verschwand Wolf schon am frühen Morgen mit den Kindern ins Schwimmbad. Karen wusste, dass er öffentliche Bäder hasste, noch dazu an einem Sonntag, der heiß und wolkenlos war und an dem sich die Menschen dort wahrscheinlich gegenseitig fast tottrampeln würden. Aber er wollte weg. Egal wohin, nur weg von seiner Frau. Niemand fragte Karen, ob sie mitwollte, auch die Kinder nicht.

Er färbt schon ab, dachte sie, als sie allein an dem hastig verlassenen, chaotischen Frühstückstisch saß und Kenzo zuhörte, der draußen das Nachbarhaus anbellte. Die Kinder merken, dass er mich wie Dreck behandelt, und so übernehmen sie es. Sie sehen, dass ich mich nicht wehre. Wahrscheinlich verachten sie mich.

Sie sammelte ihre ganze Kraft, um schließlich den Tisch abzuräumen, die mit Honig und Eigelb verklebten Teller in die Spülmaschine zu sortieren, die Brotkrumen aus dem Tischtuch zu schütteln und Kenzos Futterschüssel auszuwaschen. Dann schlich sie durch die Kinderzimmer, klaubte Unterhosen und verschwitzte T – Shirts zusammen und fragte sich, weshalb die Kinder mit solch eiserner Konsequenz ihre wiederholt vorgetragene Bitte, die Wäsche in den Korb im Bad zu werfen, ignorierten. Vielleicht hörten sie ihr gar nicht zu. Zumindest nahmen sie das, was sie sagte, offenbar keinen Moment lang ernst.

Der Sonntag war in quälender Einsamkeit vergangen. Es war so heiß draußen, dass es Karen selbst unter der Markise auf der Terrasse nicht aushielt und sich schließlich in das kühlere Wohnzimmer zurückzog. Zuvor hatte sie Kenzo mindestens dreimal vom Zaun weggezogen und ihm klar zu machen versucht, dass sein andauerndes Bellen sie alle irgendwann in Schwierigkeiten bringen würde. Er hörte ihr aufmerksam zu, scherte sich aber nicht um das, was sie sagte.

Wahrscheinlich färbt Wolf selbst auf ihn schon ab, dachte sie.

Sie hatte mittags ein trockenes Stück Brot gegessen, weil sie sich weder aufraffen konnte, etwas zu kochen, noch sich auch nur eine Scheibe Käse oder etwas Butter aus dem Kühlschrank zu holen. Sie hatte versucht, ein Buch zu lesen, musste jedoch bald einsehen, dass es ihr nicht gelang, sich nur einen einzigen Satz, den sie las, zu merken. Um irgendetwas Sinnvolles zu tun, stellte sie schließlich die Waschmaschine an, nur halb voll, weil sie nicht genug Wäsche zusammenbekam. Sie hatte erst am Vortag gewaschen. Wolf würde schimpfen über diese Energieverschwendung. Wenn er sie denn bemerkte, was nicht gerade wahrscheinlich war.

Am späteren Nachmittag fühlte sie sich so verzweifelt allein, dass sie ihre Mutter anrief, obwohl sie schon vorher wusste, dass ihr das Gespräch mit ihr nicht gut tun würde. Aber ihr Verlangen, eine menschliche Stimme zu hören, war so groß geworden, dass sie sogar bereit war, ihre Mutter zu ertragen.

Natürlich jammerte ihre Mutter über die Hitze und darüber, dass sie nur einen kleinen Balkon hatte, zwischen dessen Steinmauern sich die Wärme noch mehr staute und den Aufenthalt dort wie überhaupt das ganze Dasein völlig unerträglich sein ließ.

»Ein Garten, das wäre es jetzt«, sagte sie, »ein schöner, grüner Garten, wo man im Schatten eines Baumes im Gras liegen kann, und der Wind fächelt einem Luft zu. Das müsste schön sein!«

Karen wusste genau, dass ihre Mutter auch dann noch jammern würde, entweder über die Ameisen oder die piekenden Grashalme oder über ein Flugzeug, das im Laufe eines Nachmittags einmal über sie hinwegfliegen mochte. Trotzdem hatte sie sofort Schuldgefühle. Sie hätte Mama über das Wochenende einladen sollen. Sie ließ ihre Mutter viel zu selten kommen, mit Rücksicht auf Wolf, der Schwiegermutterbesuch am Sonntag als Zumutung empfand, aber das war natürlich dumm von ihr, denn Wolf ging ohnehin seiner eigenen Wege und kümmerte sich nicht um ihre Einsamkeit.

Ich sollte endlich tun, was ich möchte, dachte sie, aber das Schlimme war, dass sie manchmal das Gefühl hatte, genau das nicht zu wissen: was sie eigentlich wollte. Mama am Sonntag bei sich haben? Eigentlich nicht. Es hätte nur ihr Gewissen erleichtert, ihr jedoch nicht wirklich Freude bereitet.

»Vielleicht hätten wir das mit unseren Ferien doch anders regeln sollen«, meinte sie. »Anstatt dir Kenzo zu bringen, sollten wir dich hierher holen. Dann hättest du zwei Wochen in einem Garten …«

»Das kommt nicht in Frage«, unterbrach ihre Mutter sofort, »bei euch ganz allein in dem großen Haus … Da langweile ich mich ja zu Tode! Besser, Kenzo kommt zu mir.«

»Klar. Es bleibt alles wie geplant.« Nur dass ich eigentlich gar nicht mehr verreisen will. Warum schicke ich nicht Wolf mit den Kindern allein in die Ferien? Vermissen würden sie mich bestimmt nicht.

»Und?«, fragte ihre Mutter. »Bist du wieder in Ordnung?«

»Was meinst du? War ich nicht in Ordnung?«

»Na ja, ich denke da an neulich nachts. Als du mich aus heiterem Himmel angerufen hast, weil du glaubtest, mir sei etwas passiert. Da hatte ich schon den Eindruck, dass du … dass deine Nerven ein wenig bloßliegen.«

»Ich habe nicht aus heiterem Himmel angerufen, Mama. Das habe ich dir doch erklärt. Ich hatte einen äußerst mysteriösen Anruf erhalten, und …« Noch während sie weitersprach, dachte Karen, wie sinnlos es war, diese Episode noch einmal zu erzählen. Sie warb um Verständnis und würde es doch mit absoluter Sicherheit nicht bekommen. Es interessierte Mama gar nicht, wie sich die Dinge verhielten. Sie hatte sich längst ihre Meinung gebildet und würde nicht davon abrücken.

»Nun, jedenfalls ist so weit alles in Ordnung«, sagte sie abschließend und fragte sich, wie ihre Mutter wohl reagieren würde, wenn sie ihr jetzt sagte, dass ihre Ehe vermutlich am Ende war. Dass sie und Wolf nicht mehr miteinander zurechtkamen, und dass sie sich vorstellen konnte, dass es letztlich bei ihnen auf eine Trennung hinauslaufen würde.

Aber sie erwähnte nichts dergleichen, und nachdem sie noch über ein paar Nichtigkeiten geplaudert hatten, beendeten sie das Gespräch.

Karen ging in den Garten, der Abend nahte, die Hitze war nicht mehr ganz so unerträglich. Die Rosen jenseits des Zauns dauerten sie; sie ließen die Blätter hängen, und ihre Blüten waren verdorrt. Kurz entschlossen zog sie den Gartenschlauch heran und ließ einen erfrischenden Regen über die Dürstenden niedergehen. Egal, was Wolf sagte, sie konnte sich ja ein bisschen um das verwaiste Grundstück kümmern.

Sie dachte, wie schön es wäre, eine Freundin zu haben. An einem Tag wie diesem nicht allein zu sein, sondern mit einer anderen Frau auf der Terrasse zu sitzen, Tee zu trinken und zu späterer Stunde einen Prosecco, und über alles reden zu können. Auch über Eheprobleme. Das war vielleicht das wirklich Fatale an ihrer Situation: dass sie niemanden hatte, mit dem sie über ihren Kummer, ihre Sorgen sprechen konnte. Niemanden, der sie zwischendurch auf andere Gedanken brachte. Niemanden, mit dem es sich auch einmal aus tiefstem Herzen lachen ließ. Vielleicht war sie auch deshalb so unattraktiv für Wolf geworden. Weil sie so eigenbrötlerisch war, so in sich gefangen, so grüblerisch.

Ich lache zu wenig. Aber ich sehe auch nichts in meinem Leben, worüber ich lachen könnte.

Gegen sechs Uhr tauchten die Kinder auf, mit nassen, verstrubbelten Haaren, aufgedreht und fröhlich. Sie ließen ihre Badetaschen im Hauseingang fallen und stürmten zum Fernseher, wo es irgendeine Serie gab, von der sie begeistert waren.

»Wo ist denn euer Vater?«, fragte Karen, während sie die nassen Badeanzüge und Frotteetücher aus den Taschen klaubte, dabei auf ausgekaute Kaugummis und zerschmolzene Schokolade stieß und feststellte, dass ihre Tochter offenbar einen ihrer Badeschlappen verloren hatte.

Die Kinder wandten keinen Blick vom Bildschirm. »Papa hat uns nur abgesetzt. Er ist noch mal ins Büro gefahren. Wir sollen nicht mit dem Essen warten. Er kommt spät.«

Erst lange danach wurde Karen klar, dass dieser Augenblick einen Wendepunkt markierte. Sie begriff erst im Nachhinein, dass in dieser Minute, am Ende des langen, einsamen, trostlosen Sonntags, etwas in ihr starb: die Hoffnung, sie und Wolf könnten zueinander zurückfinden, sie könnten auf irgendeine geheimnisvolle Weise die letzten Jahre auslöschen und die Fäden ihres Lebens dort wieder aufnehmen, wo ihre Beziehung noch schön und heiter und liebevoll gewesen war. Irgendwo tief in ihr war noch ein Glaube lebendig gewesen, die Kälte und die Feindseligkeit in ihrer Ehe werde sich als eine vorübergegangene Krankheit entpuppen, an die man sich mit leisem Schaudern erinnert, eine Weile noch, deren Umrisse aber immer mehr verblassen, bis sie nur noch einen nebulösen Flecken in der Vergangenheit darstellen.

Dieser Glaube erlosch, unwiderruflich und für immer. Wolf setzte die Kinder ab, am Ende eines Sonntags, an dem er seine Frau von morgens bis abends allein gelassen hatte, und er hielt es nicht einmal für notwendig, auszusteigen und ihr persönlich zu erklären, weshalb er nun auch den Abend über nicht daheim sein würde. Er überließ es den Kindern, dies auszurichten.

Ich bin ihm gleichgültig. Meine Empfindungen sind ihm gleichgültig. Es gibt nichts mehr, gar nichts mehr, was ihn an mich bindet.

Sie hatte für die Kinder ein Abendessen zubereitet, selbst aber daran nicht teilgenommen. Alles, was sie tat, geschah wie in einer Art Trance. Sie hängte die nassen Sachen zum Trocknen auf, goss die Blumen auf dem Balkon, lief die gewohnte Abendrunde mit Kenzo und plauderte dabei kurz mit einer anderen Hundebesitzerin, ohne hinterher zu wissen, was sie beide gesagt hatten. Sie schickte die Kinder ins Bett, saß noch eine Weile auf der Terrasse und rauchte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ein paar Zigaretten; sie hatte sich das Päckchen aus dem Automaten geholt, als sie mit Kenzo spazieren ging. Um elf Uhr ließ sich Wolf noch immer nicht blicken. Karen ging ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Sie lag hellwach, starrte aus weit offenen Augen in die Dunkelheit. Es war vorbei. Zwischen ihr und Wolf war es vorbei, und für sie ging es nun darum, Schritte zu finden, die es ihr ermöglichten, ihre Selbstachtung zu behalten. Oder wiederzubekommen. Viel schien davon nämlich nicht mehr da zu sein.

Als sie ihn an der Haustür hörte, richtete sie sich auf und blickte auf die Leuchtanzeige des Radioweckers. Es war fast halb drei. Mit ziemlicher Sicherheit hatte er nicht so lange im Büro gesessen. Ihr war kalt, aber sie hatte – und das war neu – nicht das Bedürfnis, mit ihm zu reden. Ihn zu fragen, wo er gewesen war, ihn zu fragen, weshalb er ihr kein Wort über seinen verplanten Abend gesagt hatte. Sie hatte kein Bedürfnis, noch irgendetwas mit ihm zu klären. Sie stellte sich schlafend, als er ins Zimmer kam und sich neben sie legte. Er bewegte sich außerordentlich leise und vorsichtig. Offensichtlich hoffte er, ohne Gespräch davonzukommen.

Auch am nächsten Morgen beim Frühstück erwähnte sie mit keinem Wort den vergangenen Abend und hatte den Eindruck, dass dies eine leise Irritation in ihm auslöste, aber das war ihr egal. Sie verfolgte mit ihrem Verhalten keinerlei Strategie mehr.

Am Montagabend erschien Wolf wiederum erst, als Karen schon schlief. Aber auch am Dienstagmorgen sprach sie diesen Umstand nicht an. Wolf schien ein wenig beunruhigt.

Als er gefahren war und die Kinder in die Schule verschwunden waren, ging Karen daran, das Gästezimmer für sich herzurichten.

Es war ein sehr kleines, aber gemütliches Zimmer unter dem Dach, mit schrägen Wänden, einer geblümten Tapete und einem Gaubenfenster, aus dem man über die Nachbargärten bis zum nahen Waldrand sah. Direkt nebenan lag ein grün gekacheltes, winziges Bad. Karens Mutter hatte einmal hier oben gewohnt, und dieses Logieren unter dem Dach hatte zu den wenigen Dingen in ihrem Leben gehört, über die sie nicht nörgelte.

Karen verbrachte den Vormittag damit, ihre Kleider nach oben zu tragen und in den Schrank zu räumen, ihre Kosmetikartikel im Bad zu verstauen, das Bett zu beziehen und die Bücher, an denen sie besonders hing, darum herum zu stapeln. Zwei Blumenaquarelle, die sie vor einigen Monaten gemalt hatte – als ich glaubte, Kreativität würde mir aus meinen Depressionen heraushelfen, dachte sie bitter –, hängte sie im Schlafzimmer ab und oben in ihrem neuen Reich auf. Sie wischte noch ein wenig Staub, stellte einen Strauß Rosen auf den Tisch und ließ die heiße Sommerluft durch das weit geöffnete Fenster hereinfluten. Sie sah sich um und fand, dass das Zimmer zu ihr passte. Es war ein erster Schritt, hier oben einzuziehen. Ein erster Schritt auf einem Weg, der, wie ihr schwante, noch lang und steinig und von zahlreichen Rückschlägen begleitet sein würde.

Es geht um nichts weniger als um deine Selbstachtung, rief sie sich ins Gedächtnis.

Sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte; es war wichtig, jetzt zu agieren, nicht in einen Leerlauf zu fallen.

Ich könnte im Reisebüro anrufen und mich erkundigen, ob wir ein wenig Geld zurückbekommen, wenn ich kurzfristig von unserem Urlaub zurücktrete, überlegte sie. Seltsamerweise hatte sich das Problem, mit dem sie sich so lange herumgeschlagen hatte, mit dem Umzug in das neue Zimmer schlagartig gelöst: Sie wusste jetzt, dass sie nicht mitfahren würde. Sie wunderte sich nur noch, weshalb sie so lange unsicher gewesen war.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

Sie rannte hinunter und meldete sich mit atemloser Stimme. »Ja? Hallo?«

»Ist etwas passiert?«, fragte eine männliche Stimme, die ihr vage bekannt vorkam, die sie jedoch nicht einzuordnen wusste.

»Wer ist denn da?«

»Becker. Pit Becker. Ich bin der Gärtner von den Lenowskys …«

»Oh, ja … ich erinnere mich! Hallo! Weshalb meinen Sie, dass etwas passiert ist?« Ich rede wie ein aufgeregtes Huhn, dachte sie.

»Sie klangen eben so komisch, als Sie sich meldeten.«

»Tatsächlich? Nein, es ist nichts.« Außer, dass meine Ehe gerade in die Brüche geht und ich soeben aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen bin, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Ich wollte eigentlich nur wissen, ob die Lenowskys zurückgekehrt sind«, sagte Pit Becker, »oder ob Sie irgendetwas von ihnen gehört haben?«

Sie schüttelte den Kopf, obwohl Pit das nicht sehen konnte. »Nein. Weder das eine noch das andere. Es ist alles unverändert. «

»Ich finde, wir sollten jetzt eingreifen«, sagte Pit. »Wir können doch nicht so tun, als ginge uns das alles nichts an.«

Es war eigenartig, fand sie. Pit, den sie als einen ausgesprochen realistischen und modernen jungen Mann kennen gelernt hatte, empfand und sagte das Gleiche, was auch ihr immer wieder durch den Kopf ging, wenn sie das verlassene Nachbarhaus betrachtete. Ließ sie jedoch darüber etwas verlauten, tat Wolf so, als sei sie überspannt, hysterisch oder im besten Fall zumindest gelangweilt und daher auf der Suche nach abstrusen Ereignissen, die ihren Alltag auffrischen könnten.

Der nächste, überaus wichtige Schritt würde sein, ihn nicht länger zum Maßstab in allen Belangen ihres Lebens zu machen.

»Ja, denken Sie, wir sollten die Polizei verständigen? Ich weiß nicht … bekommt man nicht Ärger, wenn man die herbestellt, und am Ende war dann alles umsonst? Ich meine, außer einem ganz dummen Gefühl haben wir nicht allzu viel, worauf wir verweisen können!« Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie in Wahrheit nicht Angst vor der Polizei hatte, sondern vor Wolf. Seine zynischen und vernichtenden Kommentare, wenn sie eine möglicherweise sinnlose Polizeiaktion initiierte, konnte sie sich nur zu gut vorstellen.

Pit schien einen Moment zu überlegen.

»Nach wie vor denke ich, dass man über den Balkon einsteigen könnte«, sagte er dann. »Ich könnte jetzt gleich kommen. Eine Leiter habe ich … nichts leichter, als hinaufzuklettern und zu versuchen, ein Fenster zu öffnen.«

»Jetzt gleich?«

»Warum nicht? Könnten Sie dabei sein? Ich möchte schon, dass jemand bezeugt, dass es mir nicht um einen Einbruch ging.«

Sie dachte nach. Das kam so plötzlich und war so verrückt, und doch …

Mit dem Telefon am Ohr trat sie ans Fenster, schaute zu dem Haus hinüber. Ein Kälteschauer floss über ihren Körper, und der hatte mit den tatsächlichen Temperaturen dieses Tages nichts zu tun.

Sie schaute auf die Uhr. Es war kurz nach elf. »Meine Kinder kommen um ein Uhr aus der Schule«, meinte sie, »bis dahin hätte ich Zeit.«

»Okay«, sagte Pit, »ich bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen. «

Schon hatte er aufgelegt. Er gab ihr keine Gelegenheit, sich alles anders zu überlegen.

Sie ging ins Bad – in ihr neues, eigenes unter dem Dach – und bürstete sich die Haare. Sie lief ins Wohnzimmer, schenkte sich einen Schnaps ein und trank ihn in einem Zug.

Sie wartete.

2

Inga hatte es sich nicht so schwer vorgestellt, Rebecca zu einem Ausflug zu überreden. Zwar hatte sie inzwischen begriffen, dass das ganze Leben ihrer Gastgeberin einer einzigen Rückzugsstrategie untergeordnet war, aber das Ausmaß, in dem sich Rebecca abschottete, war ihr noch nicht völlig aufgegangen.

»Gehen Sie allein, Inga«, hatte Rebecca am Morgen gesagt, als Inga mit dem Vorschlag ankam, eine Wanderung am Meer zu unternehmen und anschließend irgendwo zu Mittag zu essen, »das ist nichts für mich. Aber Sie sollten Ihren Aufenthalt hier trotz allem ein bisschen genießen. Denken Sie denn, dass Ihre Füße eine Wanderung schon wieder durchhalten? «

»Die sind fast verheilt. Ich glaube trotzdem nicht, dass ich im Moment irgendetwas genießen kann, aber hier zu sitzen und zu warten … Ich meine, heute suchen sie zum letzten Mal nach Marius, und im Grunde denke ich immer, vielleicht passiert ein Wunder, und er spaziert zur Tür herein, und alles, was auf dem Schiff geschehen ist, stellt sich als böser Traum heraus … Aber ich merke, wie verrückt mich diese Situation macht …« Sie fand, dass sie unzusammenhängend redete, und schloss: »Ich glaube, es würde uns beiden gut tun, einmal hinauszukommen.«

»Ich bin in einer völlig anderen Situation als Sie«, hatte Rebecca sofort erwidert.

Inga hatte zum Fenster hinausgeblickt. Der Tag war kühler als seine Vorgänger, obwohl jetzt bald der August und damit der heißeste Monat des Jahres beginnen würde. Blauer Himmel und Sonne, aber ein frischer Wind von Norden. Man würde heute laufen können, ohne in der Hitze zu schmoren.

»Bitte! Ich habe für morgen meinen Rückflug gebucht. Vorher würde ich Sie gern zum Essen einladen. Sie haben so viel für mich getan … bitte sagen Sie nicht Nein!«

Es war Rebecca anzusehen gewesen, dass sie nicht glücklich war, aber sie hatte sich schließlich einverstanden erklärt. »Nun gut. Aber ich möchte nicht in Le Brusc oder der näheren Umgebung essen. Es wäre nicht auszuschließen, dass wir jemanden treffen, der Felix gekannt hat, und …«

» Wäre das schlimm? «

» Ich möchte niemanden treffen«, hatte Rebecca mit Schärfe in der Stimme erklärt, und Inga hatte begriffen, dass sie den mühsam errungenen Ausflug aufs Spiel setzte, wenn sie jetzt nachhakte.

Sie waren ein Stück mit dem Auto in Richtung Marseille gefahren. Irgendwo hatte Rebecca die Autobahn verlassen, war durch ein paar kleinere Orte gekurvt und schließlich auf dem Parkplatz einer Calonge, einer Bucht, gelandet.

»So. Von hier aus können wir den Klippenpfad entlanglaufen. Man hat von dort immer wieder sehr schöne Blicke über das Meer und in kleine Buchten hinein.«

Der Pfad war steil und eng, oft konnten sie nur hintereinander gehen, und häufig waren sie so in die Anstrengung des Kletterns vertieft und mussten auf das Geröll zu ihren Füßen achten, dass sie sich nicht miteinander unterhalten konnten. Rebecca hatte kaum Augen für die Landschaft ringsum, aber Inga musste immer wieder stehen bleiben und über das leuchtend blaue Wasser blicken. In der Ferne sah es trügerisch glatt und unbewegt aus, aber die Wellen, die sich an der Steilküste brachen, waren kräftig und trugen weiße Schaumkronen. Sie fragte sich, ob dieses Meer zu ihren Füßen wirklich Marius’ Grab geworden war. Ein Gedanke, der ihr fremd schien, so als gehöre er nicht zu ihrem Leben. Marius konnte nicht tot sein; irgendwie meinte sie stets, dass sie dies spüren müsste, dass sein Tod etwas wäre, das sich ihr, ganz gleich auf welche Weise, mitteilen würde. Das Schlimme war nur, dass ihre gemeinsame Zeit so oder so zu Ende war. Sollte er wieder auftauchen, würde dennoch nichts wieder so sein, wie es gewesen war.

»Sie denken an Marius, nicht wahr?«, unterbrach Rebecca die Stille. Sie war schon ein gutes Stück weitergelaufen, hatte dann bemerkt, dass die völlig in Gedanken versunkene Inga nicht mitkam, und war umgekehrt.

Inga nickte. »Ich nehme Abschied.«

»Sie wissen doch noch nicht, ob …«

»Ich nehme trotzdem Abschied. Es ist vorbei zwischen uns. Die Zeit, die wir gemeinsam hatten, ist vorüber.«

»Wegen der Szene auf dem Schiff?«

Inga überlegte. »Nicht nur. Vielleicht nicht einmal in erster Linie. Ich meine, so furchtbar es war, diesem Fremden gegenüberzustehen, ihn all diese verrückten Dinge sagen zu hören, von ihm in die Kajüte gestoßen und bewusstlos liegen gelassen zu werden, so war es doch im Nachhinein …« Sie suchte nach Worten, fand, dass es verrückt klang, was sie sagen wollte, dass es aber doch das war, was sie empfand. »Es war im Nachhinein für mich nicht einmal wirklich überraschend. Ohne dass ich je damit gerechnet hätte, dass so etwas geschieht. Ich wusste nicht, was passieren würde, aber ich habe in den letzten Tagen erkannt, dass ich im tiefsten Inneren immer ahnte, dass etwas passieren würde. Etwas in unserer Beziehung war schief, etwas passte ganz und gar nicht. Ich wollte mir das nur nicht eingestehen, weil …«

»Weil?«, fragte Rebecca.

Inga zuckte mit den Schultern. »Warum machen sich so viele Menschen etwas vor, wenn sie in den falschen Beziehungen stecken und im Grunde genau wissen, dass sie und der Mensch, den sie sich ausgesucht haben, nicht zusammenpassen? Aus Angst vor dem Alleinsein. Man will die Zugehörigkeit zu einem anderen nicht verlieren. Nicht das Gefühl von Geborgenheit, selbst wenn es aufgesetzt ist. Es ist so schön, wenn daheim jemand auf einen wartet, nicht?«

Rebecca sah sie nicht an. »Ich weiß«, sagte sie leise.

»Ich habe immer gewusst, dass mit Marius irgendetwas nicht stimmt«, fuhr Inga fort, »es war nicht greifbar, nicht formulierbar. Das ist es ja immer noch nicht. Ich stehe immer noch vor einem Rätsel, was mit ihm los ist. Aber ich weiß jetzt, dass das immer so war. Buchstäblich von unserer ersten Minute an. Ich habe Ihnen diese Episode ja erzählt. Und auch, dass sie sich – zur einen oder anderen Variante abgewandelt – als roter Faden durch unsere Zeit zog. Ich war immer nervös, wenn wir unter Menschen waren. Immer angespannt. Das falsche Wort von irgendjemandem im falschen Moment konnte die nächste Katastrophe auslösen. Marius, der nette, fröhliche, unkomplizierte Marius, war in Wahrheit ein Pulverfass, das jeden Moment explodieren konnte. Es ist ziemlich unerträglich, mit einem Pulverfass zu leben.«

»Und Sie wissen wirklich praktisch gar nichts über ihn von früher? Aus der Zeit, bevor Sie einander kennen lernten? Seine Familie, sein Umfeld … woher er kommt?«

Inga schüttelte den Kopf. »Ich weiß im Grunde fast nichts. Er hat Fragen abgeblockt. Ich kenne niemanden aus seiner Familie. Natürlich wollte ich gern seine Eltern kennen lernen, aber nachdem er anfangs immer wieder ziemlich durchsichtige Ausflüchte gefunden hatte, weshalb es schon wieder nicht zu einer Begegnung kommen konnte, sagte er irgendwann klipp und klar, dass das Verhältnis zu seinen Eltern nicht das beste sei. Einmal wurde er ziemlich drastisch: Sein Vater sei ein autoritärer Scheißer, sagte er. Ich wollte ihn nicht drängen, mich dennoch seinen Eltern vorzustellen. Im Übrigen fand ich den Umstand, dass er offenbar praktisch keinen Kontakt zu ihnen hatte, nicht so seltsam. An der Uni laufen viele herum, die die große Freiheit genießen, ihre Familie als spießig und engstirnig empfinden und sich ziemlich radikal abnabeln. Später nähert man sich dann wieder an … und ich glaube, etwas in der Art habe ich auch bei Marius erwartet. Ich dachte, er braucht jetzt erst einmal den totalen Freiraum, und irgendwann sieht man einander dann wieder mit anderen Augen.«

»Haben Sie ihn Ihrer Familie vorgestellt?«, fragte Rebecca.

Inga nickte. »Ich habe ihn an unserem ersten gemeinsamen Weihnachten mit zu uns nach Hause genommen. Wir waren noch nicht verheiratet, lebten auch noch nicht zusammen. Er hatte irgendeinen Adventssonntag bei seinen Eltern verbracht. Danach war er am Telefon richtig mürrisch und patzig und erklärte, er werde keinesfalls den Heiligabend mit ihnen verbringen. Ich wollte nicht, dass er allein ist, und lud ihn ein, mich zu begleiten. Ich komme aus einem Dorf in Norddeutschland, wir sind eine große Familie, und vom dreiundzwanzigsten Dezember bis zum ersten Januar treffen wir uns alle bei meinen Eltern. Es ist wirklich immer wunderschön und familiär, und ich wollte gern, dass Marius das erlebt. Aber …«

»Es funktionierte nicht?«

»Doch. Jedenfalls gab es keinen Eklat oder so. Aber ich war fürchterlich nervös …« Inga sah zu Rebecca hin. »Seltsam, nicht? Das hatte ich alles verdrängt. Ich hatte in jener Woche ständig Kopfschmerzen. Einmal fast migräneartig … mein Vater fuhr nachts in die Notapotheke, um mir ein Schmerzmittel zu holen. Niemand konnte sich das erklären, weil ich nie vorher zu Kopfweh geneigt hatte. Ich spürte, dass es mit Marius zusammenhing. Wir waren jeden Tag vierzehn Personen, die um einen Tisch saßen, es ging lustig zu, und ich lebte in größter Angst, jemand könnte eine falsche Bemerkung machen. Oder genauer: eine ganz normale Bemerkung, die aber wieder bei Marius einen kritischen Nerv treffen könnte. Es war, als hielte ich eine Woche lang den Atem an.«

»Kein Wunder, dass Sie Kopfweh bekamen«, sagte Rebecca.

»Ja, nicht wahr? Aber ich wollte die Zusammenhänge einfach nicht wahrhaben. Kurz bevor wir abreisten …« Sie stockte. Rebecca sah sie fragend an.

Inga atmete tief. »Kurz bevor wir abreisten, fragte ich meine Mutter, was sie von ihm hielte. Es war der Silvestertag, Marius begleitete meinen Vater und meine Brüder am Spätnachmittag in die Dorfkneipe. Eine Tradition für alle Männer dort am einunddreißigsten Dezember … Ich fühlte mich total elend. Marius allein mit mindestens vierzig fremden Männern, Bauern. Die können ganz schön derb werden, besonders wenn sie trinken, und es war nicht auszuschließen, dass sie sich den feinen Stadtmenschen Marius vornehmen würden. Ich hatte wieder Kopfschmerzen, und man sah mir das wohl auch an. Jedenfalls sagte meine Mutter, ich würde so blass aussehen, was denn los wäre.«

Sie sah die Szene vor sich: Mama und sie in der gemütlichen Küche des reetgedeckten Hauses, ganz allein, was während der vergangenen zehn Tage nicht ein einziges Mal vorgekommen war. Sie tranken eine Tasse Kaffee zusammen, draußen war es schon fast dunkel, und es begann ganz sacht zu schneien. Vom Küchenfenster aus konnte man über die endlos scheinenden Wiesen hinter dem Garten schauen. Die Weidenbäume ganz hinten am Horizont lösten sich gerade in der Dämmerung auf.

»Du gefällst mir nicht, Inga«, sagte ihre Mutter, »du bist so verändert. So angespannt und ruhelos. Wie ein Tier, das zu jeder Sekunde wach und auf der Hut sein muss.«

Sie hatte gelacht und dabei selbst gefunden, dass es mühsam klang. »Vielleicht ist es das Studium. Oder das Leben in der Stadt. Da weht schon ein anderer Wind als hier!«

»Vielleicht«, meinte ihre Mutter ohne Überzeugung. »Aber du lebst jetzt schon so lange in München, so weit weg von uns – und bislang schien dir das nur gut zu bekommen!«

Inga nahm einen Schluck Kaffee, schaute aus dem Fenster. Die Flocken wurden dichter.

»Wie gefällt dir eigentlich Marius?«, fragte sie in beiläufigem Ton.

Sie fand, dass ihre Mutterziemlich langeüberlegte – zulang.

»Es ist nicht leicht, ihn einzuschätzen«, sagte sie schließlich.

»Nein?«, fragte Inga überrascht. Ihre Mutter war der optimistischste Mensch, den sie kannte. Sie hatte eine spontane, positive Antwort erwartet. Oder erhofft, weil sie so dringend in ihrer eigenen Zuversicht bestärkt werden wollte?

»Ich habe das Gefühl«, sagte ihre Mutter vorsichtig, »dass er sehr kompliziert ist.«

Es gab sicher wenige Menschen, dachte Inga, die Marius mit dem Attribut kompliziert in Verbindung bringen würden. Marius, der Typ mit den lockeren Sprüchen und den originellen Einfällen, die Frohnatur, die sich selten lange Gedanken um irgendetwas machte; Marius, von dem man sich manchmal ein wenig mehr Tiefgang, ein wenig mehr Reflexion gewünscht hätte … Offenbar hatte ihre Mutter da ein ganz anderes Bild.

»Er kommt mir vor wie eine Fassade«, fuhr sie fort, »und dahinter ist etwas … ich kann es schwer in Worte fassen … dahinter sind vielleicht Wesenszüge, die ich gar nicht so gern kennen lernen möchte.«

Es war sehr still in der Küche. Inga erinnerte sich, dass ein bleischweres Gewicht auf ihre Brust zu sinken schien.

»So schlecht hast du dich noch nie über einen Menschen geäußert«, sagte sie.

Ihre Mutter sah sie betroffen an. »Tut mir Leid, wenn das so bei dir angekommen ist. Ich wollte mich nicht schlecht über ihn äußern. Ich wollte nur sagen, dass da etwas schwer Fassbares ist …«

»Was du nicht gern kennen lernen möchtest.«

Mama hatte genickt. »Weil es mich nervös macht. Aber das kann auch an mir liegen.«

Aber mich macht es auch nervös, hatte Inga gedacht.

An diesem sonnigen Julitag auf dem Klippenpfad hoch über dem Mittelmeer schien die winterliche Szene in der warmen Küche sehr fern – und zugleich nah. Nah deshalb, weil sie an Eindringlichkeit und Aktualität nichts verloren hatte.

Inga sah Rebecca an. »Es war nicht so, dass meine Mutter ihn nicht mochte. Es war eher so, dass sie etwas spürte, was ihr Angst machte. Das ist etwas anderes. Und es ist sehr bedrohlich. «

»Aber Sie schoben es beiseite?«

»Natürlich. Darin hatte ich ja mittlerweile Übung. Ich bin das jüngste Kind in meiner Familie, und ich redete mir ein, dass Mama mir gegenüber einen besonders ausgeprägten Beschützerinstinkt hatte. Dass sie in jedem Mann Unheil wittern würde, der mir zu nahe kam. Aber ich war heilfroh, als Marius und ich am zweiten Januar abreisten.«

Sie gingen langsam weiter. Der Weg war nun breit und eben und sandig. Rebecca sah auf die Uhr. »Gleich halb zwölf. In einer halben Stunde dürften wir La Madrague erreichen. Es gibt dort eine sehr gute Pizzeria. Chez Henri. Wir könnten dort etwas essen.«

»Gern. Vor allem trinken. Ich bin ziemlich durstig.«

»Wessen Idee war es eigentlich?«, fragte Rebecca nach einigen schweigsamen Minuten unvermittelt. »Ich meine, hierher zu kommen? Nach Südfrankreich?«

»Seine. Und zwar auch mal wieder völlig spontan, von jetzt auf gleich. Er konnte sich die Campingausrüstung von einem Freund leihen und überfiel mich förmlich mit seinem Plan. Ich hatte keine besondere Lust, ich dachte an die Hitze und an die überfüllten Strände jetzt in der Hochsaison …, aber seine Begeisterung ließ mir überhaupt keinen Ausweg. Ich hatte das Gefühl, ihn zu kränken, wenn ich allzu intensiv an seinem tollen Einfall herumnörgelte.«

»Und Kränkung war ja das rote Tuch für ihn.«

»Genau. Also willigte ich ein und …«, sie zuckte mit den Schultern, »und nun stehe ich hier irgendwo an der provenzalischen Küste vor den Scherben meiner Ehe.«

»Aber das wäre daheim in Deutschland wahrscheinlich auch über kurz oder lang passiert.«

»Sicher. Wir trieben schon lange auf das Ende zu, nur wollte ich das nicht erkennen.«

Rebecca blieb erneut stehen. »Worüber ich ständig nachdenke«, sagte sie, »ist, weshalb Marius mit meiner Person ganz offenbar unendlich negative Gefühle, ja, fast Hass verbindet. Ich zerbreche mir den Kopf, aber mir fällt nichts ein. Ich kenne ihn nicht, ganz bestimmt nicht.«

»Vielleicht kennt er Sie?«

»Oder er kannte meinen … verstorbenen Mann. Hatte mit ihm irgendein Problem und überträgt das nun auf mich.«

Inga runzelte die Stirn. »Ihr Mann war Arzt, nicht?«

»Herzchirurg, ja. Könnte es einen Vorfall in Marius’ Familie gegeben haben? Jemand, der mit den ärztlichen Leistungen meines Mannes nicht zufrieden war? Irgendetwas …«

»Das klingt nicht unplausibel«, meinte Inga, »aber das Schlimme ist, dass ich ja fast nichts weiß über Marius. Er hat nie über etwas Familiäres gesprochen.«

»Es kommt mir alles sehr zufällig vor. Zu zufällig. Marius trägt einen möglicherweise jahrealten Hass auf meinen verstorbenen Mann oder auf mich mit sich herum. Weder ist er aber jemals in Deutschland noch später hier in Le Brusc an ihn oder an mich herangetreten. Nun trampt er nach Südfrankreich, wird unterwegs vom einstigen besten Freund meines Mannes aufgesammelt und direkt in mein Haus gebracht. Hier stellt er fest, dass ich die Person bin, auf die er schon lange so zornig ist – oder dass ich zumindest die Witwe des Mannes bin, gegen den er eine tiefe Aversion hegt. Er beschließt, das Schiff zu stehlen …« Sie hielt inne. »Das gibt es nicht, oder? So viele Zufälle?«

»Es gibt schon manchmal eigenartige Zufälle«, sagte Inga, »aber dies hier klingt wirklich sehr weit hergeholt.«

»Es kann nicht sein, dass er es darauf abgesehen hatte, von Maximilian mitgenommen zu werden?«, fragte Rebecca vorsichtig. »Dass er das Zusammentreffen mit ihm irgendwie hat einfädeln können?«

»Ich wüsste nicht, wie er das geschafft haben sollte«, sagte Inga ratlos. »Er konnte nicht voraussehen, dass wir durch dieses abgelegene Dorf wandern würden. Eine Frau hatte uns dort abgesetzt. Maximilian kam nur dort entlang, weil er einen Stau auf der Autobahn umfahren wollte. Dieser Stau war aber keinesfalls planbar oder voraussehbar.«

Rebecca überlegte.

»Mir geht da ein Satz nicht aus dem Kopf. Als Sie mir von der Szene auf dem Schiff erzählten, sagten Sie, Marius habe etwas in der Art geäußert, er ›müsse mich nicht kennen, um alles über mich zu wissen‹. Das könnte bedeuten …«

»Was?«

»Das könnte bedeuten, dass er mich tatsächlich nicht kennt. Auch nicht meinen verstorbenen Mann. Aber dass ich für etwas stehe, das er hasst. Zutiefst hasst. In diesem Fall wäre der Zufall schon nicht mehr so zufällig.«

»Und was könnte das sein?«

»Ich weiß nicht … vielleicht ist es Geld? Das Ferienhaus am Mittelmeer, das Segelschiff, der Umstand, dass mich mein Mann so gut abgesichert hat, dass ich nicht arbeiten muss und trotzdem gut leben kann … Vielleicht hasst er wohlhabende Menschen?«

Inga schüttelte den Kopf. »Das wäre mir doch dann zu irgendeiner anderen Zeit schon aufgefallen. Ganz sicher hätte er auch in einem anderen Zusammenhang darüber schon einmal eine Bemerkung gemacht. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass er ein … ein neidischer Mensch ist.«

»Kann er etwas gegen Ärzte haben? Gegen Psychologen?«

» Nicht, dass ich wüsste.«

» Kinderruf. Mein Verein. Eine Initiative, die sich dem Schutz misshandelter Kinder verschrieben hat. Könnte da etwas bei ihm angesprungen sein?«

Inga strich sich die Haare aus der Stirn. Sie fröstelte, obwohl der Tag so warm und ihr Gesicht feucht von Schweiß war. Ich weiß ja einfach gar nichts über ihn!

»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »keine Ahnung, ob er je etwas mit Ihrem Verein oder mit einer ähnlichen Institution zu tun gehabt hat. Ich weiß es ganz einfach nicht!«

Zu ihrem Entsetzen merkte sie plötzlich, dass sie dicht daran war, in Tränen auszubrechen.

»Und vielleicht werde ich es auch nie wissen«, sagte sie mit schwankender Stimme, »die ganze Zeit über meine ich zu spüren, dass er noch lebt, aber Tatsache ist doch, dass das sehr unwahrscheinlich ist. Hätten sie ihn nicht längst finden müssen? Hätte er sich nicht längst melden müssen? Und wenn er tot ist …«

Sie konnte nicht weitersprechen, wischte stattdessen mit beiden Fäusten über die Augen, um die Tränen zum Versiegen zu bringen. Sie fühlte, wie Rebecca ihr sehr sanft über den Arm strich.

»Was wollten Sie sagen? Wenn er tot ist …? «

Inga nahm die Hände von den Augen. Ihre Lider brannten, aber es war ihr gelungen, nicht zu weinen.

»Wenn er tot ist, dann habe ich nicht nur meinen Mann verloren. Sondern ich stehe auch noch mit so vielen offenen Fragen da. Es ist dann so, als sei ein Faden meines Lebens einfach abgerissen und hänge nun ausgefranst und ohne Anschluss herum. Ich habe nichts gewusst und werde nie etwas wissen.« Sie sah Rebecca voller Trostlosigkeit an und gewahrte Mitgefühl und Anteilnahme in den Augen der anderen.

»Ich verspreche Ihnen etwas«, sagte Rebecca. »Wenn es wirklich so kommt, dann helfe ich Ihnen, alles über Marius’ Vergangenheit herauszufinden. Kein Mensch steht in der Welt ohne die geringste Verbindung zu seiner Vergangenheit. Wir werden Spuren finden und ihnen folgen, und Sie werden die Puzzleteile zusammensetzen, bis ein Bild entsteht.«

Inga nickte.

Bis ein Bild entsteht …

Sie schauderte bei dem Gedanken, dass es ein Bild sein könnte, von dem sie später wünschen würde, es nie gesehen zu haben.

3

Es dauerte zwanzig Minuten, bis Pit Becker klingelte. Karen hatte inzwischen drei Schnäpse getrunken und fühlte sich für das bevorstehende Abenteuer halbwegs gewappnet.

»Hi«, sagte Pit, »wie geht’s?«

Sie lächelte, angestrengt, wie ihr schien. »Es geht. Ich bin ziemlich nervös, wenn ich an die nächste Stunde denke.«

»Ich auch«, gab Pit zu.

Sie sahen einander an, beide in dem Bewusstsein, dass der Augenblick noch alles offen ließ, dass sie ohne Schwierigkeiten von ihrem Plan Abstand nehmen konnten.

»Warum tun Sie das?«, fragte Karen.

Er zögerte. »Ich weiß es nicht. Ich denke, so etwas gehört sich, oder?« Er trat von einem Fuß auf den anderen, fuhr sich mit den Fingern durch seine Stirnhaare und schien sich dann plötzlich einen Ruck zu geben.

»Nein, Scheiße, was rede ich für einen Mist«, sagte er. »Um ehrlich zu sein, ich bin überhaupt kein guter Mensch. Ich habe riesige Probleme. Wer heuert heute noch einen Gärtner an? Alle Welt spart, und wenn sich in meinem Leben nicht bald etwas Entscheidendes ändert, kann ich irgendwann in den nächsten Monaten Sozialhilfe beantragen.«

»Oh«, sagte Karen und fand gleichzeitig, dass sich das dumm anhörte.

» Ja – oh!«, wiederholte Pit. »Das ist die Welt jenseits der komfortablen Eigenheime mit den hübschen Gärten, den schönen Autos und den gepflegten Gattinnen. In diesem Land finden verdammt harte Existenzkämpfe statt, das können Sie mir glauben.«

»Ich lebe nicht auf dem Mond«, entgegnete Karen, »und in der Welt der komfortablen Eigenheime gibt es auch Sorgen und Nöte, das können Sie mir glauben.«

»Okay«, sagte Pit. Der Moment von Schärfe und Gereiztheit war vorüber. Er war wieder der nette, braun gebrannte junge Mann, der den Charme der Sorglosigkeit ausstrahlte.

»Es sollte eine Art feste Anstellung sein, die Lenowsky mir angeboten hat«, erklärte Pit. »Neben meinen Arbeiten im Garten sollte ich auch für Reparaturen am und im Haus zur Verfügung stehen. Ich sollte außerdem bei Bedarf Kaminholz hacken und aufschichten, im Herbst das Laub zusammenfegen, im Winter Schnee schippen. Lauter solche Dinge eben, die alte Menschen nicht mehr so gut hinbekommen. Dafür wollte er mir monatlich einen festen Betrag zahlen. Kein Vermögen, weiß Gott nicht, aber eine Grundlage, die mir helfen würde, zu überleben. Ohne Sozialamt. Seit Wochen kann ich nur an diese eine, einzige Chance denken. Verstehen Sie? Es macht mich fertig, dass die beiden Alten offenbar verschwunden sind. Ich muss einfach wissen, was mit ihnen los ist. Sie können mich gern für gierig und berechnend halten, aber es geht um meine Existenz!«

Karen zog die Haustür hinter sich zu. »Ich halte Sie nicht für gierig und berechnend. Ich verstehe Sie, und ich sehe jetzt viel mehr Sinn in dem, was wir tun. Gehen wir.«

Sie hatte ihn überrascht, das konnte sie spüren.

Pits Auto parkte vor dem Nachbargrundstück. Er schwang sich auf die Ladefläche des grün lackierten Lieferwagens und hob die Leiter herunter. Karen öffnete das Gartentor. Über den Weg, auf dem der Löwenzahn schon wieder deutlich höher stand, gelangten sie in den rückwärtigen Garten, wo sie unterhalb des steinernen Balkons stehen blieben. Die Veranda mit den verstaubten Sitzkissen auf den Stühlen und der zerknäulten Tischdecke in der Ecke bot den gleichen trostlosen Anblick wie einige Tage zuvor.

»Ich habe ein ganz dummes Gefühl«, sagte Karen.

»Ich auch«, meinte Pit. Er richtete die Leiter auf. Sie reichte problemlos bis an die obere Balustrade.

»Also, ich klettere jetzt hinauf und verschaffe mir einen Überblick. Warten Sie hier unten. Am Ende haben wir da oben ja gar keine Chance, ins Haus zu kommen.«

Er verschwand nach oben, schwang sich über das Balkongeländer. Karen starrte hinauf. Jenseits des Gartenzauns stand Kenzo und bellte aufgeregt herüber.

» Können Sie etwas sehen?«, rief sie mit gedämpfter Stimme.

Pit erschien neben der Leiter. »Hier ist wirklich ein Fenster, dessen Rollladen offen steht. Das ist unsere einzige Chance.«

»Aber wie wollen Sie es öffnen?«

»Ich habe einen Glasschneider dabei.«

Er ist wirklich gut vorbereitet, dachte Karen. Sie fühlte sich äußerst unwohl in ihrer Haut.

»Ich versuche, ein Stück aus der Scheibe zu schneiden«, fuhr Pit fort, »und dann hindurchzugreifen und das Fenster von innen zu öffnen.«

»Und wenn die Alarmanlage eingeschaltet ist?«

Pit zuckte mit den Schultern. »Das müssen wir riskieren.«

»Soll ich raufkommen?«

»Ja. Hoffentlich sind Sie schwindelfrei!«

Das werde ich gleich feststellen, dachte Karen und machte sich an den Aufstieg. Kenzo fand diesen Anblick offenbar so verblüffend, dass er zu bellen aufhörte und die Bewegungen seines Frauchens mit großen Augen verfolgte.

Oben angekommen, half ihr Pit bei dem letzten Stück über das Geländer. Karen stand auf dem kleinen Balkon und klopfte sich den Staub von den Jeans. Um sie herum standen Terrakotta – Töpfe mit Geranien, Begonien und Margeriten, aber die Blumen boten den gleichen traurigen Anblick wie ihre Leidensgenossen unten im Garten: Ziemlich verwelkt steckten sie in der trockenen Erde und ließen ihre Köpfe hängen.

»Sehen Sie«, sagte Pit, »dieses Fenster will ich öffnen.«

Das Fenster ohne Rollladen wirkte wie das einzige lebendige Auge in dem wie tot wirkenden Haus. Neben all den Anzeichen von beginnender Verwahrlosung und Bedrohung schien es harmlos und normal. Schneeweiße Spitzengardinen bauschten sich jenseits der Scheibe.

»Und Sie meinen, Sie können ein Loch in die Scheibe schneiden?«, fragte Karen. Ihr wurde immer mulmiger zumute. Zudem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie von allen Seiten beobachtet wurden. Sie kam sich entsetzlich exponiert vor auf diesem Balkon. Sicher hatte man in sämtlichen Nachbarhäusern bemerkt, dass hier zwei Menschen über eine Leiter in ein leer stehendes Haus einzudringen versuchten, und man nahm sie nun voller Argwohn ins Visier. Vielleicht verständigte sogar schon jemand die Polizei.

»Ich bin froh, wenn wir hier fertig sind und verschwinden können«, murmelte sie.

Pit hielt bereits den Glasschneider in der Hand und setzte ihn gleich neben dem Fenstergriff von außen auf die Scheibe.

»Das wird gar nicht so schwierig«, meinte er, ohne auf Karens Worte einzugehen.

Das Geräusch, das der Schneider verursachte, war erstaunlich leise. Ein seltsames Knirschen, ein Knacken, und dann zog Pit mit einem Saugnapf ohne größeren Aufwand ein fast rundes Stück Glas aus der Scheibe. Er legte es vorsichtig auf den Boden, griff durch das Loch in das Innere des Zimmers und öffnete den Fenstergriff. Die Alarmanlage war nicht angesprungen. Das Fenster schwang auf.

Sie wichen beide in derselben Sekunde zurück. Der Gestank, der ihnen aus dem stickigen Haus entgegenschlug, traf sie unvorbereitet und war mörderisch. Süßlich, schneidend, alles nur denkbar Widerwärtige in sich vereinend. Es war so furchtbar, dass Pit schlagartig grau bis in die Lippen wurde und Karen sich zur Seite wenden und eine Hand gegen ihren Mund pressen musste; sie hatte einen Moment lang mit schier unüberwindbarem Brechreiz zu kämpfen.

»Verdammt«, japste sie, als sie wieder sprechen konnte, »was ist das?«

Pit schob die Gardinen beiseite. Auch ihm war deutlich anzusehen, dass er gegen einen Brechreiz ankämpfen musste. »Wir müssen da jetzt rein.«

»Ich kann nicht …« Wieder würgte sie.

»Ich gehe.« Pit schwang sich durch das Fenster. Nach einem Moment des Zögerns folgte ihm Karen, die Hand fest vor ihr Gesicht gedrückt.

Es ist ein Albtraum, dachte sie.

Sie wusste jetzt, dass sie etwas Entsetzliches finden würden.

 

Sie fanden Fred Lenowsky im Bad, das gleich neben dem Zimmer lag, in das sie eingestiegen waren. Er saß nackt auf der Toilette; seine Füße waren mit einem Strick an den emaillenen Sockel gefesselt, die Hände waren auf den Rücken gebunden, und sein Kopf wurde durch eine Wäscheleine aufrecht gehalten, die unter seinem Kinn entlanglief und dann nach oben führte, wo sie an einem Nagel, der aus der Decke ragte, befestigt war. Lenowsky sah auf groteske Weise gedemütigt aus; auch deshalb, weil er eindeutig tot war, aber dennoch gezwungen wurde, in dieser Haltung der Erniedrigung zu verharren. Zudem war er bereits im Zustand der Verwesung begriffen, was seine Gesichtszüge auf eine grausame Weise entstellte.

»Wie … ist er gestorben?«, flüsterte Karen und fragte sich gleichzeitig, ob dies zu klären der im Augenblick wichtigste Umstand war. Sie stand in der Tür, erstarrt vor Schreck, blickte auf den toten Mann und vernahm ein immer lauter werdendes Dröhnen in ihren Ohren – oder war es eher ein Rauschen? Sie vermochte nicht zu glauben, was sie sah, und hoffte inständig, sie werde nicht in Ohnmacht fallen. Der widerwärtige Gestank von Verwesung drang von allen Seiten auf sie ein und erfüllte das Haus vollkommen. Karen versuchte, ausschließlich durch den Mund zu atmen. Einen Moment lang dachte sie voller Panik, sie würde den Geruch am Ende nie wieder loswerden.

Pit, der ebenfalls für einen Moment bewegungsunfähig gewesen war, trat einen Schritt auf die Leiche zu.

»Na, jedenfalls war es wohl kein natürlicher Tod«, sagte er rau. Seine Stimme gehorchte ihm nicht richtig, er räusperte sich. »Denn normalerweise setzt man sich zum Sterben kaum gefesselt auf eine Toilette, oder?«

Er stand jetzt direkt vor dem Toten.

»Keine Ahnung, wie er gestorben ist«, sagte er.

»Ist er schon lange, ich meine … kann man sehen, wann …?«

»Bin ich ein Gerichtsmediziner?«, fuhr er sie an.

Sie verstummte. Lieber Gott, lass es nicht wahr sein, betete sie stumm, ohne in diesem Moment zu realisieren, welchen Triumph über ihren Mann sie am Ende dieses Tages würde feiern können: Denn nun stand fest, dass sie Recht gehabt hatte. Sie war nicht hysterisch, nicht überspannt, nicht verrückt. Sie hatte einfach nur hundertprozentig Recht gehabt.

»Wir sollten nichts anfassen«, flüsterte sie.

»Klar«, sagte Pit. Er drehte sich zu ihr um. Sie sah, dass er trotz seiner gebräunten Haut kalkweiß im Gesicht geworden war.

»Wir müssen nach Frau Lenowsky sehen«, sagte er.

»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, entgegnete Karen mit dieser fremden, leisen Stimme, von der sie erst akzeptieren musste, dass sie zu ihr gehörte. Aber trotz dieser Worte bewegte sie sich rückwärts von der Tür weg und stand nun mitten im Treppenhaus. Es war dämmrig. Helligkeit kam nur aus dem Zimmer, dessen Fenster sie geöffnet hatten, und von unten durch die gefärbten Glasscheiben der Haustür. Dennoch erkannte sie, dass es wie auf einem Schlachtfeld aussah. Die Perserbrücken, die überall verteilt lagen, waren verrutscht, dazwischen lagen allerlei Gegenstände verstreut: Rollen mit Toilettenpapier, Kugelschreiber, Bürsten und Kämme, Akten, Papiere, Notizbücher, der gesamte Inhalt eines Nähkorbs, Unterwäsche, Zeitschriften, eine fleckige Bettdecke. An der Wand wies ein quadratischer, gelblicher Fleck darauf hin, dass dort lange etwas gehangen haben musste; ein Spiegel wahrscheinlich, denn auf dem Fußboden darunter lagen Scherben und Glasperlen verstreut, die zum Rahmen gehört haben konnten.

»Vandalismus«, sagte Pit, der nun ebenfalls aus dem Bad kam, »irgendwelche Typen, die hier eingedrungen sind, das alte Ehepaar ermordet und dann das Haus verwüstet haben. «

»Aber wie … ich kann nicht verstehen, wie das passieren kann, ohne dass irgendjemand etwas merkt.«

»Jemand hat ja etwas bemerkt«, sagte Pit. »Erzählten Sie nicht, dass Ihr Hund ständig das Haus anbellte? Er wusste genau, dass dort etwas Schreckliches passiert war.«

Sie starrten einander an.

»Wir müssen jetzt nach seiner«, Pit machte eine Kopfbewegung in Richtung Bad, »nach seiner Frau suchen.«

»Oder gleich die Polizei rufen.«

»Ich gehe jetzt die Treppe hinunter«, sagte Pit. Vorsichtig balancierte er zwischen all den Gegenständen hindurch, die über die Stufen verstreut lagen. Karen folgte ihm nach einem Moment des Zögerns.

Unten sah es nicht besser aus als oben, es herrschte die gleiche willkürliche Zerstörung. Auf einem Tisch standen zwei Gläser, zur Hälfte mit eingedicktem gelbem Fruchtsaft gefüllt. Eine fast leere Weinflasche befand sich auf einem Wandbord und war zur Fliegenfalle geworden; die Leichen mehrerer Fliegen schwammen darin herum. Pit bückte sich und hob, entgegen ihrer beider Vorsatz, nichts anzufassen, einen flachen Karton auf. »Ich glaub das nicht«, sagte er entgeistert.

Karen erkannte, dass es sich um einen Pizzakarton handelte, und zwar von einem italienischen Service, der ins Haus lieferte. Sie, Wolf und die Kinder hatten selbst schon oft dort bestellt. Auf der Pappe lagen noch ein paar abgenagte Teigränder herum, die vermutlich inzwischen knochenhart waren.

»Die haben sich noch Pizza hierher bestellt!«, sagte Pit. »Haben die Alten umgebracht, sich hier eingenistet und sich sogar noch ihr Essen liefern lassen.«

Karen dachte an ihre Beobachtungen. Die Lichter in der Nacht, geöffnete und dann wieder geschlossene Rollläden, dabei keinerlei Reaktion auf ihr Klingeln. Das Haus war vielleicht längere Zeit bewohnt gewesen, aber nicht von den beiden Menschen, die hier tatsächlich lebten. Die hatte man längst ermordet. Längst?

Ihr kam ein furchtbarer Gedanke, aber sie schob ihn rasch von sich. Hatten die beiden alten Leute noch eine Zeit lebend mit ihren Mördern verbringen müssen?

Pit betätigte den Lichtschalter neben der Tür, und es wurde so plötzlich hell, dass Karen entsetzt zusammenzuckte. »Nicht«, sagte sie, »an den Lichtschaltern sind bestimmt Fingerabdrücke.«

»Ja, aber in diesem Dämmerlicht kann man kaum etwas richtig erkennen.« Pit betrachtete nachdenklich den Pizzakarton. »Eine Pizza. Spricht für einen Täter, oder?«

»Oder die anderen haben ihre leeren Kartons sonst irgendwo im Haus liegen gelassen«, meinte Karen, »sehr ordentlich waren sie ja wohl nicht.«

Pit machte einen raschen Schritt auf die Haustür zu und riss sie auf. Sie war nicht verschlossen gewesen. Vor ihnen lag der verwilderte Vorgarten, das helle Sonnenlicht des Hochsommertags und, als erstaunlich beruhigender Anblick, Pits grüner Lieferwagen vor dem Tor, bemalt mit Blumen und Früchten.

»Wieso …?«, begann Karen, aber Pit erklärte gleichzeitig. »Ich wollte uns nur einen Fluchtweg nach draußen sichern. Wer weiß …«

Sie begriff, was er meinte, und ihr wurde kalt vor Entsetzen. »Sie glauben … die sind noch hier?«

»Ich glaube es eigentlich nicht«, sagte Pit. Sie schwiegen beide ein paar Momente, lauschten in die absolute Stille des dunklen, kühlen Hauses hinein. Draußen zwitscherten Vögel und brummten Bienen. Drinnen herrschte tiefes Schweigen.

»Ich glaube es nicht«, wiederholte Pit, »aber sicher ist sicher. «

Rechter Hand von ihnen lag ein großes, gänzlich abgedunkeltes Zimmer, dessen Umrisse sowie die Schatten der Möbel nur vage erkennbar waren. Von ihrem Besuch her wusste Karen, dass es sich um das Wohnzimmer handelte. Zögernd trat sie ein.

»Wir brauchen Licht«, sagte Pit hinter ihr. Er berührte den Schalter nur mit seinem Fingernagel, als er ihn anknipste.

Das Licht enthüllte auf einen Schlag das ganze Drama.

Greta Lenowsky lag bäuchlings auf dem Teppich vor der verschlossenen Terrassentür. Ihre Beine waren grotesk verdreht. Sie trug eine hautfarbene, knielange Unterhose, darüber ein geblümtes Nachthemd, das bis zur Taille hinaufgerutscht war. Um ihren Hals lag ein grünes Hundehalsband, daran befestigt eine ebenfalls grüne Leine. Die Hände an ihren über den Kopf ausgestreckten Armen umklammerten einen Telefonapparat, der allem Anschein nach auf dem verschnörkelten Biedermeiertischchen neben der Tür gestanden hatte. Die eine Hand lag auf der Gabel, die andere hielt den Hörer fest. Greta Lenowsky war tot, aber sie hatte in den letzten Momenten ihres Lebens offenbar versucht, um Hilfe zu telefonieren. Vielleicht hatte ihre Kraft nicht mehr gereicht, eine Nummer zu wählen. Oder sie hatte aus irgendwelchen Gründen keine Verbindung bekommen. Vielleicht war sie gestorben, kaum dass sie den Hörer abgenommen hatte. Man hatte sie erniedrigt und gequält – die Hundeleine sprach eine deutliche Sprache –, aber sie hatte noch die Kraft gefunden, durch das Chaos ihres einstmals so gepflegten Hauses zu kriechen und den lebensrettenden Apparat zu erreichen. Zu spät. Ganz knapp zu spät.

»Wer tut so etwas?«, flüsterte Karen. »Um Gottes willen, wer tut so etwas?«

Sie stand inmitten eines grausamen Albtraums, der unvermittelt über sie hereingebrochen war, und sie merkte, dass sich ihr Gehirn weigerte, in letzter Konsequenz zu begreifen, was ihre Augen sahen. Überall auf dem Teppich waren große Flecken eingetrockneten Blutes, aber sie erinnerte sich später, dass sie in jenen Minuten ständig versucht hatte, diese Flecken als ein Muster zu deuten, das in den Teppich eingewebt worden war, nur um nicht weitere Spuren eines grauenhaften Verbrechens darin erkennen zu müssen.

»Ich rufe jetzt sofort die Polizei«, sagte Pit. Er war, wenn überhaupt möglich, noch bleicher geworden.

Karen sah, dass seine Hände heftig zitterten, als er sein Handy aus der Hosentasche zog. Mit bebenden Fingern schaffte er es erst beim zweiten Anlauf, die Nummer der Polizei einzutippen.

4

Eine Stunde später sah es in der stillen, beschaulichen Wohnstraße aus wie am Drehort eines Films. Es wimmelte von Polizisten und Polizeifahrzeugen, und vor dem Grundstück der Lenowskys war ein weiträumiges Areal mit rotweißen Bändern abgesperrt. Autos, die in die Straße einbogen, wurden angehalten, die Fahrer mussten ihre Papiere vorzeigen. Immer wieder verschwanden Leute im Haus, andere kamen heraus. Handys schrillten. Es ging zu wie im Taubenschlag, aber vermutlich, so dachte Karen, weiß jeder genau, was er zu tun hat und was nicht. Trotz des Gedränges wird niemand Spuren vernichten.

Sie hatte das Gefühl, unter Schock zu stehen. Eine junge, etwas forsche Beamtin hatte ihre Personalien aufgenommen und ihr ein paar Fragen gestellt. Sie war Karen wenig einfühlsam vorgekommen; sie tat so, als sei es ein ganz alltägliches Ereignis, seine Nachbarn ermordet in deren Haus vorzufinden.

»Der ermittelnde Kommissar wird Sie heute noch sprechen wollen«, sagte sie zum Schluss und klappte laut und energisch ihr Notizbuch zu. »Sie halten sich bitte zur Verfügung.«

»Ich wohne ja gleich nebenan«, erwiderte Karen.

Da sich niemand mehr um sie kümmerte, ging sie schließlich wieder in ihren Garten zurück. Sie hatte Pit nicht mehr gesehen und vermutete, dass auch er befragt wurde.

Er weiß ja, wo er mich findet, dachte sie.

Kenzo begrüßte sie stürmisch. Sie kauerte sich neben ihn ins Gras und streichelte ihn und merkte, dass sich dabei das Zittern ihrer Hände zu beruhigen begann. Ein großer Fliederbusch verdeckte an dieser Stelle den Blick auf das Nachbarhaus, und wenn sie das Erlebte auch nicht verdrängen konnte, so gelang es ihr doch für einige Augenblicke, sich davor zu verstecken.

Die Kinder würden sehr bald aus der Schule kommen und natürlich sofort sehen, dass etwas passiert war. Karen beschloss, ihnen von Anfang an die Wahrheit zu sagen, denn sie würden sowieso recht bald Bescheid wissen, und zwar sowohl über das Verbrechen als auch über den Umstand, dass es ihre Mutter gewesen war, die die Leichen gefunden hatte. Sie fragte sich, ob die beiden sich vorstellen konnten, wie sie, Karen, über eine Leiter auf einen fremden Balkon kletterte und im Schlepptau eines jungen Mannes in ein Haus eindrang, in dem ein grauenhaftes Verbrechen verübt worden war. Dies entsprach ganz sicher nicht dem Bild, das sie von ihrer Mutter hatten.

»Die werden sich alle ganz schön wundern«, sagte sie zu Kenzo, und sie meinte in erster Linie Wolf damit. Vielleicht ging ihm irgendwann auf, dass er seine Frau schon immer unterschätzt hatte.

Sie stand auf und wollte über die Terrasse das Haus betreten, da hörte sie, dass sie gerufen wurde, und drehte sich um. Am Zaun stand die alte Frau, die zur anderen Seite hin neben ihnen wohnte, und winkte ihr eifrig zu.

»Ist das wahr?«, fragte sie zischelnd, als Karen zu ihr hintrat. »Die sind beide ermordet worden, und Sie haben sie gefunden? «

Karen wunderte sich, wie rasch sich Neuigkeiten in einer kleinen Siedlung herumsprachen. Dass etwas Dramatisches geschehen war, ließ sich unschwer erkennen, aber dass man bereits wusste, dass beide Lenowskys tot waren und wer sie gefunden hatte, zeugte von einem außergewöhnlich schnellen und zuverlässigen Funktionieren des nachbarschaftlichen Informationsflusses.

»Ja, es stimmt«, sagte sie, »beide leben nicht mehr.«

»Ermordet?«, fragte die Alte noch einmal nach, und Karen nickte. »Wie es aussieht – ja.«

»Guter Gott! Man hätte nicht gedacht, dass so etwas in unserer Straße passiert, nicht wahr? Und keiner hat etwas gemerkt! «

»Einer schon«, widersprach Karen und wiederholte damit, was Pit vor mehr als einer Stunde zu ihr gesagt hatte. »Kenzo. Mein Hund. Er wusste, dass etwas passiert war, daher hat er ständig das Haus angebellt.«

Es bereitete ihr eine gewisse Genugtuung, dies noch einmal ausdrücklich klarzustellen, denn schließlich hatte sich gerade die alte, mürrische Frau des Öfteren über Kenzos Bellen beschwert.

Die Alte beäugte Kenzo misstrauisch, so als habe er womöglich selbst etwas mit der Tat zu schaffen. »So? Kleiner Hellseher, wie? Na ja, ich muss schon sagen …« Sie holte tief Luft, »es waren zwar reichlich seltsame Leute, aber das hatten sie nicht verdient!«

Karen fand es beruhigend, dass die Alte den Menschen, die sich nicht in ihr persönliches Weltbild einordnen ließen, doch das Recht auf ein friedliches Ende zubilligte.

»Ich bin noch völlig geschockt«, sagte sie, »zwar habe ich die ganze Zeit über gedacht, dass etwas nicht stimmt, aber … ich habe nicht geglaubt, dass … ein Verbrechen …«

Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie sehr wohl an ein Verbrechen gedacht hatte. Ihr ungutes Gefühl, das Frösteln, wenn sie zu dem Haus hinüberblickte, ihr ständiges Bedürfnis, sich zu kümmern, herauszufinden, was geschehen war … Aber es war etwas völlig anderes, an ein Verbrechen zu denken, als ihm plötzlich gegenüberzustehen. Die unmittelbare Konfrontation mit barbarisch ausgeübter Gewalt blieb etwas, worauf man nicht vorbereitet war und sich auch nicht vorbereiten konnte. Karen hatte gelesen, dass es selbst manchen Polizisten so ging.

»Wie sind sie denn umgebracht worden?«, fragte die Alte, und Karen fühlte sich plötzlich zutiefst abgestoßen von ihrer sensationslüsternen Neugier.

»Das konnte ich nicht erkennen«, antwortete sie kühl. Sie wandte sich zum Gehen, aber die andere war noch nicht fertig.

»Es heißt, Sie sind zusammen mit einem jungen Mann dort eingestiegen«, sagte sie und machte eine Kopfbewegung zu dem Lenowskyschen Haus hinüber. Deutlich konnte man zwischen den Büschen im Garten die Leiter erkennen, die am Balkon lehnte.

»Der Gärtner«, sagte Karen, »er war fest mit ihnen verabredet und konnte sich nicht erklären, weshalb sie diese Verabredung vergessen haben sollten. Sie scheinen in diesen Dingen … eher pingelig gewesen zu sein.«

»Hm«, machte die Alte enttäuscht. In ihrer Fantasie hatte sie den ominösen jungen Mann bereits zu Karens geheimem Liebhaber erkoren, und es hätte ihr Freude bereitet, der Straße damit den zweiten sensationellen Leckerbissen zu servieren.

Karen sagte: »Entschuldigen Sie bitte, es geht mir nicht so gut!«, und wandte sich endgültig ab. Es ging ihr wirklich nicht gut. Allmählich wich die Betäubung, die über ihr gelegen hatte, und nun wurden ihre Knie weich, sie fühlte ein Kribbeln in den Fingern, und ihr Mund schien wie mit Watte gefüllt und völlig ausgetrocknet.

Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser, starrte dabei zum Fenster hinaus auf den weißen Margeritenbusch, den sie auf der kleinen Frühstücksveranda in einen Terrakottatopf gepflanzt hatte. Die weißen Blumen sahen fröhlich und unschuldig aus. Sie versuchte, ihren Blick an ihnen festzuhalten. An ihrer Ausstrahlung von Reinheit und Frieden. Ein Windhauch bewegte leise die Blütenköpfe. Karen schloss die Augen und sah Fred Lenowsky vor sich, wie er nackt und gefesselt auf der Toilette saß, von seinem Mörder im Tod der Lächerlichkeit preisgegeben.

Ihr wurde übel, sie schlug die Augen auf und betrachtete wieder die Margeriten.

Sie würde ihn von jetzt an immer vor sich sehen. Den toten Fred Lenowsky. Und seine Frau. Das verwüstete Haus. Sie würde es nie wieder loswerden. Ihre Albträume hatten eine neue Dimension erreicht.

Von draußen hörte sie die aufgeregten Stimmen ihrer Kinder. Rasch trank sie noch einen Schluck Wasser, stellte das Glas in die Spüle, straffte in einer unbewussten Geste ihre Schultern.

Sie würde ihnen jetzt erzählen, was geschehen war. Immerhin – dieser Gedanke kam ihr zum ersten Mal – ging im Trubel der Ereignisse dieses Tages für ihre Familie wohl zumindest die Tatsache unter, dass es ganz oben unter dem Dach ein Zimmer gab, das Karen von nun an allein gehören würde.

 

»Es war also vor ziemlich genau einer Woche, dass Sie zum ersten Mal dachten, dass nebenan etwas nicht stimmt?«, fragte Kommissar Kronborg. Er saß auf dem geblümten Sofa im Wohnzimmer, ein Zwei – Meter – Mann, der in der verspielten Sitzgarnitur erschlagend wirkte. Alles an ihm war größer als bei anderen Menschen: seine Körperlänge sowieso, aber auch seine Hände, seine Füße, seine Nase. Dies verlieh ihm eine Ausstrahlung von Unbeholfenheit, als wisse er nie so recht, wohin mit sich, mit seinem Körper. Wie ein tapsiger Bär.

Sicher, dachte Karen, passiert es ihm ziemlich oft, dass er unterschätzt wird.

Sie selbst würde diesen Fehler nicht begehen. Ihr waren sofort seine wachen, intelligenten Augen aufgefallen, aber auch der Zug von Härte und Entschlossenheit um seinen Mund. Kronborg war ein Mann, der sehr genau wusste, was er wollte. Einfach so wurde man schließlich auch nicht Kommissar im Morddezernat.

Sie hatte ihn zuerst auf die Terrasse bitten wollen, aber er hatte gesagt, er wolle lieber im Haus mit ihr sprechen. Natürlich war ihm klar, dass an diesem Nachmittag die Nachbarsgärten voller Menschen waren, die alles daran setzten, jede noch so kleine Information aufzuschnappen, und das Hauptaugenmerk richtete sich dabei auf Karen und jeden, der mit ihr sprach.

»Ja«, erwiderte sie nun auf seine Frage, »vor einer Woche. Es ging um unsere Ferienreise …« Sie berichtete, wie sie mehrfach erfolglos bei den Lenowskys geklingelt hatte, wie irritiert sie gewesen war, dass niemand öffnete, obwohl sie zwischendurch Licht sah und auch die Rollläden offenbar hinaufgezogen und herabgelassen wurden.

»Die Lenowskys hätten verreist sein können«, sagte Kronborg, »und sie hätten jemanden beauftragt haben können, sich um das Haus zu kümmern.«

»Aber hätte dieser Jemand nicht geöffnet, als ich klingelte? «

»Es hätte sich auch um ein installiertes Sicherheitssystem handeln können«, sagte Kronborg, anstatt ihre Frage zu beantworten. »Rollläden gehen automatisch hoch und runter, verschiedene Lichter gehen zu verschiedenen Zeiten an und aus, und das alles dient keinem anderen Zweck als dem, ein leer stehendes Haus bewohnt erscheinen zu lassen.«

»Aber müsste man dann nicht nach ein paar Tagen wenigstens ein System erkennen? Einen bestimmten, sich letztlich dann doch immer wiederholenden Rhythmus, in dem beispielsweise die Lichter brennen und erlöschen?« Karen runzelte die Stirn. »Aber warum …«

Kronborg wusste, was sie fragen wollte, und hob beschwichtigend die Hand. »Warum ich darauf beharre, nachdem ja nun klar ist, dass Ihr Verdacht völlig zu Recht bestand? Nun, es ist für meine Ermittlung wichtig, genau zu wissen, was in Ihnen diese … Beunruhigung ausgelöst hat. Darin können sich winzige Bausteine finden, die sich am Ende als bedeutsam erweisen, um den Täter zu finden. Beobachtungen, deren Hintergrund Sie gar nicht erkennen, den vielleicht auch ich jetzt noch nicht erkenne, der aber durchaus brisant sein kann.« Er rutschte auf dem Sofa hin und her und versuchte, für seine zu langen Beine unter dem Couchtisch eine neue Position zu finden. »Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja«, sagte Karen, »natürlich.«

»Meine Kollegen haben mit den Nachbarn auf der anderen Seite der Lenowskys gesprochen. Denen ist nicht das Geringste aufgefallen.«

Karen überlegte. »Es hing bei mir sicher damit zusammen, dass ich so dringend versuchte, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Wir wohnen noch nicht lange hier, und sie waren die Einzigen, die ich wenigstens ein bisschen kannte – wobei kennen viel zu viel gesagt ist, aber ich hatte mich ihnen vorgestellt, und wir grüßten uns über den Zaun hinweg. Wir wollten am übernächsten Freitag für zwei Wochen in die Türkei fliegen. Ich musste jemanden finden, der den Garten gießt und die Post aus dem Briefkasten nimmt. Ich habe förmlich darauf gelauert, einen von den Lenowskys im Garten zu sehen. Ich hatte das Haus ständig im Visier … vielleicht wäre mir sonst auch nichts aufgefallen.«

Er beobachtete sie sehr genau. »Es klingt, als hätten Sie ganz schön unter Stress gestanden wegen Ihrer Ferienreise.«

»Ja, das habe ich«, sagte Karen.

Er nickte. »Sie sagten gerade, Sie wollten in die Türkei fliegen? Heißt das, Sie wollen es jetzt nicht mehr?«

»Mein Mann wird mit den Kindern fliegen«, sagte Karen, obwohl sie gar nicht wusste, ob Wolf das tatsächlich tun würde, »und ich werde hier bleiben.«

Kronborg hob fragend die Augenbrauen.

Karen erwiderte seinen Blick schweigend.

»Äh … hängt diese Veränderung in Ihren Absichten mit dem Verbrechen nebenan zusammen?«, fragte er schließlich.

»Nein«, sagte Karen, »das hat damit gar nichts zu tun.«

Er nickte wieder, und sie hatte das ungute Gefühl, dass er bereits eine Menge aus ihrem Leben und über sie wusste.

Er blätterte in seinem Notizbuch. »Dieser … wie heißt er? … Pit Becker – den kennen Sie noch nicht lange?«

»Nein. Ich habe ihn letzte Woche kennen gelernt. Er stand bei den Lenowskys vor dem Gartentor und fragte mich, ob ich wisse, wo sie sein könnten. Er sollte einen großen Auftrag bekommen, und deshalb war er außerordentlich daran interessiert, was mit ihnen los sein könnte.«

»Hm. Das erklärt vielleicht seinen … Einsatz. Es war schon ein bisschen ungewöhnlich, dass Sie beide einfach über den Balkon einstiegen und auf eigene Faust Nachforschungen anstellten, oder? Warum haben Sie nicht einfach die Polizei angerufen?«

Weil man nicht einfach die Polizei anruft, dachte Karen, weil man sich unter Umständen höchst lächerlich dabei macht.

Laut sagte sie: »Wir waren beide unsicher, ob wir nicht irgendwelchen Hirngespinsten hinterherjagen. Weder er noch ich kannten die Lenowskys näher, insofern hätten wir auch nicht klipp und klar sagen können, dass ihr Verhalten so ungewöhnlich war. Einfach zu verschwinden, niemandem etwas zu sagen, den Briefkasten überquellen und den Garten vertrocknen zu lassen … es schien uns untypisch für sie, weil sie auf uns beide eher den Eindruck gemacht hatten, sehr penibel zu sein, aber wir hätten es nicht beschwören können.«

Karen bemühte sich, ihm das komplizierte nachbarschaftliche Verhältnis klarzumachen. »Verstehen Sie, wir wohnen hier seit April, aber in der ganzen Zeit war ich nur einmal drüben bei ihnen und habe mich etwa zwanzig Minuten lang unterhalten. Ansonsten gab es nur ein Hallo oder Guten Tag über den Zaun hinweg. Und Pit Becker war mit Fred Lenowsky nur durch den Garten gegangen und hatte sich im Wesentlichen über die Frage unterhalten, wie man das Moos aus dem Rasen entfernen könnte. Er kannte ihn auch nicht wirklich persönlich. Zudem war unser Verdacht sehr vage. Ein ungutes Gefühl, ein paar schwer erklärbare Vorkommnisse – reicht das, einen Polizeieinsatz zu fordern?«

»Das ist sicher eine schwierige Entscheidung«, räumte Kronborg ein. Er seufzte. »Ein komplizierter Fall. Abgesehen von dem Fenster, durch das Sie und Herr Becker eingedrungen sind, gibt es keinerlei Einbruchsspuren. Sieht so aus, als hätten die Lenowskys ihren Mörder – oder ihre Mörder – selbst ins Haus gelassen.«

»Sie meinen, jemand hat einfach geklingelt und …«

»Zum Beispiel. Oder sogar einen Schlüssel gehabt.«

»Einen Schlüssel? Aber dann müsste es ja ein Verwandter gewesen sein oder ein enger Bekannter!«

»Nicht unbedingt. Einen Schlüssel gibt man ja unter Umständen auch dem Nachbarn oder …« Er hob beruhigend beide Hände, als er sah, dass Karen den Mund öffnete. »Sie hatten keinen, das wollte ich damit nicht unterstellen. Ich wollte nur sagen, dass es in solchen Fällen eine Reihe von Möglichkeiten gibt. Da wir gerade davon sprechen: Wissen Sie etwas über Verwandte der Lenowskys? Kinder vielleicht? Enkel?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gehört, dass sie keine Kinder hatten. Und andere Verwandte … keine Ahnung. Wie gesagt, ich kannte sie ja praktisch nicht.«

»Aber Sie haben miteinander telefoniert«, sagte Kronborg.

Karen sah ihn perplex an. »Wir haben telefoniert? Frau oder Herr Lenowsky und ich?«

»Vielleicht war Ihr Mann am Apparat? Wir haben …«

Ihr fiel das kurze Gespräch mit Fred Lenowsky vor über einer Woche ein. Das war sozusagen sein letztes Lebenszeichen gewesen, und sie hatte sich später einige Male geärgert, dass sie damals nicht gleich wegen der Ferien gefragt hatte. Worum war es noch gegangen? Richtig, um das Auto.

»Ich habe mit Herrn Lenowsky gesprochen«, sagte sie, »unsere Garagen grenzen ja aneinander, und ich hatte meinen Wagen auf dem Vorplatz etwas ungeschickt geparkt. Er kam nicht raus und bat mich, das Auto anders zu stellen.« Sie erinnerte sich an die arrogante Art, mit der er diesen Wunsch geäußert hatte. Nicht direkt unfreundlich, aber sehr von oben herab. Sie war sich wie ein gemaßregeltes Schulmädchen vorgekommen.

»Nein«, sagte Kronborg, »dieses Gespräch meine ich nicht. Sie wissen, dass Greta Lenowsky in den letzten Minuten vor ihrem Tod versucht hat, um Hilfe zu telefonieren. Es war Ihre Nummer, die sie gewählt hat.«

Karen brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, was er meinte. »Meine … unsere Nummer?«

»Ja. Wir haben noch nicht herausgefunden, an welchem Tag das war, aber das wissen wir bald. Fest steht, dass die letzte Nummer, die von diesem Apparat aus angewählt wurde, die Ihre war.«

»Es könnte sich aber dann auch um das Gespräch handeln, das ich mit Fred Lenowsky geführt habe?«

»Möglich«, räumte Kronborg ein, »aber das wird sich feststellen lassen. Meine Hypothese ist im Moment die, dass es Greta Lenowsky tatsächlich noch gelungen ist, einen Anruf zu tätigen, und dass sie dabei Ihre Telefonnummer benutzt hat. Sie war vermutlich nicht einmal mehr in der Lage, die Polizei anzurufen, sie hat einfach die Wahlwiederholung gedrückt. Wegen des Gesprächs mit Fred Lenowsky einige Tage zuvor war Ihre Nummer gespeichert und wurde automatisch angewählt.« Er sah sie fragend an. »Aber offenbar – kam ein Gespräch nicht zustande?«

Karen hatte das Gefühl, alles in ihrem Kopf beginne sich zu drehen, als spreche Kronborg schneller, als sie denken konnte, und als hinke sie all dem, was er sagte, hoffnungslos hinterher. »Das würde doch bedeuten, dass … Frau Lenowsky ziemlich bald nach meinem Gespräch mit ihrem Mann gestorben ist, oder? Denn sonst hätte sie doch sicher inzwischen mit jemand anderem gesprochen, und es wäre nicht unsere Nummer als Letzte auf dem Apparat gewesen.«

»Die gerichtsmedizinischen Gutachten liegen natürlich noch nicht im Detail vor«, sagte Kronborg, »aber nach der ersten Untersuchung der Toten schätzt der Arzt, dass Fred Lenowsky seit einer knappen Woche tot ist. Seine Frau ist etwas später gestorben, vielleicht erst vor vier oder fünf Tagen.«

»Aber …«

»Kurz nach Ihrem Gespräch mit Fred Lenowsky ist vermutlich der Mörder in das Haus eingedrungen. Von dem Moment an gab es für die beiden alten Leute keine Möglichkeit mehr, nach draußen zu telefonieren.«

Karen schluckte. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, als sie sagte: »Dann haben sie noch ein paar Tage gelebt. Als der … der Täter schon im Haus war.«

»Ja.« Kronborg überlegte eine Sekunde und sagte dann: »Sie sind gefoltert worden. Alle beide. Stundenlang. Der oder die Täter haben sie in ihrem eigenen Haus festgehalten und gequält. Möglicherweise über zwei oder sogar drei Tage. Für die beiden alten Menschen ist der Tod schließlich eine Erlösung gewesen.«

Der Schwindel in Karens Kopf wurde stärker. »O Gott«, brachte sie leise hervor.

Über Kronborgs kühle, intelligente Augen glitt ein Schatten von Mitgefühl. Karen konnte spüren, dass sie weiß bis in die Lippen geworden war. Die beiden alten Leute. Die spießige Greta mit ihren Häkeldeckchen unter den Blumentöpfen im Wohnzimmer und ihren festgefügten, engen Ansichten, und der herrschsüchtige Fred, der stets darauf beharrte, Recht zu haben, und seine Meinung auf eine Art äußerte, die Widerspruch von vornherein im Keim erstickte … Sie hatte sie unsympathisch gefunden. Aber doch auch normal, alltäglich. Keinesfalls prädestiniert für den Albtraum, durch den sie am Ende ihres Lebens hatten gehen müssen. Und keinesfalls hatten sie ihn verdient. Für nichts in der Welt.

»O Gott«, sagte sie noch einmal. Sie sah Kronborg verzweifelt an. »Ich habe viel zu spät gehandelt. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt! Ich wusste es einfach. Mein Hund wusste es. Er bellte Tag für Tag ihr Haus an, wütend und heftig. Er tut so etwas sonst nie. Sie müssen noch gelebt haben, als er damit anfing. Als ich dieses Gefühl von Bedrohung spürte!« Sie stand auf und meinte gleich darauf, ihre Beine müssten unter ihr wegknicken. Sie hielt sich an der Sessellehne fest. »Ich hätte sie retten können. Und ich habe nichts getan. Ich habe mich feige verkrochen und mir von meinem Mann einreden lassen, dass ich spinne.«

Sie brach in Tränen aus.

5

»Also, vielleicht könntest du mir das alles mal erklären!«, sagte Wolf.

Eigentlich hatte Karen ihm schon alles erklärt. Seine Miene hatte jedoch mit jedem Satz, den sie sagte, größere Ungläubigkeit ausgedrückt, und eigentlich schien er sagen zu wollen: Sag, dass das nicht wahr ist!

»Die beiden sind wirklich ermordet worden …«, setzte Karen an, aber er unterbrach sie unwirsch: »Das habe ich kapiert. Selbst mir sind die Absperrungen und die Polizeiautos vor dem Nachbarhaus aufgefallen. Was ich wissen möchte, ist, weshalb meine Frau in ein fremdes Haus eingestiegen ist und dort zwei Leichen gefunden hat!«

Karen hätte gerne schnippisch erwidert: Nun, weil dort eben zwei Leichen herumlagen! Aber es war klar, dass er mit seiner Frage den Umstand meinte, dass sie eingestiegen war.

Es muss sich für ihn ja auch seltsam anhören, dachte sie.

»Der Gärtner …«

Wolf lockerte seine Krawatte. »Von welchem Gärtner redest du überhaupt dauernd?«

»Dem Gärtner der Lenowskys. Der machte sich nämlich auch Gedanken um die beiden. Genauso wie ich.«

»Abstrus!«

»Was?«

»Abstrus, solche Gedanken. Weil zwei Menschen mal nicht aufmachen. Wenn wir beide verreist wären, ohne jemandem Bescheid gesagt zu haben – möchtest du dann, dass wildfremde Leute in unser Haus eindringen und einfach nachsehen, was aus uns geworden ist?«

Karens Lippen begannen zu zittern. Lass dich nicht von ihm schon wieder aus dem Gleichgewicht bringen, redete sie sich gut zu.

»Die haben noch ein paar Tage gelebt, sagt der Kommissar. Hätte ich mich früher gekümmert …«

Es war Wolf endlich gelungen, seine Krawatte vom Hals zu zerren. Wie üblich warf er sie aufs Bett. »Darum geht es nicht. Gut, du hattest Recht mit deinen … schaurigen Geschichten. Aber das ist nicht der Punkt. Prinzipiell ist es nicht in Ordnung, in ein fremdes Haus einzudringen. Warum hast du nicht die Polizei angerufen, wenn du so überzeugt warst, dass etwas nicht stimmt?«

Es ist wie ein böser Traum, dachte sie. Hatte nicht gerade Wolf immer wieder erklärt, es sei völlig unmöglich, die Polizei wegen eines bloßen und noch dazu an den Haaren herbeigezogenen Verdachts anzurufen?

Aber etwas begriff sie in diesem Moment: In seinen Augen würde sie immer alles falsch machen. Ganz gleich, was sie tat, es war falsch, weil sie es tat. All ihre Bemühungen der letzten Jahre, die Frau zu sein, die er sich wünschte, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er hatte ihr nie die geringste Chance eingeräumt. Irgendwann, irgendwo, aus irgendeinem Grund war ihm die Liebe zu ihr abhanden gekommen, und der Umstand, dass er glaubte, dennoch mit ihr zusammenbleiben zu müssen – der Kinder wegen vielleicht, oder weil er meinte, er sei es seiner Reputation schuldig – , ließ ihn aggressiv, unzufrieden und chronisch gereizt sein. Er wollte sie nicht mehr. Er zeigte es ihr seit langem sehr deutlich, bloß hatte sie sich geweigert, ihn zu verstehen.

»Ach, Wolf«, sagte sie müde, »dagegen warst du doch auch. Du warst gegen alles. Du bist gegen alles. Aber ich frage mich, weshalb dich die Dinge, die ich tue, überhaupt noch aufregen. Du lebst dein Leben, und ich lebe meins.«

Wolf zog die Augenbrauen hoch. »Du bist immer noch meine Frau. Alles, was du tust, wirft unweigerlich einen Schatten auch auf mich.«

»Was wirft denn bei dieser Sache einen Schatten?«

»Verstehst du das nicht? Wir sind mit hineingezogen worden in dieses Verbrechen. Wir werden befragt, wir werden womöglich die Presse am Hals haben, unser Name wird in der Zeitung erscheinen … Und ich finde das alles einfach nur unangenehm. Abstoßend und unangenehm!« Er sah erschöpft aus.

Sie dachte, dass es ihm wirklich Probleme bereitete, und auf eine gewisse Weise verstand sie ihn auch. Sie hatte dafür gesorgt, dass sie und ihre Familie in eine unmittelbare Berührung mit dem schrecklichen Geschehen gerieten, und indem dies womöglich auch noch öffentlich wurde, würde es sich kaum mehr verdrängen lassen. Kein Mensch streifte gern das Grauen. Sie hatte eine Ahnung, dass der Mord im Nachbarhaus an ihnen allen kleben würde, für immer, und dass sie und Wolf und die Kinder, jeder für sich, ihn stets auf die eine oder andere Weise mit sich herumtragen würden. Sie, Karen, hatte dafür gesorgt, dass ihre Familie nicht die gleiche Distanz zu dem Geschehen gewinnen konnte wie die anderen Nachbarn. Wolf warf ihr das vor, und sie hätte ihm gern gesagt, dass sie verstand, was er meinte – wenn sie die geringste Hoffnung gehabt hätte, dass er auch ihre Empfindungen würde nachvollziehen können. Ihren Drang, handeln zu müssen, ihre Überzeugung, dass ihr der bequeme Weg in diesem Fall von Anfang an nicht vergönnt gewesen war. Wäre nur ein Funken Liebe und Verständnis für sie auf seiner Seite noch vorhanden gewesen, so hätte sie den Versuch unternommen, in gegenseitiger Offenheit für die Nöte des anderen diesen ganzen Albtraum gemeinsam mit ihrem Mann durchzustehen.

Aber da war nichts mehr. Nicht mehr die kleinste Chance.

»Kommissar Kronborg wollte heute Abend noch einmal vorbeikommen«, sagte sie nur.

»Auch das noch!«, erwiderte Wolf gereizt, und wie aufs Stichwort klingelte es in diesem Augenblick an der Haustür.

»Wäre ich nur heute überhaupt nicht nach Hause gekommen«, fügte Wolf hinzu, und Karen dachte verwundert, dass es sie plötzlich überhaupt nicht mehr interessierte, zu erfahren, wo er dann in diesem Fall genächtigt hätte.

 

»Wir sind ein paar wenige Schritte weiter«, sagte Kronborg. Er hatte diesmal gar nicht erst den Versuch unternommen, sich auf die Couch zu zwängen und seine Beine, zu Korkenziehern verdreht, unter dem davor stehenden Glastisch zu verstauen. Er hatte stattdessen in einem der Sessel Platz genommen und war mit dieser Sitzgelegenheit unauffällig ein paar Zentimeter nach hinten gerutscht, so dass er nun einigermaßen bequem saß. Karen hatte Gläser und zwei Flaschen Wasser gebracht. Der Abend war sehr warm, fast schwül. Die Hitzewelle schien in diesem Sommer nicht abreißen zu wollen.

Ich frage mich, weshalb man da noch in die Türkei reisen soll, dachte sie.

Wolf saß mit Duldermiene auf dem Sofa, aber er schien nicht nur zu simulieren: Er war tatsächlich grau vor Müdigkeit.

»Also, wir haben jetzt rekonstruieren können, wann genau dieser letzte Anruf stattgefunden hat«, fuhr Kronborg fort, »und zwar war das am vergangenen Donnerstag, morgens um halb drei.«

Er sah Wolf und Karen an. »Vergangenen Donnerstag, morgens um halb drei«, wiederholte er, »müsste bei Ihnen das Telefon geklingelt haben. Und Sie haben offensichtlich das Gespräch auch angenommen.«

Karen spürte, wie sie erblasste. Sie verstand nicht, weshalb ihr nicht bei dem Gespräch am Mittag schon alles klar gewesen war. Sie schaute zu Wolf hin und erkannte an seiner Miene, dass auch er schlagartig begriffen hatte, um welchen Anruf es ging.

»Ach, du Scheiße«, sagte er, und die Verwendung eines solchen Ausdrucks in Gegenwart eines Fremden war äußerst ungewöhnlich für ihn.

»Sie erinnern sich an den Anruf?«, hakte Kronborg nach.

»Ja«, krächzte Karen. Sie räusperte sich. »Ja«, wiederholte sie mit etwas festerer Stimme.

»Und …?«

Sie stand auf, weil sie plötzlich meinte, keine Sekunde länger sitzen zu können. Jenseits des großen Fensters zur Veranda konnte sie das Haus der Lenowskys sehen. Weiß schimmerten seine Mauern zwischen dem dichten, dunkelgrünen Laub der Büsche und Bäume hindurch. Ein friedlicher, stiller, warmer Sommerabend. Kenzo lag draußen mitten auf dem Rasen und schnappte immer wieder nach einer lästigen Fliege, die seinen Kopf umkreiste. Er hatte aufgehört, das Nachbarhaus anzubellen. Die Menschen hatten endlich begriffen, was er die ganze Zeit über gewusst hatte. Er musste nicht mehr darum kämpfen, es ihnen klar zu machen.

»Es kam ein Anruf«, sagte sie, »nachts. Er riss mich … uns aus dem Schlaf. Ich … ich dachte sofort, das könnte nichts Gutes bedeuten und lief zum Telefon …«

Sie stockte. Ich habe so schrecklich versagt, dachte sie.

Kronborg sah sie erwartungsvoll an. Wolf hatte sein Gesicht in den Händen vergraben.

»Ich meldete mich, aber vom anderen Ende der Leitung kam nur ein … Stöhnen. Nichts sonst. Nur ein Stöhnen. Es war, als wolle jemand etwas sagen, könnte aber kein Wort hervorbringen. Es war … furchtbar. Entsetzlich und beängstigend. «

»Sie erkannten niemandes Stimme?«

»Nein. Diese … diese Stöhnlaute waren so unmenschlich, ich glaube, selbst die Stimmen meiner eigenen Kinder hätte ich darin nicht erkannt. Ich dachte …«

»Ja?«

»Ich hatte Angst, es könnte meine Mutter sein. Sie ist alt und lebt allein, und ich dachte plötzlich, vielleicht hat sie einen Schlaganfall erlitten, oder es ist sonst etwas mit ihr passiert …«

»Offenbar dachten Sie aber nicht an einen perversen Liebhaber derartiger Spiele?«, fragte Kronborg. »Irgendjemand, der Gefallen daran findet, wildfremde Menschen anzurufen und mit seinem Stöhnen zu erschrecken?«

»Mein Mann dachte das«, sagte Karen. Sie sah wieder zu Wolf hin, der den Kopf gehoben hatte und sie unverwandt ansah. »Er meinte, das sei ein Verrückter gewesen, und ich sollte die Sache auf sich beruhen lassen.«

»Sie haben das Gespräch also dann abgebrochen?«

»Ja. Nachdem auf meine mehrmalige Bitte, sich doch mit Namen zu melden, nichts passierte, habe ich aufgelegt. Ich fand dann aber keine Ruhe und habe bei meiner Mutter angerufen. Bei ihr war natürlich alles in Ordnung, nur hatte sie sich dann so über meinen Anruf aufgeregt, dass sie Herzrasen bekam und meinte, sie könne nun für den Rest der Nacht nicht mehr schlafen. Irgendwie hatte ich wieder einmal alles falsch gemacht.« Sie gewahrte Mitleid in den Augen des Kommissars und hatte einmal mehr den beunruhigenden Eindruck, dass er vieles über sie wusste und recht tief in ihr Inneres zu schauen vermochte. »Ich kam mir hysterisch und überspannt vor. Ich versuchte, den Anruf zu verdrängen und mir einzureden, dass es wirklich so ein Perverser gewesen sei, der seine Befriedigung in derartigen Anrufen fand. Nur …«

»Nur Sie glaubten es nicht wirklich.«

»Nein. Es war nicht … nicht diese Art von Stöhnen. Ich kann es nicht genau beschreiben, aber es klang wirklich so, als sei jemand in größter Not. Als sei jemand schwer verletzt oder krank oder …« Sie schüttelte den Kopf. »Und so war es ja auch. Es war Frau Lenowsky.«

»Sie lag im Sterben«, sagte Kronborg, »denn der oder die Täter hatten mehrfach mit einem Küchenmesser auf sie eingestochen. Wie durch ein Wunder waren keine lebenswichtigen Organe verletzt. Der Arzt meint, dass sie, nachdem ihr die Verletzungen zugefügt wurden, noch etwa achtundvierzig Stunden gelebt hat. Aber ihr Blutverlust war enorm, möglicherweise war sie auch über Stunden bewusstlos. Wir wissen nicht, wann der oder die Täter das Haus endgültig verlassen haben. Irgendwann danach hat sie sich wohl auf den Weg zum Telefon gemacht – den Spuren nach mehr oder weniger auf allen vieren kriechend oder auf dem Bauch robbend. Sie muss völlig am Ende ihrer Kräfte gewesen sein und war wohl nicht mehr in der Lage, eine Nummer zu wählen. Also hat sie die Wahlwiederholung gedrückt – und damit traf sie Ihre Nummer. Aber …« Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

Karen bezog sein Bedauern natürlich sofort auf sich. »Aber ich war nicht in der Lage zu begreifen, was los war!«

Er lächelte ihr zu. »Hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen. Das, was dort drüben passiert ist, liegt außerhalb unseres normalen Vorstellungsvermögens. Es ist ganz natürlich, dass Sie diesen Anruf nicht einordnen konnten. Nein, was ich meinte, ist: Es ist tragisch, dass Greta Lenowsky zwar ihr Telefon noch erreichte, aber dann zu schwach war, auch nur ihren Namen zu sagen. Sie konnte nicht den kleinsten Hinweis mehr auf ihre Identität geben, und damit war der Anruf sinnlos geworden. Ich befürchte jedoch, dass sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich auch durch einen Arzt nicht mehr zu retten gewesen wäre.«

Zum ersten Mal, seitdem Kronborg eingetroffen war, ergriff Wolf das Wort: »Gibt es denn irgendeinen Hinweis auf den Täter?«

Kronborg schüttelte bedauernd den Kopf. »Bislang nicht. Es scheint sich das Problem herauszustellen, dass die Lenowskys wohl überhaupt keine Verwandten hatten. Zumindest ist in der Nachbarschaft nichts dergleichen bekannt, und wir sind in unseren Nachforschungen noch nicht so weit gediehen, dass wir unsererseits jemanden hätten ermitteln können. Es ist ja auch niemandem aufgefallen, dass diese Leute über eine Woche nicht mehr gehört oder gesehen wurden. Enge Verwandte oder Freunde hätten sich doch gewundert und sich möglicherweise an die Polizei gewandt.«

»Wir kümmern uns nicht um die Angelegenheiten anderer Menschen«, sagte Wolf sofort, »wir können Ihnen daher in dieser Frage auch nicht weiterhelfen.«

»Nun, Ihrer Frau sind die Angelegenheiten anderer Menschen zum Glück nicht ganz gleichgültig«, meinte Kronborg, »sonst wüssten wir vielleicht noch monatelang nichts von diesem Verbrechen. Denn ob dieser Gärtner allein eingestiegen wäre …«

»Diesen Gärtner würde ich mal genauer unter die Lupe nehmen«, sagte Wolf aggressiv. Es war klar, dass er in Pit Becker den Mann sah, der Karen zu ihrem unmöglichen Vorgehen verleitet und ihnen beiden nun eine zweifelhafte Publicity eingebrockt hatte. »Seltsam, sich derart für ein Ehepaar zu interessieren, das er doch kaum kennt, oder?«

»Dann müsste man auch mich genauer unter die Lupe nehmen«, meinte Karen.

Wolf sah sie wütend an. »Das ist ja wohl etwas ganz anderes! «, fuhr er auf.

Kronborg hob beschwichtigend die Hände. »Verbrechen wie dieses gehen uns alle an die Substanz. Man ist verstört, wenn grausame Gewalt das eigene Leben so unvermittelt streift. Aber was Ihre Frau und Herr Becker getan haben, war gut, Herr Steinhoff. Angenommen, die beiden Toten wären vielleicht erst in einem Jahr entdeckt worden – dann wären alle denkbaren Spuren wahrscheinlich längst verwischt. «

»Gibt es denn Fingerabdrücke im Haus?«, fragte Wolf.

»Nur von den Lenowskys selbst natürlich und dann noch von zwei Personen, bei denen es sich höchstwahrscheinlich um Ihre Frau und um Pit Becker handelt. Der oder die Täter haben mit einiger Sicherheit Handschuhe getragen.«

»Dann möchte ich mal wissen, wie Sie überhaupt einen Verdächtigen finden wollen!«

»Wir hoffen, durch die Befragung all derer, die Fred und Greta Lenowsky kannten – und sei es noch so entfernt.«

»Fred Lenowsky war früher als Anwalt tätig«, erinnerte sich Karen, »und er hat politisch einflussreiche Freunde gehabt. Jedenfalls hat er mir das erzählt.«

Kronborg nickte. »Das wissen wir. Aus dem aktiven Berufsleben hat er sich allerdings vor etwa fünf Jahren zurückgezogen. Einige der einflussreichen Freunde mag es noch geben – und vielleicht können die uns etwas über sein berufliches Umfeld verraten. Es ist natürlich möglich, dass er sich da irgendwann einmal Feinde gemacht hat.«

»Ich nehme an, das ist sogar ziemlich wahrscheinlich«, meinte Wolf. »Ein Anwalt tritt doch zwangsläufig immer wieder jemandem auf den Schlips!«

»Sicher«, stimmte Kronborg zu, »aber in diesem Fall müsste Lenowsky sich schon einen ganz besonderen Hass zugezogen haben. Denn die Reaktion seines Gegners – wenn es diesen gibt – war doch recht … drastisch.«

»Ein Raubmotiv scheidet aus?«

»Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, ja. Zum einen lässt man Menschen, die man einfach nur berauben möchte, nicht auf eine gezielt grausame Weise sterben, bei der sich ihr Todeskampf möglichst noch über Tage hinzieht. Zum anderen scheint dort drüben nichts zu fehlen. Jedenfalls nichts von den Dingen, die Einbrecher klassischerweise mitnehmen. Fred Lenowskys Computer ist da, die Fernseher sind da, Videogeräte und Stereoanlagen fehlen ebenfalls nicht. Im Schlafzimmer gibt es eine Kommodenschublade voll wertvollem Schmuck, und sie ist völlig unangetastet. Nein, hier hat jemand entweder eine persönliche, sehr tief gehende Aversion befriedigt, oder es handelt sich um eine bestimmte Art eines Triebtäters, der willkürlich Opfer sucht und Befriedigung an den Quälereien findet, die er ihnen zufügt.« Kronborg verzog das Gesicht. »Letzteres wäre für uns natürlich viel problematischer. Denn wenn es keine persönliche Verbindung zwischen den Lenowskys und ihrem Mörder gibt, haben wir verdammt schlechte Karten, ihn zu fassen.«

»Hm«, machte Wolf. Er stand auf, um anzudeuten, dass er das Gespräch nun gern beenden würde. »Wir wünschen Ihnen erfolgreiche Ermittlungen«, sagte er, »aber leider werden wir Ihnen nicht mehr lange für Auskünfte zur Verfügung stehen können. Meine Frau hat Ihnen vielleicht schon gesagt, dass wir am Freitag nächster Woche in unseren Urlaub in die Türkei aufbrechen.«

Auch Kronborg stand auf. Mit seinem Gardemaß überragte er den durchaus stattlichen Wolf um einen Kopf.

»Ich hoffe, wir müssen Sie nicht mehr allzu oft belästigen«, sagte er. Dankbar registrierte Karen, dass er nichts von ihren geänderten Plänen verraten würde.

Er wandte sich ihr zu. »Frau Steinhoff, was ich noch wissen wollte: Außer jenem Stöhnen haben Sie dem nächtlichen Anruf nichts entnehmen können? Irgendeinen Wortfetzen vielleicht, egal, wie unverständlich er geklungen haben mag? Einen Laut, der Anfang oder Ende eines Wortes gewesen sein könnte …«

Karen schüttelte den Kopf. »Nein. Beim besten Willen, da war nichts. Ich hatte den Eindruck, dass der Anrufer – Frau Lenowsky – ständig versuchte, ein Wort zu formen, aber dass es bei aller Anstrengung nicht gelang. Nicht einmal im Ansatz. Es tut mir Leid. Außer Stöhnen war nichts zu hören.«

Kronborg wirkte ein wenig enttäuscht. »Meine Karte habe ich Ihnen ja schon heute Mittag dagelassen«, sagte er, »wenn Ihnen irgendetwas einfällt, egal, was es ist, ob es das Telefonat betrifft oder irgendeine Beobachtung um das Haus herum, dann rufen Sie mich bitte umgehend an.«

»Natürlich«, sagte Karen.

Sie blieb im Wohnzimmer stehen, während Wolf den Besucher zur Tür begleitete.

Als er zurückkam, sagte sie: »Ich wünschte, ich könnte ihm viel mehr helfen.«

»Du hast, weiß Gott, genug getan«, sagte Wolf, »der Rest ist jetzt sein Job.«

Sie sahen einander an. Karen bemerkte eine leise Unsicherheit in seinem Blick. Er wusste, dass er ihr Unrecht getan hatte in den letzten Wochen, dass er einen Fehler gemacht hatte, sie immer wieder als hysterisch und überspannt zu bezeichnen.

Wenn er sich jetzt entschuldigen würde, dachte sie, oder wenn er es wenigstens ansprechen würde … vielleicht hätten wir eine Chance …

Aber der Moment verflog, die Unsicherheit verschwand aus Wolfs Augen. Er hatte nichts dazu gesagt, er würde auch nichts mehr sagen.

»Ich gehe schlafen«, verkündete er. »Gott, war das ein harter Tag! Und zur Krönung dann auch noch dieser Typ hier!«

Er überließ es Karen, die Gläser und Flaschen in die Küche zu räumen. Sie hörte ihn, wie er sich im Bad mit der elektrischen Zahnbürste die Zähne putzte. Es war neun Uhr, weit vor der Zeit also, zu der er sonst ins Bett ging. Er hatte so müde ausgesehen.

Er ist auf dem Rückzug vor mir, dachte sie, während sie die Spülmaschine einräumte, und das strengt ihn an. Es kostet Kraft, mit einem Menschen zu leben, den man nicht mehr liebt.

Vielleicht fühle ich mich deshalb so schwer.

Vielleicht liebe ich ihn auch nicht mehr.

Der Gedanke überraschte sie. An ihren Gefühlen für Wolf hatte sie nie gezweifelt. Es war vielleicht an der Zeit, sich nicht länger nur als das Opfer seiner Launen zu sehen. Sondern herauszufinden, ob sich nicht auch bei ihr etwas geändert hatte.

Sie fragte sich, wann ihm auffallen würde, dass sie nicht mehr neben ihm schlief.

6

»Es wird mir schwer fallen, morgen abzureisen«, sagte Inga. »Ich hoffe, ich tue das Richtige. Ohne Marius abzufliegen … Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, morgen Abend in Marseille in das Flugzeug zu steigen – ohne ihn!«

Sie und Rebecca saßen auf der Veranda von Rebeccas Haus, es war tiefdunkel, eine warme, rabenschwarze Sommernacht voller Sterne.

»Sternschnuppen«, hatte Rebecca gesagt, »wir müssen auf Sternschnuppen achten. Wir haben fast August. In diesen Nächten sieht man hier besonders viele.«

Eine Frau, die an Sternschnuppen denkt, ist nicht mehr am tiefsten Grund ihrer Depression, hatte Inga gedacht.

Sie war müde. Der Tag war lang gewesen und anstrengend. Die Wanderung bis hinüber nach La Madrague, das Mittagessen dort, in dessen Verlauf Rebecca vorgeschlagen hatte, man könne sich duzen. Der Rückweg, tausendmal anstrengender als der Hinweg, was am Essen liegen mochte, aber auch an der nun doch rapide steigenden Wärme des Tages. Verklebt und verschwitzt waren sie daheim angekommen, und spontan hatte Inga gesagt: »Ich würde jetzt gern baden. Kann man von deinem Garten aus hinunter ans Meer gelangen? «

Rebecca hatte sofort das Visier herabgelassen, hatte dann aber widerstrebend geantwortet: »Felix hat damals eine Holztreppe zwischen den Felsen anlegen lassen. Am Ende des Gartens.«

»Kommst du mit?«

»Ich war nicht mehr dort unten seit …«

»Du lebst hier in dem Haus. Wo ist der Unterschied, wenn du auch noch hinunter in die Bucht gehst?«

»Es zieht den Kreis zu weit«, hatte Rebecca gesagt.

Inga hatte überlegt, wie es sein konnte, dass ein Mensch auf diese Art lebte. Innerhalb eines Radius, der die fünf Zimmer eines einsam gelegenen Hauses und den schönen, aber völlig menschenleeren Garten umfasste. Hätte sie je ein Beispiel für eine westliche Form der Witwenverbrennung gesucht, so hätte sie es in Rebecca gefunden. Eine Frau, die mit dem Tod des Partners zu leben aufhört. Die noch atmet, isst und trinkt, aber dennoch nicht mehr am Leben ist.

Sie war dann allein zum Baden gegangen, und einmal mehr war ihr aufgefallen, welch ein Paradies sich der verstorbene Felix Brandt und seine Frau geschaffen hatten. Die Treppe zur Bucht hinunter war steil, aber dank eines stabilen Geländers gut zu bewältigen. Zum größten Teil bestand sie aus massiven Holzbrettern, aber stellenweise hatte man auch eine natürliche Stufenbildung im Felsen ausgenutzt. Während sie diese Treppe hinunterlief – unter sich das blaue Meer und das kleine Stück weiß leuchtenden Sandstrands, über sich den hoch gewölbten Himmel, an dem Möwen schreiend entlangschossen –, empfand Inga zum ersten Mal seit langer Zeit plötzlich wieder ein Gefühl von überwältigender Freiheit, ein Gefühl, im Einklang mit sich selbst zu sein, lebendig zu sein und eine Zukunft zu haben. Die Kraft dieser Empfindung erschreckte sie, denn sie hatte gerade ihren Mann verloren, und es schien ihr nicht an der Zeit, durchströmt zu sein von Freude auf das Leben, das vor ihr lag. Doch dann ging ihr auf, dass dieses Gefühl in ihr war, weil Marius nicht mehr bei ihr war. Noch immer glaubte sie nicht, dass er ertrunken war – sie hätte nicht zu erklären vermocht, was genau ihr diese Sicherheit gab, doch sie meinte zu wissen, dass er lebte –, aber es war völlig klar, dass sie und er nicht mehr zusammenkommen würden. Es war vorbei, und angesichts der Erleichterung, mit der sie dieser Umstand erfüllte, konnte es an der Richtigkeit ihrer Entscheidung keinen Zweifel geben. Es war nicht in erster Linie die herrliche Umgebung, die ihr ihren Frieden zurückgab, die Weite des Himmels und des Meeres und das Herumklettern auf der Felswand, sondern es war das Bewusstsein, sich aus einer Umklammerung befreit zu haben, von der sie sich jetzt erst eingestehen konnte, wie atemlos und ängstlich sie darin gefangen gewesen war. Sie hatte sich Rebecca geöffnet, hatte ihr von einigen Problemen mit Marius berichtet, hatte ihr die Situationen geschildert, in denen sie von dem Gedanken bedrängt worden war, etwas stimme nicht mit ihm … Es war das erste Mal, dass sie dies einem anderen Menschen anvertraut hatte, und es war wie ein Dammbruch gewesen. Immer mehr Episoden fielen ihr nun ein, Vorkommnisse, die sie so hartnäckig verdrängt hatte, dass sie wirklich vergessen schienen, erhoben sich aus den verborgensten Winkeln ihrer Erinnerung und standen plötzlich glasklar vor ihr.

Wie hatte sie es nur so lange mit ihm ausgehalten? Wie hatte sie derart eindeutige Signale so konsequent zur Seite schieben können?

Leichtfüßig – als wäre sie buchstäblich leichter geworden – langte sie unten an. Im etwa dreißig Meter breiten Halbrund schmiegte sich der Strand in den Felsen. In flachen, schaumgekrönten Wellen lief das Meer über den Sand. Inga hatte sich umgesehen, aber keinen anderen Menschen entdeckt. Es gab offenbar noch ein weiteres Grundstück, von dem aus man Zugang zu der Bucht hatte, denn am anderen Ende des Strandes führte eine zweite Treppe die Felsen hinauf. Inga konnte weit oben ein kleines Stück Mauer erkennen, das zu einem Haus oder zur Umfriedung des Grundstücks gehören mochte.

Sie hatte die Shorts abgestreift, die sie über dem Badeanzug trug, und war in die Wellen gelaufen. Das Wasser war kälter als erwartet, aber auch wunderbar erfrischend, und nach wenigen Minuten fühlte sich Inga völlig im Einklang mit dem Element. Mit kräftigen Stößen schwamm sie ein weites Stück hinaus, ließ sich dann auf dem Rücken treiben und betrachtete die dunklen Felsen, die hinter ihr lagen, und den blauen Himmel darüber. Forschte ein wenig zaghaft in sich, ob das wunderbare Gefühl des Befreitseins noch anhielt, denn wer wusste, ob es nicht so schnell vergehen würde, wie es gekommen war, aber sie fand es noch; es war stark und intensiv und trug sie mit der gleichen Sicherheit wie das Wasser.

Sie hatte dann noch eine Weile im Sand gelegen und immer ein wenig gehofft, Rebecca werde vielleicht doch noch erscheinen, aber sie ließ sich nicht blicken.

Schließlich hatte sich Inga an den Aufstieg gemacht.

Und nun saßen sie auf der Veranda, ein Windlicht flackerte leicht, sie hatten Gläser mit Rotwein vor sich stehen, und Inga fühlte die angenehme Mattigkeit in allen Knochen, die ein Tag voller Bewegung in Sonne, Wasser und Wind hinterlässt.

»Was wirst du als Erstes tun, wenn du in Deutschland bist?«, fragte Rebecca nun auf Ingas Bemerkung hin, wie schwer es ihr fallen würde, wieder abzureisen.

»Ich werde mir eine Wohnung suchen«, sagte Inga, »ja, das wird wohl das Erste sein. Unsere gemeinsame Wohnung kann Marius behalten.«

»Du bist also völlig sicher, dass er wieder auftaucht?«

»Eigentlich ja. Ich könnte nicht erklären, weshalb das so ist, aber irgendetwas sagt mir … Ich hoffe nur, dass er bald erscheint. Ich muss unsere Wohnung sonst kündigen. Länger als höchstens zwei Monate kann ich mir zwei Mieten keinesfalls leisten.«

»Und da bist du schon sehr großzügig«, meinte Rebecca, »nach allem, was war, könntest du auch sofort kündigen, und er muss dann sehen, was er tut.«

»Ich habe mir das schon überlegt. Das Risiko ist jedoch, dass er, wenn er plötzlich nach Deutschland kommt und kein Dach über dem Kopf hat, versuchen wird, wenigstens vorübergehend bei mir unterzukriechen, und es könnte schwierig sein, ihn dann wieder loszuwerden.«

»Du müsstest ihn nicht aufnehmen.«

»Wenn er sonst nichts hat …«

»Er kann zu seinen Eltern gehen.«

»Das wäre für ihn vermutlich die allerletzte Lösung.«

»Was nicht dein Problem sein muss.«

»Ich weiß«, sagte Inga, »aber …« Sie ließ den angefangenen Satz in der Luft hängen.

Rebecca nickte. »So einfach ist das eben nicht«, meinte sie.

»Was ist mit dir?«, fragte Inga. »Wirst du Kontakt zu Maximilian aufnehmen?«

»Warum sollte ich das tun?«

»Nun – ich denke, er ist ein guter Freund. Er macht sich Sorgen um dich. Du solltest ihn vielleicht nicht so völlig abweisen. «

Rebeccas Gesicht verschloss sich. Sie trug einen harten, abweisenden Zug um den Mund. »Ich brauche keine Freunde mehr. Ich komme mit mir allein zurecht.«

Inga atmete tief. »Es geht mich ja nichts an …«

»Richtig«, sagte Rebecca, »es geht dich nichts an.«

Inga nahm allen Mut zusammen. Hastig sagte sie: »Ich mag dich, Rebecca. Du bist eine tolle Frau. Du bist jung und attraktiv und du hast so viel geleistet im Leben. Ich weiß ja nicht viel davon, aber so eine Initiative zu gründen, die Kinder schützt – also, ich finde das einfach toll, und es ist so schrecklich schade, dass du …«

Rebecca setzte klirrend ihr Glas ab. Ihre Hand hatte leicht gezittert, als sie es zum Mund geführt hatte. »Inga, das ist meine Sache. Ich bitte dich ernsthaft, halte dich da raus.«

»Aber du lebst hier wie lebendig begraben! Du bist allein und einsam, lässt deine Fähigkeiten verkümmern, stößt Menschen vor den Kopf, die dich mögen, und klammerst dich ausschließlich an die Erinnerung an einen … einen Toten, der … nie mehr wiederkommen wird.« Sie atmete tief. Rebecca saß wie erstarrt.

Leise wiederholte Inga: »Er kommt nicht mehr wieder, Rebecca. So schrecklich es ist, aber … du musst dein Leben ohne ihn gestalten.«

Rebecca erwiderte noch immer nichts.

»Rebecca«, bat Inga leise.

Rebecca stand auf. »Ich gehe schlafen. Bitte lösche nachher die Kerze und verschließe die Tür.«

Sie verschwand im Haus.

»Das habe ich gründlich versiebt«, murmelte Inga. Sie stand ebenfalls auf, nahm ihr Glas und lief noch ein paar Schritte durch den dunklen Garten. Die Sterne schienen zum Greifen nah, und in den Bäumen rauschte ein leiser Wind. Sie roch das Meer. Ein Paradies auf Erden, doch für Rebecca eine Hölle aus Einsamkeit und traurigen Erinnerungen. Sie musste fort von hier, musste unter Menschen, musste am Leben wieder teilnehmen. Sie würde hier auf Dauer nicht leben können.

Aber morgen reise ich ab und überlasse sie sich selbst, dachte sie, und da sie sich mit Maximilian gründlich überworfen hat, kräht dann kein Hahn mehr nach ihr. Sie wird sich hier wieder vollständig eingraben und irgendwann an ihrer Schwermut zugrunde gehen. Und ich kann ihr nicht helfen. Ich kann sie nicht zwingen, mit nach Deutschland zu kommen.

Sie trank ihren Wein aus und beschloss, schlafen zu gehen. Der Tag hatte sie ermüdet, aber obwohl es sie danach verlangte, sich im Bett auszustrecken und die Augen zu schließen, fühlte sie zugleich eine seltsame Unruhe, ein Kribbeln unter der Haut, das sie sich nicht zu erklären vermochte. Vielleicht hing es mit den Sorgen zusammen, die sie sich um Rebecca machte. Mit der Hilflosigkeit, die sie empfand. Mit dem Gefühl, diese Frau nicht im Stich lassen zu dürfen, und dabei doch zu wissen, dass sie nichts für sie tun konnte.

Vielleicht kann ich morgen beim Frühstück noch einmal mit ihr reden, dachte sie, und dann mittags und nachmittags … ein bisschen Zeit bleibt noch. Von jetzt an noch immerhin knapp achtzehn Stunden.

Sie löschte die Kerze im Windlicht und ging ins Haus, verschloss sorgfältig die Verandatür. Sie war dankbar, nicht im Zelt schlafen zu müssen, sondern Rebeccas gemütliches kleines Gästezimmer benutzen zu dürfen. Sie dachte an die Fürsorglichkeit, mit der sich Rebecca um sie gekümmert hatte, als sie völlig entkräftet und verzweifelt mit dem Schiff aus dem Sturm und dem furchtbaren Erlebnis mit Marius zurückgekehrt war. Wenn sie nur etwas davon würde zurückgeben dürfen.

Ihr Zimmer lag unter dem Dach, war über eine leiterähnliche, sehr steile Treppe zu erreichen. Man konnte an keiner Stelle aufrecht stehen, und wenn man nicht aufpasste, gab es reichlich Gelegenheit, sich an den dicken Holzbalken in der Decke gründlich den Kopf zu stoßen.

Wie eine Dienstbotenkammer unter dem Dach, dachte Inga jedes Mal wieder belustigt, wenn sie es betrat, so wie es das früher einmal gab.

Sie zog sich aus, schlüpfte in ihr Nachthemd, huschte hinunter ins Bad, putzte ihre Zähne und bürstete ihre Haare. Aus Rebeccas Zimmer drang kein Laut. Wahrscheinlich schlief sie längst.

Das wäre mir jedenfalls lieber, als dass sie wach liegt und darüber nachdenkt, dass ich mich viel zu weit in ihr Leben gemischt habe, dachte Inga.

Oben in ihrem Zimmer ließ sie die Dachluke offen stehen, damit die etwas kühlere Nachtluft hereinwehen konnte. Es war ohnehin heiß genug. Sie legte ihre Decke auf einen Sessel und bedeckte sich nur mit einem dünnen Laken. Trotz ihrer Unruhe schlief sie innerhalb weniger Minuten ein.