Mittwoch, 21. Juli
1
Inga trottete hinter Marius über die brütend heiße Dorfstraße, und nicht zum ersten Mal, seitdem sie mit ihm zusammen – und seit zwei Jahren sogar verheiratet – war, fand sie, dass er rücksichtslos mit ihr umging. Und ebenfalls nicht zum ersten Mal drängte sich ihr die Erkenntnis auf, dass sie dennoch bei ihm bleiben würde, weil sie mit irgendeiner Ader ihres vernünftigen, bodenständigen Wesens die chaotische Verrücktheit liebte, die typisch für ihn war und der sie es zu verdanken hatte, dass sie immer wieder in Situationen wie der augenblicklichen landete. Er war eben nicht einfach nur rücksichtslos gegen sie, er war im gleichen Maß rücksichtslos gegen sich selbst, und diese Rücksichtslosigkeit entsprang seiner völligen Unfähigkeit, irgendwelche Dinge zu planen, zu durchdenken, Risiken abzuwägen und unter Umständen von einem tollen Plan Abstand zu nehmen, weil seine Nachteile die Vorteile überwogen.
Und am Ende, dachte sie, schwankend zwischen Wut und Resignation, landet man dann bei fast vierzig Grad im Schatten auf einer staubigen Dorfstraße – ohne Schatten – irgendwo in Südfrankreich und weiß nicht, ob leben oder sterben besser wäre! Es ist so verdammt typisch für diesen Mann!
Sie blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie trug ein ärmelloses T – Shirt, das wie ein nasser Lappen an ihr klebte, und zerknitterte Shorts, die sie sich am liebsten vom Leib gerissen hätte, weil ihr darin zu warm war. Am liebsten wäre sie in ihrer Unterhose weitermarschiert, aber obwohl sie sich dicht am Verenden glaubte, siegte in dieser Frage noch ihr Schamgefühl. Noch! Sie konnte sich durchaus vorstellen, in absehbarer Zeit völlig nackt dazustehen und sich einen Dreck darum zu scheren, was die Leute von ihr dachten.
»Kann ich noch einen Schluck Wasser haben?«, fragte sie. Es mochten erst an die zehn Minuten vergangen sein, seitdem sie zuletzt etwas getrunken hatte, aber schon wieder klebte ihre Zunge am ausgedörrten Gaumen, und vor ihren Augen flimmerte es.
Es sind wahrscheinlich nicht vierzig, sondern um die fünfzig Grad hier auf dieser Straße, dachte sie.
Marius drehte sich um. Er schleppte, genau wie Inga, seine Campingausrüstung auf dem Rücken, hatte sich aber erboten, zusätzlich den Proviant zu übernehmen. Wobei dieser nicht mehr viel hermachte; auch in dieser Hinsicht waren sie äußerst leer gebrannt.
»Wir haben kaum noch etwas zu trinken «, sagte er, »vielleicht sollten wir noch etwas warten mit dem nächsten Schluck.«
»Ich muss aber etwas trinken. Ich glaube, ich kann sonst nicht einen Schritt mehr weitergehen!«
Marius ließ den riesigen Rucksack zu Boden gleiten, öffnete eine Seitentasche und holte eine Plastikflasche mit Wasser hervor. Sie war knapp zu einem Viertel voll. Trotzdem griff Inga gierig danach, setzte sie an und hätte ein Vermögen gegeben, sie austrinken zu können. Anständigerweise musste sie natürlich die Hälfte für Marius übrig lassen. Es kostete sie körperliche Überwindung, ihm die Flasche mit dem lauwarmen Inhalt zurückzureichen.
»Hier. Für dich.«
Marius trank den Rest und pfefferte die leere Flasche auf ein verwildertes Grundstück zu ihrer Rechten. Normalerweise hätte Inga, die Umweltschützerin, protestiert, aber dazu fehlte ihr in diesem Moment die Kraft.
»So«, sagte Marius, »das war’s. Jetzt haben wir kein Wasser mehr!«
»Aber irgendwo muss es hier doch einen Laden geben. Die Leute in diesem Scheißkaff kaufen doch auch Lebensmittel ein!« Inga sah sich um. Eine menschenleere Dorfstraße. Häuser rechts und links mit verschlossenen Fensterläden. Totenstille. Natürlich ließ sich bei dieser Hitze um die Mittagszeit niemand draußen blicken. Nur zwei verrückte Touristen mit Campingzelt konnten es fertig bringen, hier entlangzuschleichen und einen Hitzschlag zu riskieren.
»Bestimmt gibt es einen Laden«, meinte Marius, »aber wahrscheinlich irgendwo mehr im Inneren des Dorfes. Offensichtlich nicht hier an der Dorfstraße. «
» Ich habe nicht die Kraft, jetzt das Dorf abzulaufen. « Inga ließ ihren Rucksack von den Schultern gleiten und setzte sich dann darauf. Ihre Beine zitterten leicht. »Vielleicht sollten wir irgendwo klingeln und um etwas Wasser bitten.«
»Hm«, machte Marius und sah sich nun ebenfalls um, so als könne in der Zwischenzeit von irgendwoher ein menschliches Wesen aufgetaucht sein. Aber noch immer rührte sich nichts, und nicht einmal der leiseste Anflug eines Windhauchs wehte über die Straße.
Inga war den Tränen nahe. Sie hätte nicht stehen bleiben sollen. Nicht trinken. Und schon überhaupt nicht sich hinsetzen. Denn nun hatte sie den Eindruck, um nichts in der Welt jemals wieder aufstehen und weitergehen zu können.
» Ach, Marius, warum … ich meine, wie konnten wir überhaupt im Juli per Anhalter ans Mittelmeer aufbrechen? «
Im Grunde konnte sie sich ihre Frage ganz einfach selbst beantworten: Weil Marius wieder einmal eine umwerfende Idee gehabt hatte, und weil sich – wie meist – am Ende herausgestellt hatte, dass doch nicht alles so einfach lief, wie er geglaubt hatte. Was ihn aber – und auch das war typisch – keineswegs von seinem Plan hatte Abstand nehmen lassen.
»Inga, tolle Neuigkeiten!«, hatte er am Telefon herausgesprudelt. Inga hatte in den Semesterferien im Rahmen ihres Geschichtsstudiums an einem zweiwöchigen Arbeitskreis in Berlin teilgenommen, während Marius allein daheim in München zurückgeblieben war. Natürlich hatten sie jeden Abend telefoniert.
»Ich kann an ein Auto kommen! Ein Bekannter leiht mir seinen Wagen. Ich hab mir gedacht, wir fahren damit ans Mittelmeer, wenn du wieder da bist, und lassen es uns richtig gut gehen!«
»Wer verleiht denn seinen Wagen? Wer ist der Bekannte?«
»Kennst du nicht. Ich hab ihm bei seinem Schein geholfen, und da will er sich revanchieren! Ist das nicht eine tolle Aussicht? «
Sie hatte die Skepsis verflucht, die sie jedes Mal befiel, wenn Marius mit Ideen, Vorschlägen, Plänen ankam. Warum musste sie stets sofort die Gouvernante herauskehren, die auf Probleme hinwies und Marius’ überschäumende Begeisterung abkühlte?
»Wir haben doch dort gar kein Quartier. Und wir bekommen auch ganz sicher keines mehr.«
» Wir campen. «
» Wir haben doch aber gar keine …«
» Kriegen wir auch. Ein Zelt, Schlafsäcke, Kocher, Campinggeschirr. Kein Problem.«
»Dieser Bekannte muss dir ja ganz schön dankbar sein …«
»Na, krieg du mal so eine Hausarbeit fast vollständig geschrieben! Der kann mir noch jahrelang die Füße küssen!«
»Weißt du, Marius, ich fürchte, im Juli am Mittelmeer ist es einfach nur heiß und voll und …«
»Aber wir sind doch beweglich. Wir können uns an ganz ruhige Orte zurückziehen. Wenn es uns irgendwo nicht gefällt, fahren wir weiter. Inga, komm, benimm dich nicht wie deine eigene Großmutter! Sag einfach ja und freu dich auf unsere Reise!«
Was war ihr anderes übrig geblieben? Sie hatte zugestimmt, hatte sich zumindest an seiner Freude gefreut und versucht, die Beunruhigung in sich nicht überhand nehmen zu lassen. Es hatte ihr kein Gefühl des Triumphs vermittelt, sie nur mit einer leise seufzenden Resignation erfüllt, als sich herausstellte, dass Marius’ Bekannter sein Auto nun doch nicht herausrücken wollte, und dass es lediglich bei der versprochenen Campingausrüstung blieb, die bereits den kleinen Wohnungsflur verstellte, als Inga nach Hause zurückkam.
»Das ist ihm zu heikel mit dem Auto«, hatte Marius erklärt, »wegen der Versicherung und so …«
Eben. Genau so etwas hatte ihr von Anfang an geschwant. Aber wenigstens hatten sie ein funkelnagelneues Zelt und fantastische Schlafsäcke, tolle Rucksäcke, und auch das Geschirr wurde höchsten Ansprüchen gerecht. Die Campingausrüstung schien noch nie benutzt worden zu sein und war eindeutig vom Allerfeinsten.
»Der Typ hat aber eine Menge Kohle«, meinte Inga.
Marius zuckte mit den Schultern. »Reiche Eltern. Man hat eben Glück oder nicht.«
An diesen Ausspruch musste Inga denken, an diesem Mittag auf der heißen Dorfstraße, als sie meinte, vor Durst verrückt zu werden und den Schmerz, den die Blasen an ihren Füßen verursachten, nicht länger auszuhalten. Glück hatten sie beide jedenfalls auf dieser Reise nicht, wenn auch Marius das wohl ganz anders sehen würde. Sie waren rasch vorangekommen, das musste sie zugeben. Am späten Nachmittag des Vortages waren sie aufgebrochen, denn Marius, der während der Ferien bei einer Spedition jobbte, hatte noch gearbeitet. Ein junges Paar hatte sie bis Lyon mitgenommen, aber sie waren dort um drei Uhr in der Nacht angekommen, hatten in völliger Dunkelheit ihr Zelt auf einem verdreckten Campingplatz am Stadtrand aufbauen müssen, und Inga war so müde gewesen, dass sie hätte heulen können. Sie hatten knapp drei Stunden geschlafen und sich dann an der Autobahnauffahrt die Füße in den Bauch gestanden. Wer nahm schon gerne zwei Leute mit, die solche Mengen an sperrigem Gepäck mit sich führten? Zuletzt hatte eine junge Französin mit einem Kleinkind auf dem Rücksitz sich ihrer erbarmt, aber sie hatte sie nicht wirklich weit mitnehmen können, weil sie ihre Mutter in einem Einsiedlerhof besuchen und dort einige Tage bleiben wollte. Sie hatte sie an einer Weggabelung aussteigen lassen und gemeint, bis zum nächsten Dorf würden sie eine knappe halbe Stunde brauchen, aber tatsächlich waren sie dann über eine Stunde unterwegs gewesen. Und befanden sich nun völlig abseits der Autobahn, aber es hatte dort gerade weit und breit keinen Rastplatz gegeben, und es war klar gewesen, dass sie unbedingt frisches Wasser kaufen mussten.
»Wir hätten uns doch am letzten Parkplatz absetzen lassen sollen«, sagte Inga.
»Ja, aber so sind wir gut zwanzig Kilometer weitergekommen. «
»Na und? Was nützt uns das denn? Hier kommt wahrscheinlich überhaupt niemand mehr vorbei, der weiter fährt als bis zum nächsten Dorf. Was bedeutet, wir müssen zur Autobahn zurücklaufen, und das sind mindestens fünf Kilometer. Bei dieser Hitze…«
Ihre Stimme schwankte, und sie sprach vorsichtshalber nicht weiter. Sie konnte an Marius’ Gesicht sehen, dass er Angst davor hatte, sie könnte wirklich zu weinen beginnen, denn ihre Tränen machten ihn stets hilflos und unglücklich. Wobei sie nicht oft weinte, sogar nur äußerst selten. Im Augenblick jedoch …
Die Erschöpfung, dachte sie, wenn ich jetzt losheule, dann vor allem aus Erschöpfung. Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.
Sie löste die Schnürsenkel ihrer dicken Turnschuhe. Als sie die Schuhe langsam von den Füßen zog, wimmerte sie vor Schmerzen. Vorsichtig rollte sie die Socken herunter. Dicke, feuerrote Blasen kamen zum Vorschein.
»Ich brauche eine Apotheke«, sagte sie, dabei war ihr klar, dass es noch schwieriger sein dürfte, in diesem Dorf eine Apotheke aufzutreiben als einen Lebensmittelladen. Wenn es überhaupt eine gab.
Eher nicht. Die erste Träne löste sich und rollte über ihre heiße, gerötete Wange.
»Nicht!« Marius war sofort neben ihr, fing mit dem Finger die Träne auf. »Nicht weinen. Hör mal, es war nicht klug, die Schuhe auszuziehen. Jetzt kommst du garantiert nicht mehr hinein.«
»Ich brauche eine Salbe. Und Pflaster. Das entzündet sich sonst.«
»Das sieht ja wirklich schlimm aus«, sagte Marius, fast ehrfürchtig. »Aber so weit sind wir doch gar nicht gelaufen, oder?«
Er verdrängte alles. Wirklich und immer alles.
»Die Frau, die uns mitgenommen hat, ist diese Strecke noch nie zu Fuß gegangen, oder höchstens bei kaltem Wetter, wenn man schneller vorankommt. Eine halbe Stunde! Das war ja wohl völlig daneben!«
»Trotzdem finde ich, dass deine Füße …«
Sie sah ihn an, gereizt, weil sie wusste, sie hatte einen großen Fehler gemacht. »Ja, okay, es sind neue Schuhe. Und ich weiß, die darf man nie auf einer größeren Strecke anziehen. Allerdings war mir, als du mir diesen Traumurlaub angekündigt hast, auch nicht klar, dass wir in einer Einöde landen und viele Kilometer weit marschieren würden. Irgendwie hast du völlig vergessen, dies zu erwähnen!«
Er kauerte vor ihr, betrachtete ihre Füße und sah dann zu ihr hoch. Wie immer fiel es ihr schwer, angesichts seiner sanften Miene und der fast kindlich wirkenden blauen Augen, Aggression und Ärger aufrechtzuerhalten.
»Nicht streiten«, bat er, » das verbraucht nur Kräfte!«
Sie strich ihm mit der Hand über die schweißnassen blonden Haare, die über der Stirn einen eigenwilligen Wirbel bildeten – der für immer verhindern würde, dass er wirklich seriös aussah.
» Okay. Aber …« Sie sprach nicht weiter. Es hatte keinen Sinn, ihm zu erklären, dass es wieder einmal seine Leichtfertigkeit und Unüberlegtheit gewesen waren, die sie beide in diese Situation gebracht hatten, und dass es notwendig wäre, er würde versuchen, etwas mehr Reife und erwachsenes Benehmen zu entwickeln, aber natürlich würde er sich so wenig ändern, wie sich andere Menschen ebenfalls in ihren Grundstrukturen nicht änderten – jedenfalls nicht auf Bitten oder Anraten anderer hin. Irgendeine erschütternde Erfahrung, ein aufwühlendes Erlebnis könnten bei Marius eine Neuorientierung bewirken, aber dies herbeizuführen lag nicht in ihrer Macht.
»Pass auf«, sagte Marius, »du bleibst jetzt hier sitzen und ruhst dich aus. Ich lasse das ganze Gepäck bei dir und mache mich auf die Suche nach einer Apotheke. Und nach einem Supermarkt. Ich werde dir eiskalte Limonade bringen und eine schöne, kühle Salbe für deine Füße. Wie findest du das?«
Das Angebot klang äußerst verlockend, aber Freude oder Erleichterung würde Inga erst empfinden, wenn Marius mit den versprochenen Dingen wieder vor ihr stünde. Vorläufig war die Gefahr zu groß, dass er sich entweder verlief und erst nach Stunden zurückkam, oder unterwegs vergaß, weshalb er losgezogen war. Inga hielt es durchaus für möglich, dass er irgendwann mit einer CD in der Hand aufkreuzte, auf der sich die Musik einer Gruppe befand, nach der er lange gesucht und die er nun in einem Drogeriemarkt entdeckt hatte. Worüber er vor Aufregung sein eigentliches Vorhaben vergessen haben würde.
Aber da sie keine Wahl hatte, nickte sie. »In Ordnung. Das ist lieb von dir. Bist du denn sicher, dass du das schaffst?«
» Mir geht’s ganz gut. Vor allem sind meine Füße noch heil. Also «, federnd sprang er hoch, » warte hier auf mich, ja?«
Sie lächelte müde und sah ihm nach, wie er ein Stück die Dorfstraße zurückging und dann nach links in eine Nebenstraße abbog. Er hatte eindeutig die bessere Kondition. Allerdings machte er auch viel Sport, im Unterschied zu ihr, die sie sich immer nur verbissen und ohne nach rechts oder links zu schauen auf ihr Studium konzentrierte.
Ich sollte wenigstens einen Gymnastikkurs bei der Volkshochschule belegen, dachte sie.
Ein Stück weiter die Straße hinunter entdeckte sie eine Mauer, die ein wenig Schatten spendete, und sie beschloss, sich dorthin zu verziehen, da sie unweigerlich sonst demnächst einen Sonnenstich bekommen würde. Es kostete sie eine ungeheure Anstrengung, aufzustehen, ihre Sachen zusammenzuraffen und zwanzig Schritte weiterzugehen, wobei sie so schnell wie möglich trippeln musste, da der heiße Asphalt unerträglich an ihren nackten Fußsohlen schmerzte. Sie musste dreimal hin- und herlaufen, bis sie das ganze Gepäck zu der Mauer geschafft hatte, und dann sank sie auf ihren zusammengerollten Schlafsack nieder und schnaufte wie eine Lokomotive. Ihr war ein wenig übel. Womöglich hatte sie bereits zu viel Sonne abbekommen, und ihr körperlicher Zusammenbruch hatte nicht nur etwas mit ihrer Unsportlichkeit zu tun.
Der Schatten tat gut. Das Sitzen tat gut. Wenn sie jetzt noch etwas Wasser bekäme, würde sie sich schon fast wieder richtig wohl fühlen.
Sie schloss die Augen, versuchte dabei jedoch, keinesfalls einzuschlafen. Schließlich lag ihr gesamtes Hab und Gut um sie herum verteilt. Der Gedanke ließ sie sich aufrichten.
Das gesamte Hab und Gut … Hatte Marius überhaupt daran gedacht, Geld mitzunehmen?
Sie stöhnte leise, weil sie nicht gleich daran gedacht hatte, langte hinüber zu seinem Rucksack und öffnete das Außenfach. Die Geldbörse fehlte, und sie atmete erleichtert auf. Auch sein Handy hatte er offenbar mitgenommen, blieb somit für sie erreichbar. Vielleicht stempelte sie ihn immer viel zu leicht zum Trottel, vielleicht war sie in der Beurteilung seiner Person schon lange nicht mehr gerecht. Immerhin bewältigte er sein Studium mit ausgezeichneten Noten, schrieb sogar Hausarbeiten für andere Studenten. Er war partiell ein Chaot, aber nicht durch und durch. Es war notwendig – für ihre Ehe –, dass sie sich das von Zeit zu Zeit klar machte.
Sie schloss erneut die Augen.
Sie musste eingeschlafen sein, denn sie hatte das Auto nicht kommen hören. Sie schrak erst hoch, als sich jemand über sie beugte. Es mochte sogar sein, dass eine Hand sie berührt hatte, aber das hätte sie nicht beschwören können.
»Ja bitte?«, fragte sie völlig verwirrt, so als habe sie einen Telefonhörer abgenommen und erwarte einen Teilnehmer am anderen Ende der Leitung.
Stattdessen blickte sie in das Gesicht eines fremden Mannes. In ihren Augen war er bereits älter, Mitte vierzig vielleicht, er wirkte sympathisch und besorgt.
Ja, vor allem besorgt. Dies war womöglich das Attribut, das sie in diesem Moment am ehesten mit ihm in Verbindung gebracht hätte.
»Ach, Sie sind Deutsche!«, sagte er. Seine Sprache war völlig akzentfrei, also war er wohl selber Deutscher, wie Inga vermutete. Jetzt entdeckte sie auch das Auto, das hinter ihm parkte. Münchener Nummer.
»Ich bin eingeschlafen«, sagte sie. »Wieviel Uhr ist es?«
Der Mann schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist Viertel nach eins.«
Als Marius losgezogen war, war es zwanzig nach zwölf gewesen. Sie hatte fast eine Stunde lang geschlafen.
Sie richtete sich auf, blickte nach rechts und links über die sonnenglühende, leere Straße.
» Ich warte hier auf meinen Mann. Er versucht, etwas zu trinken zu organisieren.« Während sie dies sagte, merkte sie, wie trocken und aufgesprungen sich ihre Lippen anfühlten. Das Verlangen nach einem Schluck Wasser begann übermächtig zu werden.
»Mein Gott, das ist doch kein Problem. Warten Sie!« Er stand auf, ging zum Auto zurück und erschien mit einer Kühltasche. Er öffnete sie und zog eine von Kälte beschlagene Dose Cola heraus.
»Hier. Ich trinke auf langen Autofahrten wie ein Verrückter Cola, deshalb habe ich leider nichts anderes, aber …«
Sie nahm ihm die Dose aus der Hand, öffnete sie mit zitternden Fingern, setzte sie an und trank. Trank wie eine Verdurstende und spürte, wie ihre Lebensgeister langsam zurückkehrten und neue Kräfte in ihr wuchsen.
»Danke«, sagte sie, als die Dose leer war. »Sie haben mich gerettet.«
»Ich kam die Straße entlang, sah Sie hier liegen und fragte mich, ob wohl alles in Ordnung ist mit Ihnen. Deshalb habe ich angehalten.« Sein Blick glitt an ihren nackten Beinen hinunter und heftete sich erschrocken an ihre Füße. »Lieber Himmel! Ihre Füße sehen ja furchtbar aus!«
»Wir sind ziemlich weit gelaufen. Und ich hatte blöderweise funkelnagelneue Schuhe an.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das mit dem Trampen haben wir uns irgendwie einfacher vorgestellt.«
Der Mann sah sich um. »Ich glaube, ich bin der einzige Autofahrer seit langem. Dieses Dorf liegt nicht unbedingt günstig, um eine Mitfahrgelegenheit zu finden. Jedenfalls … ich weiß ja nicht, wohin Sie wollen, aber …«
»Ans Mittelmeer.«
»Da sind Sie aber ein bisschen vom Weg abgekommen.«
»Ich weiß. Wir wollen ja auch zur Autobahn zurück, aber bei dieser Hitze müssen wir wohl bis zum Abend warten.«
Er sah sie nachdenklich an; es schien, als wäge er irgendetwas ab und versuche, eine Entscheidung zu treffen. »Ich fahre ans Mittelmeer. Cap Sicié. Côte de Provence.«
»Oh … dann sind Sie aber auch ein bisschen vom Weg abgekommen, oder?«
Er strich sich die Haare aus der Stirn. Sie waren dunkel, kaum angegraut. »Die haben im Radio einen Unfall gemeldet. Mit größerem Stau. Den versuche ich gerade zu umfahren. «
Sie sah ihn an. Sie wusste, dass sie Vertrauen erweckend wirkte. Aber sie verstand Menschen nur zu gut, die prinzipiell keine Anhalter mitnahmen. Sie selber gehörte dazu. Eine Freundin von ihr hatte bei eisiger Winterkälte ein Pärchen mitfahren lassen, vom Mitleid ergriffen, weil die beiden schon fast festgefroren schienen. Irgendwann hatte ihr der Typ plötzlich ein Messer an die Kehle gehalten und sie zum Abbiegen auf einen Waldweg genötigt. Dort hatten die beiden sie zum Aussteigen gezwungen und waren mit ihrem Auto sowie ihrer Handtasche, in der sich Geld, Scheckkarten und alle Papiere befanden, abgehauen. Und vermutlich konnte sie dabei noch von Glück sagen, dass ihr nichts Schlimmeres passiert war.
Der Mann seufzte. »Ich nehme eigentlich nie Fremde mit«, sagte er, so als habe er ihre Gedanken gelesen, »aber ich habe den Eindruck, ich kann Sie hier nicht sitzen lassen. Also, wenn Sie mögen …«
»Das Problem ist …«
Er nickte. »Ihr Mann. Den müssen wir natürlich auch noch aufsammeln.«
»Ich kann ihn nicht einfach hier zurücklassen.«
»Selbstverständlich nicht. Haben Sie eine Ahnung, wohin er gegangen ist?«
»In diese Richtung.« Sie wies die Straße entlang. »Und dann die Erste links rein. Mehr weiß ich nicht. Er hoffte, irgendwo ein Lebensmittelgeschäft zu finden. Ich kann versuchen, ihn über sein Handy zu erreichen.«
»Warten Sie mal. Das Dorf ist nicht groß, wir finden ihn bestimmt sofort.« Der Mann verschloss seine Kühltasche wieder, richtete sich auf. »Kommen Sie, wir verstauen Ihr Gepäck und dann fahren wir los.«
»Jetzt haben Sie auch noch Umstände durch mich«, meinte Inga. Sie rappelte sich auf und unterdrückte einen leisen Schmerzensschrei, als sie die Füße auf den Asphalt setzte. »Gott, ist das heiß, wie eine Herdplatte!«
» Setzen Sie sich schnell ins Auto. Ich mache das mit dem Gepäck. Sie können hier nicht barfuß herumlaufen.«
Erleichtert sank sie auf den Beifahrersitz. Im Wagen musste die ganze Zeit über die Klimaanlage gelaufen sein, denn es herrschte eine angenehme Temperatur. Der Mann tauchte neben Inga auf und drückte ihr einen Erste-Hilfe-Kasten in die Hand.
»Hier. Verbinden Sie mal Ihre Füße. Da sollte jetzt kein Dreck drankommen.«
Während Inga Verbände zurechtschnitt, räumte ihr Retter die Campingausrüstung in den Kofferraum und in Teilen auf den Rücksitz. Dann setzte er sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß. »Lieber Himmel«, sagte er, »fünf Minuten da draußen, und man ist wie weich gekocht. Übrigens«, er sah sie an, »ich heiße Maximilian. Maximilian Kemper.«
»Inga Hagenau.«
»Okay, Inga – ich darf Sie Inga nennen, ja? –, dann suchen wir jetzt mal Ihren Mann. Und wenn alles glatt geht, sind Sie heute abend schon am Mittelmeer.«
Zu schön, um wahr zu sein, dachte sie, und während sie sich in die kühlen, glatten Polster zurücklehnte, überlegte sie, dass sie, zumindest in den Augen ihrer Mutter und einer Reihe wohlmeinender Freundinnen, sehr leichtfertig handelte. Sie hatte sich Gedanken gemacht, ob sie wohl Vertrauen erweckend genug aussah, um mitgenommen zu werden, aber sie hatte sich keinen Moment lang gefragt, ob er Vertrauen erweckend war. Seriös. Zuverlässig, was auch immer.
Unter halb gesenkten Wimpern musterte sie ihn von der Seite. Er schaute auf die Straße hinaus. Immerhin nicht auf ihre nackten Beine. Das hätte sie nervös gemacht. Vorhin waren ihr die Shorts zu viel gewesen, jetzt fand sie, dass sie aus beunruhigend wenig Stoff bestanden. Sie hätte gerne etwas gehabt, was sie über ihre nackten Oberschenkel hätte ziehen können, aber an ihr Gepäck kam sie nicht heran, und sie wäre sich auch albern vorgekommen, wenn sie bei dieser Hitze plötzlich einen Pullover über ihre Beine gebreitet hätte.
Sie blinzelte noch einmal zu ihm hinüber. Sein Blick war noch immer auf die Straße gerichtet.
Inga seufzte tief. Sie würde drei Kreuze machen, wenn erst Marius im Auto saß.
2
An diesem ganz gewöhnlichen Mittwochmorgen im Juli beschloss Rebecca Brandt, dass es Zeit war, ihrem Leben, das sie als ein solches im Sinne eines lebenswerten Daseins nicht mehr empfand, ein Ende zu setzen.
Es war nicht so, dass der Gedanke an Selbstmord unerwartet über sie gekommen wäre. Sie hatte ihn manchmal im Kopf bewegt, er war ein Strohhalm gewesen, an den sie sich in den dunkelsten Momenten geklammert hatte, wenn Hoffnungslosigkeit und Trauer ohne Ende schienen und kein Weg mehr sichtbar war für sie. Dann hatte sie gedacht: Wenn ich es nicht mehr aushalten kann, dann gehe ich. Das bleibt mir. Die Entscheidung, es nicht mehr ertragen zu wollen.
Sie hatte vorgesorgt. Morphium. Ihr Mann war Arzt gewesen, über befreundete Kollegen war es damals nicht schwer gewesen, an die Tabletten zu kommen. Sie hatte eine Menge gehortet. Die extreme Überdosis würde ausreichen, sie einschlafen und niemals wieder aufwachen zu lassen. Die Packungen lagen im Badezimmerschrank, ganz hinten, aber kaum verdeckt von einer Schachtel mit Aspirin, einem Fläschchen mit Schnupfenspray und den verschiedenen Schlafmitteln. Manchmal in den letzten Monaten hatte sie sich minutenlang an die offene Schranktür gestellt und einfach nur diese Packungen angestarrt. Manchmal hatte ihr dies noch eine Spur Kraft verliehen.
An diesem Tag nun wusste sie, dass es nicht funktionieren würde. Der bloße Anblick ihrer Tabletten würde sie nicht mehr aufrichten. Ihre Kräfte hatten sich erschöpft. Der Kampf gegen die Depression war nicht zu gewinnen. Der Gedanke, ihn endgültig aufzugeben, nahm einen immer wärmeren, verführerischen Glanz an.
Ein Leben lang, dachte sie an diesem Morgen, lernen wir, dass man nie aufgeben darf. Deshalb fällt es so schwer. Deshalb sind so viele Widerstände in uns. Und Schuldgefühle. Die vor allem.
Sie lauschte in sich hinein. Sie konnte ihre Schuldgefühle nicht finden an diesem Morgen. Falls sie überhaupt noch da waren, so gelangte sie jedenfalls nicht in Kontakt mit ihnen, und dies war ein Umstand, den sie unbedingt nutzen musste. Schuldgefühle stellten die stärksten Hindernisse bei der Planung und Durchführung eines Selbsttötungsprojektes dar. Ihr Verstummen bedeutete, dass das Schicksal ihr eine Chance gab.
Eigentlich war an diesem Tag alles wie immer gewesen. Sie war früh aufgestanden, hatte ihren Jogginganzug angezogen und war in den Garten gegangen. In einen schon sehr hellen Morgen hinein, dessen klare Luft noch angenehm auf der Haut prickelte und auf den Lippen nach Meersalz schmeckte. Später würde es heiß werden, sehr heiß und sehr sonnig.
Der Garten war Felix’ große Liebe gewesen. In den Garten hatte er sich verliebt, als sie beide beschlossen hatten – acht Jahre lag das nun zurück –, ein Haus in der Provence zu kaufen, irgendwo am Meer, ein kleines Häuschen mit viel Land drumherum. Eigentlich waren sie gar nicht ganz sicher gewesen, ob sie das wirklich wollten; Rebecca hatte zunächst den Eindruck, es ginge eher darum, herumzufahren, zu träumen, Objekte anzusehen. Sie waren beide damals besonders stark beruflich eingespannt gewesen, hatten daheim in München ein zwar glückliches, aber sehr stressgeplagtes Leben geführt. Der Gedanke allein an ein Refugium weit weg, an einen Ort zum Abschalten, Vergessen, Entspannen hatte oft schon ausgereicht, sie das Gehetze des Alltags leichter ertragen zu lassen. Aber dann hatte ein Foto im Schaukasten eines Maklerbüros sie nach Le Brusc geführt, dicht am Cap Sicié gelegen, jenem inmitten der heiteren Mittelmeerlandschaft stets etwas düster anmutenden Felsen aus schwarzem Gestein, dessen Umschiffung unter den Seeleuten als gefährlich und stets unberechenbar galt. Plötzlich schienen sich der schöne Gedanke, der gern geträumte Traum in greifbare Wirklichkeit verwandeln zu wollen.
»Ich weiß nicht, ob es mir hier so gut gefällt«, hatte Rebecca gesagt, als sie sich mit dem Auto über steile, enge Straßen nach oben schraubten. Die Gegend war dicht bewaldet, und es war, als bewege man sich aus der Sonne des Tages in eine Welt der Schatten hinein.
»Lass uns einfach mal schauen«, hatte Felix gesagt.
Sie waren an verwilderten Wiesen vorbeigekommen und an alten, baufälligen Häusern, die in völlig zugewucherten Gärten kauerten. Ein Zigeunercamp mit bunt bemalten Wagen am Wegesrand … Obstbäume, überraschend gepflegt angelegt wie in einer Plantage … dann wieder Wald. Es gab keine asphaltierte Straße mehr, sondern nur noch einen Feldweg voller Schlaglöcher, in denen die Pfützen eines wenige Tage zurückliegenden Regengusses standen.
»Das ist ja am Ende der Welt«, sagte Rebecca, und sie konnte hören, dass ein Schaudern in ihrer Stimme klang.
Eines der letzten Häuser schien dem Bild aus dem Schaukasten am ehesten zu entsprechen. Jedenfalls war das Grundstück von einem reichlich baufälligen weißen Lattenzaun umgrenzt, und an diesen Zaun meinte sich Felix zu erinnern. Das Haus selber schimmerte weiß durch eine Wand aus Gestrüpp hindurch. Rebecca fröstelte unwillkürlich, als sie ausstieg, und ihr erster Gedanke war: Nie. Nie könnte ich es hier auch nur eine einzige Woche aushalten.
Felix öffnete bereits das Gartentor, das dabei fast aus seinen verrosteten Angeln fiel, und betrat das Grundstück.
»Nicht«, sagte Rebecca, »du weißt doch gar nicht, ob die Leute daheim sind.«
»Ich glaube, hier wohnt überhaupt niemand mehr«, meinte Felix, »das sieht alles völlig verlassen aus. Schau mal, wie hoch das Gras steht! Hier hat seit Ewigkeiten niemand mehr gemäht oder Büsche und Bäume zurückgeschnitten. «
Zweige stießen ihnen ins Gesicht oder verfingen sich in ihren Haaren, als sie den nur noch schwach als Weg erkennbaren Pfad zum Haus entlangstolperten. Rebecca musste zugeben, dass es tatsächlich unwahrscheinlich war, dass hier noch jemand wohnte. Das Haus sah so ungepflegt aus wie der Garten, von den Wänden bröckelte der Putz, die Fenster im ersten Stock hatten teilweise keine Scheiben mehr. Die Haustür hing so schief in ihrem Rahmen wie das Gartentor.
»Da wäre eine Menge zu investieren«, murmelte Felix, und Rebecca sah ihn entsetzt an. »Du denkst doch nicht ernsthaft, dass wir …?«
»Nein, nein«, sagte er, und dann waren sie um das Haus herumgegangen, und alles hatte sich verändert. Das Licht, der Himmel, der ganze Tag. Weit tat sich der Garten vor ihnen auf, eine große, scheinbar unbegrenzte Wiese, die am Ende in Felsen überging, und hinter den Felsen schimmerte das Meer, blau und endlos, und es spiegelte die Strahlen der Sonne wider, die von einem wolkenlosen Himmel schien und den Eindruck der Düsternis, der zuvor in so beklemmender Weise vorgeherrscht hatte, mit einem Schlag verscheuchte.
Sie standen beide überwältigt vor diesem Anblick und vor den Empfindungen, die er in ihnen auslöste.
»Das ist …«, sagte Felix hingerissen, und Rebecca vollendete den Satz: »Unglaublich. Es ist unglaublich schön.«
Sie liefen über die ganze Wiese bis nach vorn zu den Felsen. Wild und schroff stürzte der Steilhang hier ins Meer. Unten toste die Brandung und schleuderte weiße Gischt hoch hinauf auf die Steine. Hell schimmerte der Sand einer kleinen Bucht zwischen Wasser und Felsen.
»Da könnte man baden«, sagte Felix.
»Man kommt nicht da runter«, wandte Rebecca ein.
»Aber sicher doch. Man kann einen Pfad anlegen.«
»Die Brandung ist hier sowieso viel zu wild.«
»Nicht immer. Nicht jeden Tag.«
Sie blickten zum Haus zurück. Es hatte eine kleine, überdachte Veranda zu dieser Seite hin. Ein klappriger Liegestuhl stand dort, und eine etwas verdorrte Bougainvillea rankte sich entlang eines Pfostens nach oben und überwucherte das Vordach.
»Dort zu sitzen und über das Meer zu blicken …«
»Abends bei Sonnenuntergang …«
»Oder morgens im ersten Licht des Tages …«
»Der Brandung lauschen …«
»In den Himmel schauen …«
»Wie die Möwen schreien …«
Sie hatten einander an den Händen genommen und waren langsam durch den Garten zum Haus gegangen. Zu ihrem Haus.
Sie kauften es zwei Wochen später.
Im Garten hatte Rebecca an diesem Morgen eine kurze Runde gedreht und dabei eine Zigarette geraucht, dann war sie in die Küche gegangen und hatte sich einen Tee gemacht. Sie trank ihn, sehr heiß und mit etwas Honig gesüßt, aus einem Keramikbecher, auf den zwei dicke schwarze Katzen gemalt waren, deren Schwänze sich zu einer Herzform ineinander verschlangen. Der Untergrund des Bechers war gelb. Rebecca hatte den gleichen Becher in Rot, der gelbe hatte Felix gehört, und sie benutzte nur noch diesen. Freunde hatten ihnen die Becher zum zehnten Hochzeitstag geschenkt. Sie hatten sie in das Haus am Kap mitgenommen, weil sie hier besonders gut hinzupassen schienen.
Felix hatte im Urlaub immer gern und ausgiebig gefrühstückt, und so hatte Rebecca um sieben Uhr den Tisch im Wohnzimmer gedeckt, mit aufgebackenem Baguette aus der Tiefkühltruhe, Butter, verschiedenen Marmeladensorten. Sie stellte jeweils einen Teller an seinen und an ihren Platz, setzte sich, starrte das Brot, die Butter, die Marmelade an und wusste, dass sie schon wieder nichts würde essen können. Morgens war es am schlimmsten. Der Tag dehnte sich in seiner ganzen Länge vor ihr aus, versprach eine endlose Aneinanderreihung leerer, einsamer Stunden. Der Abend war so fern. Und damit der Moment, da sie ihr Schlafmittel nehmen, ins Bett gehen und für einige Stunden Vergessen finden konnte.
Und in diesem Moment, diesem alltäglich wiederkehrenden Moment trostlosester Einsamkeit und einer Übelkeit erregenden Angst vor dem Tag, hatte sie gedacht: Ich will es nicht mehr. Ich will nicht mehr leben. Es wird nicht besser, und ich kann diese Morgen nicht mehr ertragen.
Sie dachte dies voller Ruhe, und sie spürte, wie die Angst wich und das Gefühl der Einsamkeit an Schrecken verlor, weil es absehbar geworden war.
Sie räumte den Tisch wieder ab, machte Ordnung in der Küche, ging ins Schlafzimmer, breitete die bunte Tagesdecke über das Bett. Das Schlafzimmer befand sich im ersten Stock des Hauses, und aus dem Fenster hatte man einen herrlichen Blick über das Meer. Weiße Gardinen bauschten sich im Morgenwind. Auf der Kommode stand ein silbergerahmtes Foto, das sie und Felix am Tag ihrer Hochzeit zeigte, beide strahlend, verliebt, überglücklich. Um sie herum war alles verschneit, sie hatten im Januar geheiratet, und in der Nacht vor der Hochzeit war Neuschnee gefallen. Viele der geladenen Gäste, die in anderen Städten lebten, waren nicht erschienen, weil sie sich eine Fahrt bei dieser Witterung nicht zutrauten. So war es letztlich ein ziemlich intimes Fest geworden, und beide hatten sie es zutiefst genossen.
Sie hängte ein paar T-Shirts, die über einem Stuhl lagen, in ihren Kleiderschrank. Gerade weil Felix dieses Haus so sehr geliebt hatte, wollte sie es ordentlich und gepflegt hinterlassen. Sie würde jetzt mit viel heißem Wasser putzen, bis alles duftete und glänzte: die Fenster, die Böden, alle Regale und Schränke, die Fliesen und Armaturen im Bad. Es sollte strahlen und blinken, wenn sie sich für immer von ihm verabschiedete.
Sie schuftete den ganzen Vormittag, achtete nicht darauf, dass ihr der Schweiß in Strömen über den Körper lief. Es war schon nach halb zwei, als sie den letzten Eimer mit dreckigem Wasser wegkippte, sich aufrichtete und leise stöhnend ihren schmerzenden Rücken straffte.
Die weißen Fußbodendielen glänzten in der Sonne. Eine lange nicht gekannte, fast vergessene innere Ruhe breitete sich in Rebecca aus, beinahe eine Art Zufriedenheit. Sie hatte ein Ziel, endlich, und um sie herum war alles in Ordnung.
Sie ging ins Bad, holte die Tabletten aus dem Schrank. Sie nahm sie mit hinunter und legte die Päckchen auf den Küchentisch. Sie würde noch einmal durch Haus und Garten gehen und nach dem Rechten sehen, dann das Zeug schlucken, vielleicht noch ein paar Schlaftabletten und zwei oder drei Gläser Whisky dazu, und dann lag alles hinter ihr.
Gerade als sie im Wohnzimmer einen vollen Aschenbecher entdeckte, den sie unbedingt noch ausleeren musste, klingelte das Telefon.
Sie erschrak vor diesem unerwarteten Laut in der Stille, und einen Moment lang wusste sie nicht einzuordnen, woher das Geräusch rührte. Sie stand wie erstarrt, dann begriff sie, dass es sich um das Telefon handelte und dass sie entscheiden musste, ob sie den Hörer abnehmen wollte.
Seit ihrem völligen Rückzug von allem und jedem in ihrem früheren Leben, seit ihrem radikalen Bruch mit allen Menschen, die einst zu ihr gehört hatten, bekam sie tatsächlich so selten Anrufe, dass sie fast das Vorhandensein des schwarzen Apparats in ihrem Wohnzimmer vergessen hatte. Das letzte Mal hatte er vier Wochen zuvor geläutet, und da hatte sich jemand verwählt.
Vielleicht diesmal wieder, dachte sie, also brauche ich nicht zu reagieren.
Das Telefon verstummte. Sie atmete tief durch, griff nach dem Aschenbecher. Das Telefon begann erneut zu klingeln.
Am Ende war es etwas Wichtiges. Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass es noch etwas von Bedeutung geben konnte. Sie hatte alle Verbindungen gekappt. Die Menschen hatten sie vergessen. Die Forderungen des Finanzamts hatte sie stets pünktlich beglichen, ebenso Strom – und Wasserrechnungen.
Oder nicht? Handelte es sich bei dem Anruf um ein Problem aus dieser Richtung? Irgendetwas, das zu erledigen sie vergessen hatte?
Zögernd nahm sie den Hörer ab. »Rebecca Brandt«, meldete sie sich mit leiser Stimme.
Im nächsten Moment wünschte sie inbrünstig, dies nicht getan zu haben.
3
Er hatte ihr den ganzen Plan vermasselt. Natürlich hätte sie noch immer jede Menge Zeit gehabt. Vor Ablauf von zweieinhalb Stunden mindestens konnte er nicht da sein, und er hätte dann das Vergnügen gehabt, ihre Leiche zu entdecken. Schließlich konnte es ihr gleich sein, wer sie letztlich fand und wann, und ästhetischer wäre es allemal nach so kurzer Zeit. Andernfalls würde sie für den ganzen Rest des heißen Sommers hier liegen und verfaulen, und die Frage war, wann überhaupt jemand über sie stolpern würde.
Sie stand neben dem Küchentisch und starrte die Tabletten an und fragte sich, was sich geändert hatte. Weshalb war sie nicht mehr in der Lage, das zu tun, was sie noch vor wenigen Minuten mit innerem Frieden und einer so lange nicht mehr gekannten Gelassenheit erfüllt hatte? Das Klingeln eines Telefons. Eine Stimme, die sie lange nicht mehr gehört hatte, die ihr aber noch immer vertraut war. Ein fröhliches Lachen.
Oh, verdammt! Sie ballte die rechte Hand zur Faust und schlug mit aller Kraft auf die Tischplatte. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihr Gelenk, aber es kam ihr vor, als gehöre er nicht zu ihr, als spiele er sich irgendwo anders, ganz weit weg von ihr ab. Der Typ hatte ihre Einsamkeit gestört, das war es, er hatte mit seinem Anruf den Kokon zerrissen, in den sie sich eingesponnen hatte, und dieses völligen Alleinseins mit sich selbst, dieser absoluten Ausgrenzung der Welt hatte es bedurft, damit sie den Punkt erreichte, an dem sie heute Morgen kurz nach dem Aufstehen angelangt gewesen war: den Punkt, sich zu erlauben, mit dem Leben aufzuhören.
Der Prozess war so lang, so schwierig und so schmerzhaft gewesen, dass sie vor Wut und Enttäuschung hätte weinen mögen. Was ebenfalls ein völlig neues, längst vergessenes Gefühl war: Tränen, die hinter den Augen brannten und jeden Moment hervorstürzen wollten. Die Letzten hatte sie kurz nach Felix’ Tod geweint. Dann nicht mehr. Ihre Trauer war von einer Art gewesen, die Tränen erstarren ließ.
Jetzt konnte sie von vorne beginnen. Die Welt hatte den Arm nach ihr ausgestreckt, hatte sie berührt, hatte ihre Tränen gelöst. Man konnte auch sagen, irgendjemand hatte sie gepackt und vom Rand der Klippe weggerissen, von der sie gerade hatte springen wollen. Was einen Aufschub bedeutete, weil sie nun den weiten, steilen Weg zur Klippe hinauf von neuem beginnen und unter Aufbietung all ihrer Kräfte Schritt um Schritt erwandern musste. Doch irgendwann stünde sie wieder dort oben. Und dann würde sie den Stecker des Telefons herausziehen.
Sie nahm die Packungen mit den Tabletten, trug sie ins Badezimmer hinauf, schob sie ganz nach hinten in den Schrank. Sie prägte sich ihren Anblick ein, ihren tröstlichen, verheißungsvollen Anblick. Sie waren da. Sie konnte jederzeit auf sie zurückgreifen. Sie musste sich das nur immer wieder klar machen.
Im Spiegel über dem Waschbecken konnte sie ihr gespenstisch bleiches Gesicht sehen. Wie konnte man im Hochsommer in Südfrankreich so blass sein? Als hätte sie seit wenigstens einem Jahr nicht einen Strahl Sonne mehr abbekommen. Aber eigentlich war es auch so. Wann hatte sie schon das Haus je verlassen? Ganz frühmorgens immer, um ihre Runde im Garten zu drehen, aber da war die Sonne stets gerade erst am Aufgehen gewesen. Manchmal war sie abends auf die Terrasse gegangen. Aber selten. Die langen Abende, halbe Nächte, auf der Terrasse hatte Felix so sehr geliebt. Sie hatten Rotwein getrunken und Sternschnuppen gezählt. Wie sollte sie die laue Luft, den warmen Wind, den Mondschein ertragen ohne ihn?
Sie bürstete noch einmal über ihre Haare. Nachdem sie nun – leider – Besuch bekommen würde, musste sie zum Einkaufen ins Dorf fahren. Ihre Tiefkühltruhe war zwar noch gefüllt, aber sie hatte nicht vor, etwas zu kochen. Die emotionale Strapaze dieses Morgens war zu groß gewesen, es würde ihr an Kraft fehlen, sich heute Abend an den Herd zu stellen, das spürte sie. Sie kannte einen kleinen Laden, dort konnte man fertige Salate kaufen, und es gab auch besonders guten Käse. Dazu würde sie ein Baguette aufbacken. Das musste reichen. Schließlich hatte sie nicht darum gebeten, besucht zu werden.
Der Laden, in den sie gehen wollte, lag gleich am Hafen von Le Brusc. Heerscharen von Touristen drängelten sich auf der Promenade, hässliche, vom Sonnenöl glänzende halb nackte Männer mit dicken Bäuchen, Frauen in knappen Bikinis, die nicht eine einzige Delle ihrer ausgeprägten Orangenhaut verbargen, plärrende Kinder und missmutige Teenager, die zwar schöne Körper hatten, dafür aber eher dümmliche Gesichter trugen. Aus den zahlreichen Buden entlang der Straße stank es nach heißem Fett. Pommes frites und Würstchen wurden angeboten, gegrillte Hühner, fetttriefende Pizza und weithin nach Räucherspeck riechende Quiches, auf deren Teigboden die Budenbesitzer offenbar alles packten, was sie in der vergangenen Woche nicht losgeworden waren; jedenfalls konnte man beim Anblick der Gebäckstücke diesen Eindruck gewinnen. Rebecca fragte sich, wie Menschen dieses Zeug essen konnten, noch dazu bei der Hitze. Sie fragte sich, weshalb ihnen nicht von dem Gestank allein schon übel wurde. Sie fragte sich, wie man überhaupt das Gewühl und diese Nähe nackter, schweißriechender Körper aushalten konnte.
Und weshalb sah sie nur hässliche Menschen?
Sie wusste natürlich, dass nicht nur Männer mit dicken Bäuchen hier herumliefen, ebenso wenig wie Le Brusc ein Treffpunkt für Frauen war, die Bikini trugen, ohne die Figur dafür zu haben. Mit Sicherheit tummelten sich hier auch vergnügte Teenager und reizende kleine Kinder. Aber es mochte wesenstypisch für alles Hässliche und Vulgäre sein, dass es das Schöne und Feine bis zu dessen Unsichtbarkeit hin dominierte. Darüber hinaus hing es sicher auch mit ihrer, Rebeccas, Gemütsverfassung zusammen. Sie war dabei, sich von der Welt und dem Leben zu verabschieden, und es war Teil des Prozesses, die abstoßenden Seiten des Erdendaseins zu fokussieren und die guten auszublenden.
Wobei dies allerdings an diesem Tag, an dieser Hafenpromenade tatsächlich nicht schwer fiel. Als sie das Geschäft erreichte, in dem sie einkaufen wollte, war sie unzählige Male angerempelt, gestoßen und geschubst worden, hatte einen braunen Sonnenölfleck am Ärmel ihres weißen T – Shirts und war nur mit knapper Not einem, ungeachtet des Gewühls mit rasantem Tempo, auf seinem Skateboard dahinschießenden Halbwüchsigen ausgewichen. Ihr war heiß, und sie merkte, dass sie Kopfschmerzen bekommen würde. Dennoch, obwohl sie eigentlich nur genervt und erschöpft war – oder gerade deshalb? –, kam ihr, als sie die Tür zu dem kleinen Lädchen aufstieß, der Gedanke, wie merkwürdig es doch war, dass sie nun hier stand und ihren Körper als so beschwerlich empfand, so schmerzend und schwitzend, während sie eigentlich, hätte der Tagesverlauf nicht diese überraschende Wende genommen, zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen wäre. Ihren Körper somit überhaupt nicht mehr gefühlt hätte.
Sie fröstelte plötzlich, schauderte, und das lag nicht nur an der deutlich kühleren Luft im Inneren des klimatisierten Ladens.
Zum Glück stand nicht der Inhaber hinter der Theke, sondern ein junges Mädchen, das vermutlich den Sommer über hier jobbte und das Rebecca nicht kannte. Sie und Felix hatten früher oft hier eingekauft, aber seit Felix’ Tod war sie nicht mehr da gewesen, und sie hätte ungern Fragen beantwortet und Erklärungen abgegeben. Und noch weniger gern Beileidsbezeugungen entgegengenommen. Obwohl die Menschen es natürlich nur gut meinten, waren Rebecca vom ersten Moment an alle Kommentare zu Felix’ Tod verlogen erschienen. Weil sie nicht im Entferntesten den tatsächlichen Schmerz erreichen konnten, den sie empfand, weil alles Mitgefühl und Verständnis nicht dem gerecht wurde, was der Verlust ihres Mannes für sie bedeutete. Sein Ende war ihr Ende, aber wer hätte das schon verstanden? Am höhnischsten war ihr stets der Ausspruch Das Leben geht weiter vorgekommen. Bullshit, hätte Felix dazu gesagt. Das Leben ging überhaupt nicht weiter. Man konnte noch atmen, essen, trinken und den eigenen Herzschlag fühlen und trotzdem tot sein. Aber sie hatte es immer für überflüssig gehalten, dies irgendjemandem erklären zu wollen.
Sie kaufte verschiedene Käsesorten, Salate und Oliven, und als sie wieder draußen stand, ging ihr auf, dass sie unwillkürlich genauso eingekauft hatte wie früher, als Felix noch lebte: Sie hatte ausgewählt, was er besonders gern mochte. So wie sie bis heute seine Lieblingsgerichte kochte, auch wenn sie selber gar nicht gern davon aß oder sowieso keinen Hunger hatte und schließlich alles wegkippte. Es war wie ein Gesetz, dem sie ewig folgen würde. Sie konnte nicht so tun, als sei er tot.
So tun, als sei er tot!
Fast hätte sie gelacht, dabei war ihr nach allem anderen als Gelächter zumute. Welch eine verrückte Formulierung. Sie konnte nicht so tun, als sei er tot. Er war tot, verdammt noch mal. Sie hatte an seinem Grab gestanden und Erde auf seinen Sarg geschaufelt, und wie durch einen Schleier, oder eine Wand, hatte sie die Menschen ringsum wahrgenommen, die alle traurige, betroffene Gesichter machten, einige weinten auch, und man sprach von einem unersetzlichen Verlust und davon, dass Felix viel zu früh aus ihrer aller Mitte gerissen worden war.
»Sehen Sie nicht das willkürliche, ungerechte Schicksal in seinem Tod«, hatte der Pfarrer zu ihr gesagt, und auch seine Stimme hatte weit weg geklungen, »es war ihm bestimmt, zu dieser Zeit und auf diese Weise zu sterben, und irgendwann wird es eine Antwort auf Ihr verzweifeltes Warum? geben.«
Scheiß drauf, hatte sie gedacht und sich abgewendet.
Die Papiertüte mit den Einkäufen fest an sich gedrückt, drängte sie durch die Menge, entschlossen, so bald wie möglich von hier fort und in den Frieden ihres Hauses zu gelangen. Als jemand ihren Arm ergriff, versuchte sie sich im ersten Moment ohne hinzusehen loszureißen, aber dann sagte eine vertraute Stimme: »Madame!«, und sie hob den Blick und schaute in das tief gebräunte Gesicht von Albert, dem Hafenmeister.
Er und Felix waren so etwas wie Freunde gewesen, getrennt durch Bildung und Erziehung, vereint jedoch auf der Ebene ihrer beider leidenschaftlichen Liebe zum Segeln und zu allem, was mit Wasser und Schiffen zu tun hatte. Sie hatten stundenlang zusammensitzen und über vergangene Segelabenteuer reden können, und dazu hatten sie Pastis getrunken, den Rebecca nicht mochte. Sie hatte an solchen Treffen selten teilgenommen. Sie selber konnte nicht segeln und daher nichts zu der Unterhaltung beitragen, und sie hatte den Eindruck, dass ihre Anwesenheit die beiden Männer in ihrem wilden Aufschneiden lähmte. Also zog sie sich zurück. Felix sollte seinen Spaß haben.
»Madame, wie schön, Sie wieder einmal zu sehen!«, sagte Albert und strahlte. Er sprach ein von starkem provenzalischem Dialekt gefärbtes Französisch, und Rebecca hatte wie immer Mühe, ihn zu verstehen.
»Wie geht es Ihnen, Madame? Ich wusste gar nicht, dass Sie den Sommer hier verbringen!«
Rebecca hatte nicht vor, ihm zu erklären, dass sie seit einem dreiviertel Jahr nur noch hier lebte, dass das Haus in Deutschland verkauft war und sie keine Absicht hatte, dorthin zurückzukehren. Sie wollte nicht, dass er anfing, sie zu besuchen und die Freundschaft zu Felix auf sie zu übertragen.
»Ich muss nach dem Rechten sehen«, sagte sie ausweichend, »sonst verwildert das Grundstück, und auch im Haus … muss einiges gemacht werden.«
»Wenn Sie Hilfe brauchen …«
»Ich komme zurecht, danke.« Sie merkte, wie abweisend sie klang, und fügte hinzu: »Das ist wirklich lieb von Ihnen, Albert. Ich wende mich an Sie, wenn ein Problem auftritt.«
Albert seufzte. »Ich hab ihn so gern gehabt, den Monsieur Brandt. War ein feiner Kerl. Und vom Segeln hat er wirklich eine Menge verstanden. War schon großartig.«
»Ja«, sagte Rebecca steif, und dann breitete sich ein verlegenes Schweigen zwischen ihnen aus, während ringsum das Strandleben unvermindert laut und lebhaft tobte.
»Was wird denn nun mit der Libelle?«, fragte Albert nach einer Weile. »Ich meine, ich versorge sie natürlich weiter, aber es ist schon ein bisschen schade, dass keiner mehr mit ihr segelt. So ein hübsches Schiff! Und Sie zahlen ja auch ganz ordentlich Gebühren für den Liegeplatz, und …«
»Ist da irgendetwas nicht korrekt gelaufen?«, fragte Rebecca.
Albert hob abwehrend beide Hände. »Gott bewahre, nein! Ich meine nur … es geht mir um das Schiff. Monsieur Brandt hat es so sehr geliebt. Manchmal denke ich …« Er sprach nicht weiter.
»Ja?«
»Manchmal denke ich, es wäre ihm vielleicht nicht recht, dass die Libelle jetzt nur im Hafen herumdümpelt. Ein Schiff wie sie muss unter vollen Segeln über die Wellen gleiten, den Wind fühlen, die Gischt, das Salz … So wie jetzt verkümmert sie.«
Felix hatte von der Libelle ebenfalls immer wie von einem lebendigen Geschöpf gesprochen, daher war auch Alberts Diktion Rebecca nicht fremd. Sie lächelte ein wenig hilflos. »Ich kann nicht segeln. Ich habe nie einen Schein gemacht.«
»Aber das könnten Sie doch nachholen.«
Es war wirklich ein Witz. Dieser ganze Tag war einfach absurd. Jetzt wurde ihr auch noch vorgeschlagen, einen Segelschein zu machen.
Sie wäre jetzt eigentlich tot!
Als ob das Leben plötzlich noch einmal alle Geschütze auffahren wollte. Sie von ihrem Plan abbringen wollte. Sich wichtig und interessant und viel versprechend zu machen versuchte. Es würde allerdings bei ihr nicht funktionieren. Was das Leben betraf, war sie nicht mehr zu korrumpieren.
»Ich werde sehen«, meinte sie ausweichend.
»Ich könnte Ihnen auch helfen, falls Sie die Libelle verkaufen wollen«, bot Albert an. »Ich würde dafür sorgen, dass sie einen guten Platz bekommt. Bei jemandem, der sie zu schätzen weiß.«
» Ich muss über all das nachdenken, Albert. Ich melde mich bei Ihnen. Es ist nett, dass Sie sich so engagieren. Vielen Dank.«
Im Weitergehen überlegte sie, ob sie sich wirklich jemals wieder bei ihm melden würde. Im ersten Moment war es nur eine höfliche Floskel gewesen, um ihn auf eine möglichst freundliche Art abzuwimmeln. Aber während sie in ihrer Jeanstasche nach dem Autoschlüssel kramte, fragte sie sich, ob sie den Verlauf dieses Tages – den Anruf, ihren daraufhin erfolgten Gang zum Hafen, die Begegnung mit Albert – nicht vielleicht zu Unrecht als eine zufällige und absurde Verkettung von Ereignissen sah, die ihr die Flucht von dieser Welt vermasselt hatten. Am Ende lag durchaus ein Stück Schicksal dahinter. Sie hatte gehen wollen, ohne sich noch einmal um das Liebste zu kümmern, das Felix gehabt hatte.
»Gleich nach dir«, hatte er manchmal gesagt, »die Libelle kommt gleich nach dir!«
Am Ende sollte sie Alberts Angebot annehmen. Einen guten Platz für das Schiff suchen. Und sich dann erst aus dem Staub machen.
Sie stöhnte, als sie sich in das glühend heiße Auto setzte. Sie ließ alle Fensterscheiben herunter, stellte die Einkaufstüte neben sich auf den Beifahrersitz und schaute hinaus über das Meer. Obwohl es fast windstill war, konnte sie Segelboote draußen erkennen. Sie sah Felix vor sich, diesen besonderen Gesichtsausdruck, den er gehabt hatte, wenn er vom Segeln kam. So gelöst. Glücklich. Er sah aus, als sei er im völligen Einklang mit sich selbst, als sei für einige Stunden alles von ihm abgefallen, was ihn belastete oder ihm das Leben schwer machte.
Sie startete den Motor.
Offensichtlich hatte sie noch eine Aufgabe zu erledigen.
4
Kenzo rannte zum Zaun und bellte das Nachbarhaus an, sobald Karen die Gartentür geöffnet hatte. Es war ein merkwürdiger Tag, Gewitterstimmung lag in der Luft, es war schon am Morgen sehr heiß gewesen, aber die Sonne schien nicht, der Himmel war bleiern, und es wehte ein trockener, böiger Wind.
»Das gibt noch ein ganz schönes Unwetter heute«, hatte Wolf beim Frühstück gemeint, ehe er, mit dem letzten Bissen noch im Mund, losgestürmt war, um an irgendeiner wichtigen Beratung teilzunehmen, in deren Vorbereitung er schon am Vortag Überstunden gemacht hatte und erst kurz vor Mitternacht nach Hause gekommen war. Er floh vor dem Zusammensein mit seiner Frau. Karen wusste nicht, weshalb er das tat, und natürlich blockte er jeden ihrer Versuche, ihn danach zu befragen, schon im Ansatz ab.
Tat er ihr damit weh? Karen hätte darauf keine Antwort gewusst. Da ihr Leben zunehmend unter einer Glocke von Einsamkeit und Frustration stattfand, vermochte sie einzelne Kränkungen kaum mehr herauszufiltern. Wolfs Verhalten ging in ihrer umfassenden Lebenskrise unter, wurde ein Teil davon und verschmolz mit all dem Kummer, in dem sie sich Tag für Tag bewegte.
Kenzo hörte nicht auf zu bellen, und Karen, die sich gerade auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt hatte, weil sie sich wieder einmal von den Anforderungen des vor ihr liegenden Tages überwältigt fühlte, raffte sich mühsam auf. Der vor ihr liegende Tag … Es war schon halb drei am Nachmittag, und was hatte sie eigentlich bisher getan? Im Wesentlichen gegrübelt. Ein Mittagessen für die Kinder gekocht, Tiefkühlkost, weil sie es nicht geschafft hatte, einkaufen zu gehen. Die Kinder waren dann mit Freunden zum Schwimmen losgezogen. Wie üblich wunderte sich Karen über die Energie anderer Menschen.
Kenzo bellte. Seit drei Tagen bellte er das Nachbarhaus an, wann immer er in den Garten konnte.
Warum wurde Kenzo, der sanfte, stille Kenzo, nur auf einmal zum notorischen Kläffer? Sie trat auf die Veranda hinaus. »Kenzo! Kenzo, komm sofort ins Haus!«
Er wandte den Kopf zu ihr, wedelte mit seinem kurzen Stummelschwanz, drehte sich dann wieder um, sprang unvermittelt am Zaun hoch und stieß einen heulenden Laut aus.
»Kenzo, es reicht jetzt. Sei still und komm her zu mir!«
Er beachtete sie gar nicht – warum sollte auch ausgerechnet er sich um meine Wünsche scheren, dachte Karen. Wolf und die Kinder tun es ja auch nicht.
Aus dem zur anderen Seite angrenzenden Grundstück erklang die erboste Stimme einer alten Frau. »Jeden Tag das gleiche Theater! Das höre ich mir jetzt aber nicht länger an! Können Sie nicht Ihren Hund so erziehen, dass er still ist?«
Karen war versucht, die keifende Alte zu ignorieren, im Haus zu verschwinden und die Tür hinter sich zuzuknallen, aber sie erinnerte sich, wie wichtig es ihr von Anfang an gewesen war, im guten Einvernehmen mit ihrer Nachbarschaft zu leben. Es kostete sie eine Menge Kraft, an den Zaun zu treten und in das böse Gesicht ihres Gegenübers zu lächeln.
»Guten Tag. Es tut mir Leid, dass mein Hund Sie stört, aber …«
»Im Sommer halte ich meinen Mittagsschlaf auf der Terrasse«, knurrte die Alte, »und es ist nicht besonders idyllisch, wenn nebenan ständig ein Hund kläfft.«
»Ich weiß einfach nicht, was er hat. Er bellt sonst fast nie. Irgendetwas stört ihn seit ein paar Tagen am Haus nebenan. Er kommt mir richtig wütend vor.«
Es war klar, dass es die Alte kaum interessierte, warum der Hund bellte, sondern dass ihr lediglich daran lag, dass er damit aufhörte.
»Die hatten bis vor zwei Jahren auch einen Hund«, sagte sie und warf Karen dabei einen so giftigen Blick zu, als mache sie sie persönlich für diesen Umstand verantwortlich. »Die da drüben aus dem anderen Haus. Der hat pariert, sage ich Ihnen! Den hat man nie bellen hören.«
»Nun …«, begann Karen, aber die Alte fuhr schon fort: »Die haben mir das so erklärt, dass sich ein Hund total unterordnen muss. Er muss wissen, dass er der Letzte in der Familie ist, verstehen Sie? Den niedrigsten Rang hat, oder wie immer Sie das nennen wollen. Der musste bei denen immer als Letzter durch die Tür gehen, und er hat auch immer als Letzter zu fressen gekriegt. Wenn einer von denen spät nach Hause kam, musste der Hund notfalls die halbe Nacht warten. So haben sie ihn kleingekriegt.«
Karen schnappte nach Luft. »Das ist doch abartig«, entfuhr es ihr.
Die Alte zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls waren sie immer ganz stolz darauf, dass er nichts getan hat, was sie nicht wollten. Absolut nichts. So ein undiszipliniertes Gekläffe wie bei Ihrem hätte es da nicht gegeben.«
Irgendetwas regte sich in Karen, ganz tief unter den dicken Schichten von Traurigkeit und Resignation. Es mochte Wut sein, ein ganz kleines, züngelndes Flämmchen Wut, dem der Sauerstoff fehlte, um zur großen Flamme, zum lodernden Feuer zu werden, das aber zumindest – zu Karens großem Erstaunen – noch nicht völlig erloschen war. Mit ihrer Wut war sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr in Berührung gekommen. Erst in diesem Augenblick nahm sie sie plötzlich wahr – angesichts dieser verknöcherten, missmutigen Person vor sich und in Gedanken an einen armen, längst verstorbenen Hund, dessen Familie einzig daran lag, ihn wieder und wieder seiner untergeordneten, rechtlosen Position zu versichern.
»Ich jedenfalls habe nicht die Absicht, den Willen meines Hundes zu brechen«, sagte sie kühl, und zu ihrer Verwunderung veränderte die Härte, mit der sie dies sagte, plötzlich etwas im Verhalten der Alten: Sie lenkte ein.
»Na ja, sind schon komische Leute«, meinte sie, »irgendwie … selbstherrlich. Er jedenfalls. Sie … na ja. Kommt mir immer ein bisschen schwermütig vor. Und arrogant. Die haben nicht viele Freunde, jedenfalls kommt nie jemand zu Besuch. Es gibt auch keine Kinder und Enkel, ich hab sie mal danach gefragt. Scheinen ganz allein in der Welt zu stehen. Aber das geht mich nichts an. Hatte nie viel mit ihnen zu tun. Wollte auch nie etwas mit ihnen zu tun haben.«
»Haben Sie eine Ahnung, ob sie verreist sind? Die Rollläden sind dauernd geschlossen.«
»Ich kümmere mich nicht um das, was andere tun. Damit bin ich immer gut gefahren. Ich habe meine Nase ausschließlich in meine eigenen Angelegenheiten gesteckt. Misch dich nicht ein, dann bekommst du auch keine Schwierigkeiten, das war immer mein Motto. Ich meine, das eigene Leben ist problematisch genug, finden Sie nicht? Da brauche ich mir nicht noch die Schwierigkeiten anderer ans Bein zu binden. «
»So einfach ist das aber manchmal nicht.«
»Bei mir schon«, behauptete die Alte, und Karen dachte, dass sie damit schrecklicherweise vielleicht sogar Recht hatte. Ihr erschien die alte Frau vollkommen mitleidlos, völlig ungerührt von allem, was sich um sie herum abspielen mochte.
Man könnte zu ihren Füßen verenden, und es würde sie nicht interessieren, dachte Karen, und ein Schauer lief durch ihren Körper. Gleichzeitig fuhr eine heftigere, heiße Windbö heran. Der Himmel war jetzt schwefelgelb, und in der Ferne war ein leises Grollen zu hören.
»In der Nacht von Sonntag auf Montag«, sagte Karen, »war drüben Licht, und einer der Rollladen war hochgezogen. Aber am nächsten Morgen rührte sich wieder nichts. Es ist seltsam, nicht? Ich habe ein paarmal geklingelt, aber es gab keine Reaktion.«
»Was woll’n Sie denn unbedingt von denen?«
Karen erklärte kurz das Problem mit der geplanten Reise und der Post, die sich dann im Briefkasten stapeln würde.
Die Alte schien mit sich zu ringen, sagte aber schließlich: »Das kann ich auch für Sie tun. Bringen Sie mir vorher Ihren Briefkastenschlüssel, dann erledige ich das.«
»Ach, Sie würden mir einen riesigen Gefallen erweisen«, sagte Karen, aufrichtig dankbar, »das ist wirklich nett von Ihnen.«
Die Alte knurrte etwas und wandte sich zum Gehen. Karen nahm an, dass das Gespräch damit beendet war. Sie rief noch einmal nach Kenzo, der diesmal ihrer Aufforderung zu kommen tatsächlich Folge leistete. Angstvoll winselnd schaute er zum Himmel. Es war eindeutig eher der Respekt vor dem drohenden Gewitter als der vor seinem Frauchen, der ihn veranlasste, sich in sein Körbchen im Haus zurückzuziehen.
»Bleib du hier«, sagte Karen zu ihm, »ich bin gleich wieder da.«
Sie war auf eine Idee gekommen.
Ich sehe einfach mal nach, dachte sie.
Obwohl bereits die ersten Regentropfen fielen, lief sie aus dem Haus und rasch hinüber zu den Nachbarn. Sie musste gar nicht bis an das Gartentor herantreten, um zu sehen, was sie hatte sehen wollen: einen Briefkasten, aus dem die Ecke eines Briefumschlags ragte. Und vor allem eine Zeitungsröhre, in der sich zwei Zeitungen knäulten. Eine weitere lag auf der Mauer und würde nun im Regen aufweichen.
Sie waren nicht da. Und sie hatten offenbar niemanden beauftragt, sich um ihren Briefkasten zu kümmern. Sie hatten auch nicht daran gedacht, die Zeitung abzubestellen.
Und das passte einfach nicht zu ihnen. So wenig Karen die beiden kannte, so sicher hätte sie dennoch behauptet, dass sie nicht verreisen und ein Chaos hinterlassen würden. Diese Leute mochten unsympathisch sein und selbstherrlich, und ganz offenbar hatten sie auch einen tief sitzenden Autoritätskomplex, aber sie waren ordentlich, hatten ihr Leben gut im Griff und waren ganz sicher nicht im Mindesten chaotisch.
Sie starrte das stille Haus mit seinen herabgelassenen Rollläden an. Der Regen wurde stärker, und sie hob fröstelnd die Schultern. Ohne zu wissen, ob ihr Frieren mit dem Regen zusammenhing.
Wie hatte die Alte vor ein paar Minuten gesagt? Ich brauche mir nicht noch die Schwierigkeiten anderer ans Bein zu binden!
Langsam wandte sich Karen zum Gehen.
5
Er war entsetzt, Rebecca in dieser Verfassung vorzufinden. Er hatte sie zuletzt bei Felix’ Beerdigung gesehen, als sie geschockt, verzweifelt und durcheinander gewesen war, aber sie war bei aller sichtbaren Erschütterung immer noch die Frau gewesen, als die er sie gekannt hatte. Jetzt, neun Monate später, meinte er, einem völlig veränderten Geschöpf gegenüberzustehen.
Sie hatte stark abgenommen, aber das war zu erwarten gewesen, und er hatte damit gerechnet. Da sie sich trotz des Verlustes von mindestens zwölf Kilo offensichtlich keine neuen Kleider gekauft hatte, hingen Hose und T-Shirt wie Säcke an ihr und verstärkten den Eindruck erbarmungswürdiger Magerkeit. Sie war gespenstisch blass, durchsichtig fast, und hatte eine völlig veränderte Physiognomie: Ihre Wangen waren so eingefallen, dass die Knochen darüber höher und breiter wirkten als früher. Sie wirkte härter als vorher, und um einiges älter als die dreiundvierzig Jahre, die sie zählte.
Wovor er aber wirklich erschrak, war der stumpfe – beinahe hätte er gedacht: tote – Ausdruck in ihren Augen. Es waren trübe Augen, ohne jeden Glanz, ohne jedes Funkeln, aber auch ohne jede Emotion. Er hätte nicht einmal sagen können, dass es traurige Augen waren. Einfach Augen ohne Gefühlsausdruck. Leere Augen. Als sei sie mit ihm gestorben, dachte er voller Bestürzung.
Sie saßen auf der rückwärtigen Terrasse, vor sich die fantastische Kulisse der Felsen, des Meeres und des leuchtend blauen Sommerhimmels. Rebecca hatte Salate, Käse, Baguette und einen leichten Weißwein auf den Tisch gestellt. Sie selber nippte nur am Wein, und das Essen rührte sie überhaupt nicht an.
Nachdem sie beide längere Zeit geschwiegen hatten – ein Schweigen, das für Maximilian von dem unangenehmen Gefühl begleitet war, dass Rebecca auf nichts so sehr wartete wie darauf, dass er endlich ginge –, sagte er unvermittelt: »Es stimmt nicht, was ich heute Mittag am Telefon sagte. Dass ich ohnehin in der Gegend bin. Ich bin im Grunde nur deinetwegen gekommen.«
»Das habe ich mir schon gedacht.« Selbst ihre Stimme war anders als früher. Es fehlte die Wärme, und auch die weiche Klangmelodie war völlig verschwunden. Eigentlich war die Stimme so emotionslos wie ihre Augen. »Weshalb hättest du auch hier in der Gegend sein sollen?«
»Eben«, stimmte er zu, »ich bin früher wegen euch gekommen. Und jetzt wegen dir.«
Sie sah ihn an. »Du musst dir keine Sorgen um mich machen, Maximilian. Ich habe alles, was ich brauche. Felix hat mir genug Geld hinterlassen, um …«
Er unterbrach sie. »Entschuldige, Rebecca, aber es geht doch hier nicht um die Frage, ob du alles hast, was du brauchst! Oder ob dein Geld reicht! Ich mache mir natürlich Sorgen um dich! Du hast dein ganzes Leben in Deutschland fast von einem Tag auf den anderen abgebrochen und bist hier in Südfrankreich untergetaucht, wo du keinen Menschen kennst, keine Arbeit hast und völlig allein in einer Einöde lebst. Du hast dich nicht ein einziges Mal mehr gemeldet! Ich habe es jetzt einfach nicht mehr ausgehalten. Ich musste herausfinden, ob du überhaupt noch lebst!«
Sie lächelte ein wenig. Eigentlich war es eher ein leichtes Verziehen des Mundes, das man mit einer Menge gutem Willen als Lächeln interpretieren konnte. »Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?«
»Das habe ich geraten. Es konnte im Grunde nur dieser Ort sein: der Platz, den Felix am meisten geliebt hat. Ich dachte mir, dass du dich hierher zurückziehen würdest.«
»Eben«, sagte sie, »du siehst es ja selbst. Der Platz, den Felix am meisten geliebt hat. Deshalb geht es mir hier gut.«
Er merkte, dass er fast zornig wurde, musste sich beherrschen, um sie dies nicht spüren zu lassen. »Also, nimm es mir nicht übel, Rebecca, aber wie eine Frau, der es gut geht, siehst du wirklich nicht aus! Du bist kreidebleich im Gesicht, dünn wie ein Zaunpfahl, und du bewegst dich wie in Trance. Du müsstest dich einmal erleben. Und es ist ja auch kein Wunder. Du lebst hier in der Gesellschaft eines Toten, und das ist …«
Er sah, dass sie heftig zusammenzuckte.
»Entschuldige«, sagte er, sanfter nun, »aber es kommt mir so vor. Hier sind so viele Erinnerungen an Felix, aber er selbst ist eben nicht da.«
»Ach ja?«, fragte sie zynisch. Sie zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten leicht.
»Du sollst ihn ja nicht vergessen«, sagte Maximilian. »Das wird sowieso keinem von uns jemals gelingen. Aber wir müssen doch trotzdem leben.«
»Wer sagt, dass wir das müssen?«
Er seufzte. »Du brauchst Menschen um dich. Freunde. Bekannte. Eine Arbeit, die dich ausfüllt. Deswegen verrätst du ihn doch nicht. Und du verlierst auch nicht die Erinnerung. Auch das Haus hier bleibt dir. Du kannst ja jederzeit …«
»Maximilian«, sagte sie, und nun lag etwas sehr Bestimmtes in ihrer zuvor so tonlosen Stimme, »ich habe dich nicht gebeten, dich in mein Leben einzumischen. Du wolltest mich besuchen, und ich habe zugestimmt. Aber ich möchte mich jetzt nicht für irgendetwas vor dir rechtfertigen. Wie ich lebe, das ist meine Sache.«
Er nahm sich ebenfalls eine Zigarette. Er hatte eigentlich mit dem Rauchen aufgehört, aber in diesem Moment meinte er, es ohne Zigarette nicht auszuhalten.
»Er war mein bester Freund«, sagte er heftig, »und du warst seine Frau. Ich bin es Felix schuldig, dass ich dich nicht einfach vor die Hunde gehen lasse, und deshalb wirst du mich nicht so leicht abschütteln können, wie du dein übriges Leben abgeschüttelt hast. Herrgott noch mal«, er stand auf und fuchtelte mit seiner Zigarette herum, »ich wünschte, er hätte dich wenigstens nicht so umfassend finanziell abgesichert! Dann müsstest du arbeiten! Dann könntest du nicht hier herumsitzen und die Wände anstarren.«
Sie erhob sich ebenfalls. Ihr Gesicht glich wieder einer Maske. Ohne dass sie etwas sagte, wusste er ihre Bewegung zu deuten: Sie wollte, dass er ging. Was sie betraf, war ihre kurze Begegnung schon zu Ende.
»Rebecca«, bat er hilflos.
Sie antwortete nicht. In dem Schweigen, das zwischen ihnen lag, hörten sie leise das Gartentor quietschen.
Sie runzelte die Stirn.
Es kommt nie ein Mensch zu ihr, dachte er, und wenn das Tor quietscht, macht sie ein Gesicht wie andere, wenn die Erde bebt.
»Das gilt mir«, sagte er, »meine Reisebekanntschaft vermutlich. «
Es schien sie nicht zu interessieren. Aber immerhin öffnete sie den Mund, und zum ersten Mal, seitdem er sie wiedergesehen hatte, blickten ihre Augen zumindest konzentriert drein.
»Könntest du dir vorstellen, die Libelle zu übernehmen?«, fragte sie.
6
Inga hatte allmählich Angst um ihre Füße bekommen. Sie hatte pochende Schmerzen, die von den Blasen bis zu den Knöcheln hinaufstrahlten. Während Marius das Zelt aufbaute, hatte sie die Verbände abgewickelt und war vor den blutigen Kratern erschrocken, die schlimmer statt besser geworden zu sein schienen.
»Ich glaube«, sagte sie, »ich brauche einen Arzt.«
Marius kämpfte gerade mit Stangen und Planen. Maximilian Kemper hatte sie vor einem leeren, völlig verwilderten Grundstück abgesetzt, das sich neben dem Anwesen einer Bekannten befand, die er besuchen wollte. Hohes Gras und ineinander verschlungene Rosenranken bildeten ein fast undurchdringliches Gewirr, aber irgendwie hatten sie sich zu einem schattigen Platz unter hohen Bäumen vorangekämpft und ein vermoostes Stück Wiese entdeckt, das sich zum Aufbau des Zeltes eignete. Marius war weitergelaufen und hatte begeistert berichtet, dass weiter hinten die Klippen begannen und zum Meer abfielen.
»Das musst du sehen, das musst du sehen!«, hatte er gerufen, aber Inga hatte nur erwidert: »Jetzt nicht, Marius. Ich kann fast nicht mehr laufen. Ich kann dir nicht mal mit dem Zelt helfen. Meine Füße tun höllisch weh.«
»Kein Problem. Ich mach das allein! Bleib einfach sitzen und ruh dich aus!«
Jetzt, nach ihrer Bemerkung über einen Arzt, den sie möglicherweise würde konsultieren müssen, sah er von seiner Arbeit auf. »Echt?«, fragte er. »Ist es so schlimm?«
»Sieht so aus.«
Er trat näher heran, betrachtete ihre Füße. »Lieber Himmel. Das ist wirklich schlimm. Das muss ja wahnsinnig weh tun!«
»Es ist nicht gerade ein Vergnügen. Ich müsste irgendeine Salbe gegen die Entzündung haben.«
Er überlegte. »Weißt du, ich werde nach nebenan gehen. Vielleicht hat Maximilians Bekannte etwas da, was dir helfen könnte. Oder Maximilian fährt dich zum Arzt.«
»Mir ist das ein bisschen peinlich«, sagte Inga, aber sie wusste doch, dass sie keine Wahl hatte, als den netten Mann, der sie beide hierher gebracht hatte, noch einmal um einen Gefallen zu bitten.
Sie sah hinter Marius her, wie er leichtfüßig zwischen den hohen Gräsern verschwand. Sie hatten ihn in dem kleinen Dorf im Norden der Provence rasch gefunden, nachdem sie um ein paar Straßenecken gekurvt waren. Er saß im Schatten eines Olivenbaums und döste vor sich hin. Inga hatte nach Luft geschnappt.
»Auf diese Weise kann er natürlich keinen Supermarkt finden«, hatte sie gesagt, und Maximilian hatte gelacht. »Einen Supermarkt gibt es hier auch mit Sicherheit nicht.«
Marius war hochgeschreckt, als das Auto vor ihm hielt, und er hatte Inga ziemlich ungläubig angesehen. »He! Was ist los? Woher …?«
»Steig ein«, sagte Inga kühl. »Während du hier friedlich gedöst hast, habe ich eine Mitfahrgelegenheit ans Meer organisiert. «
Er war sichtlich peinlich berührt. »Mir war schwindlig. Wahrscheinlich von der Hitze. Ich wollte mich eigentlich nur ganz kurz hinsetzen, aber … ich bin wohl eingeschlafen …« Er rieb sich die Augen. Inga hatte ihre giftigen Gedanken bedauert. Sie selbst war nicht mehr in der Lage, auch nur einen Schritt zu tun, aber Marius hatte gefälligst zu funktionieren.
Sie hatte Marius und Maximilian einander vorgestellt, und Maximilian hatte noch einmal wiederholt, dass er zum Cap Sicié wollte.
»Ich besuche dort eine alte Freundin. Wenn Sie mitmöchten …«
Marius hatte natürlich sofort wieder Oberwasser gehabt, so als habe er immer prophezeit, es käme jemand vorbei, der sie direkt ans Mittelmeer bringen würde. Er bekam ebenfalls etwas zu trinken und hielt Inga triumphierend seinen emporgereckten Daumen entgegen. Sie hatte ihre schmerzenden Füße betrachtet und gedacht, wie schnell doch bei ihm immer alles ging, wie rasch er knapp überstandene Schwierigkeiten verdrängte. Aber das mochte auch daran liegen, dass ihn Probleme nie derart bedrängten und berührten, wie das bei ihr der Fall war. Sie war in Panik gewesen, nicht er. Sie hatte von Anfang an nur Schwierigkeiten bei der geplanten Reise gesehen. Sie hatte gemeint, niemand werde erscheinen, um sie aus der misslichen Lage zu erlösen. Sie war beinahe zusammengebrochen. Er nicht. Er brach nie zusammen. Weil er mutiger, zuversichtlicher, selbstsicherer war? Seltsamerweise waren sowohl Mut als auch Zuversicht und Selbstsicherheit keine Attribute, die sie ihm so einfach zuschreiben würde.
Das dachte sie auch jetzt wieder, im angenehmen Baumschatten auf der Wiese sitzend und ihm nachblickend. Nein, es war eher so, dass sie den Eindruck hatte, ihn berührten Ereignisse und Situationen nicht wirklich. Trotz seiner fröhlichen Unbekümmertheit, die man auf den ersten Blick als eine unkomplizierte Lebensfreude gedeutet hätte, schien er ihr immer ein gutes Stück abgerückt von der Welt, eingeschlossen in eine Art von Kokon, der ihm alles Unangenehme, Schwierige, Problematische vom Leib hielt. Aber womöglich auch alles Schöne. Trotz seines ständig lachenden Gesichts hatte Inga manchmal den Eindruck, dass es nicht wirkliches Glück war, was ihn erfüllte. Es war lediglich die Abwesenheit von Unglück, die ihn so sonnig wirken ließ.
Es ist nicht echt.
Entschlossen unterdrückte sie diese Gedanken. Es war schon immer eine Schwäche von ihr gewesen, Menschen und Situationen zu Tode zu analysieren. Ihre letzte Beziehung war darüber zerbrochen. Sie wollte nicht noch einmal die gleichen Fehler begehen. Es war nur logisch, dass es zwischen Marius und ihr zu Problemen kommen musste. Ein Mann, der das Leben nahm, wie es kam, und sich wenig Gedanken um den nächsten Tag machte, und eine Frau, die sich in grübelnder Sorge um die Zukunft verzehrte – natürlich prallten hier gelegentlich zwei Welten aufeinander.
Aber vielleicht tun wir einander gut, dachte sie schläfrig und ließ sich in das Gras zurücksinken, betrachtete den unwirklich blauen Himmel über sich, vielleicht läßt er mich ein bisschen leichtfüßiger werden, und ich sorge dafür, dass er nicht ganz und gar blauäugig irgendwann einmal in eine dumme Geschichte gerät.
Sie schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, wusste sie nicht, ob sie einen Moment lang eingeschlafen gewesen war. Sie sah in Marius’ lächelndes Gesicht. Neben ihm Maximilian, der sie besorgt betrachtete. Und sie sah eine Frau. Eine sehr schöne Frau, mit langen, dunklen Haaren, einem blassen Gesicht und unendlich traurigen Augen. Sie hatte eine Cremetube und Verbandszeug in der Hand, aber sie schüttelte gerade den Kopf.
»Da kann ich nichts ausrichten. Die Wunden haben sich entzündet. Es wäre besser, ein Arzt schaut sich das an.«
»Okay«, sagte Maximilian. Er streckte Inga die Hand hin. »Können Sie bis zum Auto laufen?«
Sie nickte.
»Dann bringe ich Sie jetzt zum Arzt«, sagte er.