Freitag, 23. Juli

1

Ingas Füße schmerzten noch immer, aber seit sie die Salbe benutzte, die ihr der Arzt verschrieben hatte, und regelmäßig die Verbände erneuerte, war es wirklich besser geworden. Sie konnte nur offene Sandalen tragen, genau genommen hatte sie den ganzen Tag über nur ihre Badelatschen an, aber bei dem heißen Wetter machte dies ohnehin am meisten Sinn. Es fiel ihr noch etwas schwer, zu laufen, sie humpelte, und was sie daran vor allem störte, war der Umstand, in dieser paradiesischen Gegend zu sitzen und nichts von dem tun zu können, was ihr Spaß machte. Sie durfte nicht schwimmen, konnte keine Spaziergänge unternehmen oder in den frühen Morgenstunden durch den Wald joggen. Sie saß fest, und das erfüllte sie zunehmend mit Ungeduld und Gereiztheit. Sie hatte daher mit Begeisterung reagiert, als Marius ihr sagte, Rebecca habe ihnen erlaubt, ihr Boot für einen Segeltörn zu benutzen.

Im Grunde gestaltete sich der Urlaub viel besser, als Inga befürchtet hatte. Anstatt auf einem überfüllten Campingplatz zu sitzen, hatten sie einen zauberhaften Platz weitab von den Menschenhorden gefunden, und sie genossen dabei einen Ausblick über die Felsen und das Meer, der auf einer romantischen Postkarte nicht schöner hätte abgebildet sein können. Sie war überzeugt, dass sie über die Klippen sogar in die Bucht hinunterklettern und dort hätten baden können, wäre sie nicht durch die wunden Füße gehandikapt gewesen. Ein fast unwirklicher Traum – im Juli am Mittelmeer einen solchen Ort zu finden.

Noch zwei, drei Tage, dachte sie optimistisch, und alles ist verheilt, und ich springe hier herum wie ein junges Reh und mache es mir richtig schön!

Sie stand auf dem hölzernen Bootssteg inmitten des flirrenden Sonnenscheins und sah Marius und Maximilian zu, die die Libelle startklar machten. Maximilian hatte sie beide zum Hafen gefahren und half nun sogar noch mit.

In der vergangenen Nacht hatte der Mistral getobt, jener wilde, sagenumwobene Sturm, der das Rhônetal heruntergedonnert kommt und sich mit wütender Kraft ins Meer zu stürzen scheint. Inga hatte um das Zelt gebangt, das der Wind immer wieder von seinen Befestigungen zu reißen drohte, aber sie befanden sich im Schutz der Bäume und hatten ihr Dach über dem Kopf behalten. Jetzt am Morgen herrschte völlige Stille, der Himmel war hoch und blau und gläsern, die Luft ein wenig kühler und von prickelnder Klarheit. Die ganze Welt schien gereinigt worden zu sein.

Rührend, wie Maximilian sich kümmert, dachte Inga, aber aus einem Instinkt heraus vermutete sie, dass er über die Fürsorge an dem fremden, jungen Pärchen auch versuchte, immer wieder Rebeccas Nähe zu finden. Marius und Inga boten ihm die Gelegenheit, täglich hinauf in die Einsamkeit zu fahren und dabei auch den Kopf in Rebeccas Tür hineinzustrecken.

Er würde scheitern, das meinte sie klar zu spüren. Rebecca hatte sich vollständig zurückgezogen. Vielleicht würde nie mehr ein Mensch sie berühren können.

Die Haare fielen Inga immer wieder ins Gesicht, sie kramte schließlich eine Spange aus der Hosentasche und band sie zurück. Marius war gerade mit der Genua beschäftigt, die er am Vorstag, dem dünnen Draht, der sich zwischen Bugspitze und Mast spannte, anschlug.

»Sie wissen wirklich gut Bescheid«, sagte Maximilian anerkennend, »bei Ihnen sitzt jeder Handgriff. Obwohl Ihnen das Schiff ja völlig fremd ist.«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich seit meiner Kindheit in allen Ferien mit Segelschiffen zu tun hatte«, erwiderte Marius, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

Maximilian faltete das Großsegel auf dem Baum zusammen und zurrte es fest. »So«, sagte er, »und jetzt müssen wir mal sehen, was der Motor macht. Das Schiff lag lange still. Ich hoffe, dass die Batterie nicht am Ende ist.« Er sah Inga an.

»Und Sie? Sind Sie auch so ein Segelprofi?«

Sie schüttelte lachend den Kopf. »Ich bin viel mit Marius gesegelt, deswegen habe ich ein bisschen Ahnung. Aber ich bin nicht im Mindesten als Profi zu bezeichnen.«

»Sie ist wirklich gut«, sagte Marius, »sie ist viel besser, als sie sich jetzt darstellt.«

»Wenn das stimmt, dann nur deshalb, weil du ein guter Lehrer bist«, entgegnete Inga mit Wärme in der Stimme, und sie und Marius tauschten einen Blick voller Nähe und Zärtlichkeit.

»Sie wollen heute segeln?«, fragte jemand hinter Inga auf Französisch, und sie wandte sich erstaunt um. Sie kannte den tief gebräunten Mann nicht, der unbemerkt herangetreten war, aber Maximilian mischte sich sofort ein.

»Bonjour, Albert. Inga, das ist Albert, der Hafenmeister. Albert, Inga ist die Frau von Marius, den Sie ja gestern kennen gelernt haben. Die beiden wollen es heute mal probieren. «

Albert legte das Gesicht in Falten und betrachtete eingehend den Himmel. »Der Mistral kommt noch einmal zurück«, bemerkte er.

»Heute noch?«, fragte Inga. »Es scheint doch alles ganz ruhig zu sein.«

»Er kommt zurück«, beharrte Albert, »irgendwann heute Nachmittag.«

»Gibt es Probleme?«, fragte Maximilian. Er hatte gerade versucht, den Anlasser des Motors zu betätigen, aber ohne Erfolg.

Albert deutete in Richtung Berge. Inga konnte dort nichts sehen, außer dass der Himmel geradezu überirdisch blau und leuchtend war, aber den Männern schienen sich geheimnisvolle Zeichen aufzutun, denn Maximilian nickte. »Der Mistral. Wir haben ihn noch nicht hinter uns.«

Marius war mit der Genua fertig und strich sich kurz über den Rücken. »Das kann aber sicher noch dauern«, meinte er.

Albert wiegte den Kopf hin und her. »Ich sagte ja, voraussichtlich heute Nachmittag.«

»Vorher nicht?«, wollte Inga ängstlich wissen.

»Unwahrscheinlich, Madame.«

»Albert ist ziemlich gut in seinen Prognosen«, sagte Maximilian, »er hat sein ganzes Leben hier verbracht. Ich habe noch nie erlebt, dass er sich geirrt hätte. Felix und ich haben uns beim Segeln stets nach ihm gerichtet, und es gab nie Schwierigkeiten.«

»Es ist jetzt zehn Uhr am Morgen«, sagte Marius. »Ich schlage vor, dass Inga und ich um vier Uhr heute Nachmittag wieder hier sind. So haben wir genug Zeit und sind trotzdem auf der sicheren Seite.«

»Aber wirklich spätestens um vier!«, beharrte Albert noch einmal.

»Dafür wird Inga schon sorgen«, sagte Marius, und sie nickte sofort. »Darauf können Sie sich verlassen.«

Maximilian war in der Kajüte verschwunden und tauchte nun mit zwei Schwimmwesten wieder auf. »So. Die legen Sie bitte an. Das ist Pflicht auf der Libelle

Er streckte die Hand aus, um Inga auf das Schiff hinüberzuhelfen. Sie fühlte sich nicht sehr trittsicher in ihren Badeschuhen, aber sie gelangte ohne Schwierigkeiten auf die schaukelnden Planken. Sie zog ihre Schwimmweste an und bemerkte, wie ihre Vorfreude immer mehr stieg.

»Was für ein herrlicher Tag«, sagte sie, »und wie nett von Rebecca, uns ihr Schiff zu überlassen. Sie müssen ihr das auch noch einmal sagen, Maximilian.«

»Mache ich.« Er sah Marius an. »Ich versuche jetzt, den Motor mit der Handkurbel in Gang zu setzen. Die Batterie ist ziemlich am Ende, aber wenn der Motor läuft, wird sie sich aufladen. Sie sollten das im Auge behalten.«

»Ist klar. Wo ist die Kurbel?«

Sie fanden sie schließlich, und es dauerte noch einige Minuten, bis sie die Treppe, die in die Kajüte führte, ausgehängt hatten, um an den dahinterliegenden Motor zu gelangen. Inga hielt den Atem an, aber plötzlich erklang das ersehnte Tuckern, und der Geruch des Dieselöls waberte durch die klare Luft.

Maximilian schwang sich auf den Bootssteg zurück. »Ich hole Sie beide um vier Uhr wieder ab«, sagte er.

Wie schön es hier ist, dachte Inga. Sie saß vorne im Bug und löste auf Marius’ Geheiß die Festmacher, während Marius sich im Heck am Ruder platziert hatte.

Langsam schob sich die Libelle aus ihrem Liegeplatz. Eine Möwe, die bis zu diesem Moment auf der Spitze des Mastes ausgeharrt hatte, hob sich mit empörtem Geschrei in die Luft.

»Es geht wirklich los!«, rief Inga.

Sie sah, dass Maximilian die Hand zum Abschiedsgruß hob. Albert, der neben ihm stand, trug noch immer seine skeptische Miene zur Schau. Inga wusste nicht recht, worauf sich diese gründete. Auf das Wetter? Oder war die Libelle inzwischen sein Kind, sein Kleinod, das er mit einiger Eifersucht hütete? Er mochte nicht einverstanden sein, dass Rebecca ihr Schiff den beiden Fremden anvertraute, aber natürlich konnte er nichts dagegen tun, und vielleicht war dies der Grund für den Ausdruck von Missmut in seinem Gesicht.

Egal. Es konnte ihr gleich sein. Es war ein schöner Tag, und sie würde ihn ganz allein mit Marius, dem Mann, den sie liebte, auf einem Schiff verbringen.

Sie blinzelte, als sich ein Schatten zwischen sie und die Sonne schob. Es war Marius, der das Steuer für einen Augenblick verlassen hatte, um sich seine Baseballmütze zu schnappen und zum Schutz gegen die Sonne auf den Kopf zu setzen.

»Inzwischen müsstest du doch mal zugeben, dass die Idee, in den Süden zu fahren, doch nicht so schlecht war«, meinte er.

Sie musste lachen. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der auf ein besonderes Lob wartet.

»Es war eine grandiose Idee«, sagte sie, »und ich bin froh, dass ich mich mit meinem Geunke und meiner Schwarzseherei nicht durchgesetzt habe. Zufrieden?«

Er grinste. »Das wollte ich nur hören«, sagte er und kehrte dann mit einem schnellen Sprung an das Ruder zurück.

Denn nun verließen sie den Hafen, und vor ihnen breitete sich blau und endlos das Meer aus, und gleich würden sie unter vollen Segeln dahingleiten.

2

Das Gartentor von Rebeccas Grundstück quietschte wie üblich, als Maximilian es öffnete, und wie jedes Mal, wenn er hindurchging, musste er sofort wieder an den Ausdruck von Genervtheit in Rebeccas Gesicht denken und an ihr Seufzen, und dieser Gedanke lähmte unwillkürlich seine Schritte, ließ ihn sich unsicher und zögernd bewegen.

Diesmal traf er sie in der Küche an. Die Verandatür stand offen, daher ging er ohne anzuklopfen ins Haus. Rebecca wischte gerade wie eine Verrückte mit einem Lappen die ohnehin blitzsaubere Arbeitsplatte noch sauberer. Es war so untypisch. Ihr Haushalt früher war eher verschlampt gewesen, weil sie weder die Zeit gehabt hatte, sich selbst darum zu kümmern, noch die Lust, ihre ziemlich faule Putzfrau zu kontrollieren. Wenn er sie und Felix besuchte, hatte ihn das leichte Chaos stets amüsiert und ihm ein heimeliges Gefühl gegeben. Er hatte manchen Abend in ihrer großen unordentlichen Küche am Tisch gesessen, ein Glas Wein getrunken und ihr zugesehen, wie sie Spaghetti kochte und hektisch in einer Fertigsoße rührte.

Die vollkommen veränderte Frau, die er jetzt vor sich hatte, machte ihm immer mehr Angst.

»Hallo, Rebecca«, sagte er.

Sie hatte natürlich das Tor gehört, vermutlich auch zuvor schon den Motor seines Autos, und so erschrak sie nicht, sondern wischte ungerührt weiter den nicht vorhandenen Dreck hin und her.

»Die beiden sind losgesegelt«, berichtete er. »Dieser Marius ist wirklich ein Profi, das konnte man beim Auftakeln des Schiffes sofort merken. Sorgen musst du dir also keine machen.«

»Ich mache mir keine«, entgegnete Rebecca.

»Ich habe ihnen versprochen, sie um vier Uhr im Hafen abzuholen. Albert sagt, wir bekommen Mistral, und deshalb müssen die beiden früher zurück sein.«

»Das ist sicher vernünftig.«

»Ja …« Unschlüssig sah er sie an, und dann, plötzlich von einer ganz unerwartet heftig aufwallenden Wut ergriffen, schoss sein Arm vor, er packte ihr Handgelenk und zwang sie, mit ihrer idiotischen Tätigkeit aufzuhören.

»Verdammt, Rebecca, ich kann das nicht sehen! Ich kann das einfach nicht länger mit ansehen! Wie du dich hier in dieses Haus einsperrst und dein Leben verplemperst und deine Zeit damit zubringst, eine total saubere Küche zum wahrscheinlich hundertsten Mal in den letzten beiden Tagen zu putzen! Das ist krank! Das bist nicht du! Das ist die schlimmste und furchtbarste Verschwendung von Leben und Energie und Fähigkeiten, die ich je habe mit anschauen müssen! «

Sie versuchte sich aus seinem Griff zu winden. »Lass mich sofort los, Maximilian! Sofort!«

»Nein. Weil du dann wieder anfängst, diese arme Holzplatte zu bearbeiten, bis du irgendwann ein Loch in sie hineingescheuert hast! Ich werde morgen nach Deutschland zurückfahren, und ich werde mich dann nie wieder in deinem Leben blicken lassen, aber vorher will ich dir wenigstens noch sagen, dass ich kein Verständnis mehr für dich habe. Nicht was die Larmoyanz und die Feigheit angeht, mit denen du alles wegwirfst, was dir trotz Felix’ Tod geblieben ist. Deine Trauer ist verständlich, dein Schmerz. Tränen, Anklagen, was auch immer. Aber es ist nicht verständlich, dass du offenbar vorhast, die verbleibenden fünfzig Jahre deines Lebens in dieser gottverdammten Einöde völlig allein damit zu verbringen, von morgens bis abends ein ohnehin keimfreies Haus zu putzen und beim Quietschen deines Gartentors förmlich zu erstarren, weil tatsächlich irgendein menschliches Wesen zu dir vordringen könnte, und sei es bloß der Briefträger!«

Es gelang ihr endlich, ihr Handgelenk aus seiner Umklammerung zu winden. Sie knallte den Wischlappen, den sie noch immer festgehalten hatte, mit aller Kraft auf den Fußboden. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft gewahrte Maximilian Leben in ihren Augen. Sie funkelten vor Wut.

»Wer«, schrie sie, »sagt dir, verdammt noch mal, dass ich vorhabe, noch fünfzig Jahre zu leben?«

Er trat einen Schritt zurück. Es war mit einem Schlag sehr still in der Küche. Nur das leise Brummen des Kühlschranks war noch zu hören.

»So ist das also«, sagte Maximilian nach einer Weile, »so ist das. Seltsam. Als ich in München saß und beschloss, mich auf den Weg zu dir zu machen, war der Gedanke, der mich trieb: Ich habe ein dummes Gefühl. Rebecca wird sich doch am Ende nichts antun? Ich sagte mir, das sei Unsinn. Ich kannte dich ja. Eine starke Frau voller Willenskraft. Keine, die sich unterkriegen lässt, sondern die die Zähne immer wieder von neuem zusammenbeißt. Und trotzdem konnte ich mich irgendeiner dummen Ahnung nicht erwehren, und sie wurde so stark, dass ich schließlich losfahren musste. Und ganz offenbar hat mich mein Instinkt nicht getrogen.«

Sie hatte sich wieder unter Kontrolle, bückte sich, hob den Lappen auf und legte ihn hinter sich in die Spüle. Als sie sich Maximilian wieder zuwandte, sah sie nicht länger wütend, sondern zynisch aus.

»Erzähl mir doch nichts, Maximilian. Wir wissen doch beide, warum du gekommen bist.«

Er holte tief Luft. »Rebecca …«

»Seit deiner Scheidung – nein, ich glaube, sogar vorher schon – warst du hinter mir her, und das Fatale war nur, dass ich die Frau deines besten Freundes war, und dass du wusstest, ich musste ein absolutes Tabu für dich bleiben. Aber jetzt ist Felix tot, und nach einer dir angemessen erscheinenden Zeit hast du dir gedacht …«

»Rebecca!«, sagte er scharf. »Sprich nicht weiter! Tu uns beiden das nicht an. Es stimmt nicht, was du sagst. Ich bin gekommen, weil ich Angst um dich hatte, aus keinem anderen Grund.«

»Du wolltest den Tod deines Freundes ausnutzen, um dir endlich zu nehmen, worauf du schon lange aus warst«, fuhr sie unbeirrt fort, »und ich muss sagen, eine schäbigere Gesinnung habe ich selten erlebt.«

Ihm wurde schwindlig. Er sah in ein Gesicht voller Hass und Verachtung und dachte: Nein! Nein, wie kann sie so reden, wie kann sie …

Seit deiner Scheidung warst du hinter mir her …

Sie drückte es auf eine gewöhnliche, zynische Weise aus, und damit wurde sie der Situation nicht gerecht, aber im Kern hatte sie Recht. Er hatte sie verehrt und bewundert vom ersten Moment ihres Kennenlernens an, und möglicherweise hatte er das nach seiner Scheidung, als er anfing, viele Abende bei ihr und Felix zu verbringen, nur noch schwer verbergen können.

Nach dem ersten Gefühl der Betroffenheit stieg nun Ärger in ihm auf über ihre Ungerechtigkeit und über die Härte, mit der sie ihm ihre Unterstellung ins Gesicht geschleudert hatte.

»Du bist unglücklich und verbittert«, sagte er, »und deshalb stößt du Menschen vor den Kopf, die es gut mit dir meinen. Ich habe dich immer bewundert. Vielleicht habe ich dich mehr bewundert, mehr verehrt, als es mir einer verheirateten Frau gegenüber zugestanden hätte, das mag sein, aber ich habe nie mit Gefühlen an dich gedacht, die ich nicht jederzeit Felix gegenüber hätte offenlegen können. Ich fand es so großartig, was du aus deinem Leben machtest. Felix hatte so viel Geld, du hättest dich mit Leichtigkeit in eine mehr oder weniger hirnlose Gattin verwandeln können, deren Tagesablauf im Golf- und Tennisspielen, in ausgedehnten Einkaufstouren und im gelegentlichen Veranstalten irgendwelcher Wohltätigkeitsfeste besteht, und die man entweder beim Friseur oder bei der Kosmetikerin oder bei irgendeiner bescheuerten Anprobe von Cocktailkleidern antrifft. So wie meine Frau, mit der ich es ja auch letztlich nicht mehr ausgehalten habe. Aber du warst so anders. Ich fand es großartig, wie intensiv du gearbeitet hast, wie du erzählt hast von den hunderttausend Problemen, die jeden Tag an dich herangetragen wurden, die dir manchmal so nahe gingen, dass du nachts nicht schlafen konntest, denen du dich aber immer wieder voller Mut und Energie gestellt hast. Ich sehe mich noch mit Felix abends bei euch vor dem Kamin sitzen und einen Whisky trinken, und irgendwann ziemlich spät kamst du nach Hause, von irgendeiner Problemeltern-Sprechstunde oder einem Gewaltpräventionsseminar oder was auch immer, du warst müde, aber erfüllt, und du wirktest so jung, so energiegeladen und so völlig anders als die Frauen, mit denen ich sonst umging. In deinen Jeans und Pullis und mit deinen langen Haaren, die immer störrisch aussahen und nie nach tollem Friseur, und dann diesem billigen Glasperlenschmuck, für den du eine unerklärliche Vorliebe hast … Das alles zusammen …« Er suchte nach Worten, blickte dabei in ihr wieder kühles, so unerreichbar distanziertes Gesicht und spürte, dass er gegen eine Wand redete.

»Ach, Rebecca«, sagte er, »ich will nicht begreifen, weshalb wir beide einander nicht einmal mehr sehen dürfen. Ich verstehe das alles nicht. Deine ganze Entwicklung. Wohin ist denn diese unerschütterlich starke Frau verschwunden, die du einmal warst?«

»Das hat dich nicht zu interessieren«, erwiderte sie kühl.

Er hätte sie schütteln mögen. »Du gehst hier unter, Rebecca. Du stirbst. Du stirbst entweder, weil du irgendwann selber dafür sorgst, oder aber es wird ein innerlicher Tod sein. Dann bist du nur noch eine Hülle, die atmet und deren Herz schlägt, aber an der nichts sonst mehr lebt. Und wenn du mich fragst, diese zweite Variante des Sterbens hast du schon verdammt weit umgesetzt.«

»Das ist meine Sache.«

»Du willst also so weitermachen? Dich hier vergraben, das Haus putzen, an Felix denken und deine Zukunft wegwerfen mit allem, was sie dir noch zu bieten hätte?«

Sie sah ihn spöttisch an. »Was hätte sie mir denn zu bieten? Dich?«

Sein Ärger flammte auf, als habe jemand Öl in eine schwelende Glut gekippt, und er dachte: Ich muss es nicht tun. Ich muss nicht hier stehen und mich von ihr beleidigen lassen. Soll sie doch zum Teufel gehen!

So ruhig er konnte, sagte er: »Ich werde jetzt gehen. Ich habe alles versucht. Ich werde auch nicht wiederkommen, das verspreche ich dir. Du bist eine erwachsene Frau, und du musst selbst wissen, was du willst.«

Verdammt, dachte er, ich rede wie ein beleidigter alter Mann, dessen gute Ratschläge von der uneinsichtigen Jugend ignoriert werden. Ich wollte etwas anderes sagen. Etwas ganz anderes.

»Auf Wiedersehen, Rebecca«, sagte er, wusste dabei, dass er auf den obligatorischen Wangenkuss zum Abschied verzichten würde, »und trotz allem, wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich bitte an mich. Es könnte ja sein …« Er machte eine hilflose Handbewegung. Rebecca stand unbeweglich wie eine Salzsäule.

Als er hinaus in die Sonne trat, war ihm klar, dass er wegmusste. So schnell wie möglich. Je länger er in ihrer Nähe blieb, umso größer war die Gefahr, wieder schwach zu werden, sich um sie zu bemühen und von ihr gekränkt zu werden. Er würde jetzt sofort zu seinem Hotel fahren.

Ihm fiel noch etwas ein, und er steckte noch einmal den Kopf zur Küchentür hinein. Rebecca stand noch immer unbeweglich genau dort, wo er sie verlassen hatte.

»Das junge Paar«, sagte er, »läuft um vier Uhr unten im Hafen ein. Vielleicht holst du sie ab? Andernfalls müssen sie eben selber sehen, wie sie hierher kommen. Ich checke jetzt im Hotel aus und mache mich noch heute auf den Heimweg nach München. Auf mich kann jedenfalls keiner von euch mehr zählen.«

Sie gab durch nichts zu erkennen, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte.

3

Um die Mittagszeit beschloss Karen, in die Stadt zu fahren und sich irgendetwas zum Anziehen zu kaufen. Es war sehr warm, aber es ballten sich immer mehr Wolken am Himmel, und so würde sie nicht unter stechender Sonne von Geschäft zu Geschäft laufen müssen. Es war Viertel nach zwölf, und für gewöhnlich würde sie jetzt anfangen, das Mittagessen für die Kinder vorzubereiten, aber diese nahmen an einer Sportveranstaltung ihrer Schule teil, die bis in den späten Nachmittag dauern würde. Ein unerwarteter Freiraum also, der sich Karen bot, und da sie sich an diesem Tag besser fühlte als sonst, war ihr plötzlich diese aberwitzige Idee gekommen. Sie hatte seit ewigen Zeiten nichts mehr für sich gekauft, hatte das auch immer für überflüssig gehalten. Für das Leben ausschließlich in ihren vier Wänden brauchte sie keine schicken Klamotten, schon gar nicht für die Haus- und Gartenarbeit und die Spaziergänge mit Kenzo. Die Frauenzeitschriften rieten zwar immer zu einer neuen Garderobe, wenn man sich besser fühlen wollte, oder gleich zu einer Generalüberholung bei Friseur, Kosmetikerin und Wellness-Farm, aber Karen hatte darauf nie etwas gegeben. Aber heute Morgen hatte sie sich zum ersten Mal seit langem wieder einmal aufmerksam in dem hohen Schlafzimmerspiegel gemustert, und dabei war ihr aufgefallen, dass sie stark abgenommen hatte. Die Rippenbögen stachen deutlich hervor, die Hüftknochen zeichneten sich spitz ab, der Bauch war eingesunken, die Oberschenkel ziemlich schlaff. Sie stieg auf die Waage und stieß einen Laut des Erstaunens aus: Sie wog acht Kilo weniger als im Januar oder Februar, als sie sich zuletzt gewogen hatte.

Sie hatte von dem starken Gewichtsverlust nichts bemerkt, aber sie erinnerte sich, dass sie an vielen Tagen, an denen es ihr schlecht ging, Traurigkeit und Niedergeschlagenheit sie fest im Griff hatten, nichts hatte essen können. In der letzten Zeit hatte sie sich zudem häufig übergeben, vor Unruhe und Anspannung, und weil sie sich immer so viele Sorgen machte. Sorgen vor allem um ihre Ehe.

Und so hatte sie plötzlich gedacht: Ich könnte einfach einmal etwas für meine Ehe tun, anstatt mich ständig um sie zu sorgen. Ich habe wirklich eine schöne Figur, aber in den Säcken, die ich immer an mich hänge, sieht man sie überhaupt nicht. Wolf sieht sie nicht. Wenn er heute Abend nach Hause kommt, könnte er mich einmal ganz neu erleben.

Der Gedanke hatte sie beflügelt, und mit sehr viel mehr Schwung und Energie als sonst erledigte sie ihre Hausarbeit, so dass sie tatsächlich mittags mit allem fertig war. Bevor sie losging, ließ sie Kenzo noch einmal in den Garten. Wie üblich schoss er sofort zum Zaun und bellte das Nachbarhaus an, drehte dann aber um, hob sein Bein an einem Rosenstrauch und trabte ins Haus zurück.

»Braver Hund«, sagte Karen, »du wirst jetzt schön allein bleiben, ja? Ich komme bald wieder.«

Er sah sie aus freundlichen Augen aufmerksam an. Sie konnte nicht umhin, hinaus und zu dem von ihm erneut angebellten Haus zu blicken. Verschlossene Rollläden nach wie vor. Kein Lebenszeichen.

Ich hatte beschlossen, darüber nicht mehr nachzudenken!

Dennoch wurde sie diesem Vorsatz sofort wieder untreu, als sie zu ihrer Garage ging und ihr dabei fast zwangsläufig der Briefkasten der Nachbarn ins Auge fiel. Sie hatte alle Post, die aus der schmalen Messingklappe herausragte, an sich genommen und vorläufig ganz oben auf einem Schrank in ihrer Küche gestapelt. Sie hatte Wolf nichts davon erzählt, denn sie mochte ihm nicht schon wieder einen Anlass für ein paar wohlformulierte zynische Kommentare geben, aber sie fand, dass sich eine solche, wenn auch nicht abgesprochene, Hilfsbereitschaft unter Nachbarn gehörte.

Auch jetzt schauten wieder zwei Briefe, eine Zeitung und ein Modekatalog aus dem Briefkasten heraus, und Karen nahm sie ohne zu zögern an sich. Sie klingelte noch einmal, obwohl sie genau wusste, dass sich die Tür des stummen, verdunkelten Hauses nicht öffnen würde.

Wolf hat wirklich Recht, ich mache mich viel zu verrückt deswegen, dachte sie.

In der Stadt verlief zunächst alles perfekt. Sie fand sofort einen Parkplatz, und als sie die Boutique betrat, in der sie früher öfter eingekauft hatte – damals, als alles anders war, als sie noch in dem alten Haus wohnten und Wolf ihr manchmal sagte, dass er sie liebte –, wurde sie von der Verkäuferin sogleich erkannt und freudig begrüßt.

»Sie sind aber schlank geworden! Sie müssen mir unbedingt Ihre Diät verraten!«

Permanenter Liebesentzug, dachte Karen, das kann wahre Wunder wirken!

Aber sie sagte das natürlich nicht, sondern murmelte etwas vom Umzugsstress, und die Verkäuferin nickte mitfühlend. »Umziehen ist grässlich. Aber wenn man dafür die Figur eines jungen Mädchens bekommt … Ganz klar, dass Sie eine neue Garderobe brauchen, das sieht man sofort. Alles zwei Nummern kleiner als das, was Sie jetzt tragen!«

Innerhalb der nächsten Stunde kaufte Karen viel mehr, als sie vorgehabt hatte, beschwingt durch die Komplimente der Verkäuferin und leichtsinnig gestimmt durch ein Glas Champagner, das ihr angeboten wurde und das in der Wärme des Tages eine rasche und heftige Wirkung zeigte. Zumal sie wieder einmal nichts gegessen hatte.

Sie kaufte sich zwei sehr enge Jeans und einige ebenfalls äußerst knapp geschnittene T-Shirts, einen kurzen und einen langen Rock und – und das musste wirklich am Champagner liegen – einen Bikini. Sie hatte noch nie einen Bikini getragen, nicht einmal, als sie ganz jung gewesen war, und heute, nach der Geburt zweier Kinder, wäre sie eigentlich nicht einmal in ihren kühnsten Träumen auf diesen Einfall gekommen.

»Aber wer, wenn nicht Sie!«, hatte die Verkäuferin enthusiastisch gerufen und dann die ausschlaggebenden Worte hinzugefügt: »Gönnen Sie doch Ihrem Mann auch einmal etwas! «

Mit zwei großen Tüten bepackt, verließ Karen den Laden. Ihr war etwas schwindlig, und untergründig regte sich in ihr die Frage, was Wolf wohl zu seinen nächsten Kontoauszügen sagen würde, aber der Alkohol verhinderte, dass sie sich darüber ernsthaft Sorgen machte. Sie blieb kurz stehen und überlegte. Eigentlich könnte sie den Luxus auf die Spitze treiben, ihren ganzen Mut zusammennehmen und in ein Restaurant gehen, was sie allein nicht gern tat, was ihr aber aus irgendeinem Grund plötzlich angemessen erschien. Sie hatte schon lange nichts mehr gegessen, was sie nicht selbst gekocht hatte, und vielleicht würde es ihr Spaß bereiten, sich verwöhnen zu lassen. Vielleicht würde es ihr sogar helfen, ein paar Bissen mehr als sonst hinunterzubekommen.

Sie brachte ihre Tüten ins Auto, verstaute sie im Kofferraum und machte sich dann auf den Weg zu einem kleinen italienischen Restaurant, das nicht weit von Wolfs Bank lag. Ganz früher, noch bevor die Kinder kamen, hatten sie und Wolf sich manchmal mittags dort getroffen. Sie hatten Pasta gegessen und sich hinterher eine Portion Tiramisu geteilt, die sie sich gegenseitig mit einem Löffel fütterten. Zwischen den Gängen hatten sie einander an den Händen gehalten und von ihrem Vormittag erzählt. Karen hatte damals noch gearbeitet, und manchmal waren beide so erfüllt gewesen von Erlebnissen, dass sie gleichzeitig redeten und einander schließlich lachend ansahen. Dann wurde ausgehandelt, wer zuerst an der Reihe war, und dabei hatten sie sich schon wieder küssen müssen, und …

Sie seufzte in der Erinnerung an all das. Mit dem ersten Baby hatten ihre gemeinsamen Mittage jäh geendet, weil Karen nicht mehr wegkonnte von daheim. Ein paarmal hatte sie versucht, den Kleinen mitzunehmen, aber er war anstrengend gewesen, hatte ständig geplärrt, und schließlich hatte Wolf gemeint, diese Art von Mittagspause zerrütte ihm völlig die Nerven, und es sei besser, wenn sie ihr Ritual vorläufig ruhen ließen.

Vorläufig … Dann war das zweite Kind gekommen, auch ein Schreihals (»Irgendetwas machst du doch völlig falsch mit den Kindern!«, hatte Wolf mindestens fünfmal in der Woche gesagt), und irgendwann war unausgesprochen klar gewesen, dass es die Mittage beim Italiener nicht mehr gab und nie mehr geben würde.

Sie konnte bloß nicht verstehen, weshalb dies alles in solch eine Kälte gemündet war. Auch andere Liebespaare wurden Eltern und hatten zwangsläufig nicht mehr so viel Zeit füreinander, auch andere Männer wurden in ihrem Beruf gefordert und lebten unter Stress und Anstrengung, und trotzdem gelang es ihnen, die Liebe für den Partner zu bewahren.

Oder nicht?

Gehen sie alle diesen Weg, fragte sich Karen, während sie die immer noch vertrauten Straßen entlanglief, ist es ganz normal, was bei uns passiert ist? Und bin es nur ich, die damit nicht zurechtkommt? Die gleich depressiv wird und langsam, aber sicher in eine Art Magersucht verfällt? Dann hätte Wolf Recht. Dann liegt es an meiner hysterischen Veranlagung und an meinem Hang zum Dramatisieren und …

Sie merkte, wie sich ihre gute Stimmung verflüchtigte und der üblichen Schwermut Platz machte. Jener Schwermut, die zunehmend etwas mit Wolf zu tun hatte oder vielleicht auch nur mit den Dingen, die er ihr so oft sagte. Kränkungen. Jedenfalls empfand sie sie als kränkend. Womöglich waren sie es gar nicht.

Das Rad im Kopf war wieder angesprungen. Ihr Grübeln war in Gang gesetzt. Sie wusste, sie würde nun über Stunden nicht mehr abspringen können. Das Gedankenkarussell war so langsam und unauffällig angelaufen, dass sie es nicht rechtzeitig bemerkt hatte. Manchmal gab es ganz zu Beginn noch für einen kurzen Moment die Chance, ihm zu entkommen, abzuspringen, wenn es sich noch ganz sacht, fast unmerklich drehte. Allerdings erwischte sie diesen Augenblick selten. Heute war er ihr völlig entgangen.

Sie stand dem Restaurant gegenüber, nur noch durch eine Straße getrennt, und wusste, dass sie nicht hineingehen konnte. Sowieso würde sie keinen Bissen herunterbringen, aber zudem fand sie den Mut nicht mehr, den vertrauten Raum wiederzusehen und all die Bilder vor Augen zu haben, die sie mit einer nie wiederkehrenden Zeit verband. Am Ende gab es noch einen Kellner von früher, der sie erkannte und fragte, weshalb sie so lange nicht mehr gekommen war, und sie war nicht ganz sicher, ob ihr dann nicht sogar die Tränen kommen würden. Was natürlich keinesfalls geschehen durfte.

Sie wollte gerade auf dem Absatz umkehren, da sah sie Wolf.

Er kam von der anderen Seite her die Straße entlanggeschlendert, unverkennbar mit seiner Kopfhaltung, die immer etwas Hochnäsiges hatte, und mit seinem hellgrauen Anzug, der ihn als seriösen Banker auswies. Das Sonnenlicht ließ erste vereinzelte graue Strähnen in seinen dunkelbraunen Haaren aufblitzen, was sehr interessant und attraktiv aussah. Überhaupt umgab ihn eine Ausstrahlung, die bewirkte, dass sich Karen sofort unscheinbar und unansehnlich fühlte, klein und unbedeutend und gänzlich ungeeignet, an der Seite eines solchen Mannes erscheinen zu können. Es lag nicht nur an Wolfs gutem Aussehen. Es lag vor allem an seiner Gelassenheit, mit der er sich bewegte, an seinem Selbstvertrauen, das er wie einen Schutzschild vor sich hertrug. An der ganzen Selbstverständlichkeit, mit der er die Straße entlangkam, ohne Sorgen, ohne Ängste, ohne sich mit anderen zu vergleichen und sich zu fragen, ob sie besser waren als er, schöner, klüger, gebildeter, interessanter.

Genau genommen tat, dachte und fühlte er einfach all das nicht, was Karen ständig tat, dachte, fühlte. Welten trennten sie. Den erfolgreichen Geschäftsmann und die verhuschte, graue Maus.

Und eine verhuschte graue Maus blieb auch mit neuen Klamotten eine verhuschte graue Maus, das begriff Karen in diesem Moment. Nichts hatte sich geändert. Sie hatte bloß zu viel Geld ausgegeben und sich damit neuen Ärger eingehandelt.

Neben Wolf ging eine junge Frau, sie lachte gerade laut auf, warf ihre langen Haare zurück und schob sich mit einer sehr sinnlichen Bewegung ihre Sonnenbrille auf den Kopf.

Die Wirkung des Champagners verflog mit einem Schlag. Nüchtern und fast emotionslos – betäubt?, fragte sie sich – betrachtete Karen die Szene.

Die Frau trug einen hellbeigen Hosenanzug, darunter ein weißes T-Shirt, sie war keineswegs aufreizend angezogen, eher fast zu konservativ für ihr noch sehr jugendliches Alter, so dass der Gedanke nahe lag, dass sie ebenfalls in einer Bank arbeitete. Wahrscheinlich in derselben Bank wie Wolf. Eine Kollegin. Wolf ging in seiner Mittagspause mit einer Kollegin zum Essen. Und zwar zu dem Italiener, bei dem er sich früher mit seiner Frau getroffen hatte. Es war ganz normal. Nichts daran musste sie beunruhigen.

Sollte Wolf mutterseelenallein zu Mittag essen? Sollte er das einzig gute Restaurant in erreichbarer Nähe der Bank meiden, nur weil er vor endlosen Zeiten dort mit seiner Frau Händchen gehalten und geknutscht hatte?

Die beiden hatten den Eingang erreicht, Wolf hielt seiner Begleiterin die Tür auf und folgte ihr dann in den Innenraum. Soweit Karen dies verschwommen durch die Fenster erkennen konnte, wurden die beiden eilfertig und freundlich von dem Ober begrüßt.

Man kennt sie, sie haben ihren Tisch, so wie wir damals, dachte Karen, man weiß schon, was sie trinken, und wenn sie am Ende nur ein Dessert bestellen, bringt man gleich zwei Löffel, damit sie gemeinsam …

Sie atmete tief durch und verbot diesem Gedanken, Raum in ihr zu gewinnen. Wolf und seine Kollegin löffelten nicht von einem gemeinsamen Tellerchen. Sie wirkten nicht wie ein Liebespaar. Sie wirkten wie gute Freunde, sehr gute Freunde, die ihre knapp bemessene Freizeit miteinander verbrachten. Überdies zeigte sich Wolf gern mit dieser Frau. Sicher wesentlich lieber als mit seiner eigenen.

Die Betäubung wich. Karen wurde es plötzlich fast schlecht bei der Vorstellung, sie wäre vielleicht früher beim Einkaufen fertig gewesen und hätte außerdem mehr Sekt getrunken und tatsächlich den Mut gehabt, allein in das Restaurant zu gehen. Dann hätte sie jetzt dort drinnen gesessen, und Wolf wäre wahrscheinlich erstarrt bei ihrem Anblick, und dann hätte er sie und seine Begleiterin einander vorstellen müssen und sie hätten alle an einem Tisch gesessen, und … Sie fand die Bilder, die sie vor sich sah, so peinlich und schrecklich, dass sie nicht länger stehen bleiben konnte; sie drehte sich um und lief wie gehetzt all die Straßen entlang zu ihrem Auto zurück. Sie keuchte, als sie es erreichte, kramte mit zitternden Händen ihren Schlüssel hervor, öffnete, stieg ein und sank in ihrem Sitz zurück. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, dass sie wieder einmal furchtbar aussah, das blasse Gesicht gerötet von der Hitze und der Aufregung, die Haare wirr, der Lippenstift verblichen. Großartig. Kein Wunder, dass Wolf nicht mehr mit ihr ausging. Dass er keinen Wert auf ihre Gegenwart legte. Er wusste auch, dass die Kinder heute beim Sportfest waren, er hätte sie fragen können, ob sie zum Essen in die Stadt kommen wollte. Aber so blöd war er natürlich nicht. Er hatte ein besseres Angebot gehabt. Und Wolf war schon immer der Meinung gewesen, dass ihm das Beste zustand.

Ich glaube nicht, dass er mit ihr ins Bett geht, dachte Karen, was also macht mich so fertig? Dass er mich ausgrenzt aus seinem Leben? Längst ausgegrenzt hat? Dass ich gar nicht mehr vorkomme, dass ich nur noch die Frau bin, die sein Haus in Ordnung hält und seine Kinder großzieht? Das tut weh. Das tut entsetzlich weh.

Sie war froh, als sie heil daheim ankam. Sie war einige Male angehupt worden, weil sie an grünen Ampeln nicht losgefahren war, tief in Gedanken versunken, und einmal hatte sie einem offenen Sportwagen die Vorfahrt genommen, und der Typ, der eine sehr attraktive Blondine neben sich hatte, hatte wie wild hinter ihr hergeschimpft.

Egal, hatte sie gedacht, alles egal, aber in Wahrheit war ihr gar nichts egal.

Als sie aus der Garage trat, nahm sie einen Mann wahr, der vor dem Gartentor ihrer Nachbarn stand und gerade die Klingel drückte, wahrscheinlich schon zum wiederholten Mal, denn er schaute dabei ratlos die Straße auf und ab. Er sah Karen und kam sofort auf sie zu.

»Verzeihen Sie, wissen Sie, ob die Familie Lenowsky verreist ist?«, fragte er. »Ich hatte für heute einen Termin …«

Sie starrte ihn an, versuchte aus ihren Gedanken aufzutauchen und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. »Einen Termin?« Ihre Stimme hörte sich brüchig an, sie räusperte sich. »Einen Termin?«, wiederholte sie und dachte, dass der Fremde sie ziemlich stupide finden musste.

»Ich bin Gärtner. Ich soll mich von jetzt an regelmäßig um das Grundstück der Lenowskys kümmern. Der heutige Termin wurde vor zwei Wochen vereinbart, und man legte mir nahe, ihn unbedingt pünktlich einzuhalten.«

»Und die Lenowskys wollten da sein, wenn Sie arbeiten? Denn Sie könnten eigentlich auch so in den Garten gehen und …«

»Auf keinen Fall«, sagte er mit Bestimmtheit. »Herr Lenowsky hat sehr genaue Vorstellungen, wie alles angelegt werden soll. Wir haben es zwar besprochen, aber er sagte ausdrücklich, er wolle wegen eventueller Änderungen in seinen Wünschen unbedingt anwesend sein.«

»Ich verstehe«, sagte Karen. Langsam konnte sie wieder einigermaßen normal sprechen. »Wissen Sie, ich wundere mich auch schon seit einiger Zeit. Die Rollläden sind unten und niemand öffnet, aber gleichzeitig quillt der Briefkasten über … ich nehme regelmäßig an mich, was herausschaut, sonst würde die Post hier schon auf dem Gartenweg liegen. Aber niemand hat mich darum gebeten, wissen Sie, es scheint aber auch sonst niemand beauftragt zu sein, und das erscheint mir seltsam.«

»Das ist es in der Tat«, sagte der Gärtner, »äußerst seltsam. «

»Wir wohnen noch nicht lange hier«, fuhr Karen fort. Es tat gut, mit jemandem zu sprechen. »Ich kenne daher die Nachbarn nicht näher, aber sie schienen mir … nun, es sind keine Leute, die einfach wegfahren und Haus und Garten sich selbst überlassen. Sie wirkten auf mich so, als regelten sie alles in ihrem Leben mit größter Sorgfalt.«

»So kamen sie mir auch vor. Es scheint mir nicht zu ihnen zu passen, dass sie niemanden wegen ihrer Post um Hilfe bitten. Und es passt auch nicht, dass sie den Termin mit mir verstreichen lassen. Sie hätten mir abgesagt, wenn etwas dazwischengekommen wäre. Man kann über sie denken, was man will, aber mit Sicherheit sind sie im höchsten Maß zuverlässig. «

»Hm«, machte Karen. Sie und der Gärtner starrten das Haus an. Wie feindselig es wirkte, mit seinen hinuntergelassenen Rollläden, wie still und ausgestorben. Nur ein paar Bienen brummten durch den Garten, Schmetterlinge schaukelten im leichten Wind.

»Mein Hund bellt das Haus immer an«, sagte Karen, »die ganze Woche schon. Das hat er vorher nicht getan.«

»Vielleicht sollten wir in den Garten gehen, was meinen Sie? Am Ende ist irgendwo ein Fenster nicht verdunkelt und wir können hineinschauen.«

Karen merkte, wie ihr kalt wurde. Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken. »Was erwarten Sie denn zu sehen?«, fragte sie beklommen.

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Die beiden sind nicht mehr die Jüngsten. Vielleicht sind sie krank geworden, unglücklich gestürzt …«

»Alle beide?«

»Ich gehe hinein«, sagte der Gärtner und stieß das Tor auf. Karen folgte ihm.

Das Gras im Garten stand recht hoch - verwunderlich zumindest, wenn man wusste, dass Fred Lenowsky es für gewöhnlich stets äußerst kurz geschoren hielt. Der Gewitterregen zwei Tage zuvor hatte die steinerne Vogeltränke mit Wasser gefüllt, aber schon machte sich die anhaltende Trockenheit dennoch überall bemerkbar. Die Geranien, die in Terrakottatöpfen den Gartenweg säumten, ließen die Köpfe hängen. Ein großer Margeritenstrauch neben der Haustür begann zu vertrocknen, die weißen Blüten hatten bräunliche Ränder bekommen. Aus den Ritzen zwischen den Steinplatten auf der Treppe zur Haustür wuchs Löwenzahn; er war noch nicht hoch geworden, wurde aber auch offenbar nicht mehr akribisch entfernt. Man hätte nicht sagen können, dass der Garten verwahrlost war, viele Gärten sahen nie anders aus. Gemessen an der Pedanterie der Lenowskys jedoch stand er im Begriff, seinen überaus gepflegten Zustand einzubüßen.

Die Haustür bestand aus einem hölzernen Rahmen, in dessen Mitte dicke, dunkelgrün gefärbte Glasquadrate zu seltsamen geometrischen Formen angeordnet waren; man konnte jedoch nicht hindurchsehen. Links von der Tür führte ein Plattenweg um das Haus herum. An den Fenstern entlang des Weges waren überall die Rollläden hinuntergelassen.

»Es kann natürlich sein«, sagte Karen, »dass die Lenowskys wirklich verreist sind und tatsächlich jemanden beauftragt haben, sich um Haus und Garten zu kümmern. Diese Person ist vielleicht krank oder vergesslich oder einfach durch irgendetwas verhindert …«

»Möglich«, meinte der Gärtner, klang dabei jedoch nicht überzeugt, »man müsste vielleicht einmal in der Nachbarschaft herumfragen.«

Sie hatten das Haus umrundet und langten auf der Terrasse an. Hier standen ein runder, weißer Gartentisch und vier Gartenstühle; auf den Stühlen lagen, sorgfältig festgebunden, blauweiße Sitzkissen. Eine geblümte Tischdecke hatte der Wind in die Ecke neben der Verandatür geweht, sie hatte sich dort um den steinernen Fuß eines leeren Schirmständers geknäult.

»Die fahren doch nicht in Urlaub und lassen ihre Stuhlkissen draußen!«, rief der Gärtner. »Ich finde, hier stimmt etwas überhaupt nicht!«

Fenster und Tür zur Terrasse waren verdunkelt. Über die ganze Breite der Terrasse erstreckte sich im ersten Stock ein Balkon. Der Gärtner lief bis zum Ende des Rasens, um hinaufzuspähen. »Ich kann da oben nicht viel sehen, aber ich meine, dort wäre ein Fenster ohne Rollladen. Man könnte auf den Balkon klettern …«

»Es ist doch gar nicht erlaubt, was wir hier tun«, meinte Karen unbehaglich, »immerhin ist das ein fremdes Grundstück …«

Der Gärtner schnaubte verächtlich. »Das sollte uns jetzt nicht unbedingt kümmern. Ich meine, dass hier etwas oberfaul ist. Eigentlich sollte man …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

»Was?«, fragte Karen. Irgendwie war sie immer noch nicht ganz da. Vor ihrem inneren Auge sah sie Wolf neben der jungen langhaarigen Frau die Straße entlangkommen.

»Eigentlich sollte man die Polizei verständigen.«

Sie erschrak, weil sie sich vorstellen konnte, wie Wolf auf diesen Vorschlag reagieren würde. »Ich weiß nicht … nachher ist gar nichts, und wir machen uns nur völlig lächerlich.«

»Hm«, machte er. Vermutlich hielt er sie für eine spießige Vorstadtpflanze, die sich tunlichst aus allem heraushielt, was ihr in irgendeiner Weise Schwierigkeiten bringen konnte. »Wir warten noch zwei oder drei Tage«, fuhr er fort, »aber dann sollten wir etwas unternehmen. Sie haben ja das Haus ständig im Auge. Würden Sie mich anrufen, wenn sich irgendetwas tut?«

»Klar«, sagte Karen. Insgeheim sandte sie ein Stoßgebet zum Himmel, es möge sich jetzt schnell etwas tun. Die Lenowskys sollten braun gebrannt und quicklebendig von einem Urlaub zurückkehren, und alles sollte sich als ein Missverständnis zwischen ihnen und der Person, die für das Haus hatte sorgen sollen, herausstellen. Sie dachte an die Lichter in der Nacht. Im tiefsten Innern glaubte sie nicht an eine harmlose Lösung.

Der Gärtner gab ihr seine Visitenkarte und notierte Karens Namen und ihre Telefonnummer auf einer anderen Karte.

»Man weiß ja nie«, meinte er, »vielleicht fällt mir noch etwas ein, das ich Ihnen sagen möchte.«

Er hieß Pit Becker, und auf seine Karte waren Blumen und Bäume gedruckt.

»Falls Sie auch mal einen guten Gärtner brauchen …«, meinte er noch und lachte. Unwillkürlich musste Karen denken, wie hübsch es in ihrer Lage wäre, ein Verhältnis mit einem Gärtner zu beginnen. Morgens, wenn die Kinder in der Schule waren. Pit sah sehr gut aus, er war groß und breitschultrig und tiefbraun gebrannt. Ebenso klar war aber auch, dass er sie als Frau völlig uninteressant fand. In seinen Augen war sie die typische Mutti aus einer gutbürgerlichen Siedlung am Stadtrand. Eine potenzielle Kundin, mehr nicht.

Sie verließen das fremde Grundstück und das stumme, dunkle Haus. Pit stieg in seinen Kleinbus, der ebenfalls mit Blumen und Bäumen bemalt war, hob noch einmal die Hand zum Gruß und fuhr davon. Karen sah ihm lange nach, dann betrat sie mit schweren Schritten ihr eigenes Grundstück und schloss die Haustür auf. Kenzo sprang auf sie zu und warf sie fast um in seiner Begeisterung.

»Wenigstens du freust dich, wenn du mich siehst«, sagte sie.

Er blickte sie aus seinen großen, schwarzen Augen liebevoll an. Dann schoss er an ihr vorbei in den Garten. Er rannte zum Zaun und bellte das Nachbarhaus an, minutenlang, bis Karen ihn zurückrief, weil sie fürchtete, es könne sich wieder jemand beschweren.

4

Die Libelle dümpelte in einer vom Mistral unruhig zurückgelassenen See hin und her, mit angeschlagenen Segeln, ringsherum von tief türkisfarbenem Wasser umgeben, über sich den blauen Himmel mit ein paar Wolken, und vor sich steil ins Wasser abfallende Felsen, die weiter oben in einen dicht bewaldeten Berg übergingen.

Ein fast perfekter Tag.

Ein fast perfekter Urlaub, dachte Inga schläfrig.

Sie lag ausgestreckt auf einer der Bänke im Cockpit, bekleidet mit einem winzigen Bikini, und genoss die Wärme der Sonne auf ihrem Bauch. Sie hatte sich ihren Strohhut über das Gesicht gelegt, denn sie verbrannte leicht, und außerdem blendete sie die senkrecht stehende Mittagssonne. Sie vermutete, dass sie eine Weile geschlafen hatte, und überlegte, weshalb sie wach geworden war. Das Wasser war aufgewühlt, aber bislang waren die Wellen groß und lang gestreckt gewesen, das Schiff hatte sich in regelmäßigen Abständen gehoben und gesenkt. Aber nun waren seine Bewegungen unruhiger geworden, und vielleicht hatte dieser veränderte Rhythmus Inga erwachen lassen. Sie schob ihren Hut zur Seite und richtete sich auf. Ein leichter Wind war aufgekommen, und die Wolken am Himmel rollten sich zu der Form stark gebogener Kommas zusammen. Albert hatte Recht gehabt: Der Mistral kehrte zurück.

Sie sah sich um, konnte aber Marius nirgends auf dem Schiff entdecken. Schließlich entdeckte sie ihn zwischen den Wellen; zu seiner Sicherheit mit dem Schiff durch eine Sorgleine verbunden, schwamm er dort in seinem eigenwilligen, immer etwas aggressiv anmutenden Schwimmstil. Gerade wandte er den Kopf und sah zum Schiff herüber. Vielleicht war auch ihm das Zunehmen des Windes bewusst geworden.

Sie winkte ihm zu, er winkte zurück, und dann kraulte er mit kraftvollen Bewegungen auf das Schiff zu.

Es ist unglaublich, dachte Inga, wir sind ganz allein hier. Hoffentlich können wir das Schiff öfter benutzen in den nächsten zwei Wochen.

Marius hatte die Libelle erreicht und kam die Badeleiter heraufgeklettert. Inga stellte wieder einmal fest, wie attraktiv sie ihn fand. Sie waren seit zwei Jahren verheiratet, und ihre Beziehung hatte den Punkt erreicht, an dem man den Partner eigentlich nicht mehr mit staunenden Augen, sondern mit einer gewissen Selbstverständlichkeit betrachtet, aber doch dachte sie in diesem Moment: Wie gut er aussieht! Wie jung. Und stark.

Auf einmal, so heiß und schwer von der Sonne, konnte sie sich gut vorstellen, ihn jetzt gleich, in diesem Moment, auf diesem Schiff, zu lieben, und die Frage war nur, ob der Mistral ihnen die Zeit ließe. Wahrscheinlich nicht. Besser, sie machte den Vorschlag gar nicht erst.

Sie beobachtete, wie Marius mit sicheren und geübten Griffen das Großsegel am Mast hinaufzog. Er bewegte sich auf dem Schiff, als habe er seit Jahren ständig dort zu tun, und gerade wollte sie ihm deswegen ihre Bewunderung aussprechen, da sagte er plötzlich beiläufig: »Wir sollten mit dem Kahn abhauen. Was meinst du?«

Sie lachte. Er sagte manchmal seltsame Dinge. Er liebte es, ernsthafte Dialoge über völlig abwegige Dinge zu führen, und Inga hatte dieses Spiel schon oft mitgespielt und sich dabei amüsiert.

»Das sollten wir unbedingt tun«, meinte sie träge, »wir könnten endlich die Welt umsegeln. Es würde mir mehr Spaß machen, als zur Uni zurückzukehren.«

Marius rubbelte sich mit dem Handtuch die Haare. »Auf diesem Boot kann man nicht die Welt umsegeln. Aber wenn wir es verkaufen, bringt es uns eine schöne Stange Geld, und wir könnten irgendwo eine neue Existenz beginnen.«

»Aber dann im Süden. Ich möchte, dass es immer so warm ist wie heute. Ich habe keine Lust mehr auf einen kalten, regnerischen Winter im Norden. Könnten wir unsere neue Existenz nicht in Kalifornien oder so aufbauen?«

Marius war fertig mit dem Segel. Er zog Shorts und T-Shirt an und schlüpfte in seine Schwimmweste.

»Du solltest dich auch anziehen und die Schwimmweste anlegen«, meinte er, »der Wind nimmt ganz schön zu.«

Inga sprang auf und griff nach ihren Sachen. Im Wind war jetzt eine kühle Strömung, die sie frösteln ließ. »Wir sollten schleunigst zum Hafen zurück. Ich möchte ungern wie eine Nussschale hier auf den Wellen herumtanzen.«

»Quatsch«, sagte Marius schroff, »doch nicht in den Hafen zurück. Wer weiß, ob uns die Alte noch mal auf das Boot lässt. Das hier ist unsere Chance, und die verspielen wir nicht.«

Sie zog langsam ihr T – Shirt über den Bauch. Wie frisch es auf einmal ist, dachte sie. Sie schaute Marius an. Es war nicht der Moment für ein Spiel, das musste er begreifen. Der Wind nahm mit jeder Minute zu. Sie hatten schon zu lange gewartet.

»Marius, ich bin jetzt wirklich ein bisschen nervös. Ich bin nicht so ein Seefahrer wie du. Ich will festen Boden unter den Füßen haben, wenn der Mistral richtig loslegt, kannst du das verstehen?«

»Ich bin schon unter ganz anderen Bedingungen gesegelt«, sagte Marius, »ich lasse mich bestimmt nicht von einem lächerlichen Mistral bezwingen.«

»Wir haben versprochen, dass wir um vier Uhr zurück sind. Maximilian will uns abholen. Ich möchte nicht, dass er wartet.«

»Der holde Maximilian kann warten, bis er schwarz wird. Der stinkt mir sowieso schon die ganze Zeit. Oder glaubst du, ich habe nicht bemerkt, dass er ein Auge auf dich geworfen hat? Der ist scharf auf dich, das sieht doch ein Blinder!«

Sie lachte wieder, aber diesmal klang es sogar für sie selbst unecht. »Marius, jetzt spinnst du. Der ist an Rebecca interessiert, und zu uns ist er einfach nur nett. Steigere dich da jetzt nicht in etwas hinein!«

»Klar, dass du das sagst. Dir gefällt es natürlich, wie er dich anglibbert. Hast du dir mal überlegt, dass das für mich vielleicht nicht ganz so witzig ist wie für dich?«

In seiner Stimme war ein Ton, den sie nicht kannte. Unsicher blickte sie ihn an. »Ist das jetzt ein Spiel oder nicht?«, fragte sie. »Wenn es ein Spiel ist, möchte ich es beenden. Ich habe Angst vor dem Meer. Ich will in den Hafen zurück.«

»Und ich habe gesagt, wir verpissen uns und machen den Kahn zu Geld!«

»Spinnst du? Das meinst du doch nicht im Ernst?«

Es war nicht nur ein unbekannter Ton in seiner Stimme. Es war auch ein fremder Ausdruck in seinen Augen.

»Wenn ich etwas sage, meine ich es immer ernst. Das solltest du irgendwann einmal begreifen.«

»Aber das ist … das ist doch verrückt! Wir können doch nicht etwas tun, das … das einfach kriminell ist! Warum auch? Ich meine, so schlecht geht es uns doch wirklich nicht. Du willst ein Schiff stehlen und für den Rest deines Lebens auf der Flucht vor der Polizei leben?« Das ist Irrsinn, dachte sie, das ist eine völlig abwegige, durchgeknallte Situation. Er spielt, aber warum hört er nicht endlich damit auf?

»Wird die Schlampe ganz schön schmerzen«, sagte Marius, »wenn der Kahn auf Nimmerwiedersehen verschwindet! «

»Die Schlampe? Du meinst Rebecca?«

»Wen sonst? Ihr gehört das Ding hier ja wohl.«

Inga war jetzt fertig angezogen und legte ihre Schwimmweste um. Immer noch vermochte sie nicht recht zu begreifen, was geschah, und sie hoffte, Marius werde ihr jeden Moment sein lachendes Gesicht zuwenden, und alles wäre in Ordnung. Aber irgendetwas sagte ihr, dass er das nicht tun würde. Dieser fremde Ausdruck in seinen Augen – sie hatte ihn noch nie so erlebt, und sie fürchtete sich vor ihm.

Marius machte sich im Fußraum des Cockpits an der Zündung des Motors zu schaffen. Das vertraute Tuckern wollte nicht ertönen. Obwohl er lange im erfrischenden Wasser gewesen war und keine Schwerstarbeit leistete, lief ihm in Sekundenschnelle der Schweiß in Strömen über Gesicht und Arme. Er war aufgeregt und aggressiv. Er war ein anderer.

»Du willst unter Motor fahren?«, fragte Inga. »Zusätzlich zum Segel?«

»Du sagst doch die ganze Zeit, dass wir es eilig haben wegen des Mistrals. Mit Motor sind wir schneller.«

»Das stimmt.« Vielleicht will er doch zurück, dachte sie hoffnungsvoll.

Der Motor sprang endlich an. Marius richtete sich keuchend auf, strich ungeduldig eine nasse Haarsträhne aus seinen Augen. »Endlich«, sagte er, »verdammtes Ding!«

Er glitt hinter das Ruder. »Setz dich«, sagte er, »wir starten. «

Er hatte ihr gegenüber noch nie einen so ruppigen Ton angeschlagen.

Eingeschüchtert kauerte sich Inga auf die Bank, auf der sie bis vor einer Viertelstunde noch friedlich gedöst und den Tag als traumhaft und paradiesisch empfunden hatte. Gleich würde sich entscheiden, ob Marius Kurs auf Le Brusc nehmen oder die große Bucht am Cap Sicié vorbei verlassen würde. Was sie in diesem Fall tun sollte, wusste Inga nicht. Wie ging man um mit einem Wirklichkeit gewordenen Albtraum?

Marius sah sehr konzentriert aus, dabei verschlossen und nicht so, als könne man ihn erreichen.

Ich bin nicht sicher, ob wir nach alldem noch werden zusammenbleiben können, dachte Inga und erschrak, weil eine so plötzliche und unwirkliche Situation so dramatische und weit reichende Gedanken in ihr freisetzte.

Wie sie gefürchtet hatte, schlug Marius die südöstliche Richtung ein. Linker Hand erhoben sich bedrohlich die schwarzen Felsen des Cap Sicié in den Himmel. Von der Höhe einiger Wellenkämme aus konnte man in der Ferne schon die Insel Porquerolles erkennen. Die See war jetzt sehr hoch, die Wellen steil und schwarz, und der Wind fegte dicke, weiße Fetzen Gischt vor sich her. Das Großsegel schlug wieder und wieder völlig unkontrolliert von einer Schiffsseite zur anderen.

»Zieh deinen Kopf ein!«, rief Marius. »Du kriegst sonst noch den Baum ab.«

Sie duckte sich. »Marius, das ist verrückt, was du da vorhast! Das Cap ist gefährlich, und der Mistral wird immer stärker! Ich habe Angst. Bitte lass uns in den Hafen zurückfahren! «

»Keinen Bock. Ich hab einfach keine Lust, die Alte noch mal zu sehen. Du wirst es erleben, wir kriegen ganz schön Kohle für das Schiff, und dann lassen wir es uns auch mal richtig gut gehen!«

»Und wenn wir kentern? Oder gegen die Felsen geschmettert werden?«

»Du vergisst, dass du es mit einem Profi zu tun hast!« Er lachte. Es klang unheimlich.

Krank, dachte Inga, sein Lachen wirkt total krank.

»Bitte, Marius«, sie weinte jetzt fast. Sie wusste nicht, wovor sie mehr Angst hatte: vor den hohen Wellen und dem Sturm oder vor Marius, der ihr auf einmal wie ein unheimlicher Fremder erschien. »Bitte, Marius, sag mir doch, was los ist! Du bist völlig verändert. Warum willst du Rebecca das Schiff wegnehmen? Was hat sie dir denn getan?«

»Das verstehst du nicht. Zieh deinen Kopf ein, verdammt! «

Sie duckte sich im letzten Moment. Der Baum des Großsegels schrammte haarscharf an ihrem Kopf vorüber. Das Schiff tanzte wie wild. Inga konnte sehen, dass Marius es kaum noch zu steuern vermochte.

»Das wird ja immer schlimmer!«, schrie sie.

»Strömungen!«, schrie er zurück. »Hier vor dem Cap verlaufen verschiedene Strömungen, zum Teil quer zu den Wellen, die der Wind erzeugt. Deshalb werden wir so hin und her geworfen!«

»Bitte kehr doch um! Bitte!«

Er antwortete nicht. Inga erhob sich und taumelte zu ihm hinüber. Das Schiff schwankte so, dass sie ständig das Gleichgewicht verlor und schließlich tatsächlich umfiel; fast wäre sie auf Marius’ Schoß gelandet. Sie rutschte seitlich an der Ruderbank ab. Etwas schrammte schmerzhaft an ihrem nackten Oberschenkel, ein Splitter vom Holz vielleicht, aber sie war zu aufgeregt, um zu bemerken, dass ihr Blut am Bein hinablief.

»Marius, ich mache das nicht mit!« Inzwischen war der Wind so laut geworden, dass sie selbst in nächster Nähe zu Marius laut rufen musste, um verstanden zu werden. »Ich weiß nicht, was los ist, aber es geht hier nicht nur um dich. Ich will zurück in den Hafen, und was du dann tust, ist deine Sache!«

Sie packte das Ruder, versuchte, die Richtung zu ändern. Sie merkte schnell, dass sie nicht die geringste Chance hatte. Marius war viel stärker als sie, befand sich außerdem in der besseren Position, nämlich auf der Ruderbank sitzend und nicht halb unter ihr liegend. Dazu kam die Strömung, die ihm schon genug zu schaffen machte. Inga hatte den Eindruck, nicht das Mindeste gegen sie ausrichten zu können. Sie und Marius lieferten sich eine Art kurzen, erbitterten Ringkampf, dann erlahmten ihre Kräfte, und mit einem Schluchzen ließ sie das Ruder los.

»Du mischst dich besser nicht ein!«, rief Marius. »Sonst schaffst du es wirklich noch, dass wir kentern!«

»Was hast du gegen Rebecca?«

»Ich hasse sie.«

»Aber warum? Kennst du sie? Gab es irgendetwas …?« Vielleicht, wenn er redet, dachte sie verzweifelt, vielleicht kann ich etwas bewirken, wenn ich nur endlich weiß, was los ist!

»Nein. Ich hasse sie trotzdem.«

»Aber für Hass muss es doch einen Grund geben!«

»Ich bin jemand«, sagte er überraschenderweise. Er hatte in normaler Tonlage gesprochen, und der Wind nahm ihm die Worte von den Lippen und zerfetzte sie, aber mit großer Anstrengung hatte Inga noch verstehen können, was er meinte. Zumindest akustisch. Über den Sinn seiner Worte tappte sie vollständig im Dunkeln.

»Du bist jemand? Natürlich bist du jemand!«

»Ach ja?« Er starrte sie feindselig an. Was war das nur in seinen Augen?, rätselte sie. Dieser fremde Ausdruck … er hatte fast etwas Gestörtes. Etwas Krankes? Verrücktes?

Wer ist dieser Mann? Wer ist der Mann, den ich geheiratet habe?

»Schön, dass du das so siehst. Leider erkennt das nicht jeder. Eigentlich niemand. Und du redest auch nur so, um mich zu beschwichtigen.«

»Marius, hat Rebecca dir irgendwann einmal wehgetan? Ist es doch so, dass sie schon irgendwann einmal etwas mit dir zu tun gehabt hat?«

»Quatsch. Woher sollte ich sie kennen? Ich meine …« Er unterbrach sich, focht mit dem Ruder, das ihm die stürmische See aus der Hand schlagen wollte. Er keuchte, als er das Schiff endlich wieder auf Kurs hatte. »Ich muss sie nicht kennen, um sie zu kennen, verstehst du?«

»Nein.«

»Ich weiß, wer sie ist und was sie ist, und das reicht. Aber ich weiß auch, wer ich bin. Ich bin nicht der Letzte. Irgendwann bin ich auch einmal der Erste!«

Inga begriff, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu reden. Etwas war mit ihm geschehen, sie wusste nicht, was, aber es war wohl auch nicht der Moment, es herauszufinden. Sie torkelten bei hohem Wellengang über das Meer, getrieben vom immer heftiger werdenden Sturm und von den berüchtigten Strömungen des Caps, und Marius machte nicht die geringsten Anstalten, umzukehren. Wohin immer er wollte, er würde die Libelle nicht in den Hafen von Le Brusc zurückbringen.

Sie kroch von ihm weg. Der Großbaum schlug jetzt immer wieder hin und her. Sie wusste, wie gefährlich das war. Ein Schlag gegen den Kopf konnte einen Menschen töten.

»Wohin willst du?«, brüllte Marius.

Sie antwortete nicht. Die Libelle segelte ein gefährliches Tempo, und Inga war eingefallen, welche einzige Möglichkeit es vielleicht gab, sie wenigstens zu verlangsamen: Sie musste den Generalschalter unten in der Kajüte ausstellen. Ohne die Hilfe des Motors konnte Marius sein Vorhaben am Ende gar nicht durchführen. Eine andere Chance vermochte sie für sich nicht zu erkennen, und sie hoffte nur, dass Marius ihr Vorhaben nicht durchschaute, sondern glauben würde, sie suche in der Kajüte lediglich Schutz vor dem Wind. Der Schalter befand sich unten gleich neben der Treppe. Wenn sie ihn erreichte, würde Marius kaum noch die Möglichkeit haben, sie am Abschalten zu hindern.

»Wohin willst du?«, rief er erneut, und wieder antwortete sie nicht.

Sie hatte den Niedergang fast erreicht, da fühlte sie, wie sie von hinten am Arm gepackt und herumgerissen wurde. Dies geschah mit solcher Gewalt, dass ein reißender Schmerz durch ihre Schulter fuhr; die Tränen schossen ihr in die Augen, und sie schnappte für einen Moment entsetzt und geschockt nach Luft. Marius stand drohend über ihr, das Gesicht verzerrt, in den Augen einen fast irren Ausdruck von Hass und Wut.

»Du dumme Schlampe«, sagte er leise. Inga ahnte die Worte mehr, als dass sie sie tatsächlich hörte. »Du wolltest den Motor abstellen, stimmt’s?«

Das Schiff, das nun völlig führerlos war, sprang als willenloser Spielball der Wellen auf und ab. Wasser schlug über die Reling. Marius war nass von oben bis unten, und es grenzte an ein Wunder, dass er sich bei diesem Seegang überhaupt noch auf den Beinen halten konnte. Zweimal wich er im letzten Moment dem schlagenden Baum aus; er musste sein Herannahen gefühlt haben, denn sein Blick war starr nur auf Inga gerichtet, die auf der obersten Stufe zur Kajüte kauerte und wie gelähmt war vor Schmerz.

Er hat mir das Schultergelenk ausgekugelt, dachte sie entsetzt.

»Ich will zurück«, brachte sie mühsam hervor, »bitte, Marius, lass uns umkehren.«

»Ich gehe zu diesen Menschen nicht zurück!«, schrie er. »Nie, hörst du? Niemals

Es gelang Inga, ihr Gewicht so zu verlagern, dass sie sich langsam eine Stufe weiter nach unten schieben konnte. An eine rasche Bewegung war nicht zu denken, dafür waren ihre Schmerzen zu stark, aber vielleicht konnte sie fast unmerklich …

Obwohl Marius wirkte, als sei er nicht ganz bei sich, funktionierten seine Instinkte, und er spürte, was sie vorhatte. Seine Hand schoss vor und prallte mit grausamer Härte gegen Ingas misshandelte Schulter.

»Damit du schneller unten bist!« Sie hörte ihn diese Worte noch schreien, ehe der Schmerz ihr fast die Besinnung raubte, dann verlor sie das Gleichgewicht und stürzte in die Kabine hinunter. Ihr Kopf schlug hart gegen irgendeinen Gegenstand, und in der nächsten Sekunde wurde das Tosen des Sturms ganz leise, und Marius’ dunkle Umrisse vor dem hellen Rechteck des Kajütenausgangs flossen auseinander. Inga dachte noch kurz, dass sie unbedingt die Kontrolle bewahren musste, dass sie ausgerechnet jetzt nicht einschlafen durfte, doch da wurde es bereits Nacht um sie, und sie konnte nichts mehr denken oder fühlen.

5

Sie versuchte, nicht über die Worte nachzudenken, die Maximilian ihr so wütend und erbost – und dabei irgendwie auch traurig? – an den Kopf geworfen hatte; sie versuchte, an Maximilian möglichst überhaupt nicht zu denken, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Sie war fassungslos darüber, dass es ihm so leicht und so schnell gelungen war, ihren Kokon zu durchbrechen und an all das zu rühren, was sie sich so mühsam vom Leib hielt, was sie mit solch vehementer Willenskraft an den äußersten Rand ihres Bewusstseins getrieben hatte. Gedanken an früher, an das Zuhause in München, an ihre Arbeit, an ihr Engagement, an ihre Mitarbeiter, an ihre Freunde. An das Leben mit Felix und Maximilian.

Maximilian war nach seiner Scheidung ein wesentlicher Teil dieses Lebens geworden. Felix hatte manchmal scherzhaft gesagt: »Wir haben Maximilian adoptiert.« Er war wie ein weiteres Familienmitglied gewesen, jemand, der in ihrem Haus immer willkommen war, der sich nicht anmelden musste, ehe er hereinschneite, der mit ihnen oft zu Abend aß, fernsah, plauderte, manchmal einen Wein zu viel trank und dann im Gästezimmer übernachtete, morgens in die Küche geschlurft kam und Rebecca zusah, die im Nachthemd und barfuß Kaffee kochte und noch zerwühlte Haare und ein blasses, ungeschminktes Gesicht hatte. Sie waren alle drei so vertraut miteinander gewesen, dass sich Grenzen und Distanzen immer mehr auflösten und sie sich einander ohne Masken präsentierten. Rebecca hatte nie das Gefühl gehabt, Maximilian dürfe sie nur vollständig bekleidet und geschminkt sehen, so wie sie sich auch nicht das Geringste dabei dachte, wenn er ihr nur mit einer Unterhose bekleidet auf dem Weg ins Badezimmer begegnete oder noch im Bett lag, wenn sie hereinkam, um sich zu verabschieden. War Felix beruflich verreist, wohnte Maximilian oft auch allein mit Rebecca zusammen. Niemand hatte etwas daran gefunden, aber ungefähr ein halbes Jahr vor seinem Tod hatte Felix einmal gesagt: »Ich glaube, er ist verliebt in dich.«

Es war ein kalter Aprilabend gewesen, ausnahmsweise saßen Rebecca und Felix allein in ihrem Wohnzimmer. Draußen herrschte letztes, dämmriges Tageslicht, der Garten war ein weißes Meer aus blühenden Kirschbäumen, und dazwischen tanzten, ganz der launischen Jahreszeit entsprechend, plötzlich Schneeflocken vom Himmel. Felix hatte noch einmal Feuer im Kamin gemacht. Sie erinnerte sich, dass er gesagt hatte: »Das tu ich sicher zum letzten Mal bis zum Winter! «

Er hatte es zum letzten Mal in seinem Leben getan.

»Wer ist verliebt in mich?«, hatte Rebecca gefragt, und Felix sagte: »Maximilian. Ich erkenne es an der Art, wie er dich anschaut.«

Sie war völlig perplex gewesen, und als sie sich von ihrer ersten Verblüffung erholt hatte, war sie in die nächste Verwunderung darüber gefallen, dass Felix diese Feststellung so ruhig und ohne sichtbare Gefühlsregung getroffen hatte.

»Ich glaube, du irrst dich«, sagte sie.

Er lächelte. »Ich kenne ihn schon ganz schön lange. Seit unserem ersten Schuljahr. Es gibt nicht viel, was er vor mir verbergen könnte. Und seit seiner Scheidung sind seine Gefühle stärker geworden.«

Um ihre Verwirrung zu verbergen, hatte sie hastig von ihrem Wein getrunken. »Es scheint dich nicht besonders zu stören«, hatte sie dann gesagt.

Er hatte überlegt. »Nein. Seltsamerweise wirklich nicht. Vielleicht, weil wir so gute Freunde sind. Ich weiß absolut sicher, dass er es sich niemals erlauben wird, seinen Gefühlen nachzugeben. Das ist für ihn ausgeschlossen. Er wird dich einfach verehren und anbeten, aber als Frau bleibst du für ihn tabu.«

»Aber wir hatten doch gehofft, dass er eine neue Liebe findet. Das ist schwierig, wenn er blockiert ist.«

Felix hatte mit den Schultern gezuckt. »Wir können es nicht ändern. Aber irgendwo ist Maximilian auch ein sehr realistischer, bodenständiger Mensch. Er wird wissen, wann es Zeit ist, sich von einem unerfüllbaren Traum zu verabschieden und dem wirklichen Leben wieder eine Chance einzuräumen. «

Wenn sie es sich richtig überlegte, war sie spätestens von jenem Abend an Maximilian gegenüber ein wenig befangen gewesen. Mit geschärftem Blick hatte sie nun selber erkannt, dass er förmlich an ihren Lippen klebte, wenn sie sprach, dass er jede ihrer Bewegungen sehr genau verfolgte, dass er häufig ihre Nähe suchte. Darüber hinaus verriet er sich jedoch mit keinem Wort, mit keiner Geste. Sein Verhalten flößte ihr Achtung ein, verunsicherte sie aber auch. Die letzten sechs Monate bis zu Felix’ Tod waren nicht mehr ganz so gewesen wie all die Zeit vorher.

Es hatte sie tief entrüstet, dass er nun hier aufgetaucht war, und sie glaubte ihm beim besten Willen nicht, dass dies nur aus uneigennütziger Fürsorge ihr gegenüber geschehen war. Wie konnte er Felix ein Dreivierteljahr nach dessen Tod so verraten? Maximilian hatte an Felix’ Grab geweint, und doch hatte er sich nicht allzu lange danach offenbar überlegt, dass man aus jeder Situation das Beste machen sollte. Und genau das wollte sie ihm nicht gestatten. Niemand, niemand, niemand sollte in auch nur der geringsten Weise vom Tod ihres Mannes profitieren.

Wenn sie jedoch ehrlich zu sich war, dann wusste sie, dass sie in jedem Fall abweisend und aggressiv auf Maximilian reagiert hätte. Jeder Mensch aus ihrem früheren Leben, der hier unvermutet aufgetaucht wäre, hätte Risse und Löcher in ihren Selbstschutz getrieben, und niemandem hätte sie das verziehen. Drei Tage zuvor war sie bereit gewesen, Felix in den Tod zu folgen. Nun stand sie da, und etwas hatte sich verändert. Sie wusste nicht genau, was es war, aber es musste von großer Kraft sein, denn sie konnte nicht nach oben gehen, die Tabletten aus dem Schrank nehmen, sie schlucken und sich dem Ende hingeben. Es ging nicht, sosehr ihr Kopf das wollte.

Das Leben, dachte sie plötzlich fast ernüchtert, das Leben ist wieder zu mir vorgedrungen. Es hat sich zwischen mich und den Tod geschoben. Es wird mich verdammt viel Kraft kosten, es wieder loszuwerden.

Es hatte ihr in der letzten Zeit gut getan – zumindest meinte sie dies so zu empfinden –, sich völlig von der Welt und all ihren Bewohnern zurückzuziehen und sich einzig auf den Schritt vorzubereiten, den sie als richtig und zwingend für sich sah, und sie war entschlossen, diesen Zustand wieder herbeizuführen. Aber sie begriff an diesem Nachmittag, dass dies nicht einfach sein und einige Zeit dauern würde. Es gab Menschen, die behaupteten, eine einmal veränderte Situation sei nie wieder genau so herzustellen, wie sie gewesen war, aber Rebecca hatte nicht vor, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen. Sie hatte es einmal geschafft, sie würde es wieder schaffen. Nur nicht sofort. Leider nicht sofort.

Um halb fünf gestand sie sich ein, dass die beiden Fremden aus Deutschland ihr im Kopf herumgingen, Inga und Marius, die vermutlich bereits von ihrem Ausflug mit der Libelle zurückgekehrt waren und nun im Hafen von Le Brusc darauf warteten, abgeholt zu werden.

Was, zum Teufel, gehen sie mich an?, dachte sie aggressiv. Maximilian hat sie angeschleppt, und er hat sie nun sitzen lassen, und das alles ist nicht mein Problem. Sollen sie alleine sehen, wie sie hierher kommen!

Sie fand diese Inga sympathisch. Eigentlich hatte sie derartige Gefühle – Zuneigung, Sympathie – in ihrem Leben nicht mehr zulassen wollen, aber manchmal argwöhnte sie, dass sich Dinge, die man ausschließen wollte, mit besonderer Beharrlichkeit einzuschleichen pflegten. Inga hatte ihr gefallen, das war leider so. Eine intelligente, sehr offene, anderen Menschen zugewandte junge Frau. Dieser Marius mochte ein Luftikus sein – obwohl sie auch eine abgründige Seite in ihm witterte, ohne die Lust zu verspüren, sie auszuloten –, Inga jedenfalls war ganz sicher eine ernsthafte und nachdenkliche Person. Rebecca hatte solche Menschen immer gemocht. Ernsthaftigkeit und die Fähigkeit zu anhaltendem Engagement waren die Grundvoraussetzungen, nach denen sie früher Mitarbeiter in ihrem Verein eingestellt hatte.

Sie stand im Wohnzimmer und schaute über den Garten zum Meer hinüber und schlug sich schmerzhaft die Fingernägel in die Innenseite ihrer Hand. Wenn sie nicht aufpasste, würde sich Maximilians unerwünschter Besuch noch wie eine Art Dammbruch auswirken. Auch den Verein, die Tätigkeit, die Mitarbeiter, die Klienten, sie alle hatte sie rigoros und erfolgreich seit Monaten aus ihren Gedanken verbannt. Jetzt spukten auch sie wieder herum.

»Geht doch alle zum Teufel!«, rief sie laut.

Ihre Stimme hallte in der Stille des Hauses. Das einzige Geräusch, das hinterher blieb, war das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Zwanzig vor fünf inzwischen.

Sie ging in die Diele hinüber, nahm zögernd den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett. Machte sie alles schlimmer, wenn sie jetzt zum Hafen hinunterfuhr und die jungen Leute auflas? Oder war es letztlich nur vernünftig, etwas zu tun, wozu es sie drängte, und was sie offenbar für diesen Tag ohnehin nicht aus ihrem Bewusstsein verbannen konnte?

Ich fahre jetzt und hole sie ab, dachte sie, und dann mache ich ihnen klar, dass ich keinen weiteren Kontakt wünsche. Sie sind eine Episode, wie Maximilian eine ist. Das alles wird vorübergehen.

Sie hatte das Brausen des Windes zwar gehört, aber nicht wirklich realisiert, und so traf sie die Wucht des Sturms unvorbereitet, als sie vor die Haustür trat. Der Himmel war tiefblau, ein paar zerfetzte Wolken jagten über ihn dahin, die Bäume bogen sich, laut scheppernd flog eine Gießkanne über den Gartenweg. Rebecca musste sich mit gesenktem Kopf durch den Wind zur Garage hinüberkämpfen. Der Mistral war noch einmal mit ganzer Kraft und stärker als in der vergangenen Nacht zurückgekehrt.

Die haben Glück, wenn ihr Zelt nachher noch steht, dachte sie und schauderte bei dem Gedanken, dass sie die beiden bei sich aufnehmen müsste, wenn sie kein Dach über dem Kopf mehr hätten.

Auf dem Weg hinunter zum Dorf musste sie immer wieder bremsen und Ästen ausweichen, die über die Straße geflogen kamen. Der Mistral konnte Gartenmöbel in alle Himmelsrichtungen davonblasen, und man konnte sich in seine Böen hineinfallen lassen und wurde von ihnen getragen. Felix hatte den Mistral geliebt, er war von ihm fasziniert gewesen.

Ich denke jetzt nicht an Felix!

Die meisten Touristen hatten den Strand und die Uferpromenade verlassen und sich in ihre Quartiere zurückgezogen, und so war es kein Problem für Rebecca, sofort einen Parkplatz zu finden. Es gelang ihr kaum, die Autotür von innen aufzudrücken. Als sie ausstieg, wäre sie fast mit einem Papierkorb aus Metall kollidiert, den der Wind aus seiner Verankerung gerissen hatte und nun wie eine Feder vor sich her trieb.

Es war um etliche Grade kühler geworden, was aber nach den tagelangen Temperaturen an die vierzig Grad durchaus angenehm war. Rebecca schätzte, dass das Thermometer knapp unter die Dreißiger-Marke gefallen war. Zum ersten Mal seit langem würde man nachts wieder besser schlafen können. Es sei denn, es gab andere Gründe, die den Schlaf verhinderten. Sie hielt es für möglich, dass dies in ihrem Fall passieren konnte.

Schon am Anfang des Bootsstegs konnte sie sehen, dass Libelles Platz leer war. Die übrigen Schiffe schaukelten wild hin und her, da und dort waren Bootseigentümer damit beschäftigt, noch einmal neu zu vertäuen oder die Haltbarkeit der Festmacher zu überprüfen. Rebecca sah auf ihre Uhr. Es war nach fünf. Entweder hatten Marius und Inga die Vereinbarung vergessen, oder sie hatten getrödelt und kämpften nun mit den Schwierigkeiten, gegen den Sturm und bei extremem Wellengang in den Hafen zurückzufinden. Vielleicht war Marius gar nicht der Segelprofi, als der er sich gegenüber Maximilian ausgegeben hatte.

Ich hätte mich nicht auf diese Geschichte einlassen sollen, dachte sie verärgert, es ist wirklich so, dass Maximilian in jeder Hinsicht nur Probleme verursacht hat.

»Madame! Madame, gut, dass Sie da sind!« Von ihr unbemerkt, war Albert aufgetaucht. Sein braun gebranntes, wettergegerbtes Gesicht sah höchst sorgenvoll aus. »Sie sind immer noch nicht zurück. Die jungen Leute, meine ich. Ich habe ihnen mehrmals vier Uhr als äußerste Grenze genannt, aber …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe meine Zweifel, dass sie es bei dem Seegang in den Hafen schaffen!«

»Der junge Mann soll ein erfahrener Segler sein.«

»Möglich. Aber sie sind nicht da.«

Rebecca kämpfte mit ihren wild fliegenden Haaren, die ihr immer wieder ins Gesicht schlugen. »Sie sind jung. Junge Leute halten sich oft nicht an die Ratschläge der Älteren!«

»Das Schiff gehört ihnen nicht! Es wäre ein unmögliches Benehmen, diese Vereinbarung absichtlich nicht einzuhalten. «

Sie seufzte. Sie wollte hier nicht stehen. Nicht mit Albert sprechen. Nicht verantwortlich sein. Sie sehnte sich nach der Ruhe und Einsamkeit ihres Hauses.

»Ich hoffe nur, dass nichts passiert ist«, sagte sie.

Albert starrte über das Meer. Weit und breit war kein Schiff zu sehen. Niemand ging nach draußen bei dem Wetter.

»Wie lange kennen Sie die beiden?«, fragte er.

Sie zögerte. Gleich würde er denken, dass sie unglaublich naiv und leichtfertig war. Andererseits konnte es ihr egal sein, was er dachte. »Ich kenne sie überhaupt nicht. Maximilian hat sie angeschleppt. Es sind Tramper. Er hat sie aufgelesen und mitgenommen.«

Albert sah sie ungläubig an. »Und solchen Leuten leihen Sie Ihr Schiff?«

»Maximilian hat dafür plädiert. Und wie Halunken sehen die beiden wirklich nicht aus. Außerdem scheint dieser Marius wirklich ein sehr guter Segler zu sein.«

»Ahnung von Schiffen hat er«, gab Albert widerwillig zu. »Aber trotzdem könnte es schließlich sein, dass…« Er sprach nicht weiter.

»Was?«, fragte Rebecca.

»Die Libelle ist einiges wert. Was, wenn die beiden nie vorhatten, zurückzukommen?«

Rebecca hob fröstelnd die Schultern. Was sollte sie darauf sagen? Ein Verbrecherpärchen, das mit Felix’ geliebtem Segelboot abhaute.

Auch das noch, dachte sie müde, das hat Maximilian wirklich gut hinbekommen.

Albert schien zu bemerken, dass sie deprimiert und erschöpft war, denn er meinte einlenkend: »Aber man sollte vielleicht nicht gleich den Teufel an die Wand malen, nicht wahr? Die beiden sind jung, und sie wirkten recht verliebt. Sie haben irgendwo geankert und die Welt ringsum vergessen. Wie ist es, mögen Sie bei mir im Büro einen Tee trinken? Dann können Sie hier warten und müssen nicht sofort den ganzen Weg zurückfahren.«

Das klang vernünftig, aber natürlich konnte Albert nicht ahnen, was er ihr zumutete. Stundenlang mit einem Menschen zusammensitzen und Tee trinken … Das gehörte zu den Dingen, die sie abgeschafft hatte, aus gutem Grund, und sie hatte keineswegs vorgehabt, sich auf derlei Geschichten je wieder einzulassen. Es war wirklich erstaunlich, welch einen Rattenschwanz an Veränderungen Maximilians Auftauchen nach sich zog. Er war wieder abgereist, und sie schien aus den Verkettungen, die sein Besuch bewirkt hatte, nicht mehr herauszukommen.

»Na schön«, sagte sie, »es wird mir kaum etwas anderes übrig bleiben.« Sie sah Albert an, dass er gekränkt war, und setzte hinzu: »Ich meine natürlich, das ist ein nettes Angebot, Albert. Ich bin nur … etwas nervös.«

Das verstand er natürlich. Ein Schiff wie die Libelle, und dann verschwand es mit einem dubiosen Pärchen … Er selbst wäre in Rebeccas Lage einem Infarkt nahe. Aber er hätte eben sein Schiff auch nicht hergegeben. Ein Schiff verlieh man nicht, so wenig wie die eigene Ehefrau.

Aber dieses Verständnis fand man nur bei Männern.

6

Sie wachte auf und hatte im ersten Moment nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befand. Der Gedanke, der ihr sofort durch den Kopf schoss, war: Ich liege im Bett, und es ist Montagfrüh. Sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund, und sie fand immer, dass es die Montagmorgen waren, die diesen Geschmack hervorriefen. Jedenfalls bei ihr. Nicht, weil am Montag die Arbeit wieder losging. Sondern weil die Woche lang und groß und dadurch in ihrer Vorstellung bedrohlich vor ihr lag.

Jedoch begriff sie ganz schnell, dass sie sich nicht in ihrem Bett befand. Ihr Bett schaukelte nicht wie wild, und es war auch nicht so hart. Sie setzte sich mühsam auf. Ihre rechte Schulter tat so weh, dass sie vor Schmerzen stöhnte, und unwillkürlich traten ihr die Tränen in die Augen. Auch mit ihrem Kopf war etwas nicht in Ordnung, auch in ihm hämmerten Schmerzen, und über ihrem rechten Ohr fühlte sie etwas Klebriges. Vorsichtig tastete sie mit der Hand in ihren Haaren und betrachtete dann ungläubig ihre blutverschmierten Finger. Die Erinnerung an ihren Sturz in die Kajüte tauchte unvermittelt in ihrem umnebelten Gehirn auf. Sie war schwer aufgeschlagen und hatte sich dabei offenbar erheblich am Kopf verletzt. Danach war alles in Dunkelheit untergegangen.

Ich war bewusstlos. Wer weiß, wie lange?

Während sie über diese Frage nachgrübelte, kam ihr die Idee, auf ihre Armbanduhr zu schauen. Es war fast halb sechs. Das bedeutete, dass sie mehr als zwei Stunden hier gelegen hatte. Das bedeutete … Entsetzt rappelte sie sich, ungeachtet der dröhnenden Schmerzen in ihrem Kopf und in ihrem Arm, auf die Füße. Auf einmal wusste sie wieder, was geschehen war, erinnerte sich an Marius’ seltsames Verhalten, an die bestürzende Veränderung, die plötzlich mit ihm vorgegangen war, an sein Vorhaben, mit dem Schiff durchzubrennen und es in irgendeinem Mittelmeerhafen zu verkaufen. Das Ganze war so absurd, so verrückt, dass es ihr wie ein böser Traum erschien, und doch arbeitete ihr Verstand nun wieder klar genug, dass sie genau wusste: Es war kein Albtraum, der ihr unwirkliche Schreckensbilder vorgaukelte. Das alles war wirklich geschehen und hatte innerhalb kürzester Zeit ihr Leben verändert.

Das Schiff schaukelte so wild, dass sie sich wunderte, weshalb ihr nicht schlecht wurde. Mehrfach stieß sie schmerzhaft gegen die Wände der Kajüte, denn bei dem Seegang war es kaum möglich, das Gleichgewicht zu halten. Als es ihr endlich gelang, die Treppe nach oben zu erklimmen und den Kopf aus der Kajüte zu strecken, stellte sie fest, dass das Schiff leer war.

Niemand saß am Ruder. Das Großsegel schlug unkontrolliert hin und her. Ganz vorsichtig schob sie sich noch weiter nach oben, immer auf der Hut vor dem Segel, und ließ ihren Blick auch die Vorderseite des Schiffes absuchen. Auch hier war niemand. Und um sie herum Wellen und Sturm und in bedrohlicher Weite die Felswände am Ufer.

Marius hatte das Schiff verlassen.

Da dies angesichts des Unwetters praktisch unmöglich war, kroch sie wieder nach unten und sah sich in der Kabine um, die jedoch so klein und überschaubar war, dass es kaum jemandem gelingen konnte, sich dort zu verstecken. Eine offene Koje, in der zwei Menschen Platz hatten, davor ein Holztisch, rechts und links davon Holzbänke. Darüber in die Wand eingelassene Regale, in denen Schiffskarten, Sonnenbrillen, eine Baseballkappe und eine Flasche Sonnenöl hin und her rutschten. Und das Handy von Marius. Das Inga aber nichts nutzte, weil sie keine einzige Nummer weit und breit kannte, die sie um Hilfe hätte anwählen können. Auch nicht die des Seenotrettungsdienstes, oder was immer es in dieser Art geben mochte.

Nirgends eine Spur von Marius.

Die Libelle hatte gerade wieder den Kamm einer bedrohlich steilen und kurzen Welle überwunden und krachte mit dem Bug in das darauf folgende Tal, so dass Inga das Gleichgewicht verlor. Sie konnte sich gerade noch mit den Armen am Tisch festhalten, sonst wäre sie quer durch den kleinen Raum geschleudert worden. Sie landete hart auf den Knien.

Er war abgehauen. Sie wusste nicht, wie ihm das gelungen war, noch weniger, weshalb er das getan hatte, aber er war weg und hatte sie bei Sturm und hohem Wellengang ganz allein auf einem Segelboot zurückgelassen, sie, die nie einen Segelkurs besucht hatte, die ihre Kenntnisse und praktischen Erfahrungen nur daher hatte, dass sie auf etlichen seiner Törns dabei gewesen war. Das Mittelmeer war nicht mehr blau und heiter und sonnenglitzernd, sondern tiefschwarz und wild, feindselig und lebensbedrohlich.

Sie kauerte sich auf den Boden der Kajüte, die Knie eng an den Körper gezogen, die Arme um das Tischbein geklammert, und versuchte zu überlegen, was sie nun tun sollte. Trotz ihrer prekären Lage schaffte sie es kaum, sich auf die Gedanken um ihre Rettung zu konzentrieren; immer wieder schweifte sie ab und schlug sich mit der Frage herum, was in Marius gefahren war, woher seine Veränderung rührte, weshalb sie nicht früher bemerkt hatte, dass es befremdliche, hoch aggressive und möglicherweise gefährliche Seiten in ihm gab. Oder hatte sie es bemerkt? Hatte es Anzeichen gegeben, die sie nicht hatte sehen wollen, die sie erfolgreich von sich weggeschoben und schließlich völlig verdrängt hatte? Wenn sie ehrlich mit sich war, wusste sie, dass es Situationen gegeben hatte, in denen er ihr undurchsichtig erschienen war. Natürlich auch Momente der Wut und Aggression. Aber bei welchem Menschen gab es die nicht?

Und wie hing das alles mit Rebecca zusammen? Eine fremde Frau, deren Bekanntschaft sie rein zufällig gemacht hatten, die sich zugleich aber derart distanziert verhielt, dass man von Bekanntschaft eigentlich nicht einmal sprechen konnte. Rebecca hatte früher in München gelebt. Sie, Inga, und Marius stammten ebenfalls von dort. Es mochte einen Punkt gegeben haben, an dem sich Marius’ und Rebeccas Lebensläufe irgendwann in der Vergangenheit gekreuzt hatten.

Marius hatte Rebeccas Namen mehrfach genannt, vorhin, in dieser absurden Situation, die sie anfangs für ein Spiel gehalten hatte, ehe ihr klar wurde, dass er es ernst meinte. Und er hatte Hass verströmt; sie hätte nicht einmal diesen fremden und bedrohlichen Ausdruck in seinen Augen sehen müssen, um das zu spüren. Nicht nur Hass: eine maßlose Wut, Gekränktheit, alle möglichen verletzten Gefühle waren darunter gewesen.

Marius. Der immer fröhliche, immer unkomplizierte Marius. Für ihren Geschmack häufig zu fröhlich, zu unkompliziert. Wie oft hatte sie gemeint, dass sie ihn gern ein wenig ernsthafter und achtsamer hätte, vorausschauender, weniger bedenkenlos in den Tag hinein lebend. Aber, hatte sie dann oft gedacht, ihm ist vielleicht nie irgendetwas zugestoßen im Leben. Alles ist immer problemlos für ihn gelaufen. Woher sollte er Ängste und Sorgen und Schwierigkeiten kennen?

Offenbar hatte sie sich gründlich getäuscht. In seinem Leben gab es Untiefen, die er absichtlich verschwieg, die jedoch lange schon in ihm arbeiteten, und die nun …

Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als könne sie damit ihre Gedanken zum Schweigen bringen. Sie hatte jetzt Wichtigeres zu tun, als sich in den vergeblichen Versuch zu stürzen, Marius’ Charakter zu analysieren. Dafür blieb später Zeit. Sie musste dieses verdammte Schiff an Land bringen. Sie musste ihr Leben retten.

Den Schmerz in ihrer Schulter mit zusammengebissenen Zähnen ignorierend, kroch sie erneut zur Treppe, spähte nach oben. Sie beschloss, als Erstes das wild schlagende Segel einzuholen und dann mit reiner Motorkraft zu versuchen, den Hafen zu erreichen. Zum Glück war sie noch immer so nah an der Küste, dass sie sich orientieren konnte; sie hatte auch immer noch Sicht auf das Cap Sicié, und dies bot ihr einen Anhaltspunkt dafür, wo ungefähr der Hafen von Le Brusc liegen musste. Das Problem war, das Segel abzufieren, ohne dass ihr dabei der Baum den Kopf einschlug. Kurz kam ihr der Gedanke, ob dies vielleicht Marius’ Verschwinden erklärte. Vielleicht hatte er sie gar nicht verlassen, wozu auch, schließlich hatte er vorgehabt, das Schiff irgendwo zu verhökern und sich dann mit dem Geld abzusetzen. Vielleicht hatte ihn das Segel über Bord gefegt. Sie erinnerte sich an das letzte Bild, das ihr vor Augen gestanden hatte, ehe sie das Bewusstsein verlor: Marius oben in der Tür zum Niedergang, schwankend im Sturm, aber aufrecht. Möglicherweise hatte er nicht mehr auf die Gefahr durch den Baum geachtet.

Dann könnte er tot sein.

Er hatte seine Schwimmweste angehabt, daran erinnerte sie sich genau. Aber wenn er besinnungslos war und mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb … Abgesehen davon konnte ein solcher Schlag einen Menschen auch umgehend töten. Oder eine Gehirnblutung auslösen.

Sie erklomm die Treppe, kroch an die Reling. Eine Welle schwappte über das Boot; Inga konnte sich gerade noch an einem Tau festhalten und verhindern, auf die andere Seite geschleudert zu werden. Sie schluckte Salzwasser, rang nach Luft, verschluckte sich, hustete. Der Schmerz in ihrem Kopf hämmerte im Stakkato – wie war das mit der Gehirnblutung?, fragte sie sich, oder könnte ich dann gar nicht mehr hier herumkriechen? –, und aus ihrer Schulter schossen glühende Pfeile den Arm hinab. Sie schaute sich um, konnte aber zwischen den Wellenbergen nirgendwo einen im Wasser treibenden Körper entdecken. Was natürlich nicht viel aussagte: Marius konnte längst ganz woanders herumschwimmen, außerdem waren die Wellen so hoch, dass es ohnehin nicht leicht war, jemanden dazwischen zu entdecken.

Großsegel.

Sie musste jetzt unbedingt diesen Gedanken im Kopf behalten. Das Segel musste herunter, und dann musste sie versuchen, den Motor wieder anzuwerfen. Als sie unter Deck saß, hatte sie festgestellt, dass er verstummt war, aber sie hoffte, dass dies nicht auf einen leeren Tank hindeutete oder auf einen Defekt hinwies. Vielleicht wäre es schlauer, zuerst den Motor zu starten und das Segel erst einzuholen, wenn sie sicher sein konnte, dass der Motor ansprang. Denn im Ernstfall würde sie das Segel nie wieder setzen können, wenn sie es erst abgefiert hatte, aber abgesehen davon hatte sie ohnehin keine Ahnung, wie sie unter Segel zum Hafen zurückkehren sollte. Sie beschloss, über diese Möglichkeit vorläufig nicht weiter nachzudenken.

Schmerzgepeinigt schob sie ihren nassen Körper in Richtung Anlasser; inzwischen fror sie heftig, mutmaßte aber, dass dies nicht von den tatsächlichen Temperaturen herrührte, sondern von ihren Schmerzen und der langen Bewusstlosigkeit. Außerdem glaubte sie, etwas Fieber zu haben. War es nicht erst wenige Stunden her, dass sie gedacht hatte, dies sei einfach ein fast perfekter Tag?

Der Schlüssel steckte, aber nichts rührte sich, als sie ihn umdrehte. Sie versuchte es ein zweites und ein drittes Mal. Nichts geschah. Jetzt liefen ihr die Tränen über die Wangen.

»Komm schon«, murmelte sie, »los doch, du verdammtes Ding!«

Sie vermutete, dass sie und Marius den Motor nicht lange genug hatten laufen lassen, um die Batterie ausreichend aufzuladen, und dass sie daher nun vor demselben Problem stand, das sich auch unmittelbar vor dem Aufbruch am Morgen gezeigt hatte. Wie war das gewesen mit der Kurbel, die auf die Kurbelwelle des Motors hatte gesetzt werden müssen? Sie hatte leider nicht genau aufgepasst und hielt es für mehr als fraglich, ob es ihr gelingen würde, diese Aktion nun allein zu wiederholen.

Der Hauptschalter in der Kajüte. Das war immerhin noch eine Möglichkeit.

Sie machte sich wieder auf den Weg nach unten, im wilden Seegang schwankend wie eine Betrunkene. Es mochte an der aufkeimenden Panik liegen – ich kann nicht segeln, wenn das Ding nicht anspringt, bin ich verloren – , dass ihr das heftige Auf und Ab der Wellen plötzlich Übelkeit verursachte. Sie kam unter Deck an, wollte noch die Toilette erreichen, schaffte es aber nicht mehr und erbrach sich quer über den Fußboden. Blieb dann erschöpft minutenlang liegen, wartete, dass sich ihr Magen beruhigte. Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund, aber zum Glück fiel ihr ein, dass im Inneren der Bank die Wasserflaschen verstaut lagen, die sie und Marius als Proviant mitgenommen hatten. Sie klappte den Deckel hoch, wozu sie zwei Anläufe und ihre ganze Kraft brauchte.

Na toll. Sie war schlaff wie ein Weißbrot. Wie sie in diesem Zustand mit dem Segel fertig werden sollte, war ihr völlig schleierhaft.

Sie trank ein paar Schlucke Wasser und merkte, wie ein wenig Lebenskraft zurückkehrte. Sie schraubte den Deckel wieder zu, schob sich an den Hauptschalter heran, betätigte ihn. Robbte wieder nach oben, keuchend, spuckend, ständig Gischtfetzen schluckend. Duckte sich unter dem Baum durch, der immer wieder wie ein gewaltiges Schwert über sie hinwegfegte. Sie drehte den Zündschlüssel um und hielt dabei den Atem an. Der Motor sprang an, als sei nichts gewesen. Sie betrachtete ihn wie ein Wunder und hätte vor Erleichterung fast wieder zu weinen begonnen. Es gab einen funktionierenden Motor. Und ein Steuer.

Sie konnte es schaffen.

Und jetzt musste sie nur noch das verflixte Segel einholen.

7

Wolf erschien schon um sechs Uhr zu Hause, was äußerst ungewöhnlich und seit Jahren nicht mehr vorgekommen war. Zuletzt war er zu so früher Stunde daheim aufgekreuzt, als er einen Magen-Darm-Infekt mit Übelkeit und hohem Fieber ausbrütete und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, und so fragte Karen auch sofort: »Bist du krank?«

Er sah sie gereizt an, was bedeutete, er sah sie so an wie nahezu ständig in der letzten Zeit. »Wieso sollte ich krank sein? Ich will mich nur umziehen wegen der Veranstaltung nachher. «

»Welche Veranstaltung?«

Er ging an ihr vorbei ins Schlafzimmer, band sich dabei die Krawatte ab. »Das hatte ich dir doch erzählt. Sechzigster Geburtstag vom Vorstandsvorsitzenden. Er gibt ein Abendessen im Vier Jahreszeiten

Karen war sicher, dass Wolf ihr nichts davon erzählt hatte, sagte aber nichts. Er würde das Gegenteil behaupten und sich nur in seiner Ansicht bestärkt sehen, dass sie eine Tagträumerin war, die von der Wirklichkeit nur noch wenig mitbekam.

»Offenbar hat er die Ehepartner nicht mit eingeladen«, sagte sie leichthin. Sie war Wolf ins Schlafzimmer gefolgt. Er warf gerade sein Jackett aufs Bett und begann sein Hemd auszuziehen.

»Doch«, entgegnete er auf ihre Bemerkung. Er sah sie nicht an, sein Tonfall war so leicht wie ihrer. »Aber mir war klar, dass du nicht mitmöchtest.«

»Wieso war dir das klar? Du hast mich ja gar nicht gefragt. «

»Du willst doch nie irgendwohin mit!«

»Das stimmt nicht. Es hieß nur jahrelang immer, dass ich bei den Kindern bleiben muss. Aber inzwischen könnte man sie durchaus mal allein lassen.«

»Okay, wie du meinst.« Er stand jetzt in seiner Unterhose vor ihr. Sie fand, dass er einen schönen Körper hatte, schlank und muskulös, nur zu blass. Nach den Ferien würde er umwerfend aussehen. »Ich werde in Zukunft daran denken.«

Er nahm ein frisches Hemd aus dem Schrank, hängte es aber gleich darauf zurück. »Ich wollte ja erst duschen«, meinte er. »Hör mal, Karen, irgendwie machst du mich nervös, wie du da herumstehst. Du schaust wie ein waidwundes Reh. Heute Abend können wir leider nichts mehr an der Situation ändern. Ich kann dich jetzt nicht unangesagt mitbringen. «

Seine Tagesklamotten lagen zerknüllt auf dem Bett. Es war klar, dass Karen sie wegräumen würde. So klar, dass er dazu gar nichts mehr sagen musste.

Wenn er mich doch wenigstens einmal bitten würde, etwas für ihn zu tun, dachte sie, anstatt es stillschweigend vorauszusetzen!

»Wer ist deine Tischdame?«, fragte sie.

Er hatte ins Bad gehen wollen, blieb jedoch abrupt stehen. »Wie bitte?«

»Na ja, bei so einem festlichen Essen hat doch jeder Herr eine Tischdame. Da du ohne mich gehst, wird es ja jemand anderen geben.«

» Jemand anderen geben … also, die Art, wie du manchmal Dinge formulierst, Karen, ist schon eigenwillig. Das klingt, als ob … Ich habe keine Ahnung, wer meine Tischdame ist. Vielleicht sitze ich neben der Frau eines Kollegen. Oder neben einer meiner Mitarbeiterinnen. Was weiß ich!«

Sie fand, dass er ungewöhnlich gereizt auf eine im Grunde harmlose Frage reagierte, und das machte ihr plötzlich Angst. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sein heutiges Mittagessen beim Italiener nicht anzusprechen, konnte sie sich auf einmal nicht mehr zurückhalten. »Wer ist die Frau, mit der du heute essen warst? Die junge mit den langen Haaren.«

Er war wie vom Donner gerührt. » Wie, zum Teufel … Ich meine, woher weißt du, mit wem ich mittags essen gehe?«

Sie zuckte mit den Schultern. Sie bedauerte nun, diese Frage ausgesprochen zu haben, weil ihr jetzt schon klar war, dass die Situation im Streit eskalieren würde, aber natürlich war es dafür zu spät. »Die Kinder hatten heute ein Sportfest in der Schule und sind erst vor einer Stunde heimgekommen. Deshalb bin ich mittags in die Stadt gefahren. Ich habe mir zwei neue Jeans gekauft, und dann dachte ich …«

Er runzelte die Stirn. »Ja?«

»Ich hatte vor, bei unserem alten Italiener etwas zu essen. Aber als ich dort hinkam, sah ich dich. Mit einer anderen Frau.«

Wolf hatte sich von seiner Überraschung erholt und war, wie üblich, in Sekundenschnelle gewappnet und zum Gegenangriff bereit. » Schon wieder, mein Gott! Ich sah dich mit einer anderen Frau … Langsam erscheinst du mir paranoid, Karen. Was willst du mir eigentlich sagen? Oder besser, was willst du mich fragen? Ob ich ein Verhältnis mit einer anderen Frau habe?«

» Nein, ich …«

» Du stehst hier und verhörst mich regelrecht. Ich komme nach einem verdammt harten Tag nach Hause, habe wenig Zeit, muss mich umziehen, um mich dann in einen anstrengenden Abend zu stürzen, der mir, wie du mir glauben darfst, nur sehr begrenzt Spaß macht, und du musst ausgerechnet diesen Moment nutzen, mich mit deinen haltlosen Verdächtigungen und Vorwürfen zu überziehen! Das ist typisch für dich, Karen! Du hast nicht genug zu tun, und deshalb kannst du dir nicht vorstellen, dass andere Menschen viel zu sehr im Stress stehen, als dass sie sich mit solch hirnrissigen Themen beschäftigen können wie du!«

Die Tränen brannten hinter ihren Lidern, sie brauchte viel Kraft, sie zurückzuhalten. Das Gespräch hatte den gleichen Verlauf genommen wie immer: Der Spieß wurde umgedreht. Anstatt dass Wolf zu ihren Fragen – in denen Vorwürfe mitgeklungen haben mochten – Stellung nahm, attackierte er sie in der gewohnten Weise, zwang sie in die Defensive und gab ihr das Gefühl, hysterisch und überspannt zu sein und sich wie üblich falsch verhalten zu haben. Schon stand sie wieder mit dem Rücken zur Wand und betete nur, die Situation möge beendet sein, ehe Wolf irgendetwas sagte, womit sie dann wiederum wochenlang nicht fertig wurde.

»Ich war eigentlich nur enttäuscht«, sagte sie schließlich mit zittriger Stimme. Sie war ihm nicht gewachsen. Es war immer das Gleiche. Sie war ihm einfach nicht gewachsen.

Er seufzte. Tief und theatralisch. Sah dann demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Wahrhaftig ein gelungener Moment für eine Aussprache. Es wird sich mit Sicherheit äußerst positiv auf meine weitere Karriere auswirken, wenn ich zur Geburtstagsfeier des Vorstandsvorsitzenden zu spät komme. Warum habe ich nicht einfach meinen Abendanzug mit ins Büro genommen und mich dort umgezogen? Warum habe ich es riskiert, hierher zu kommen? Bin ich nicht ein Trottel? « Er schlug sich mit einer übertriebenen Geste an die Stirn.

»Es ist schon in Ordnung«, murmelte Karen. Sie konnte nicht weitermachen, weil sie jeden Moment losheulen würde.

»Aha. Und weil es in Ordnung ist, musst du mir hier diese Szene machen?«

»Ich dachte … ich«, jetzt löste sich eine Träne, »ich dachte, du hättest auch mich fragen können, ob ich mit dir zu Mittag esse. So, wie du mich auch heute Abend hättest mitnehmen können.«

»Ich halte es nicht aus!«, sagte Wolf. »Man merkt, dass du von meinem Leben keine Ahnung hast. Keine Ahnung! Glaubst du, ich weiß morgens schon, ob ich in der Mittagspause Zeit habe, essen zu gehen? Glaubst du, das ist der Regelfall bei mir? Weißt du eigentlich, wie hart ich das Geld verdiene, mit dem ich dir und den Kindern das sorglose Leben in einem schönen Haus mit großem Garten finanziere? Normalerweise arbeite ich mittags durch oder hole mir bestenfalls einen Joghurt aus der Kantine, weil ich überhaupt nicht die Zeit habe, mein Büro zu verlassen! Es war eine Ausnahme heute. Eine, wie ich betone, unvorhersehbare Ausnahme. Kurzfristig habe ich beschlossen, einen Terminausfall für ein Mittagessen außer Haus zu nutzen, und eine Kollegin, mit der ich«, er knallte ihr jetzt die Worte wie mit einem Maschinengewehr an den Kopf, » kein Verhältnis habe, hat sich ebenso kurzfristig entschieden, mich zu begleiten. Okay? Ist das in Ordnung für dich? Könntest du mich jetzt vielleicht ins Bad gehen und mich duschen lassen, damit mir eine geringe Chance bleibt, rechtzeitig zu einer für mich nicht gänzlich unwichtigen Abendveranstaltung zu kommen? «

Er war sehr laut geworden.

»Bitte, Wolf. Die Kinder …«

»Den Kindern kannst du gerne nachher erklären, dass du ihren Vater verdächtigt hast, dich mit einer anderen Frau zu betrügen, und dass er daraufhin ein wenig ärgerlich geworden ist. Möglicherweise sind sie bereits alt genug, die Beleidigung zu verstehen, die mit einer solchen Unterstellung einhergeht!«

Es machte die Sache nicht besser, dass ihr immer mehr Tränen über das Gesicht liefen. »Du hast das ganz falsch verstanden, Wolf. Ich dachte gar nicht, dass du mich betrügst. Nicht so, jedenfalls, wie man betrügen versteht. Ich dachte einfach nur, du hättest auch mal wieder mit mir … ich habe einfach das Gefühl, dass ich überhaupt keine Rolle mehr spiele in deinem Leben, und…« Ihre Stimme versagte, sie konnte nicht weitersprechen.

Er brachte sein Gesicht ganz nah an ihres heran. Sie spürte seinen Atem und konnte die Kälte sehen, mit der er sie betrachtete. » Können wir dieses Gespräch jetzt beenden?«, fragte er sehr leise und sehr akzentuiert. » Ich meine, wärest du bereit, mich jetzt ins Bad gehen zu lassen? Andernfalls müsste ich nämlich in irgendeiner Weise meine Teilnahme an dem heutigen Abend noch absagen, und es wäre ganz reizend von dir, mich dies wissen zu lassen, ehe ich mich vollkommen unmöglich mache.«

Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, hatte sie plötzlich Angst vor ihm. Angst vor seiner Wut und seiner tiefen Abneigung gegen sie.

Ja, dachte sie entsetzt, das ist es. Abneigung. Er mag mich nicht mehr. Ich gehe ihm nur noch entsetzlich auf die Nerven. Da ist sonst nichts mehr. Keine Liebe, keine Sympathie, kein Vertrauen. Nichts. Abneigung, die in Momenten wie diesem bis in den Hass hineinreicht.

»Du kannst natürlich ins Bad gehen«, flüsterte sie mit letzter Kraft, drehte sich dann um, damit er ihre nun haltlos strömenden Tränen nicht bemerkte.

Wenn er mich jetzt nur für einen Moment in den Arm nähme, dachte sie, wissend, dass er dies nicht tun würde. Und natürlich tat er es nicht.

Einen Moment später hörte sie, wie im Bad die Dusche zu rauschen begann.

Im Garten lachten die Kinder.

Kenzo bellte das Nachbarhaus an.

Karen weinte.

Es war ein Sommerabend wie viele andere auch.

8

Albert kochte einen Tee nach dem anderen, und Rebecca trank in durstigen Zügen Tasse um Tasse leer. Zweimal ging sie auf die Toilette und betrachtete danach voller Verwunderung ihr Gesicht im Spiegel: Erstaunlich, wie lange sie sich hier aufhielt. Erstaunlich, dass sie sich bewirten ließ. Erstaunlich, dass sie Alberts Geplauder aushielt.

Er redete hauptsächlich über Felix. Darüber, wie sehr Felix die Libelle geliebt hatte. Welch ein guter Segler er gewesen war. Wie viel Spaß es gemacht habe, mit ihm über Schiffe zu sprechen. Wie oft sie zusammen gesessen und getrunken und über ihre gemeinsame Leidenschaft gesprochen hatten.

»Immer die Besten«, murmelte er zwischendurch, »immer die Besten muss es erwischen.«

Rebecca wusste, sie trank in erster Linie so viel Tee, um sich an der Tasse festzuhalten, und außerdem, um auf irgendeine Weise mit ihrer Nervosität fertig zu werden. Es ging nicht so sehr um das Schiff. Auch, wenn sie ehrlich war, nicht um das Schicksal der beiden jungen Leute. Sondern darum, dass sie dies hier durchstand. Die Nähe eines anderen Menschen. Diesen stundenlangen Aufenthalt außerhalb der vertrauten Mauern ihres Hauses.

Stundenlang?

Als sie zum zweiten Mal von der Toilette zurückkehrte, kam sie auf die Idee, auf ihre Uhr zu schauen. Es war Viertel nach sieben. Vor zwei Stunden war sie von zu Hause weggefahren, saß seitdem mit Albert in dessen Büro zusammen. So lange hatte sie ihr Haus noch nie verlassen.

Nicht nach Felix’ Tod.

Als sie das Büro betreten hatte, stand Albert am Fenster und suchte den Horizont mit seinem Fernglas ab.

»Niemand zu sehen«, sagte er.

»Ich weiß nicht, ob es sich für mich lohnt, noch länger zu warten«, meinte Rebecca. Sie trat neben ihn, blickte hinaus in den sturmdurchtosten Abend. Es schien ihr dunkler zu sein als sonst um diese Zeit.

»Also, ich kann nur hoffen, dass sie wenigstens in einer Bucht liegen und es jetzt nicht mehr riskieren, loszusegeln«, sagte Albert. »Ich meine, der Junge ist zweifellos ein begabter Segler, aber …« Er hatte sein Fernglas für einen Moment sinken lassen, hob es nun jedoch wieder. Rebecca hörte, dass er plötzlich scharf Luft holte. »Das gibt’s doch nicht …«, murmelte er.

Sie sah das Schiff im selben Moment. Es war hinter der Landzunge verborgen gewesen, daher hatten sie es vorher nicht erkennen können, aber nun hüpfte es wie ein kleines Stück Treibholz auf die Einfahrt zwischen den zwei Leuchttürmen zu. Es war offensichtlich ohne Segel und ohne jede Steuerung unterwegs, ein Spielball der Elemente.

Aber jemand muss es steuern, korrigierte Rebecca ihre Gedanken sofort, durch Zufall taucht es nicht in der Bucht auf.

»Ist das die Libelle?«, fragte sie aufgeregt.

»Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete Albert, »aber zumindest könnte sie es sein.«

»Sie ist ohne Segel.«

»Die schafft es nie in den Hafen. Ich versteh das nicht … der Typ wirkte doch ganz geübt …«

»Aber vielleicht ist sie es gar nicht.«

»Ich glaube doch.« Albert legte sein Fernglas auf den Tisch, trat an einen Schrank, zog seine orangefarbene Schwimmweste heraus und begann sie anzulegen. »Ich muss raus. Ich weiß nicht, was die da machen, aber sie erwischen die Einfahrt nicht. Ich muss das Schiff reinholen.«

»Ist das nicht viel zu gefährlich?«

»Ich krieg das schon hin. Ich habe schon ganz andere Sachen gemeistert.« Er ging zur Tür. » Warten Sie hier?«

Sie nickte.

»Passen Sie auf sich auf«, bat sie.

 

In der nächsten halben Stunde verfolgte sie angespannt durch das Fenster, wie Albert in seinem kleinen Motorboot durch das Hafenbecken tuckerte und Kurs auf das Schiff nahm, das sich bereits wieder ein Stück von der Einfahrt entfernt hatte und in das tobende Meer zurückzutreiben drohte. Inzwischen glaubte Rebecca nicht mehr, dass es sich um die Libelle handelte; sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein professioneller Segler wie Marius tatsächlich unfähig sein sollte, das Schiff in den Hafen zu steuern. Aber in jedem Fall musste Albert helfen, und die unerschrockene, mutige Art, wie er an das Unternehmen heranging, nötigte ihr großen Respekt ab.

Kein Wunder, dass Felix ihn so mochte, dachte sie, und gleich darauf überschwemmte sie schon wieder eine Welle des Schmerzes, weil auch diese Rettungsaktion, wie so vieles andere, etwas war, das sie nun nicht mehr mit Felix teilen konnte. Sie konnte nicht nach Hause gehen und ihm aufgeregt erzählen: »Stell dir vor, Albert ist bei diesem Sturm mit dem Schlauchboot vor den Hafen gefahren, um ein Schiff hereinzuholen! «

Und nie wieder würde sie das interessierte Blitzen in seinen Augen sehen, mit dem er auf alles reagierte, womit sie ankam; niemals war er gleichgültig oder gelangweilt gewesen, stets hatte er sofort gesagt: »Wirklich? Das musst du mir ganz genau erzählen!«

Er hatte ihr damit das Gefühl gegeben, völlig von ihm angenommen zu sein, ein Teil von ihm zu sein, wie er ein Teil von ihr war. Nichts, was sie beschäftigte, ließ ihn kalt, so wie sie umgekehrt Anteil an allem nahm, was ihn interessierte.

Aber das war das Schreckliche jetzt: Indem sie so verwoben gewesen waren, bedeutete sein Tod, dass ein wesentlicher Teil ihrer selbst gestorben war. Die Hälfte ihres Herzens, ihrer Seele, ihres Gehirns. Ihrer Atmung, ihres Sehens und Hörens, Schmeckens, Riechens, Fühlens. Deswegen konnte sie Speisen nicht mehr auf der Zunge fühlen, deswegen klang das Rauschen der Brandung so fern, hatte die Sonne ihren goldenen Schein verloren und das Blau des Himmels seine Leuchtkraft. Alles hatte sich entfernt, war blass, unwirklich, spielte sich hinter einer Nebelwand am Horizont ab. Nur nicht der Schmerz. Der stand immer direkt neben ihr, bereit, jederzeit wieder über sie herzufallen. Im selben Maß, in dem alles andere an Kraft verloren hatte, war seine Kraft gewachsen. Er war die einzig echte Realität in ihrem Leben.

Sie schlug mit der Faust auf Alberts alten Schreibtisch, der vor dem Fenster stand. »Verdammt«, murmelte sie. Sie wollte nicht, dass der Schmerz wieder Macht über sie gewann. Sie wollte in das Stadium der Gefühllosigkeit zurück, das sie sich so mühsam aufgebaut hatte. Sie hatte es einmal geschafft, sie würde es wieder schaffen.

Kein Gedanke jetzt mehr an Felix. Kein einziger Gedanke mehr. Nicht überlegen, wie es sein müsste, ihm von diesem Nachmittag zu erzählen. Unweigerlich stürzte sie dies in eine Verzweiflung, die ihr den Atem nahm und sie mit der Schwärze und Leere umgab, die sie aus der ersten Zeit nach dem Unfall kannte. Die sie nicht aushalten konnte.

Um sich abzulenken, griff sie nach dem Fernglas. Albert hatte fast die Ausfahrt erreicht. Sein Boot schaukelte schon im Hafenbecken bedenklich, aber gleich musste er in die offene See hinaus, und es würde noch schlimmer werden. Inzwischen hatten sich, trotz des brüllenden Sturms, Schaulustige an der Pier eingefunden, Männer hauptsächlich, die im Wind schwankten wie Gräser, die aber begriffen hatten, dass eine Rettungsaktion vor sich ging und dass womöglich noch spannende Ereignisse mitzuerleben waren.

Alberts Boot verschwand um die Mauer, Rebecca konnte es nicht mehr sehen. Er musste das Schiff fast erreicht haben, aber zweifellos begann damit der gefährlichste Teil: Es musste ihm gelingen, an Bord zu klettern, und das stellte bei diesem Seegang ein waghalsiges Unterfangen dar.

Um sich abzulenken, steckte sie den Tauchsieder ins Wasser, spülte die Teekanne aus, hängte frische Teebeutel hinein. Sowohl Albert als auch die Menschen, die er dort draußen gerade rettete, würden vielleicht das Bedürfnis nach einem heißen Getränk haben, wenn sie zurückkehrten, durchnässt und abgekämpft wie sie sein mussten. In einem Regal entdeckte sie eine Flasche mit Rum. Ein Schuss davon konnte wahrscheinlich auch nichts schaden.

Sie ging auf und ab, vermied es, nach draußen zu sehen, betrachtete eine Seekarte, die an der Wand hing, wischte mit einem Taschentuch den Staub von einem Messinganker, der an der Wand befestigt war.

Dann warf sie das Taschentuch eilig in den Papierkorb; sie musste wirklich die Angewohnheit ablegen, an allem herumzuwischen. Maximilian hatte Recht, das Putzen war zu einer Manie bei ihr geworden. Keine Fläche, kein Gegenstand, nichts blieb von ihr verschont. Es war eine Überlebensstrategie gewesen, aber die brauchte sie ja nicht mehr. Schließlich würde sie nicht mehr lange leben.

Als sie es endlich wieder wagte, hinauszusehen, fuhr das Schiff in den Hafen ein, immer noch wild schwankend, aber doch offenkundig von einer sicheren Hand gesteuert. Das bedeutete, Albert hatte es geschafft. Rebecca atmete tief durch, hielt sich erneut das Fernglas vor die Augen. Jetzt konnte sie deutlich erkennen, dass es sich um die Libelle handelte. Sie fragte sich, was passiert sein mochte.

Es kostete Albert einige Mühe, das Schiff zwischen den anderen Schiffen hindurch zu seinem Platz zu steuern und dort anzulegen. Eine Gruppe von Männern – Rebecca vermutete, dass es sich um andere Segler handelte – standen bereit und halfen ihm, die Libelle zu vertäuen. Selbst auf ihren Liegeplätzen hüpften die Boote noch wild auf und ab, schlugen die Masten gegeneinander. Rebecca sah, dass Albert auf den Anlegesteg sprang, dann seine Hand ausstreckte und einer offensichtlich total entkräfteten Person an Land half. Es schien sich um Inga zu handeln. Sie konnte sich kaum auf den Füßen halten, schaffte es erst beim dritten Anlauf, das Schiff zu verlassen. Von Albert mehr getragen als gestützt, humpelte sie zur Pier hinüber. Erstaunlicherweise folgte den beiden niemand. Eine dritte Person schien nicht auf dem Schiff gewesen zu sein.

Wo war Marius?

Rebecca füllte zwei Becher mit heißem Tee, fügte Rum und Zucker hinzu, lief dann zur Tür des Büros und öffnete sie. Ein klatschnasser, keuchender Albert wankte herein. An ihm hing wie ein nasser Sack eine zu Tode erschöpfte Inga. Sie sah entsetzlich aus: Sie hatte Blut an den nackten Beinen und an der Schläfe, auf ihrem T-Shirt waren die Reste von Erbrochenem zu sehen. Sie zitterte am ganzen Körper, wollte dauernd etwas sagen und brachte doch kein verständliches Wort heraus. Als sie die Hand hob, um sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn zu wischen, sah Rebecca, dass auch ihre Hände aufgeschrammt waren und bluteten.

»Lieber Himmel, Inga, was ist denn passiert?« Sie nahm Albert, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, die taumelnde Inga ab und geleitete sie zu einem Stuhl, drückte sie sanft hinunter. »Sie sehen ja furchtbar aus. Wo ist Marius?«

Inga brachte noch immer kein Wort hervor, schaffte es aber wenigstens, den angebotenen Becher mit Tee zu ergreifen und an ihre Lippen zu führen. Sie trank in kleinen Schlucken und konnte nicht aufhören zu zittern.

»Ganz ruhig«, tröstete Rebecca, »es kommt alles wieder in Ordnung.«

Sie war keineswegs so ruhig, wie sie sich gab. Irgendetwas Schreckliches war geschehen, und womöglich war Marius in Lebensgefahr – oder sogar schon tot. Ertrunken.

Der sportliche, junge Mann … Sie konnte sich das kaum vorstellen.

Sie wandte sich zu Albert um, der an der Wand lehnte und schwer atmete.

»Albert, hat sie zu Ihnen irgendetwas gesagt? Haben Sie Marius gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »An Bord war niemand außer ihr. Keine Spur von dem jungen Mann. Und sie konnte mit mir auch nicht sprechen. Sie hat offensichtlich allein das Segel eingeholt und die Libelle unter Motor hierher zurückgebracht. Bei diesem Sturm … kein Wunder, dass sie halb tot ist!«

»Nehmen Sie sich doch auch einen Tee, Albert«, sagte Rebecca, »Sie sind ja völlig erledigt.«

Er trank in gierigen Zügen.

»Wir müssen den Seenotdienst verständigen«, sagte er, »wir müssen nach diesem … wie heißt er? … Marius suchen lassen.«

»Aber dazu müssen wir erst mal wissen, was passiert ist«, meinte Rebecca. Sie strich Inga über die nassen Haare, beugte sich zu ihr hinunter. »Inga, wir müssen etwas wegen Marius unternehmen«, sagte sie vorsichtig, »können Sie sprechen? Können Sie mir erzählen, was geschehen ist?«

Ingas Zähne schlugen leicht aufeinander, aber sie bemühte sich, Worte zu formen.

»Ich weiß nicht«, brachte sie hervor, »er war weg, als ich wach wurde.«

»Als Sie wach wurden?«

»Ich … bin gestürzt. Mein Kopf …« Sie hob die Hand, befühlte ihre Wunde an der Schläfe, zuckte dabei schmerzerfüllt zusammen. »Ich war bewusstlos. Dann war er weg.«

»Wo waren Sie? Ich meine, wo ungefähr befand sich das Schiff zu diesem Zeitpunkt?«

»Vor dem Cap Sicié. Es war ein furchtbarer Sturm.« Ingas Sprache wurde deutlicher. »Riesige Wellen. Ich glaube, der Baum hat ihn getroffen. Von dem … Großsegel. Der schlug hin und her. Ich glaube, der hat ihn vom Boot runtergefegt.«

Rebecca biss sich auf die Lippen. Dies klang außerordentlich bedrohlich. Sie drehte sich um und übersetzte das Gespräch für Albert.

»Sie war bewusstlos und hat nichts so richtig mitbekommen«, fügte sie hinzu. »Aber da Marius ja offenbar tatsächlich verschwunden ist, könnte es so gewesen sein, wie sie sagt. Mein Gott, Albert, glauben Sie, dass er noch lebt?«

»Fragen Sie sie, ob er seine Schwimmweste anhatte«, bat Albert.

Rebecca wiederholte die Frage auf Deutsch und Inga nickte. »Ja. Da bin ich ganz sicher.«

Albert stellte seine Tasse ab. Er hatte sich wieder erholt. »Ich informiere den Seenotrettungsdienst. Kümmern Sie sich um das Mädchen?«

Rebecca nickte. »Ich fahre jetzt erst einmal mit ihr zum Arzt. Der soll sich vor allem ihre Kopfverletzung ansehen. Und dann nehme ich sie mit zu mir. Wenn sie mir noch Informationen gibt, rufe ich Sie an, Albert.«

Albert ging zum Schreibtisch, kritzelte etwas auf einen Block, riss den Zettel ab und reichte ihn Inga. »Meine Handy-Nummer. Da bin ich jederzeit zu erreichen.«

»Alles klar«, sagte Rebecca. Sie schaute hinaus in den Sturm.

Weltuntergang, dachte sie. Und dann: Jetzt habe ich diese Inga am Hals.

Sie begann sich in eine Geschichte zu verstricken. Und sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass sie die Kontrolle darüber bereits verloren hatte.