Montag, 26. Juli

1

Agneta sieht einfach toll aus, dachte Clara neidisch.

Agneta war die typische Skandinavierin. Sie hatte auffallend lange Beine, fast hüftlange hellblonde Haare und große, leuchtend blaue Augen. Frisch von den Malediven zurückgekehrt, war sie überdies tief gebräunt, was in einem besonders schönen Kontrast zu ihren hellen Haaren stand. Früher – als sie und Clara noch Kolleginnen gewesen waren – hatte sie fast ausschließlich Jeans getragen, oder im Sommer billige Baumwollröcke, dazu T-Shirts oder ausgeleierte Sweat-Shirts. Jetzt hingegen verriet ihre Kleidung, dass ihr Mann viel Geld verdiente. Das hellblaue Leinenkostüm mit dem knielangen Rock war erstklassig geschnitten, die beigefarbenen Sandalen mit sehr hohem Absatz stammten mit Sicherheit aus einem der teuersten Schuhgeschäfte der Stadt. Sie trug eine Perlenkette um den Hals, Perlen an den Ohren, ein passendes Armband am Handgelenk. Auf ihrer Handtasche stand zwar diskret, aber dennoch unübersehbar, ein Designerlabel.

Sie hat es zu etwas gebracht, fuhr Clara in ihren Gedanken fort, aber sie versuchte jetzt, ihren Neid zu unterdrücken. Neid war kein gutes Gefühl, und außerdem machte Geld nicht glücklich. Nicht allein jedenfalls.

Dennoch kam sie sich neben Agneta ziemlich unattraktiv vor. Sie war auf den Besuch vorbereitet gewesen und hatte sich ebenfalls in Schale geworfen, aber natürlich fiel ihre Garderobe hoffnungslos gegenüber der ihrer einstigen Kollegin ab. Der geblümte wadenlange Rock war einfach spießig, und auf ihrem weißen T-Shirt leuchtete ein grünlicher Fleck, den sie aber erst bemerkt hatte, als Agneta bereits klingelte, so dass sie sich nicht mehr hatte umziehen können. Marie hatte letzte Woche ihren Spinat ausgespuckt, und offenbar war die Waschmaschine damit nicht fertig geworden.

Kann ich eben nicht ändern, dachte sie gereizt.

Agneta war herzlich und charmant, nicht mehr so natürlich wie früher, aber keinesfalls unsympathisch. Sie hatte sich in ihrer Rolle als Vorzeige – Gattin perfekt eingelebt. Clara konnte sich gut vorstellen, dass sie auf Partys geschickt mit den Gästen plauderte, fremde Menschen einander vorstellte, elegant an ihrem Champagner nippte und stets im richtigen Moment das Richtige zu sagen wusste. Auch wenn sie vielleicht insgeheim die Nase rümpfte über Claras Leben, das kleine Haus, den winzigen Garten, so verriet sie davon nichts, sondern gab sich begeistert und überschwänglich. Sie bewunderte Marie, fand alles, was sie sah, »entzückend«, und meinte, Clara sehe richtig gut aus.

»Dir bekommt deine Ehe, mein Liebes!«

»Dir deine aber auch«, meinte Clara, »du führst sicher ein richtig aufregendes Leben.«

»Na ja, was heißt schon aufregend? Aber die Malediven waren schön. Es ist dort wirklich wie auf der Postkarte. Schneeweißer Sand, leuchtend türkisfarbenes Wasser … du solltest auch einmal dorthin!«

»Mit einem kleinen Kind ist der Flug zu lang«, sagte Clara, und nur in Gedanken fügte sie hinzu: Und für drei Personen ist das alles auch viel zu teuer.

»Da hast du Recht«, stimmte Agneta sofort zu, »und ich finde ja immer, man kann sich auch daheim im eigenen Garten ganz wunderbar erholen.«

»Man kann nur von dort nicht so schöne Karten verschicken wie deine. Ich habe sie erst vor ein paar Tagen bekommen. Und nun stehst du schon hier in meinem Wohnzimmer!«

»Der Postweg ist immer der längste«, sagte Agneta, »aber ist es nicht schön, dass wir einander endlich einmal wieder treffen?«

Clara lächelte matt. »Eigentlich ja. Nur der Anlass …«

Agneta zog ihre zu perfekten Bögen gezupften Augenbrauen hoch. »Du weißt schon, worum es geht?«

»Ich vermute es. Ich fürchte, du könntest das gleiche Problem haben wie ich.«

Die beiden Frauen traten auf die Terrasse, wo Clara einen Kaffeetisch gedeckt hatte. Während sie einschenkte und den selbst gebackenen Apfelkuchen anschnitt, fischte Agneta einen Stapel Briefe aus ihrer Handtasche. Clara warf einen Blick aus den Augenwinkeln darauf, erkannte sofort die Druckschrift auf den Umschlägen, zuckte zusammen wie unter einer Ohrfeige und schüttete Kaffee über den Rock von Agnetas schickem, teurem Kostüm.

»O Gott«, flüsterte sie und konnte geradezu spüren, wie sie erblasste.

»Das macht nichts«, sagte Agneta und betupfte ihren Rock mit einer Serviette, »der kommt in die Reinigung.«

»Das meine ich nicht …« Sie stellte die Kanne mit zitternden Händen ab. »Die Briefe … es ist tatsächlich so, wie ich dachte.«

»Es waren keine neuen da, als ich von den Malediven zurückkam«, sagte Agneta, »und das hat mich dann doch etwas erleichtert.«

»Ich habe auch seit über zwei Wochen keine mehr bekommen«, sagte Clara, »aber ich kann noch immer nicht zum Briefkasten gehen, ohne weiche Knie zu bekommen. Es ist so … schrecklich Furcht einflößend, was er schreibt.«

»Glaubst du, es ist ein Mann?«

»Ich weiß nicht … ich denke schon. Aber ich kann eigentlich nicht sagen, warum ich davon ausgehe.«

Beide Frauen sahen einander an. »Es hat mit unserer Arbeit beim Jugendamt damals zu tun«, sagte Agneta schließlich, »jedenfalls nimmt er – oder sie – in den Briefen an mich ständig darauf Bezug.«

»Bei mir auch.«

»Ich habe mir den Kopf zerbrochen, was damals passiert sein könnte. Es muss sich um jemanden handeln, der überzeugt ist, ihm sei durch uns bitteres Unrecht geschehen. Mir fällt nur nichts ein, was irgendwie … herausragend gewesen wäre. Ich meine, im Grunde könnten ganz viele Menschen auf uns sauer sein, aber es gab keinen speziellen Fall, von dem ich heute sagen würde, dass ich gleich ein ungutes Gefühl hatte oder so.«

»Weißt du, ob noch andere betroffen sind?«, fragte Clara.

»Ich habe mit den anderen noch keinen Kontakt aufgenommen. Aber wir sollten das tun. Ich meine, wenn wir wissen, wer genau alles diese Briefe bekommt, dann könnten sich vielleicht die Fälle eingrenzen lassen, mit denen die Betroffenen zu tun hatten.«

»Wenn es um Kindesentziehung ging, waren sicher eine Menge Menschen auf uns wütend«, sagte Clara.

»Und wir haben Familien betreut, die waren einfach sauer, weil sie die Betreuung hassten – auch wenn sie ohne uns nicht über die Runden gekommen wären«, ergänzte Agneta.

»Und denke mal an die Pflegefamilien, denen Kinder weggenommen wurden, weil die leiblichen Eltern dann doch wieder geeignet erschienen. Da sind eine Menge Tränen geflossen. Und Aggressionen geweckt worden.«

»Aber ich kann mir keine Pflegefamilie vorstellen, die so bösartig wie dieser Briefeschreiber gewesen wäre«, sagte Agneta, »ich meine, dahinter steckt doch ein krankes Hirn! Dieser Mensch glaubt offensichtlich, irgendeiner höheren Gerechtigkeit zu dienen, wenn er uns tötet. So sehr ich grüble, ich kenne einfach niemanden, dem ich derart perverse Gedanken zutrauen würde.«

»Meinst du, wir sollten zur Polizei gehen?«, fragte Clara.

Agneta zögerte. »Ich habe mit meinem Mann darüber gesprochen. Der rät ab, weil er meint, die könnten sowieso nichts machen, und am Ende hätte ich nur noch die Presse am Hals.« Sie grinste. »Was er natürlich in Wahrheit fürchtet, ist, dass er die Presse am Hals hat, und in seiner Position möchte er sicher nicht mit derartigen Scheußlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Außerdem hat er nicht das geringste Interesse daran, dass die Vergangenheit seiner Frau allzu bekannt wird.«

»Was hat er denn gegen deine Vergangenheit?«

»Na ja, sie ist ihm einfach nicht repräsentativ genug. Was war ich schon? Eine Sozialpädagogin, die für das Jugendamt arbeitete und Problemfamilien betreute.«

»Das ist aber nichts, wofür man sich schämen muss!«

»Nein. Aber für jemanden, der im Vorstand einer großen Warenhauskette sitzt, ist das Umfeld, in dem wir uns damals bewegten, irgendwie … schmuddelig. Er hat es einfach nicht gern, wenn ich davon spreche.«

»Bert findet auch nicht, dass wir zur Polizei gehen müssten«, sagte Clara. »Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, ob er nicht einfach nur Angst hat, ich könnte völlig durchdrehen, wenn er von der Polizei spricht. Ich glaube, für ihn ist die Sache sowieso abgehakt, nachdem sich der Schreiber länger nicht gemeldet hat.«

Agneta sagte nichts.

Welch ein vollkommener Sommertag, dachte Clara.

Irgendwo in der Ferne zog ein Sportflugzeug durch den lichtblauen Himmel, ganz leise konnte man seinen Motor brummen hören. Vögel zwitscherten, Bienen summten. Aus einem der oberen Zimmer klang das leise Geplapper Maries, die gerade aus ihrem Mittagsschlaf erwachte.

In Clara war wieder die Angst. Diese dunkle, bedrohliche Wolke, die sie seit Wochen immerzu sah, gerade in Momenten wie diesem, die schön und klar und sonnig waren. Für sie war die Sache nicht abgehakt. Vielleicht würde sie es nach Jahren sein, wenn sich der Schreiber bis dahin immer noch nicht wieder gemeldet hatte. Aber es würde lange dauern, sehr lange, und manchmal fragte sie sich, ob ein kleiner Schatten der Wolke nicht sogar bleiben würde – für immer.

»Er ist da draußen«, sagte Agneta, »er ist da draußen mitsamt seinem Hass und seinen Fantasien darüber, was er mit uns anstellen möchte. Warum weigere ich mich zu glauben, dass es mit den Briefen abgetan ist? Dass er fertig ist, sich abreagiert hat und nun Ruhe geben wird? Warum, verdammt noch mal, fürchte ich mich so?«

Sie sieht ganz verändert aus, dachte Clara. Für den Augenblick hatte sie völlig die Ausstrahlung der selbstbewussten, eleganten, sorglosen Frau verloren, die sich hinter ihrem Reichtum, ihrer gesellschaftlichen Stellung und der Liebe ihres Mannes sicher fühlt. Sie sah plötzlich aus wie ein verängstigtes kleines Mädchen, das nachts von bösen Träumen geplagt wird und sich auch am Tag nicht wirklich davon erholt.

»Ich fürchte mich auch«, sagte Clara leise, »und ich denke auch immer, dass er uns nicht in Ruhe lassen wird.«

Maries Krähen klang lauter. Clara stand auf. »Ich muss nach ihr sehen.«

Als sie mit Marie auf dem Arm wieder nach unten kam, hatte sich Agneta gefangen, die Maske der vollkommenen Selbstsicherheit wieder aufgesetzt und sich eine Zigarette angezündet. Sie sah zu, wie Clara ihre Tochter auf den Rasen setzte, wo diese fröhlich quietschend Grashalme auszurupfen begann, in die Luft warf und auf sich niederregnen ließ.

»Weißt du«, sagte sie, »wir haben uns beide ein wirklich schönes Leben aufgebaut. Du hast ein entzückendes Kind und einen netten Mann, und ich bin ebenfalls glücklich verheiratet und mache jeden Tag tausend Dinge, die ich angenehm und interessant und aufregend finde. Wir lassen uns das nicht kaputtmachen, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Clara, aber es klang eher, als wiederhole eine folgsame Schülerin einen Satz, den die Lehrerin ihr zu sagen aufgetragen hatte.

»Ich werde«, sagte Agneta, »Kontakt aufnehmen mit ein paar anderen. Von damals. Vielleicht ergeben sich Schnittpunkte, die auf die Identität dieses Irren hinweisen. Und bis dahin sollten wir uns nicht allzu sehr die Laune verderben lassen, meinst du nicht auch?«

»Ja«, sagte Clara.

Agneta seufzte.

»Weißt du, dein Kaffee ist wirklich in Ordnung«, meinte sie, »aber … ich könnte jetzt einen Schnaps brauchen. Du nicht auch?«

»Ich auch«, stimmte Clara zu, und diesmal klang sie inbrünstig und nicht wie ein braves Mädchen. Sie ging ins Haus, um etwas zu holen, das geeignet war, wenigstens für ein paar Stunden die Schärfe der Wirklichkeit in ihrem und Agnetas Kopf ein wenig weichzuspülen.

2

»Ich werde mir ein Hotel suchen«, sagte Inga. Sie war unvermittelt auf der Veranda aufgetaucht, hob sich als dünner, dunkler Schatten gegen das Sonnenlicht ab. Sie wirkte erschreckend mager.

Kann man so schnell Gewicht verlieren, in so wenigen Tagen?, fragte sich Rebecca erstaunt. Doch dann fiel ihr ein, was die Menschen um sie herum gesagt hatten, in der ersten Woche nach Felix’ Tod.

»Du bist ja wahnsinnig dünn geworden! Du isst wohl gar nichts mehr, oder?«

Hatte sie gegessen? Sie wusste es nicht mehr. Aß Inga? Sie lebte seit drei Tagen bei ihr, aber Rebecca hätte kaum zu sagen gewusst, ob sie während der Mahlzeiten wirklich aß oder nur da saß und Brotstücke zwischen ihren Fingern zerkrümelte. So wie sie aussah, traf wohl eher Letzteres zu.

Ich muss mich mehr um sie kümmern, dachte Rebecca schuldbewusst, aber sie wusste gleichzeitig, dass dieser Gedanke alles konterkarierte, was sie sich vorgenommen hatte: sich abzuschotten und sich von der Welt innerlich zu verabschieden, ehe sie den letzten Schritt tun und sie auch körperlich verlassen würde.

Sie stellte ihre Kaffeetasse ab. »Kommen Sie, Inga, setzen Sie sich. Trinken Sie einen Kaffee mit mir!«

Wie immer hatte sie zwei Gedecke aufgelegt. Zögernd ließ sich Inga in einem der weiß lackierten Korbstühle nieder. Rebecca schenkte ihr Kaffee ein, schob Zucker und Milch zu ihr hin. »Sie müssen nicht in ein Hotel gehen«, sagte sie und fand, dass das irgendwie pflichtschuldig klang. »Ich habe ja hier genug Platz.«

Inga schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. An ihrer Stirn klebte noch ein Pflaster, wo sie sich die Platzwunde zugezogen hatte. Der Arzt hatte eine leichte Gehirnerschütterung festgestellt und Ruhe verordnet. Dann würde sie schnell wieder hergestellt sein, hatte er gemeint. Der Zerrung an ihrer Schulter war er mit einer starken Schmerzspritze zu Leibe gerückt. Sie tat inzwischen kaum noch weh. Die Wunden an ihren Füßen waren verheilt.

»Ihnen muss das doch alles ganz schrecklich vorkommen«, meinte Inga. »Ihr Bekannter liest zwei Tramper auf und schleppt sie an, und dann verunglücken die noch um ein Haar mit Ihrem Boot, einer verschwindet, und die andere haben Sie als Gast im Haus. Als einen Ihnen völlig fremden Gast.«

»Sie kommen mir gar nicht so fremd vor, Inga. Marius schon eher. Wäre er jetzt hier eingezogen … ihn würde ich durchaus als einen sehr fremden Gast empfinden.«

»Auf jeden Fall haben Sie sich Ihren Sommer so bestimmt nicht vorgestellt.«

»Nein«, räumte Rebecca ein, » in der Tat nicht.«

Ich wollte zu diesem Zeitpunkt bereits seit fast einer Woche tot sein, dachte sie.

»Albert hat mich vorhin angerufen«, sagte sie, um das Thema zu wechseln, »und er sagt, dass die Küstenwache morgen leider zum letzten Mal nach Ihrem Mann suchen wird. Wenn sie dann nichts finden …« Sie ließ den Satz unbeendet.

»… dann stellen sie die Suche ein«, sagte Inga stattdessen. »Damit habe ich natürlich gerechnet. Genau genommen … hätte ich nicht einmal gedacht, dass sie ganze vier Tage lang suchen.«

Unter ihrer Sonnenbräune sah sie fahl aus. Ihre Lippen waren völlig blutleer.

»Er war … ist ein erstklassiger Schwimmer. Und er hatte die Rettungsweste an.«

»Sie müssen ja auch noch nicht das Schlimmste annehmen«, meinte Rebecca, »vielleicht hat ihn irgendjemand aufgefischt. «

»Aber dann würde er sich doch melden.«

»Nun … Sie haben mir ja erzählt, dass es auf der Libelle zu diesem seltsamen Verhalten seinerseits kam. Das wird es ihm schwer machen, jetzt so einfach den Kontakt zu Ihnen aufzunehmen und hier hereinzuspazieren, als sei nichts gewesen. «

Inga nippte an ihrem Kaffee. Sie sah angestrengt aus und so unglücklich, dass es Rebecca ans Herz ging.

»Ich kann es immer noch nicht verstehen«, sagte sie, »mir kommt diese Szene auf dem Schiff wie ein böser Traum vor. Völlig unwirklich. Marius, der auf einmal … ich dachte eine ganze Weile, er macht Witze. Wir haben das oft getan, wissen Sie. Total ernsthaft über völlig abwegige Sachen gesprochen. Wir konnten das stundenlang. Aber diesmal …«

»Und wenn es doch ein Missverständnis war?«, fragte Rebecca. »Ein Scherz, den er noch weiterspann, als Sie bereits keine Lust mehr hatten? Sie waren nicht in der Stimmung, haben Sie erzählt, weil Sie Angst wegen des Wetters hatten. Er begriff vielleicht einfach nicht, dass Sie wirklich nicht mitmachen wollten. Oder wollte Sie zwingen, wieder einzusteigen. «

Inga rieb sich die Stirn. »Tag und Nacht«, sagte sie, »gehe ich diese Szene in Gedanken durch. Sie glauben nicht, wie sehr ich mir wünsche, dass mir plötzlich eine Erleuchtung käme, die mir sagt: Es war ein Scherz, und ich habe in meiner Entnervtheit einfach nicht kapiert, dass … Aber ich glaube es nicht, Rebecca. Er war … ja, er war völlig verändert. Er hat mich in die Kajüte hinuntergestoßen. Ich hätte mir alles Mögliche dabei brechen können. Er hatte einen ganz seltsamen Ausdruck in den Augen. Ich habe das noch nie an ihm erlebt. Er war nicht mehr der Marius, den ich kannte. Er war fremd und bedrohlich.«

»Irgendetwas«, sagte Rebecca, »muss eine Seite in ihm geweckt haben, die zuvor nicht in Erscheinung getreten ist. War es das Segeln? Hat ihn das an etwas erinnert? Oder war es etwas, das Maximilian vorher im Hafen gesagt hat? Oder Albert? «

Inga rieb sich wieder die Stirn. Sie hatte ständig leichte Kopfschmerzen, aber sie schob das auf die Gehirnerschütterung. Und natürlich auf den Albtraum, in den sie unversehens hineingeraten war und aus dem sie offensichtlich keinen Ausweg fand.

»Ich glaube, es hatte etwas mit Ihnen zu tun«, sagte sie schließlich.

Rebecca sah sie voll aufrichtigem Erstaunen an. »Mit mir? Wie denn das?«

» Ich weiß es nicht. Es schien so zu sein, dass er das Schiff nicht in erster Linie stehlen wollte, um an Geld zu kommen, sondern … um Sie zu treffen. Um Ihnen Kummer zuzufügen. Es war, als habe er einen richtigen Hass auf Sie. Er sagte das sogar. Dass er Sie hasse. Er wisse genau, wer Sie sind. Ich habe ihn mehrfach gefragt, ob er Sie kennt, aber er meinte, er müsse Sie nicht kennen, um alles über Sie zu wissen. Es war … völlig verrückt!«

»Das scheint mir auch so«, sagte Rebecca. »Ich für meinen Teil bin jedenfalls absolut sicher, dass ich Marius nicht kenne. Ich habe ihn noch nie vorher im Leben gesehen. Sie beide studieren noch. Ich hatte meine Kinderschutzinitiative und lebe seit bald einem Jahr nicht mehr in Deutschland. Wo sollten wir Berührungspunkte haben?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Inga, »und so sehr ich auch grüble, ich komme nicht dahinter.«

Rebecca schenkte Kaffee nach. »Was wissen Sie über Marius? Ich meine, über die Zeit vor Ihrer Beziehung? Wie lange kennen Sie ihn?« Sie hielt inne. »Wenn ich Ihnen zu indiskret …«

Inga wehrte sofort ab. »Nein. Nein, überhaupt nicht. Es tut mir so gut, dass Sie mit mir darüber reden. Ich werde verrückt, wenn ich das alles nur in meinem eigenen Kopf hin und her bewege. Ich finde es sehr nett, dass Sie Anteil nehmen. « Sie wies auf die Tasse und den Teller vor sich auf dem Tisch. »Dass Sie für mich mitgedeckt haben. Ich dachte, diese Kaffeestunde am Nachmittag gehört nur Ihnen.«

Rebeccas Augen verdunkelten sich. Inga fand, dass es so aussah, als lege sich tatsächlich ein Schatten über ihr Gesicht. »Offen gestanden, ich hatte nicht für Sie gedeckt. Das ist das Gedeck für meinen Mann. Wir … wir tranken immer gegen vier Uhr einen Kaffee zusammen. Im Urlaub, meine ich. Felix aß noch ein Croissant dazu. Ich nicht. Ich … achtete mehr auf meine Figur.« Sie biss sich auf die Lippen. Inga stellte ihre Tasse ab.

»Wenn es Ihnen unangenehm ist, dass ich hier einfach so …«

»Nein, nein«, sagte Rebecca steif, »ich hätte Sie sonst nicht aufgefordert, sich zu mir zu setzen.«

Ein paar Minuten lang sagten beide kein Wort.

Schließlich brach Rebecca das Schweigen. »Ich hatte Sie nach Marius gefragt. Vielleicht gibt es ein Ereignis in seiner Vergangenheit, das uns weiterbringen könnte?«

»Wissen Sie«, sagte Inga, »das Seltsame ist, dass ich eigentlich ganz wenig über Marius weiß. Fast so, als wäre er aus dem Nichts aufgetaucht, als gebe es gar kein Vorher. Mich hat das immer gestört, aber irgendwie habe ich wohl gelernt, es zu verdrängen. Wir kennen uns seit zweieinhalb Jahren, seit zwei Jahren sind wir verheiratet. Wir jobben beide, und ich bekomme noch Geld von daheim, damit können wir gerade so leben. Marius wird überhaupt nicht unterstützt, sagt aber nichts dazu, außer dass er ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern hat. Wir sind uns in der Uni über den Weg gelaufen. In der Mensa. Er stand hinter mir, ich suchte mir ein Gericht aus, und plötzlich sprach er mich an. Das solle ich nicht nehmen, das habe er in der letzten Woche gegessen, und es schmecke ganz furchtbar. Mir war das so peinlich vor der Frau, die dort an der Ausgabe saß. Hinter uns eine endlose Schlange, und wir diskutierten, was ich wählen sollte …«

Sie erinnerte sich, als wie störend sie es empfunden hatte, dass der fremde Student überhaupt nicht zu bemerken schien, dass sie beide den ganzen Betrieb aufhielten und dass alle um sie herum ungeduldig wurden. Der Vorfall war später noch manchmal zwischen ihnen zur Sprache gekommen, allerdings meist auf eine scherzhafte Art. Wenn sie mit Kommilitonen zusammensaßen und über ihr Kennenlernen berichteten. Inga hatte dann oft lachend gesagt: »Ich bin fast gestorben vor Peinlichkeit! Und Marius gab mir in aller Gemütsruhe Empfehlungen, welches Essen das beste sei, welches nicht und warum. Wie in einem Feinschmeckerlokal. Um uns herum waren alle genervt, aber ihn interessierte das gar nicht!«

Marius pflegte dann zu sagen: »Wir bezahlen schließlich dort für das Essen. Also können wir auch in Ruhe wählen, was wir haben wollen.«

Gelächter ringsum. Typisch Marius! Der Sonnyboy, der sich das Leben so zurechtbastelte, wie es schön für ihn war. Und der sich einen Dreck darum scherte, ob ihn eine griesgrämige Frau an der Essensausgabe anblaffte …

Ein einziges Mal, das fiel Inga plötzlich ein, hatten sie ganz ernst über dieses Vorkommnis gesprochen.

»Komisch«, sagte sie, »das hatte ich ganz verdrängt.«

»Was denn?«, fragte Rebecca.

»Vor ungefähr eineinhalb Jahren hatten wir einen riesigen Streit. Es ging um eine Situation in einem Supermarkt. Es war Samstag, der Laden war gerappelt voll. Sie hatten nur eine Kasse geöffnet, und die Schlange staute sich durch sämtliche Gänge. Es war nervig, zumal wir nur eine Flasche Milch zu bezahlen hatten, aber man hätte das Ganze auch komisch sehen können. Manche taten das. Es … es war so eine Stimmung, bei der Menschen, die einander ganz fremd sind, Witze über den Schlamassel reißen, in dem sie stecken. Weil es ja eben nicht wirklich ein ernster Schlamassel war.« Inga hielt kurz inne, sie suchte nach Worten. »Ich meine, es war ärgerlich, aber nicht richtig schlimm. Solche Dinge passieren eben. Und eigentlich alberten alle herum …«

»Außer Marius?«, fragte Rebecca.

Inga nickte. »Außer Marius. Ich merkte zuerst gar nicht, dass seine Laune offenbar auf eine Explosion zusteuerte. Vor uns stand ein Typ, der auch nur ganz wenig kaufen wollte, ein Päckchen Butter oder eine Tüte Mehl, und der witzelte herum, dass wir ja wohl die totalen Verlierer bei der Nummer hier seien … man habe nur rasch eine Kleinigkeit holen wollen, und nun dürfe man den Samstagnachmittag im Supermarkt verbringen … solche Dinge eben. Ich beteiligte mich, ich fand das alles ja auch nicht so schlimm …« Sie überlegte. »Und dann sagte der andere plötzlich: ›Wir sind die geborenen Looser‹, oder so ähnlich, jedenfalls fiel das Wort Looser. Und plötzlich rastete Marius aus. Es war … furchtbar. Er brüllte los. Dass er kein Looser sei, und was der andere sich einbilde, so etwas zu sagen. ›Ich bin nicht der Letzte!‹, schrie er. ›Ich bin jemand, und ich lasse mir das hier nicht gefallen!‹«

Inga schüttelte den Kopf. »Seltsam«, sagte sie, »jetzt fällt mir das wieder ein. Genau dieselben Worte benutzte er nämlich auf dem Schiff. Ich bin nicht der Letzte! Ich bin jemand! Genau das!«

Rebecca sah sie aufmerksam an. »Das ist aber sehr merkwürdig, Inga. Zumindest in jenem Supermarkt kann es aber kaum in einem Zusammenhang mit mir gestanden haben.«

»Nein. Bestimmt nicht. Aber es war so, als … als empfinde er die Situation, nämlich dort so unmäßig lange warten zu müssen, als auf sich gerichtet. Oder besser: gegen sich gerichtet. Als passiere das alles einzig, um ihn zu quälen und zu schikanieren. Es war … er wirkte richtig krank auf mich!«

»Wie endete die Geschichte?«

»Ach, ganz furchtbar. Er lief nach vorn und schrie die Kassiererin an. Was sie sich einbilde, und so ließe er sich nicht behandeln. Die Ärmste war fix und fertig, sie war ohnehin völlig überfordert, und das Letzte, was sie brauchen konnte, war ein Kunde, der nun auch noch durchdrehte. Von der Belegschaft in dem Supermarkt hatten fast alle die Grippe, deshalb hockte sie dort allein, sie konnte für das alles nichts … Ich habe mich in Grund und Boden geschämt. Alle Leute waren verstummt und starrten Marius entsetzt an. Zum Schluss knallte er die Milchflasche in irgendein Regal, nahm mich an der Hand, schnauzte mich an, dass wir nun gehen würden, und dann rauschten wir hinaus.« Inga seufzte. »Ich habe mich nie wieder getraut, dort einzukaufen. Und daheim stritten wir dann stundenlang. Er wollte nicht einsehen, dass sein Benehmen unmöglich gewesen war.«

»Er scheint sich ungewöhnlich schnell schlecht behandelt oder zurückgesetzt zu fühlen«, sagte Rebecca, »und seine Reaktion auf dieses Gefühl ist … ist …« Sie stockte.

»Es ist fast paranoid«, sagte Inga, »das können Sie ruhig aussprechen.« Sie rieb sich wieder den schmerzenden Kopf. »Damals sprach ich auch die Sache in der Mensa noch mal an. Da hatte er zwar nicht getobt, aber sich so unangenehm … großkotzig aufgeführt. Jedenfalls hatte ich mich da ja auch blamiert gefühlt. Aber ich konnte ihm dieses Gefühl nicht vermitteln. Er verstand nicht, was ich meinte. Er beharrte darauf, dass man versucht habe, ihn schlecht zu behandeln – entweder, indem man ihm minderwertiges Essen anzudrehen versuchte wie in der Mensa, oder ihn über Gebühr lange warten ließ wie im Supermarkt –, und er war eher tief erstaunt über mich, dass ich mir das alles bieten ließ, ohne aufzumucken. Wir hörten irgendwann auf zu streiten, aber wir waren nicht zu einem Ergebnis gelangt. Keiner von uns hatte eingelenkt.«

Rebecca sagte vorsichtig: »Sie müssen sich doch immer ein bisschen wie auf einem Pulverfass gefühlt haben, oder? Es konnte jederzeit wieder passieren. Das war Ihnen bewusst, nicht wahr?«

Inga konnte nicht aufhören, ihre Schläfen zu massieren. Der Kopfschmerz schien stärker zu werden.

»Ja«, sagte sie leise, »wobei ich glaube, ich habe das mit größter Anstrengung verdrängt. Immer wieder. Ich habe mir eingeredet, das seien Ausrutscher gewesen … er hatte eben einen schlechten Tag … jeder steht mal neben sich … so in dieser Art. Dabei …«

»Ja?«

»Irgendwie war diese Attitüde immer da. Manchmal nur ganz schwach ausgeprägt, dann wieder stärker. Es war spürbar in der Art, wie er Kellner im Restaurant behandelte. Wie er mit Handwerkern umsprang. Oder mit Lieferanten … Immer ein Stück von oben herab, manchmal fast unhöflich. Und immer … nun, ich hielt immer den Atem an. Irgendwie spürte ich, dass es zum Eklat kommen könnte, wenn sich solche Leute plötzlich arrogant verhalten würden, wenn sie nicht springen würden, wie er es wollte. Er schien darauf zu lauern. Ich … ich atmete jedes Mal tief durch, wenn eine solche Situation vorüber war, und es war nichts passiert.«

Sie schwieg, starrte in den blauen Himmel hinauf. Auch Rebecca sagte eine Weile nichts. Schließlich meinte sie: »Wie anstrengend. Es waren … nicht nur gute Jahre mit ihm, oder?«

»Nein«, sagte Inga, »wirklich nicht. Aber dann wieder … « Sie musste lächeln in der Erinnerung. »Es konnte so lustig sein mit ihm. So spontan und unkompliziert. Er hatte dauernd neue Einfälle, was man machen könnte. Mit ihm landete ich in völlig verrückten Kneipen, in obskuren Hinterhoftheatern, in Jazzkellern oder Transvestitenshows. Wir fuhren in Sommernächten an die Isar und badeten, oder wir schwänzten beide unser Seminar und machten eine Langlauftour im Chiemgau, weil wunderschöner hoher Schnee lag und Marius fast ausflippte vor Begeisterung darüber. Wissen Sie, das war das Schöne an ihm, diese Begeisterungsfähigkeit. Ich profitierte davon. Ich bin viel ernster, und ich habe immer Skrupel, wenn ich nicht genau das tue, was von mir erwartet wird. Ich bin übrigens auch die Ältere von uns beiden. Ich bin sechsundzwanzig, Marius ist vierundzwanzig. Aber manchmal kommt es mir vor, als lägen viel mehr Jahre als nur zwei zwischen uns. Mindestens zehn.«

»Was studieren Sie?«, fragte Rebecca.

»Germanistik und Geschichte. Ich bin bald fertig. Marius schien es egal zu sein, wie lange sein Studium dauert. Er will Rechtsanwalt werden, aber er hat noch keinen Schein je im ersten Anlauf geschafft. Nicht, weil er zu dumm wäre. Im Gegenteil, er schreibt hervorragende Noten. Aber er bricht oft zwischendurch ab. Fängt eine Hausarbeit an, hat plötzlich keine Lust mehr. Steht mitten in einer Klausur auf und verlässt den Hörsaal, weil draußen die Sonne scheint und er findet, man solle an einem solchen Tag lieber ins Schwimmbad gehen. Mir hat das imponiert. Neben ihm kam ich mir immer ganz langweilig und pflichtbewusst vor. Und ich dachte, wie gut, dass ich jemanden habe, der mich mitreißt. Der mich dazu bringt, auch mal etwas Verrücktes zu tun. Nicht nur vernünftige Dinge.« Sie schaute Rebecca ängstlich an. » Können Sie das verstehen? Oder finden Sie … finden Sie, dass Marius verrückt ist, und dass ich das hätte merken müssen?«

Ein paar Möwen schrien laut und enthoben Rebecca einige Sekunden lang einer Antwort. Dann sagte sie: »Ich verstehe Sie sehr gut, Inga. Wirklich. Ich kann mir den Charme Ihres Mannes – Sie haben übrigens ganz schön schnell geheiratet, nicht? – gut vorstellen. Nur – irgendwo in seinem Leben gibt es ein massives Problem, das Sie offensichtlich nicht kennen, dessen Wirkung Sie aber zu spüren bekommen haben. Wenn er zurückkehrt – und ich finde, wir sollten wirklich noch nicht das Schlimmste annehmen –, dann müssen Sie das mit ihm klären. Sie können nicht damit leben und es ignorieren. Das wird auf die Dauer nicht funktionieren.«

»Nein«, sagte Inga, »da haben Sie Recht.« »Ich denke«, sagte Rebecca, »wir wären der Lösung des Rätsels schon ein Stück näher, wenn wir herausfinden könnten, weshalb er offenbar auch mich als einen Menschen empfindet, der ihm Unrecht getan hat. Der ihm das Gefühl gegeben hat, minderwertig zu sein. Wo könnte es zwischen seinem und meinem Leben einen Schnittpunkt geben?«

Die Möwen schrien wieder, und in der Stimmung von Ratlosigkeit und Beunruhigung, die plötzlich zwischen den beiden Frauen herrschte, schienen die Schreie einen bedrohlichen Unterton in sich zu tragen.

»Wo könnte es einen Schnittpunkt geben«, wiederholte Inga.

Sie tappte vollständig im Dunkeln.