22. KAPITEL

“Eine halbe Million Dollar?” Julia konnte sekundenlang ihren Mund nicht schließen. “Das ist unglaublich. Wie hat Eli so viel Geld zusammenbekommen?”

“Ich glaube nicht, dass er das alles als Wirtschaftsprofessor verdient hat.”

“Aber … das verstehe ich nicht. Jennifer sagte, dass nicht mal genug Geld auf seinem Konto war, um die Beerdigung zu bezahlen. Es existieren auch keine weiteren Konten. Sie musste das Geld aufbringen.”

“Wahrscheinlich hat er besser gelebt, als alle gedacht haben, indem er sich aus der Tasche immer nur so viel geholt hat, wie er gerade brauchte, aber nie mehr. Und als dann seine Krankheit schlimmer und sein Gedächtnis immer schlechter wurde, hat er irgendwann vergessen, wo sein Geld war. Vielleicht sogar, dass er es überhaupt besaß.”

“Wo ist das Geld jetzt?”

“Ich habe es Hammond gegeben, der es ans FBI weitergeleitet hat. Sie versuchen, die Herkunft festzustellen.”

Sie konnte nicht den Anblick vergessen, wie Eli in seinem Schaukelstuhl dagesessen hatte. “Er machte den Eindruck eines völlig harmlosen, fast schon liebenswerten Mannes. Er hat mir Leid getan wegen dieser Höllenqualen, die er mit sich selbst austrug, dieser Angst, dieser Verwirrung.”

“Dein Mitgefühl war fehl am Platz.” Wieder zeigte sich auf Steves Gesicht keine Gefühlsregung. “Wenn meine Vermutungen stimmen, dann könnte Eli Seavers alias Ahmed Jamoul alias drei weitere Namen, die ich mir notiert habe, die ich mir jedoch nicht merken konnte, in den letzten elf Jahren den Tod von über vierhundert Menschen mitverschuldet haben.”

Julia atmete langsam aus. “Wie konnte er so lange etwas so Abscheuliches machen, ohne erwischt zu werden?”

“Manche Leute sind gut darin, ein Doppelleben zu führen. Es gibt ihnen ein Gefühl der Macht. Und nicht zu vergessen die finanzielle Seite. Wenn man überlegt, was Eli als Professor verdient hat, dann musste das Geld sehr motivierend wirken.”

“Du meinst, er hat neben Gleic Éire auch für andere Organisationen gearbeitet?”

“Wahrscheinlich ja. Der Handel mit Waffen ist schon immer ein riesiger Markt gewesen, nicht nur in Europa, auch in Afrika und Südamerika.”

“Dieser lukrative Zeitvertreib dürfte dann auch der Grund gewesen sein, warum er nie mit seiner Nichte Kontakt aufgenommen hat”, sagte Julia. “Obwohl er wusste, wo sie lebte. Er wollte nicht entdeckt werden.” Julia dachte an den Nachmittag in Pine Hill zurück und daran, wie liebevoll sich Jennifer um ihren Onkel gekümmert hatte. “Arme Jennifer”, murmelte sie. “Wenn das alles stimmt, wird sie am Boden zerstört sein. Sie hat ihren Onkel sehr geliebt.”

Ein anderer Gedanke ging ihr durch den Kopf, und sie sah Steve an. “Wird sie das Geld erben?”

“Nicht, solange das FBI nicht weiß, woher es stammt. Wenn es in irgendeiner Weise mit Drogenhandel, Erpressung, Terrorismus oder einem anderen Verbrechen zusammenhängt, wird sie nicht einen Cent zu sehen bekommen.”

“Sie würde es auch nicht haben wollen. Nicht, wenn andere dadurch Leid erfahren haben.”

Aus dem Nebenzimmer, wo Andrew, Jimmy und Coop Monopoly spielten, kam ein Freudenschrei. “Gewonnen!” jubelte Andrew.

Steve lächelte und zog Julia aus dem Sessel. “Komm schon”, sagte er. “Vergiss das alles mal für einen Abend und schließ dich der fröhlichen kleinen Gruppe da drüben an.” Er zwinkerte ihr zu. “Vielleicht lädt uns Andrew von seinem Gewinn allesamt zum Essen ein.”

Einige Tage später wachte Julia mitten in der Nacht auf, ohne zu wissen, warum. Eben noch hatte sie friedlich geschlafen, und jetzt war sie hellwach.

Der zunehmende Mond schien durch die weißen Gardinen. Vor ihrem Fenster bewegte sich der Ast einer Pinie in der nächtlichen Brise und warf sonderbar geformte Schatten an die Wand gegenüber ihrem Bett.

Julia lag wie erstarrt da, alle Sinne in Alarmbereitschaft. Da war es wieder gewesen, ein Rascheln – so leise, dass sie es sich vielleicht sogar nur eingebildet hatte. Das Geräusch war aus der Küche gekommen. War Steve für irgendetwas nach unten gegangen und hatte das Licht nicht eingeschaltet?

Als sie auf dem Zifferblatt die Zeit erkannte, verwarf sie sofort den Gedanken. Er würde niemals nachts um ein Uhr ihre Küche betreten.

Was nur eines bedeuten konnte: Ein Einbrecher war im Haus.

Sie wollte die Polizei anrufen, besann sich aber eines Besseren. Einen Notruf machte man nur, wenn es sich wirklich um einen Notfall handelte.

Sie schob das Bettlaken fort, stieg aus dem Bett und ging geräuschlos durch das Zimmer in den Flur.

Sie schlich an Andrews Zimmer vorbei und war dankbar, dass er diese Nacht bei Jimmys Eltern verbrachte. Eine nervöse Mutter wäre das Letzte gewesen, was ihm noch fehlte.

Von den grün leuchtenden Ziffern der Mikrowelle abgesehen, war die Küche völlig dunkel. Und so still wie ein Grab.

Sie atmete erleichtert aus. Du hast zu viele Miss-Marple-Romane gelesen, altes Haus. Dummerweise war sie jetzt hellwach und würde so schnell nicht wieder einschlafen können, also konnte sie sich auch einen Tee machen. Sie griff nach dem Lichtschalter.

In dem Augenblick legte sich eine behandschuhte Hand auf ihren Mund.

Julia erstarrte vor Schreck.

“Keinen Laut”, flüsterte ihr eine männliche Stimme ins Ohr. “Wenn du einen Ton von dir gibst, töte ich dich.”

Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre kein Wort über ihre Lippen gekommen. Ihre Stimmbänder verkrampften sich, und sie schien unfähig, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

Dann fühlte sie, wie der harte Lauf einer Waffe in ihre Seite gedrückt wurde.

Unbändige Angst durchfuhr ihren Körper. O Gott! Das konnte nicht wahr sein. Es musste ein Traum sein, ein schrecklicher Albtraum.

Als der Arm sich fester auf ihren Mund legte und sie mit dem Rücken gegen ihren Angreifer drückte, wusste sie, dass es kein Albtraum war, sondern die unerbittliche Realität.

Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Ein Einbrecher? Ein Vergewaltiger? Sie versuchte, sich an das zu erinnern, was sie vor Jahren in einem Selbstverteidigungskurs gelernt hatte, aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Warme Lippen drückten sich gegen ihr Ohr. “Hast du mich verstanden?”

Sie nickte langsam und vorsichtig, da sie befürchtete, dass er bei der kleinsten Bewegung auf sie schießen könnte. Die Angst hatte ihre Beine zu Gummi werden lassen. Bloße Willenskraft hielt sie davon ab, dass sie ihr den Dienst versagten.

“Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie aufwachen würden”, flüsterte der Mann. “Aber wenn Sie schon wach sind, kann ich mir das gleich zunutze machen.” Er verstärkte seinen Griff um ihre Hüfte. “Wo ist es?”

Geld? Wollte er Geld? Bei dem Gedanken stieg hysterisches Lachen in ihrer Kehle auf, erstarb aber gleich wieder, als er sie erneut brutal an sich drückte. “Antworte schon.”

“In der Schreibtischschublade”, flüsterte sie, als er seine Hand gerade so lange von ihrem Mund nahm, dass sie etwas sagen konnte. “Viel ist es aber nicht …”

Die Waffe bohrte sich tiefer in ihre Seite und ließ Julia erstickt wimmern. “Spiel keine Spielchen mit mir, Julia. Du weißt, wovon ich rede.”

Er kannte sie! Und er wollte weder Geld noch Sex. Aber was dann?

“Das Band, Julia”, sagte er ungeduldig. “Das Audioband deines Bruders. Dein Mann hat es versteckt, und du wirst mir erzählen, wo es ist.”

Jordans Band. Er dachte, dass sie es hatte. Die Forderung war so lächerlich, dass ihre Furcht einen Moment lang wie weggewischt war und von dem absurden Wunsch ersetzt wurde zu lachen. Dachte er tatsächlich, dass sie nicht der Polizei das Band gegeben hätte, wenn es in ihrem Besitz gewesen wäre, um sich von dem Verdacht reinzuwaschen, der ihr anhing?

Tränen schossen ihr in die Augen. “Ich habe es nicht”, sagte sie mit erstickter Stimme. “Paul hätte niemals …”

“Denk nach, Julia, denk nach. Du kanntest ihn. Du weißt, wie er gedacht hat. Wenn er in diesem Haus etwas verstecken wollte, wo wäre das wohl?” Der Lauf der Waffe bohrte sich wieder ein Stück tiefer in ihre Seite. “Hilf mir, Julia, sonst töte ich dich auf der Stelle.”

Er legte eine kurze Pause ein, dann fuhr er mit bösartigem Tonfall fort: “Oder … oder ich fange mit dem Jungen an. Wie würde dir das gefallen, Julia? Soll ich Andrew holen? Ich weiß, wo er ist. Ich habe ihn die letzten Tage beobachtet.” Die letzten Worte sang er auf eine Weise, als wollte er mit ihm Verstecken spielen.

Entsetzen schnürte ihr den Hals zu. “N-nein”, flehte sie ihn an. “Tun Sie ihm nichts, bitte.”

Er lachte leise. “Wirst du gehorchen?”

“J-ja.”

Sie kämpfte gegen die Furcht an und atmete kurz und flach, während sie versuchte, ruhig zu bleiben und rational zu denken. Er würde sie so lange nicht töten, wie er dachte, dass sie wusste, wo sich die Kassette befand. Zeit. Sie musste Zeit gewinnen.

Sie sah zum Foyer und hoffte, dass Steve einen leichten Schlaf hatte. Wenn sie ihm irgendein Signal zukommen lassen konnte, ohne sich zu sehr in Gefahr zu bringen, dann würde sie das hier vielleicht überleben können.

“Ich werde langsam ungeduldig, Julia.”

“Ich … ich überlege. Ich versuche …”

“Du spielst auf Zeit.” Er stieß sie gegen einen Stuhl. In der Stille der Nacht kam das Kratzen von Holz auf dem Kachelboden einer Explosion gleich.

Sie fühlte, wie er sich versteifte. Er drückte seine Hand wieder fest auf ihren Mund, und einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte sie zu ersticken. Dann lockerte er seinen Griff, und sie konnte wieder atmen. Ihr Blick klebte an der Decke. Bitte, Steve, Dad. Wacht auf.

Als einige Sekunden verstrichen und nichts geschehen war, lachte der Mann nervös auf. “Ich schätze, deine beiden Gäste haben nicht so einen leichten Schlaf wie du.”

Er wusste, dass Steve und ihr Vater oben waren? Und trotzdem war er hergekommen? Ist er so furchtlos? fragte sie sich, als ein erneuter Anflug von Panik sie erfasste. Oder ist er einfach nur verrückt?

Sie hatte keine Chance weiter zu überlegen. Ohne Vorwarnung wurde sie von einer gewaltigen Wucht getroffen und gegen die Kochinsel geschleudert. Eine Kupferpfanne, die auf dem Herd stehen geblieben war, fiel scheppernd zu Boden. Julia ging auf alle viere hinunter, griff nach dem Kessel und rappelte sich wieder auf.

Sie hörte Kampfgeräusche, eine Faust, die auf Knochen traf, dann einen lauten, dumpfen Schlag, gefolgt von einem Fluch und schmerzerfülltem Stöhnen.

“Steve!” schrie sie. “Bist du in Ordnung?”

“Ja. Geh aus dem Weg.”

Julia, die den Griff der Pfanne wie einen Baseballschläger in beiden Händen hielt, holte mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte aus, und traf den Einbrecher am Hinterkopf, als er an ihr vorbeirannte.

Sie hätte ebenso gut mit einer Fliegenklatsche nach ihm schlagen können. Ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten, stürmte der Mann weiter.

Steve setzte ihm nach und ignorierte den Schmerz in der Seite, in die der Angreifer ihm einen heftigen Tritt versetzt hatte. Als er aber den Fußweg erreichte, war der Mann in der Dunkelheit verschwunden.

Ohne zunächst wieder zu Atem zu kommen, rannte er das kurze Stück zur “Hacienda” zurück. Julia stand blass und aufgelöst mitten in der Küche und hielt immer noch den Kupferkessel in der Hand. Sie trug ein hellblaues Nachthemd, auf dessen Vorderseite der Name irgendeiner Universität geschrieben stand. Es bedeckte kaum ihre Oberschenkel und betonte irritierend ihre Kurven.

“Ist er entkommen?” Mit der freien Hand hielt sie sich an der Kochinsel fest.

“Nach dem Schlag, den du ihm verpasst hast, hätte er tot sein müssen. Leider ist er mir entwischt. Tut mir Leid.”

Er bemerkte, dass sie zitterte, und nahm ihr die Pfanne aus der Hand, stellte sie auf die Kochinsel und legte seine Arme um Julia, um sie an sich zu ziehen. “Ganz ruhig, Baby. Es ist alles gut. Er ist weg.”

Julia lehnte sich einen Moment lang an ihn und drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Dann löste sie sich sanft aus seinem Griff, als wäre ihr plötzlich klar geworden, dass sie beide nicht allzu viel trugen – sie ein dünnes Nachthemd und er Boxershorts. “Entschuldige … ich wollte nicht die Nerven verlieren.”

“Bist du okay?” fragte Steve sanft. “Hat er dich verletzt?”

“Nein.” Sie rieb ihren Ellbogen.

“Er hat dich verletzt.” Er nahm ihren Arm, drehte ihn behutsam um und tastete mit seinem Daumen ihren Ellbogen ab.

Sie wollte die Situation auf die leichte Schulter nehmen, aber ihre bleichen Wangen sagten etwas anderes. “Was erwartest du, wenn du wie ein wilder Stier herangestürmt kommst?”

“Tut mir Leid. Ich habe nicht nachgedacht.”

“Darüber bin ich ja so froh.”

Steve ging zum Kühlschrank, nahm ein paar Eiswürfel heraus und wickelte sie in ein Küchentuch. “Hier, halt das an deinen Ellbogen. Dann geht die Schwellung zurück.”

Das Geräusch schneller Schritte ließ sie beide aufsehen.

“Was zum Teufel …” Coop, der einen blau gestreiften Pyjama trug, sah von Steve zu Julia und hatte sofort die Situation erfasst. “Julia? Was ist passiert?”

Während Steve sie losließ, fasste Coop Julia an den Schultern. “Bist du okay, Baby?”

Sie nickte. “Jemand ist eingebrochen. Ein Mann …”

“Hat er dir etwas angetan?”

“Nein.” Ein Schauder lief ihr über den Rücken. “Er … er hat nach der Kassette gesucht. Jordans Kassette.”

“Er hat gedacht, dass du sie hast?”

“Ja.” Sie drückte eine Hand gegen ihre Brust. “Er … er hat Andrew bedroht.”

Coop stieß einen Fluch aus. “Ich bringe ihn um”, sagte er mit zusammengepressten Zähnen. “Ich werde ihn finden, und dann bringe ich ihn um.”

Julia konnte sich nicht länger auf den Beinen halten und sank in den am nächsten stehenden Sessel. “Er hat gesagt, dass er weiß, wo Andrew ist”, murmelte sie und begann wieder zu zittern. “Er hat ihn beobachtet.” Sie stöhnte leise auf. “Stell dir vor, Andrew wäre hier gewesen!”

“Das war nur ein Druckmittel, er wollte dir nur Angst einjagen”, sagte Steve.

Sie stand auf. “Ich muss wissen, ob es ihm gut geht …”

“Julia, es ist ein Uhr in der Nacht …”

“Das interessiert mich nicht, ich will wissen, ob es meinem Sohn gut geht.”

“Okay, okay, beruhige dich, Julia.” Sanft drückte Steve sie zurück in den Sessel. “Ich kümmere mich sofort darum, ich rufe Joe Martinez an.”

Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen sah sie ihm zu, wie er den Hörer nahm, mit dem Finger über die Telefonliste ging und eine Taste drückte. Als Jimmys Vater sich meldete, fasste sich Steve kurz.

“Ich bin sicher, dass es den Jungs gut geht”, sagte Joe Martinez. “Aber ich sehe mal nach.”

Nach wenigen Augenblicken war er wieder am Telefon. “Die beiden schlafen fest, Steve. Der Alarm ist eingeschaltet, aber zur Sicherheit werde ich aufbleiben.”

Nachdem er sich bedankt hatte, legte Steve auf und gab die Antwort an Julia weiter, die sich erst jetzt zu entspannen schien.

Dann nahm Steve den Hörer wieder ab und rief Detective Hammond an.