7. KAPITEL
Julia saß allein am Küchentisch und trank von ihrem Kamillentee, während sie versuchte, sich zu entspannen. Es half nichts. Die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden – die Beerdigung, der Streit mit Charles und ihr Besuch im Pine-Hill-Pflegeheim – hatten ihre Nerven extrem angespannt.
Ihr Gespräch mit Detective Hammond war weitgehend so verlaufen, wie sie es erwartet hatte. Eli Seavers' Behauptung fand er zwar bemerkenswert, doch der Mann war skeptisch, was den Wahrheitsgehalt dieser Worte anging.
“Ich werde das überprüfen”, hatte er ihr gesagt, während er auf dem kleinen Notizblock, den er schon bei ihrer Befragung benutzt hatte, alles Wichtige festhielt. “Aber ich wäre an Ihrer Stelle nicht zu optimistisch. Jede Polizeiwache im ganzen Land und sogar das FBI erhält jedes Jahr Hunderte von Anrufen von Menschen, die behaupten, dass sie wüssten, wo sich die Anführer von Gleic Éire verkrochen haben. Wir überprüfen jeden einzelnen Hinweis. Wir müssen das machen, aber wir sind noch nie auf etwas gestoßen.”
Bei dem Glück, das ich in den letzten Tagen hatte, wird sich auch diesmal nichts ergeben, dachte Julia in einem Moment des Selbstmitleids.
Das plötzliche Geräusch von zersplitterndem Glas, dem ein dumpfer Knall folgte, ließ sie aus ihrem Sessel aufspringen.
Zu überrascht, um Angst zu empfinden, rannte sie ins Foyer. Auf dem Boden vor ihr lagen die Überreste eines kleinen bunten Fensters über der Tür. Zwischen den verschiedenfarbigen Scherben lag ein Päckchen – ein Ziegelstein, um den eine Zeitung gewickelt war, die von einem Gummiring festgehalten wurde.
Von der Straße her war das Geräusch quietschender Reifen zu hören, während ein Wagen wegfuhr. Zorn wallte in ihr auf, als sie die Tür aufriss und nach draußen rannte. Sie kam zu spät. Der Wagen war bereits im dichten Nebel verschwunden.
Ihr Herz pochte laut in ihrer Brust, während sie zurück zur “Hacienda” ging und besorgt war, dass Andrew von dem Lärm geweckt worden sein könnte. Aber nicht ihr Sohn wartete auf sie, sondern ihre beiden Gäste, eine im Ruhestand befindliche Lehrerin aus Joliet, Illinois, und ein Buchhalter aus Seattle. Beide standen im Foyer, einen Morgenmantel über den Schlafanzug gezogen, starrten sie auf das Loch, wo das Fenster gewesen war.
“Mrs. Bradshaw!” rief Emilie Harris. “Was ist passiert?”
“Das ist doch offensichtlich.” Jack Woods, der Buchhalter, der von Natur aus schlecht gelaunt war, sah Julia an, als sei der Zwischenfall ihre Schuld. “Irgendein Scherzbold hat einen gottverdammten Stein durch das Fenster geworfen.”
Julia ignorierte seine aggressive Art und hob den Stein auf, um ihn auszuwickeln. Sofort sah sie die Nachricht, die in großen roten Buchstaben quer über die Seite geschrieben worden war. Ein kaltes, klammes Gefühl ergriff von ihr Besitz, während sie das einzige Wort las, aus dem die Nachricht bestand.
Mörderin.
Emilie Harris presste ihre Hände an ihre Brust. “Was steht da drauf, Mrs. Bradshaw?”
Mit zitternden Händen faltete Julia rasch die Zeitung zusammen. “Nichts. Diese Woche ist Schulschluss. Ich bin sicher, dass es nur ein Scherz …”
“Das ist nichts? Von wegen.” Jack Woods ging auf sie zu und deutete mit dem Zeigefinger auf die Zeitung. “Wir sind Gäste in Ihrem Haus, Mrs. Bradshaw. Wenn das ein Drohbrief ist und unser Leben in Gefahr ist, haben wir ein Recht, das zu wissen.”
“Das ist kein Drohbrief.”
Bevor sie es verhindern konnte, hatte der Buchhalter ihr das Papier aus den Händen gerissen, starrte erst auf das hingekritzelte Wort, dann sah er wieder Julia an.
“Würde mir freundlicherweise jemand erklären, was da steht?” Mrs. Harris' Stimme war von Panik erfüllt. Als Woods ihr die Zeitung zeigte, schnappte sie nach Luft. “O mein Gott!”
“Wer wird als Mörderin beschimpft?” wollte der Buchhalter wissen. “Sie?”
“Ja, aber es stimmt nicht”, protestierte Julia. “Ich habe niemanden umgebracht.” Sie hoffte, dass ihre Offenheit ihn besänftigen würde, doch das war nicht der Fall.
“Es geht um den Mord an Ihrem Exmann, oder?” Emilie Harris' kleine Augen funkelten vor plötzlicher Neugier. Sie wandte sich an Woods. “Der Mann von gegenüber hat mir erzählt, dass die Polizei letzte Woche hier war und sie verhört hat.”
Woods' Blick hatte etwas Unerbittliches, als er wieder zu Julia sah. “Glaubt die Polizei, dass Sie Ihren Exmann umgebracht haben?”
“Nein, natürlich nicht.” Angesichts solcher Feindseligkeit versuchte Julia verzweifelt, die Situation nicht ihrer Kontrolle entgleiten zu lassen. “Ansonsten hätte man mich auch schon längst verhaftet.”
Woods hielt die Zeitung wie ein Schwert und wedelte mit ihr umher. “Aber irgendjemand glaubt das offenbar, sonst würde man Sie nicht als Mörderin bezeichnen.”
“Mr. Woods, bitte”, flehte Julia. “Es gibt keinen Grund, laut zu werden. Sie wecken noch Andrew auf …”
Ihre Bitte bewirkte nichts. “Sagen Sie, Mrs. Bradshaw”, sagte er sarkastisch. “Was kommt morgen Abend als nächstes durch die Fenster geflogen? Kugeln?”
“Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nur ein Streich gewesen ist. Es ist harmloser, als sie denken.”
“Egal, ob das ein Streich war oder nicht. Ich beabsichtige nicht, zur Zielscheibe irgendeines Verrückten zu werden, mit einer Vendetta gegen Sie.” Er sah aus dem Fenster neben der Tür. “In dem Nebel komme ich hier jetzt wohl nicht weg, aber ich werde am Morgen sofort abreisen.” Er nickte knapp. “Machen Sie meine Rechnung fertig.”
“Meine auch”, sagte Emilie Harris spitz und folgte ihm nach oben.
Entsetzt stand Julia da und sah ihnen nach, während sie sich fragte, was in ihrem Leben wohl noch schief gehen konnte. Innerhalb von nur vier Tagen hatte man sie des Mordes verdächtigt, ihr gedroht, ihr Kind und Geschäft abzunehmen, und jetzt das. Während ihr die Tränen in die Augen schossen, starrte sie auf die Glasscherben zu ihren Füßen. Sie wusste nicht, worüber sie sich mehr aufregen sollte: dass sie ihre beiden einzigen Gäste verloren hatte oder dass es jemanden gab, der sie genug hasste, um einen Ziegelstein durch ein Fenster zu werfen und sie als Mörderin zu beschimpfen.
Der Wunsch, ihrer Verzweiflung freien Lauf zu lassen, war stark, aber irgendwie schaffte sie es, gegen ihn anzukämpfen. Sie musste sich zusammenreißen, allein schon wegen Andrew.
Während sie hörte, wie im Stockwerk über ihr Türen zugeschlagen wurden, wischte sie die Tränen fort und drehte sich um, erstarrte aber in ihrer Bewegung.
Andrew stand im Durchgang, der die Küche vom Foyer abteilte. Seine Augen waren vor Angst und Fassungslosigkeit weit aufgerissen.
“Andrew.” Rasch legte sie den Ziegelstein und die Zeitung auf einen kleinen Tisch und eilte zu ihm. “Wieso bist du auf?”
“Ich habe Mr. Woods' Stimme gehört.” Seine großen, treuen Augen suchten den Blickkontakt zu ihr. “Er hat gesagt, dass du meinen Dad umgebracht hast.”
Julia verspürte aufwallende Panik. Sie hatte sich so sehr bemüht, Andrew vor dem gehässigen Tratsch abzuschirmen, und jetzt war das Kind wegen eines unachtsamen, wütenden Mannes verwirrter als je zuvor.
“Er irrt sich, Andrew”, sagte sie in einem Ton, von dem sie hoffte, dass er sanft und beruhigend war. “Ich habe deinen Dad nicht umgebracht. Ich würde niemals so etwas tun.”
“Warum hat er das dann gesagt?”
Julia hielt seine Hände und streichelte sie sanft. “Ich weiß nicht, Andrew. Manchmal müssen Menschen jemandem die Schuld geben, und das ist oft ein Ehemann oder eine Ehefrau oder ein anderes Familienmitglied. Aber ich schwöre dir, dass ich es nicht getan habe.” Plötzlich zählte für sie nur noch, das Vertrauen ihres kleinen Jungen zurückzugewinnen. “Du glaubst mir doch, oder?” fragte sie besorgt.
Zu ihrer Erleichterung nickte er nachdrücklich, machte aber immer noch einen verstörten Eindruck, da er an ihr vorbei ins Foyer blickte. “Hat wirklich jemand einen Stein durch unser Fenster geworfen?”
“Oh, das ist überhaupt nichts, Darling.” Sie schaffte es, ihn anzulächeln. “Nur ein paar Kinder, die nichts Besseres zu tun hatten.”
“Mr. Woods hat gesagt, dass jemand auf uns schießen wird.”
Julia nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. “Mr. Woods weiß nicht, wovon er redet. Niemand wird auf uns schießen.”
“Aber wenn diese Leute zurückkommen?”
“Das werden sie nicht.” Als ihre Antwort ihn nicht beruhigte, schob Julia ihn fort von dem Durcheinander auf dem Fußboden. “Ich sage dir was. Warum hilfst du mir nicht, das hässliche Loch zuzumachen? Ich habe in der Garage ein Stück Sperrholz, das ganz genau passt. Das Problem ist nur, dass ich ein Paar kräftige Arme brauche, um es ins Haus zu tragen.” Sie grinste ihn an. “Habe ich einen Freiwilligen?”
Sein beunruhigter Gesichtsausdruck verschwand plötzlich. “Ich helfe dir.”
Zehn Minuten später hatte Julia das eingeschlagene Fenster mit dem Stück Sperrholz zugenagelt. Während Andrew ihr zusah, stieg sie von der Leiter und machte einige Schritte nach hinten, um ihre Arbeit zu begutachten.
“Hmm, nicht schlecht, wenn ich mich selbst loben darf. Was meinst du, Schatz? Habe ich eine Zukunft im Reparieren von Fenstern?”
Andrew verzog das Gesicht. “Ich weiß nicht, Mom. Das Holz ist ziemlich schief.”
Julia legte den Kopf schräg und versuchte, gut gelaunt zu klingen. “Nicht, wenn du es auf diese Weise betrachtest.”
Andrew lachte, sein erstes von Herzen kommendes Lachen, das sie von ihm seit Pauls Tod vor vier Tagen gehört hatte.
Sie fuhr ihm durch seine blonden Haare. “Nachdem wir das erledigt haben, könnte ich dich ja wieder ins Bett bringen, einverstanden? Es ist schon ziemlich spät.”
Er sah sie an, ein Hauch von Verlegenheit huschte über seine Wangen. “Kann ich bei dir im Bett schlafen, Mom? Nur heute Nacht?” Er zögerte kurz. “Ich habe ein bisschen Angst.”
Julia spürte einen kurzen, stechenden Schmerz. Der arme Junge. Nach allem, was geschehen war, hatte sich nun die Gewalt auch noch ihren Weg an den einzigen Ort gebahnt, an dem er sich sicher gefühlt hatte: nach Hause. Kein Wunder, dass er Angst hatte.
Sie wusste, dass es ihn einige Überwindung gekostet hatte, zuzugeben, dass er sich fürchtete, darum behielt Julia ihren unbeschwerten Tonfall bei. “Okay, aber nur, wenn du versprichst, nicht die Bettdecke an dich zu reißen.”
Der Trick funktionierte. “Du reißt die Bettdecke an dich.”
Nachdem Julia ihn ins Bett gebracht hatte, ließ sie die Tür offen, damit aus der Küche Licht ins Zimmer fiel, während sie zum Telefon ging und den Hörer aufnahm. Sie hatte gerade begonnen, die Nummer der Polizeiwache zu wählen, als sie innehielt.
Wenn sie den Vorfall polizeilich erfassen ließ, dann wüsste am Morgen die ganze Stadt darüber Bescheid. Wollte sie das wirklich? Sollte Charles glauben, das Gasthaus sei nicht mehr sicher, und sollte sie ihm auf diese Weise zusätzliche Argumente liefern, die er benutzen konnte, um ihr Andrew wegzunehmen?
Langsam ließ Julia den Hörer sinken.
Für den Augenblick war es am besten, den Zwischenfall auf sich beruhen zu lassen.
Diesmal war die Stimmung beim Zusammentreffen in der luxuriösen Villa auf dem Hügel düster. Auf der sonnigen Terrasse war kein unbeschwertes Gerede zu hören, keine Höflichkeiten, kein Wort über neugeborene Enkelkinder.
Unter den gleichen Vorsichtsmaßnahmen wie immer waren die vier Männer nur Augenblicke zuvor eingetroffen. Jeder wusste, dass eine unerwartete Krise ihre sofortige Aufmerksamkeit erforderlich machte.
Ihr Gastgeber Ian McDermott wartete, bis sein Butler die rituellen kristallenen Kelchgläser mit Orangensaft serviert und sich zurückgezogen hatte, ehe er sich an seine Partner wandte.
“Wie ihr bereits wisst”, sagte McDermott, während er sein Glas nahm, “ist Ratsmitglied Bradshaw tot. Und ein verrückter, alter Kerl in einem Pflegeheim zeigt mit dem Finger auf uns.”
Spencer Flynn, Chef eines der erfolgreichsten Sicherheitsunternehmen des ganzen Landes, reagierte als Erster: “Ich möchte wissen, wer zum Teufel Eli Seavers ist.”
“Nicht nur du.” McDermott wandte sich an Aaron Briggs, Eigentümer des über hundert Jahre alten San Francisco Star und sein Stellvertreter. “Aaron, deine Reporter haben die Sache recherchiert. Was weißt du über diesen alten Mann?”
Briggs senkte seinen Blick und las aus einer Aktenmappe vor. “Bislang nicht viel. Er hat in den letzten Jahren in Salinas gelebt. Vor zwei Jahren wurde bei ihm Alzheimer diagnostiziert, aber erst letzten Dezember kam er ins Pine-Hill-Pflegeheim. Seine einzige Verwandte ist eine Nichte, die von Polizei und FBI gründlich befragt worden ist. Laut Jennifer Seavers reagierte ihr Onkel aufgeregt, als er Paul Bradshaws Beerdigung im Fernsehen sah. Daraufhin hat sie Julia Bradshaw gebeten, ins Pflegeheim zu kommen, weil sie gehofft hat, irgendwie die Erinnerungen des alten Manns zu aktivieren.”
“Und dabei hat er ihr so ganz nebenbei erzählt”, sagte McDermott sarkastisch, “dass wir ihren Exmann umgebracht haben?”
Briggs nickte. “Seine genauen Worte waren: 'Gleic Éire hat es getan.' Als Detective Hammond allerdings versucht hat, ihn zu befragen, hat er geschwiegen wie ein Grab, was eine gute Nachricht ist.”
“Verdammt.” Briggs gegenüber saß John Adams, der ungeduldig mit seinen Fingern auf die Armlehne seines Sessels trommelte. Der frühere Navy-Offizier und jetzige Chef des in Familienbesitz befindlichen Tiefkühlkostimperiums war ein sanftmütiger Mann und der frisch gebackene Großvater in der Gruppe. “Das könnte unsere Mission im nächsten Monat in Gefahr bringen.”
McDermott presste seine Kiefer zusammen. “Die Mission wird nicht gefährdet werden. Wir haben zu hart daran gearbeitet, jede Phase zu perfektionieren, als dass wir jetzt zusehen, wie sie zu Fall gebracht wird.”
“Dem stimme ich zu.” Flynn wandte sich dem Verleger zu. “Aaron, vielleicht solltest du dich selbst um Seavers kümmern, anstatt deine Reporter an der Story arbeiten zu lassen. Das wäre sicherer.”
Briggs nickte. “Dagegen habe ich nichts.” Er sah in die Runde. “Wenn alle einverstanden sind.”
Die vier Männer nickten gleichzeitig mit dem Kopf.
“Ich hänge mich sofort dran.” Der Verleger sah zu seinem Gastgeber. “Was machen wir, wenn sich Seavers als Bedrohung entpuppt?”
McDermott hielt sein Kristallglas gegen das Licht und drehte es ein wenig, sodass das kostbare Kristall die Morgensonne einfangen konnte. “Dann töten wir ihn.”