KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

 

Ana öffnete die Augen.

Sie befand sich in einem dämmrigen Raum. Eine Linie aus weißem Licht um ein Fenster mit Vorhang davor verriet ihr, dass es Tag war. Ihr Körper tat weh, der Kopf schwindelte ihr leicht. Sie hatte das Gefühl, nicht allein zu sein, aber wer auch immer da war, sagte kein Wort noch machte er (oder sie) eine Bewegung. Sie bildete sich sogar ein, ein leichtes Schnarchen zu hören.

Das war ok. Sie brauchte noch ein bisschen...

Sie blieb ruhig liegen und versuchte die verschwommenen Erinnerungen zu sortieren, wie sie hierher kam. Das Letzte, an was sie sich erinnerte, war–

Und auf einmal war alles – wie von einer Welle angespült –wieder da. Der Druck von Armen, die sie unten hielten ... brutales Gezerre, der schneidende Schmerz, das schwere Gefühl in ihrer Lunge, als das Meer mit seinem ganzen Gewicht darauf drückte, sie erstickte.

Ihre Kristalle waren weg. Fort.

Sie schloss die Augen. Nein.

Ihre Hand schob sich langsam zwischen die Laken an ihrem Oberkörper entlang, die Finger an ihrem Brustkorb ganz kalt. Sie tastete sich ab, über die warme Haut an den Rippen: die kleinen Rillen der Rippen, wie die Haut dazwischen elastisch nachgab. Die Haut war glatt und weich.

Keinerlei Narben ... wo ihre Kristalle sich befunden hatten.

Als hätte es dort nie welche gegeben.

Schreckliche Kälte bemächtigte sich ihrer, als ihr die Bedeutung davon klar wurde.

Nein.

Hatte sie es geträumt? All diese Jahre eines Lebens unter Wasser geträumt?

Sie musste wohl einen Laut ausgestoßen haben – ein Aufkeuchen, ein unterdrücktes Schluchzen – denn da kam er aus den Schatten rausgeschossen.

„Ana.“

Es war Fence, der da auf einmal neben ihr stand und das Bett zum Ruckeln brachte, als er sich draufsetzte.

Sie war froh über die Dunkelheit hier im Zimmer, so dass er die Tränen nicht sehen konnte, die ihr über das Gesicht liefen. Sie presste die Augenlider fest zusammen, um die restlichen Tränen aufzuhalten.

„Wie fühlst du dich?“ fragte er und streckte den Arm aus, um neben ihr die Vorhänge aufzuziehen.

Warme Sonnenstrahlen sickerten da ins Zimmer und sie konnte sein Gesicht sehen: schön und mitgenommen vor Sorge. An seinem Kinn und seinen Wangen glitzerte etwas – kurze, unrasierte Haare.

„Sie haben meine Kristalle gestohlen“, sagte sie. Ihre Stimme war rau und kratzig. Es brannte, wenn sie zu schlucken versuchte.

„Ich weiß“, sagte er und seine Hand legte sich sanft auf ihre Stirn. „Ana, es tut mir so Leid. Es tut mir...“

„Sie haben meine Kristalle gestohlen ... und mich zum Sterben zurückgelassen.“

Seine vollen Lippen wurden zu einem schmalen, harten Strich. „Die Dreckskerle haben einen Felsbrocken auf dich gerollt, Ana. Damit du auch ja unten bleibst. Damit du ganz sicher stirbst.“

„Atlanter. Jeder einzelne von ihnen...“ Sie schluckte, versuchte wieder ruhig zu atmen, ihre Stimme ruhig zu halten. „Sie sind böse.“

Er legte seine Hand auf ihre. „Nicht alle von ihnen.“ Er drückte ihr die Hand.

An ihrem Kissen schüttelte sie den Kopf, presste die Augen fest zu, als noch eine Träne runtersickerte. Sie waren allesamt böse. Ihre Familie, ihr Volk.

Nicht einer von ihnen hatte je etwas Gutes getan.

Es machte sie traurig und jagte ihr Angst ein zu wissen, dass sie das in sich trug.

„Ana“, sagte Fence, als wolle er sie aus ihren morbiden Gedanken rauslocken.

„Wie habe ich es geschafft zu überleben?“, fragte sie plötzlich, als ein schweres, taubes Gefühl sich über sie legte. Ihr Leben hatte sich unwiderruflich verändert. „Ohne meine Kristalle und gefangen auf dem Grunde des Ozeans?“

Fence wischte mit seinem Daumen die Träne weg. „Ich weiß nicht, wie lange du dort warst, bis ich dich gefunden habe. Elliott denkt, du hast es geschafft, noch eine Weile unter Wasser zu atmen, sogar nachdem man dir deine Kristalle schon gestohlen hatte. Er hat Überreste – kleine Kristallpartikel – in deinen Lungen gesehen. Er glaubt, dass die sich im Lauf der Zeit dort festgesetzt haben, eine Art von Späne, die sich von den größeren, eingesetzten Kristallen gelöst haben. Dadurch war es dir wohl möglich, gerade genug Sauerstoff aufzunehmen, um noch zu atmen, bis ich dich dann gefunden habe.“

Ana schloss die Augen, ein winziges bisschen Hoffnung keimte da ganz schwach in ihr auf. „Heißt das, dass ich immer noch...“

Sie spürte, wie er den Kopf schüttelte, seine Hand drückte ihre erneut. „Es tut mir Leid, Ana. Als ich dich fand, hast du nicht mehr geatmet. Was auch immer diese kleinen Partikel ausrichten konnten, es war nur vorübergehend.“

Ihr winziger Hoffnungsschimmer erlosch und schwarze Verzweiflung kehrte zurück.

„Warum sind da keine Narben? Warum keinerlei Anzeichen einer Wunde?“, fragte sie und setzte sich abrupt auf. Hatte sie Tage, Wochen, Jahre verloren? „Wie lange schlafe ich denn schon?“

„Erst seit gestern.“

„Seit gestern?“, ihre Stimme wurde schrill. „Was ist mit den Narben passiert? Die Löcher und wo sie in mich reingeschnitten haben?“

Sie merkte, wie Hysterie in ihrer Stimme hochkroch, in ihrem Atem und in ihrem Kopf. Und sie kam dagegen nicht an. Tränen strömten ihr aus den Augen und sie dachte, sie würde jetzt gleich zu schreien anfangen ... und nie wieder aufhören können.

Noch nie zuvor hatte sie sich derart schrecklich und leer gefühlt. Selbst nachdem ihr Bein verstümmelt worden war, hatte sie nicht diese abgrundtiefe Verzweiflung empfunden. Denn selbst da hatte sie noch das Meer gehabt.

Jetzt blieb ihr nicht einmal das.

Sie konnte nie wieder tief und lange und ganz unten im Meer schwimmen, keine Ruinen mehr erkunden, nach verborgenen Schätzen suchen. Sie konnte nicht mehr mit den Delfinen Verstecken spielen oder den anmutigen Sprüngen einer Krevette zuschauen, wie sie nach ihrer Nahrung, also nach Parasiten, suchte.

Sie würde niemals wieder frei und elegant und anmutig sein.

Alles, was ihr jetzt blieb, war ein Körper, gezwungen an Land zu leben und obendrein durch ein Humpeln behindert. Ihr Herz füllte sich mit Bitterkeit.

„Ana.“ Die tiefe Stimme von Fence klang fast wie ein Befehl und drang in ihr Bewusstsein ein, noch bevor sie abwärts in Verwirrung und Schmerz hineintrudelte. „Mach die Augen auf!“

Als sie das tat – sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie sie geschlossen hatte –, fand sie ihn da. Vor sich. Er war alles, was sie sah. Sein Blick war zärtlich und besorgt, und floss über vor Gefühl, ein recht intensives Gefühl.

„Was?“, sagte sie und versuchte das leise, kleine Flattern in ihrer Magengrube wegzuscheuchen. Fence war da.

Aber sie wollte sich nicht glücklich oder warm oder verzärtelt fühlen.

Sie wollte wütend sein.

Sich misshandelt fühlen.

Und wissen, dass ihr Leben nie wieder im Lot sein würde.

„Ich liebe dich, Ana.“

Sie schüttelte den Kopf, zornige Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie war nicht mehr Ana.

„Schau mich an“, forderte er sie auf. „Bitte.“

Sie wischte sich die Tränen weg. „Ich werde nie wieder dieselbe sein.“

Er nickte. „Ich weiß, Ana. Ich weiß. Aber du bist immer noch die Frau, die ich liebe. Jeder Teil von dir.“

„Das ist nicht fair!“ Es fühlte sich an, als hätte sie einen Arm oder ein Bein verloren.

Teufel nochmal, sie hatte ihr halbes Leben verloren. Ihren halben Körper.

„Nein, bei Gott, fair ist das Scheiße nochmal nicht.“ Sein Gesicht sah fürchterlich aus – grimmiger und furchteinflößender, als sie es je zuvor gesehen hatte. „Aber du lebst und bist in Sicherheit. Und ich war noch nie in meinem Leben so dankbar für etwas. Du wärst fast gestorben ... und ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich dich verloren hätte. Ich liebe dich.“

„Aber wie kann es sein, dass ich keine Narben habe?“

Er neigte den Kopf ganz leicht zur Seite und sein Blick hielt ihren ganz fest, als er antwortete, „Elliott hat dich geheilt.“

Das Herz blieb ihr da stehen und der Atem stockte ihr, und bevor sie nachdenken konnte, wirklich begreifen konnte, was er meinte, glitten ihre Finger links an ihr entlang, auf ihre verdrehte Hüfte zu ... über die Schrammen und verfärbten Narben an ihrem Bein.

Und dann ließ sie die Hand sinken.

Dort hatte sich nichts verändert. Sie war immer noch ein elender Krüppel. Ihr eines Bein spürte immer noch nur halb so viel wie ihr anderes.

Und ihr Fuß bildete immer noch ein verdrehtes V.

„Du warst am Verbluten, als wir hierher zurückkamen, die Löcher in deinen Lungen haben geblutet“, fuhr Fence fort. „Elliott hat dich geheilt. Er hat dir das Leben gerettet. Deswegen hast du keine Narben.“

Es brauchte etwa eine Minute, bis die Worte und deren Bedeutung zu ihr durchdrangen. Aber sie ergaben keinen Sinn. „Wie kann er mich so schnell geheilt haben? Wie kommt es, dass ich keine Narben habe?“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, als er zögerte. Dann...

„Aus dem gleichen Grund, aus dem ich Kiemen habe“, erzählte er ihr. Seine Augen ruhten immer noch auf ihr und selbst in ihrer Verzweiflung erkannte sie seine Furcht und sein Zaudern.

Er holte tief Luft und da merkte sie, dass auch sie die Luft anhielt. Er war gerade dabei, ihr etwas zu erzählen ... etwas Großes.

„Während dem Wechsel steckten wir in einer Höhle fest und nach unserer Einschätzung, also eigentlich ist das ein pures Ratespiel, befand sich in der Höhle eine – wie nennst du es noch? – eine Flash-Reihe? Und als der Wechsel passierte und mit all der Energie, die da umgeleitet wurde, das hat auch uns verändert. Wir haben keine andere Erklärung dafür.“

Sie starrte ihn an und versuchte erneut, seine Worte zu begreifen ... aber es war fast so, als würde er eine unbekannte Sprache sprechen. Ana begriff aber einen Teil dieser Informationen. „Der Wechsel. Aber das war ... vor fast einundfünfzig Jahren.“

Sein Gesicht wurde angespannt, selbst als er noch ein Grinsen nachschob. Ein etwas wackeliges Grinsen. „Tja, in Wahrheit, weißt du ... da hast du jetzt wohl was mit einem viel älteren Mann am Laufen gehabt.“

Sie blinzelte und starrte ihn an, während ihr Verstand wie rasend arbeitete. „Wie achtzig siehst du nicht aus.“

„Wie wahr. Es gibt nicht allzu viele Achtzigjährige, die solche Päckchen zu bieten haben.“ Als er unter seinem engen T-Shirt seinen Bizeps spielen ließ, blitzte dieses besondere Lächeln auf. Aber es reichte nicht bis ganz hoch, nicht bis in seine Augen, und sie begriff da, dass er Angst hatte.

Widerstrebend löste sie ihren Blick von diesen glatten Muskeln und ein anderer Gedanke kam ihr. „Dann bist du in diesen fünfzig Jahren nicht gealtert? Bist du ... uhm ... bist du unsterblich?“

Fence schüttelte den Kopf, eine leichte Trauer in seinen Augen. „Nein. Da bin ich mir sicher, denn einer von uns ... mein bester Freund ... starb, kurz nachdem wir aus der Höhle rauskamen. Und ich gehe davon aus, dass ich schon sehr bald ein bisschen Grau und ein paar Falten haben werde ... aber anscheinend war mein Körper für eine gewisse Zeit wie tiefgefroren. Und jetzt fängt er langsam wieder an, normal zu altern.“

Dann verfiel er in Schweigen.

Ana merkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, und jetzt atmete sie erst mal langsam aus. „Na, kein Wunder hast du genau gewusst, wo du in dem großen Laden hin musst“, sagte sie. „Und nach was du suchen musst.“

„Ist dir das zu ausgeflippt?“, fragte er.

„Zu wissen, dass du älter als mein Vater bist? Nein, Moment ... dass du älter als mein Großvater bist?“, antwortete sie und ließ ihren Ton etwas scherzhaft werden. Aber das verflüchtigte sich, als sie fortfuhr, „das ist mir alles egal. Du bist, wer du bist. Und ich liebe dich.“

Er machte große Augen und ihr ging auf, das war erste Mal, dass sie ihm die Worte auch wirklich gesagt hatte, auch wenn sie schon länger über sie nachdachte, als sie eigentlich zugeben wollte.

„Ana–“

„Aber stört es dich denn nicht, dass ich zur Hälfte Atlanter bin? Dass mein Volk deine Familie und deine Freunde getötet hat?“

Er schaute sie ernst an. „Aber das warst nicht du, Ana. Das war lange vor deiner Zeit und du hast schon unter Beweis gestellt, wie weit du gehen würdest, um zu verhindern, dass so etwas je wieder passiert. Du bist die, die du bist.“

Ja. Aber sie war sich nicht mehr sicher, wer sie eigentlich war.

In dem Moment fielen ihr zum ersten Mal die Wunden – Schnitte, Kratzer, sogar Brandwunden – an seinen Armen und an seinem Hals auf, dort erkennbar, wo sein Hemd sie nicht bedeckte. „Warum hat Elliott nicht auch dich geheilt?“ Froh über die Ablenkung streckte sie den Arm aus und zog den Saum des Ärmels mit leichter Hand von seinem großen Bizeps weg, um dort hässliche Schürfwunden und blaue Flecken freizulegen.

„Was? Diese lächerlichen Kratzer?“, machte er sich lustig. „Das ist doch gar nichts im Vergleich zu dem, was ich mir beim Football spielen eingehandelt habe, oder als ich mit dem Klettern gerade angefangen hatte.“ Dann ergriff er ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. „Ana, ich liebe dich. Alles an dir ... wie du warst und wie du jetzt bist. Es ändert rein gar nichts an dem, was ich für dich empfinde.“

Sie fühlte wieder, wie ihr Tränen hochzusteigen drohten. Wenn nur auch sie einen Weg finden könnte, ihr völlig kaputtes Selbst zu lieben.