KAPITEL DREI
Bei seinem wütenden Befehl wich Ana zurück. Ein bisschen beleidigt, ein bisschen schockiert und sehr besorgt, kam sie nur wenig elegant wieder auf die Beine und tat hinkend einen Schritt von Fence weg. Sie hatte keine Ahnung, was der Mann hier trieb, so weit weg von Envy, aber sie hatte ihn schon allein an seiner riesigen Körpergröße aus der Ferne erkannt.
Aber beim Anblick von ihm jetzt wurde ihr eiskalt: Auf der Erde zusammengebrochen, wo er mit einer Art innerem Dämon zu ringen schien. Zuerst hatte sie gedacht, dass er am Ertrinken wäre, aber dann kam er aus dem Wasser gestolpert und jetzt ... reagierte er so seltsam.
Er übergab sich, aber es kam kein Wasser aus seinen Lungen, wie es bei jemand, der beinahe ertrunken wäre, der Fall gewesen wäre. Es war sein gesamter Mageninhalt, der da hochkam. Und das heftige Zittern und Schaudern von einem so imposanten, kraftvollen Körper ... es war fast so, als hätte er eine schreckliche Reaktion auf etwas gehabt.
Ein schwaches Husten von Tanya brachte Ana dazu, sich umzudrehen und nach dem Mädchen zu sehen. Sie hatte die Lungen gut voll, beide davon, und alles ausgespien. Ihre Augen waren rot unterlaufen von der Anstrengung – aber jetzt schien es ihr gut zu gehen. „Hallo, Liebes“, sagte sie, als sie die Tochter ihrer besten Freundin in die Arme nahm und sie fest an sich drückte. „Wie geht es dir jetzt?“
Sie legte ihre Wange oben an den kühlen, feuchten Kopf von Tanya und schloss für einen Moment die Augen, hielt einfach den kostbaren kleinen Körper eng umschlungen und versuchte nicht daran zu denken, was fast passiert wäre. Tanya war das, was für Ana einer Tochter am Nächsten kam – die einzige, die sie je haben würde. Bei der Erinnerung an ihre kleine, blasse Hand, die langsam im Wasser versank, wurde ihr immer noch eiskalt und übel. Wenn Fence nicht schon zur Stelle gewesen wäre...
Sie blickte rüber. Seine Hand war vor seinem Gesicht, Daumen und Zeigefinger rieben die Augen. Selbst von hier aus konnte sie seine Finger zittern sehen.
Der kleine Körper wand sich in ihren Armen und Ana lachte leise, als sie den glitschigen, kleinen Wurm losließ, das Mädchen, das sich jetzt mit allen Mitteln wehrte. Offensichtlich ging es ihr besser. „Fühlst du dich jetzt ok?“, fragte sie.
„Ich bin von dem Baum gefallen“, sagte Tanya und zeigte auf einen großen Baumstamm über dem Teich. „Es war echt gruslig.“
„Das war es ganz sicher. Aber der Mann hat versucht dich zu retten“, sagte Ana und blickte von Fence zu dem Mädchen und vermied es, zu sagen, dass er dabei nicht sehr erfolgreich gewesen war. Wenn sie nicht dazu gekommen wäre, hätte Tanya es nicht aus dem Wasser geschafft und es war auch nicht ganz eindeutig, ob er es geschafft hätte.
Vielleicht konnte Fence nicht schwimmen. Und dennoch war er reingesprungen. Sie hatte seine Hilferufe gehört, was auch der Grund war, warum sie hier war. Ihr Pferd stand gelassen neben ihnen, die Zügel um einen Baumschößling gewickelt, während es am Gras nibbelte. Wenn Bruiser nicht gewesen wäre, hätte sie es niemals den steilen Abhang runter geschafft.
„Der da hat mich abgelenkt und gemacht, dass ich reinfalle“, erzählte Tanya ihr, wobei sie rebellisch die Arme vor der schmalen Brust verschränkte.
„Wie hat er das denn angestellt?“, fragte Ana, während Fence sich mit Hilfe eines Baumes mühsam auf die Füße kämpfte. Sie beobachtete ihn, wie er zu seinem Hemd und den Schuhen stolperte, wobei er tunlichst nicht in ihre Richtung blickte. Ihr doch egal.
„Er hat mir gesagt, dass ich runterfallen würde, und dann bin ich gefallen!“, sagte sie mit der ganzen Logik einer Achtjährigen.
Genau da hörten sie die Schreie von Tanyas Eltern oben am Kamm. Ana sah dem tränenreichen Wiedersehen von dem kleinen Mädchen mit Pete und Yvonne zu, während sie versuchte die eigenen Gefühle im Zaum zu halten.
Der Anblick war herzzerreißend und herzerwärmend zugleich. Die Leere, die sich dabei übermächtig in Ana ausbreitete, vermischte sich mit der Zuneigung und der Liebe für Yvonne, und der stillen Erkenntnis, dass sie immer eher eine Beobachterin als das Mitglied eines so engen Familienbundes sein würde. Sie würde immer eine Ersatzmutter sein, anstatt selber Mutter. Sie würde immer wachsam sein müssen, dass sie niemanden je zu nahe an sich ranließ.
Sie würde immer ein bisschen ... abseits ... bleiben müssen, abseits von Menschen, die auf Land lebten.
Bis die Familie alle gemeinsam aufgebrochen war und Ana dann zu Bruiser rüber ging, merkte sie, dass Fence verschwunden war.
Mit einem stillschweigenden Achselzucken benutzte sie einen Baumstumpf, um auf das Pferd zu klettern – etwas, was sie lieber ohne Publikum tat, denn es war wirklich so schwer, wie es aussah – und machte sich auf den Heimweg. Heute oder morgen erwartete Dad jemanden aus Envy, um eine Ladung–
Oh.
Ana schnalzte leicht, als sie kapierte. Es konnte kein Zufall sein, dass Fence, ein Mann aus Envy, genau an dem Tag hier aufgetaucht war, an dem man jemanden aus Envy erwartete, der etwas von Dads Medikamenten für den Arzt dort mitnehmen sollte. Sie konnte sich George in seinem hellen, kleinen Labor vorstellen, wie er in Behältnisse aus Plastik oder Glas schielte. Er züchtete Medikamente, wie beispielsweise Penicillin aus schimmeligem Brot und arbeitete gerade daran, wie man aus Meeresalgen möglicherweise weitere Heilmittel gewann.
Zumindest hielt er ihr nicht gerade vorwurfsvoll einen Vortrag, doch nicht so viel Zeit im Ozean zu verbringen.
Ana nahm sich Zeit auf ihrem Ritt durch den Wald zu dem Haus, das sie mit ihrem Vater teilte, weil sie sich noch nicht sicher war, ob sie Fence wiedersehen wollte – und sich dann auch fragte, ob er sie wiedersehen wollte. Die Tatsache, dass er ohne ein Wort verschwunden war, sprach Bände.
Als sie dann den Lockruf des Meeres spürte und das Salz im Wind schmeckte, war es keine schwere Entscheidung das Treffen mit Fence nach hinten rauszuschieben und stattdessen tauchen zu gehen, oder zumindest ihre Füße ins Wasser zu stecken.
Sicher, der Kerl war superhart und stark – diese Schultern! – und er sah derart gut aus, mit diesen vollen Lippen und dem markanten Kiefer, dass ihr das Wasser dabei im Mund zusammenlief, aber sie konnte schon absehen, dass er zu viel Ärger bedeutete. Er hatte ein Riesenego, das war das eine. Man musste schon auf Zack sein, wenn man mit ihm argumentierte, ganz zu schweigen davon, dass er mehr als nur ein bisschen empfindlich zu sein schien. Sie hatte keine Zeit für etwas derart Kompliziertes ... und sie konnte es sowieso nicht zu mehr werden lassen als einem simplen Flirt.
Das Herz wurde Ana eng, als sie jenes altvertraute taube, leere Gefühl spürte. Yvonne hatte so ein Glück, dass sie Pete und Tanya hatte. Ein normales Leben, ein Kind. Jemanden, dem sie ihr innerstes Selbst anvertrauen konnte.
Einen Partner.
Es gab mal eine Zeit, da hatte sie gedacht, dass auch sie ein normales Leben haben könnte – insbesondere als sie Darian getroffen hatte. Er war zumindest jemand gewesen, vor dem sie ihre Vergangenheit nicht hatte verstecken müssen. Zu dumm auch, dass er andere Pläne gehabt hatte.
Das war eine unangenehme Erinnerung – um es mal milde auszudrücken – und Ana schob alle Gedanken an Darian und Fence beiseite, als sie Bruiser an einem Baum festband. Glücklicherweise hatte sie einen Apfel und eine Birne in ihren Taschen versteckt – was er beides mochte, auch wenn sie verschrumpelt und braun waren – und sie bot ihm beides an, bevor sie sich rasch die Schuhe abstreifte.
Trotz ihrer ungleichen Hüften und dem verkrümmten Fuß, glitt sie ohne Probleme aus ihrer Shorts und ließ sie zu einem Haufen auf den Boden gleiten. Um die Taille trug sie einen schmalen Gürtel, an dem ihr Messer hing. Automatisch schaute sie nach, dass es sich auch dort befand, in seiner Scheide. Nur mit ihrem Höschen, einem Tank Top und einem BH bekleidet watete sie dann ins Wasser hinein.
Ana wäre mehr als glücklich gewesen, nackt zu schwimmen, oder auch nur in Unterwäsche, aber falls jemand sie sah, würden ihnen sicher die Kristalle auffallen. Selbst jetzt, während sie das würzige Salzwasser roch und den vertrauten Sog des Wassers um ihre Knöchel spürte, fingen jene Edelsteine in ihrer Haut an warm zu werden. Sie vibrierten mit ihrer Energie, wie sie es stets im oder in der Nähe von Wasser taten; ein sanftes, spürbares Summen, das ihr verriet: Sie waren lebendig, voller Energie.
Die acht kleinen, blauen Kristalle – vier vorne und vier hinten am Rücken – waren wie Nieten in die linke Seite ihres Oberkörpers eingearbeitet, zwischen den Knochen ihrer Rippen. Ihre Positionen waren willkürlich und keines davon war größer als der Fingernagel eines Kindes, aber nur durch sie konnte Ana stundenlang unter Wasser bleiben. Und das in den tiefsten Tiefen.
Und es war wegen dieser winzigen Kristalle, dass der Ozean nach ihr rief, dass ihre Herkunft ein Geheimnis bleiben musste –und es war wegen ihnen, dass ihr Bein zerstört worden war.
Ana tauchte in die Gischt ein und war augenblicklich umgeben von einer Welt der Wunder, eine Welt voller Trost. Die Kristalle halfen ihr zu atmen, sie benutzten ihre uralte Energie, um es Anas Lunge zu ermöglichen, den Sauerstoff aus dem Wasser zu ziehen, während ihre andere Lunge wie die eines normalen Menschen funktionierte. Sie verstand nicht ganz, wie die Atlanter es fertiggebracht hatten, und ihr Vater hatte auch nie ernsthaft versucht, es ihr zu erklären – aber dann wiederum: Das Volk, das in den Tiefen des Ozeans lebte, hatte Tausende von Jahren Zeit gehabt die magischen Kräfte der Kristalle aus den Tiefen des Meeres zu ergründen.
Dank ihrer Mutter und deren Erbe sowie ihrer Fähigkeit Stunden um Stunden unter Wasser zubringen zu können, kannte Ana jede Sanderhebung unter Wasser, jede Gesteinsform, jede Turmspitze, jeden Kamin, jedes Dach von jedem alten und mit Wasser vollgesogenen Gebäude hier unten in der Nähe ihres Zuhauses. Sie folgte sogar den längst versunkenen Straßen und Wegen, verwendete diese als Wegweiser, genau wie sie es an Land tat. Jetzt in diesem Moment befand sie sich acht Meter unter der Oberfläche. Die Sonnenstrahlen sickerten immer noch herab und die Pflanzen und Tiere waren immer noch von leuchtendem, farbenprächtigem Aussehen.
Beim Schwimmen entlang der Kante eines tiefen, dunklen Abgrunds konnte sie sieben Meter weiter unten eine Ansammlung von Automobilen erkennen. Als die Straße auseinander gebrochen war und sich gespalten hatte, waren sie in die Tiefen gestürzt. Aus früheren Tauchgängen wusste sie, dass Korallen und Seegras angefangen hatten, sich beharrlich in dem Schmutz und dem Sand auszubreiten, der sich in den Kanten und den Dellen im Metall angesammelt hatte. Es ließ die Fahrzeuge unrasiert und zerzaust aussehen.
Ihre Haare strömten wie ein Fächer hinter ihr her, als sie hierhin und dorthin flitzte, das verletzte Bein unter Wasser so geschmeidig und beweglich wie das andere. Das hier war der Ort, wo sie sich als ein Ganzes und völlig frei fühlte. Und restlos zu Hause. War es verwunderlich, dass es das Meer gewesen war, das sie und Darian einander näher gebracht hatte?
Sie waren zusammen geschwommen, geschmeidig und kühl, die Körper ineinander verschlungen, Lippen und Münder wie zusammengeschweißt ... Sehnsucht stürmte auf Ana ein. Einsamkeit.
Vor Darian hatte sie ihre Kristalle natürlich nicht verstecken müssen, denn er hatte seine eigenen ... aber er hatte mehr gewollt, als sie zu geben bereit gewesen war. Und jetzt war sie allein.
Allein zu sein, ist besser als zurückzugehen.
Zumindest sagte sie sich das. Sie könnte niemals Teil jener Welt sein. Jene Rasse akzeptieren. Also verjagte sie das Unmögliche aus ihren Gedanken und genoss die wundervolle, tröstliche Umarmung des Meeres.
Während sie über die Überreste einer von allen verlassenen Welt hinweg und durch sie hindurch schlüpfte, sich duckte, nahm Ana das Wesen des Meeres ganz in sich, in ihr Bewusstsein auf: seinen Geruch, seine Geräusche, das Muster seiner Bewegungen, die Veränderungen in Sand und Kies sowie die Positionierungen der Orientierungspunkte – selbst den Geschmack des salzigen Wassers. Und wieder einmal war etwas anders – wie es ihr vor Wochen schon aufgefallen war. Etwas ging hier vor sich.
Es war eine kleine Veränderungen – nicht so leicht zu bemerken wie die Anziehungskraft des Mondes, wenn diese die Gezeiten änderte. Nicht so, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen, bereit, bis in die weite See hinaus zuzuschlagen und gewaltige Wellen aufzuwirbeln. Nur ... ein Unbehagen, als ob Es – das Meer – wusste, dass etwas unmittelbar davor stand, sich zu verändern.
Ana hätte dieses Gefühl, dass etwas hier nicht in Ordnung war, schon vor Wochen wieder vergessen, wenn nicht jener glitzernde, graue Blubber bei Envy an den Strand gespült worden wäre. Es war ihr gelungen sich eine kleine Probe davon zu erschleichen, was der Grund für ihre rasche Abreise hierher, zu Dad, gewesen war: in der Hoffnung, er könnte ihr helfen es zu identifizieren. Denn sie war immerhin erst dreizehn gewesen, als sie aus Atlantis geflohen waren und ihre Erinnerung war verständlicherweise lückenhaft.
Jetzt hielt sie in der Nähe von einer mit Algen überwucherten Säule aus Ziegelsteinen an, von der sie vermutete, die sei mal ein Schornstein gewesen. Sie schlug mit der flachen Hand dreimal schnell hintereinander gegen ihre Faust und der laute Klang setzte sich im Wasser fort. Sie ließ ihm eine Art klickendes Geräusch, hinten aus ihrer Kehle, folgen. So wie andere Klicks oder ein Pfeifen es gelegentlich auch taten, sandte das Geräusch ein Echo durch das Wasser.
Aber abgesehen von jenen normalen Geräuschen, die hie und da zu hören waren, schwieg die Welt.
Ana umschiffte die Ziegelsäule und schwamm durch das zerbrochene Fenster eines anderen Gebäudes, wo Möbelstücke verrotteten und Meeresschlingpflanzen sich in jeder neuen Strömung bauschten. Ein Schwarm von roten und schwarzen Fischen tauchte auf und schwärmte wie große Fliegen um ihren Kopf. Als sie diese verscheuchte, flitzten sie in das Zimmer nebenan hinein.
Ihr fiel die sandbedeckte Betonauffahrt auf, mit einem Briefkasten, der immer noch am Ende der Auffahrt stand. Aufgeborsten und uneben, war die Auffahrt verziert mit ein paar Büscheln Seegras, das in dem Dreck Fuß gefasst hatte und sich in der Strömung wiegte. Die Tür an dem Briefkasten war schon lange nicht mehr da, aber aus alter Gewohnheit – mehr ein innerer Zwang als alles andere – konnte Ana einem raschen Blick hinein nicht widerstehen. Natürlich war da nichts drin, außer einer Menge Sand und Kies und einer verärgerten Krabbe. Aber es war ein innerer Zwang: Sie musste jedes Mal nachschauen, auch wenn es sie an Darian erinnerte. Früher hatten sie einander immer kleine Geschenke in alten Briefkästen hinterlassen. Ana stellte sich vor, dass andere Verliebte das an Land vor langer Zeit vielleicht ebenso gemacht hatten.
Wenn er leer war, bedeutete es, dass er sie nicht gefunden hatte, und sie konnte beruhigt sein.
In dem Moment zog sich schlangengleich ein langer, dunkler Schatten durch das Wasser über ihr. Erneut ließ Ana jenes klickende Geräusch erklingen und schoss mit einem kraftvollem Schwung hoch, weg von dem verrosteten, durchfluteten Briefkasten.
Ein weiterer Schatten gesellte sich zu dem ersten und Ana machte ein etwas anderes Klick-Geräusch zur Begrüßung, als sie zwischen die beiden schlüpfte und mit der Hand an der glatten, warmen Haut eines Delfins entlangglitt. Zack, das Weibchen, drehte Ana zur Begrüßung die glatte Unterseite ihres Bauches zu, als sie gemeinsam weiterschwammen.
Der andere Delfin, eines der beiden Männchen, die Ana regelmäßig besuchten, kam an ihre Seite. Marco war ein bisschen unsanfter als Zack und er rumste wiederholt gegen Ana, während sie ihn an der Rückenflosse streichelte, weil er das eben für eine angemessene Art der Begrüßung hielt. Sie grinste unter Wasser bei seinem männlichen Gehabe, denn in seinem Bedürfnis von Angehörigen des anderen Geschlechts bemerkt zu werden, erinnerte er sie an Fence. Als sie lächelte, fühlte Ana den kühlen Ozean an ihren Zähnen und in ihrem Mund, und sie benutzte die Energie ihrer funktionierenden Lunge und spie das Wasser aus Mund und Nase aus.
Das verursachte eine Wolke aus Bläschen vor ihnen und die Delfine öffneten ihrerseits die Münder und versuchten das quirlige Leuchten einzufangen. Jeder von ihnen hatte exakt angeordnete Reihen von kleinen, scharfen Zähnen, um die sich Ana schon lange keine Sorgen mehr machte. Mehr als einmal schon hatte sie jene Zähne um Arme und Beine gehabt. Ihre Säugetier-Begleiter schienen es einfach zu mögen, diese über ihre Haut wandern zu lassen, als wollten sie die Textur ihrer äußeren Umhüllung erkunden, genau wie Ana die ihre kennenlernen wollte. Es war eine Delfin-Angewohnheit, entschied sie für sich.
Und genau gleich verhielt es sich mit der Ablenkung durch einen Fischschwarm.
Marco flitzte los, hinter ihnen her, dicht gefolgt von Zack.
Ana machte zum Abschied noch einmal das klatschende Geräusch von Handfläche gegen Faust und schwamm alleine weiter. Trotz ihrer eigenen, leise nagenden Sorge, dass unter der Wasseroberfläche etwas nicht im Lot war, schienen Zack und Marco sich nicht anders als sonst zu verhalten, und das beruhigte sie etwas.
Als das Meer während des Wechsels hereingerauscht gekommen war, Städte und Dörfer hunderte von Quadratkilometer weit bedeckt hatte – da, wo einmal Kalifornien gewesen war, und Nevada sowie Teile von Washington und Oregon –, waren viele der Gebäude hier unversehrt gewesen und ein halbes Jahrhundert später noch so geblieben, obwohl sie von Wasser vollgesaugt und von Algen überwuchert waren. Aber es hatte auch Tsunamis und Erdbeben und Unwetter gegeben, die 2010 einen Teil vom damaligen Amerika zerstört hatten: Häuser, Geschäfte und Autobahnen zum Einstürzen gebracht hatten, übereinander oder hinein in tiefe Täler. Bis das Meer hatte, was Es wollte.
Trotz der Stunden und Tage, die sie im Ozean verbrachte, war dieser derart unermesslich groß, dass Ana mit all ihrem Eifer nur einen kleinen Teil der Überbleibsel der Vor-dem-Wechsel-Welt erkundet hatte; nämlich das, was sich in einem drei Kilometer-Radius von ihrem jetzigen Zuhause befand. Heute wollte sie zu etwas zurückkehren, was eine wahre Fundgrube von faszinierenden Dingen versprach.
Weil kein gewöhnlicher Sterblicher so tief oder so lange wie Ana tauchen konnte, gab es Schätze, die seit Jahren unberührt hier unten lagen, oft immer noch in Plastik eingeschweißt, dem nicht einmal das Salz und die Kraft des Meeres etwas anhaben konnten. Sie hatte DVDs aufgestöbert und Kleider, zusammen mit Werkzeugen und anderen Instrumenten sowie zahlreichen weiteren Dingen. Heute wollte sie zu einem großen, braunen Truck zurückkehren, der mit Schachteln und Boxen beladen gewesen war, als er ins Wasser stürzte. Bislang hatte sie nur die Gelegenheit gehabt, einen raschen Blick hineinzuwerfen.
Natürlich wäre das meiste von der Karton-Verpackung schon längst verrottet, aber nicht alles. Und was auch immer in den Schachteln gewesen war, häufig in Plastik eingewickelt, lag jetzt in dem Fahrzeug und darum herum verstreut.
Ana schlüpfte rasch durch den angewinkelten Spalt der Tür und fand sich in zu viel Dunkelheit wieder. Sie nahm ihr Tank Top ab und band es sich um die Taille, dankbar für den anderen Nutzen ihrer Kristalle. Das sanfte Leuchten davon half, die Dunkelheit hier zu erhellen, und in das in Tiefen, wo die Sonne nicht mehr hinkam.
Ein angenehmes, blaues Glühen strömte durch das Wageninnere, das etwa so groß wie ihr Schlafzimmer war, und angefüllt mit jeder Menge seltsam aussehender Formen. Und als sie dort am Eingang schwebte, beobachtete, erhob sich eine der Formen in einer weit entfernten Ecke. Es war so groß wie ein Mann, aber nur halb so breit.
Ihre Hand ging zu ihrem Messer und sie sah das Leuchten seiner Augen, bevor er auf sie zugeschossen kam. Gelblichgrüne und blaue Funken erhellten den Raum – seine Wut darüber, dass man ihn gestört hatte.
Ana fluchte und duckte sich noch zur Tür raus, genau in dem Moment, als der Aal dort krachend gegen die Truckwand schlug, wo sie gerade eben noch gewesen war. Das Geräusch seines wütenden Angriffs, der Aufprall gegen das Metall setzte sich als dumpfes Echo im Wasser fort, aber sie vergeudete keine Zeit mehr. Über eins achtzig groß und aufgebracht wie eine wütende Wespe, war der elektrische Funken versprühende Aal ihr nicht freundlich gesonnen. Er würde ihr nachsetzen, wenn sie in seine Höhle eindrang. Ihr Messer wäre kaum genug, um sich gegen die schockartigen Stromstöße zu verteidigen.
Verdammt, verdammt, verdammt. Angesichts dieser ziemlich knapp geglückten Flucht schlug das Herz ihr wild in der Brust, während sie von dem Truck weg durch das Wasser raste. Das war viel zu nah dran gewesen.
Ja, sie war vorsichtig gewesen – aber nicht vorsichtig genug. Normalerweise warf sie etwas in einen dunklen Raum, bevor sie da auch nur reinging, aber–
Ana spürte, wie sich die Strömung hinter ihr veränderte und machte gerade noch rechtzeitig einen Haken, um dem Funken sprühenden Aal zu entgehen. Sie spürte den elektrischen Kitzel, als er an ihr vorbeischoss. Shit, der will nicht aufgeben. Die Augen weit aufgerissen, der Herzschlag noch wilder, ihre Kristalle warm und brennend vor Anstrengung, machte sie eine flinke Kehrtwende um ein Fahrrad herum, das an einem steinigen Riff festgewachsen war und schwamm in eine andere Richtung davon.
Aber er war immer noch hinter ihr her und sie musste sich ducken und durch Fenster und um Häuser und Fahrzeuge herum tauchen, auf der Flucht vor ihm. Ihr einziger Vorteil war ihre Beweglichkeit, denn auch wenn der Aal schlangengleich war und mühelos durch das Wasser glitt, beim Angriff warf er sich gerade und steif wie ein Wurfspeer nach vorne. Aber dann war er zu schnell und zu glatt, als dass sie mit dem Messer zu einem guten Stoß ansetzten könnte.
Wieder schoss er an ihr vorbei und überraschte sie gerade dann, als sie dachte ihn abgeschüttelt zu haben, und Ana schrie lautlos auf bei dem Brennen und dem Stechen an der rechten Seite ihres Körpers, genau in dem Moment, als sie nach ihm stach. Der elektrische Schlag machte, dass ihre Nerven vibrierten und sie sich auf einmal sehr schwer fühlte.
Oh nein, das wirst du nicht, dachte sie und biss die Zähne zusammen. Die Taktik eines solchen Aals war es, mit elektrischen Schlägen zu betäuben und zu lähmen, und sein hilfloses Opfer dann anzugreifen. Auf diesen Trick würde sie aber nicht reinfallen. Auch wenn ihre Körperbewegungen unbeholfen wurden, war sie noch in der Lage, auf eine große Formation aus Beton und Stein hinzurobben. Dort wartete sie, legte sich mit ihrem ganzen Körper ganz eng dort an, während sie ihre Waffe in Bereitschaft hielt und darauf wartete, dass ihre Muskeln ihr wieder gehorchten.
Wie erwartet kam der Aal um die Ecke geschlichen, mit seinen blauen und grünen Funken schon als warnende Vorboten.
Ana hielt den Atem an, als er auf sie zuschoss, seine Augen glühten wie hässliche, grüngelbe Murmeln. Drei, zwei, eins, los!
Im allerletzten Moment wich sie aus, etwas schwerfälliger als sonst, aber schnell genug, so dass die Kreatur mit voller Wucht gegen den Stein krachte, genau da, als sie ihr Messer niedersausen ließ. Er war ihr so nahe, dass sie einen weiteren Stromschlag abbekam, der ihr erneut über die Vorderseite und seitlich an ihrem Oberkörper entlang blitzte. Aber während sie nur geringfügig betäubt wurde und nur etwas langsamer geworden war, war er restlos betäubt und desorientiert – aber noch nicht tot. Sein Blut wurde weitere Viecher anlocken.
Ana verschwendete keine Zeit. Sie verstaute das Messer in ihrem Gürtel und stolper-schwamm weg, wobei sie wie ein Hund unbeholfen mit den Armen paddelte. Ihre Beine versuchten im Frosch-Stil auszuholen, aber verhedderten sich nur heillos oder stießen gegen alles Mögliche. Aber im Moment verfolgte sie der Aal nicht – denn sie sah sich immer wieder um – und sie war in der Lage so schnell wie möglich ihren Weg zurück zu finden, dorthin, wo sie Bruiser gelassen hatte.
Das Herz hämmerte ihr immer noch wild, als sie aus dem Wasser stolperte, die Wellen klatschten ihr gegen Brüste und Arme, als sie sicheren Grund unter den Füßen fand und auf den Strand zuging, und dabei die Umstellung in ihrem Körper spürte, als die eine Lunge wieder den Atmungsprozess von der anderen übernahm. Ihr fiel auf, dass sie bei der Verfolgungsjagd ihr Tank Top verloren hatte, aber es würde niemand hier sein, der sie sehen könnte–
Oh, bei allen verflixten Schwertern Captain Nemos, wie wahrscheinlich war das denn?
Da am Strand, gleich neben Bruiser, stand Fence und sah ihr zu, wie sie aus dem Wasser auftauchte.
Klar. Das konnte nur er sein. Hatte sich das Schicksal gegen sie verschworen? Oder war es nur Pech? Shit.
Ana hielt im Wasser inne und glitt wieder etwas zurück, so dass die Wellen ihr gegen den Oberkörper schlugen. Es war nicht die Tatsache, dass sie nur Unterwäsche anhatte, die sie hier zögern ließ – eine derartige Scham war ihr fremd, nicht nach allem, was Darian und sie angestellt hatten. Es waren ihre Kristalle, die sie um jeden Preis verbergen wollte. Unterhalb ihres BHs waren diese offen zu sehen und Fence würde nicht umhin können, als sie zu bemerken. Und was jetzt?
Ihr ging auf, dass sie zitterte; nicht wegen der plötzlichen Brise oder der Temperaturveränderung, aber wegen dem Angriff des Aals auf ihren Körper. Jetzt, wo sie wieder zu Fuß unterwegs war, aufrecht, schienen die letzten Reste jener Stromstöße noch kräftiger durch sie hindurch zu jagen. Etwas tat weh, seitlich an ihrem Oberkörper, und sie blickte runter, um dort rote und lila Wunden an ihrem rechten Arm und an ihrer Taille zu erblicken, die gerade noch aus dem Wasser rausragten. Aus dem Schmerz zu schließen, reichte das wohl die gesamte Länge ihres Beines runter.
Auf einmal kam ihr der Gedanke: Was, wenn der Aal ihre linke Seite betäubt hätte, wo ihre Kristalle waren? Hätte das ihre Energie außer Kraft gesetzt?
„Hey!“, rief Fence. Er war in Richtung Wasser gekommen. „Alles ok mit dir?“
In Anbetracht der Tatsache, dass die letzten Worte, die er zu ihr gesprochen hatte Lass mich in Ruhe und Verschwinde gewesen waren, fand Ana das nun ziemlich ... einfallslos.
Trotz ihres arg mitgenommenen Körpers war ihr Verstand noch ziemlich auf Zack. „Ich hab’ was fallen lassen“, sagte sie und tauchte wieder unter. Sie griff sich eine Handvoll Schlamm und schmierte sich den seitlich über den Oberkörper, als sie wieder hochkam, wodurch sie hoffentlich die Kristalle geschickt verbarg, bis sie ein Hemd finden konnte.
„Bist du sicher, dass alles ok ist?“, fragte er, als sie aus dem Wasser kam – rasch. Und sich dabei ihren linken Arm schräg über die Rippen hielt.
Ihr fiel auf, dass seine großen, schwarzen Füße, die in keinen Schuhen steckten, sich in den Sand eingegraben hatten, als ob er seine Zehen darin eingerollt hätte. Und dann wanderte ihr Blick an seinen breiten Knöcheln und muskulösen Unterschenkeln hoch, vorbei an seiner Shorts und einem T-Shirt, das sich in fernen Höhen über seine Schultern spannte. Sie musste tief schlucken und auch tief Luft holen. Wie Yvonne es sagen würde, bei dem Typ kam man ins Schmachten.
Lass dich nicht da reinziehen.
Aber es wäre so einfach, redete sie sich selbst zu. Und er ist–
Und er hätte dir deine Klamotten in null Komma nichts abgenommen ... und dann wärst du echt in der Patsche.
„Du zitterst“, sagte Fence, „und du bist ganz verdreckt. Und – was ist denn das?“ Da schaute er gerade glücklicherweise die Verbrennungen an ihrer Haut an und nicht etwa die schlammbedeckten Kristalle.
Wieder überlegte Ana schnell. „Mir ist eiskalt“, sagte sie und wickelte die Arme fester um sich und machte, dass ihre Zähne hörbar klapperten – was nicht schwer war, da sie entsetzlich zittrig und schwach war.
„Hier“, sagte er, so wie sie es sich von ihm erhofft hatte, und riss sich das Hemd vom Leib. „Was ist das da an der Seite?“, fragte er wieder.
Das T-Shirt war warm und weich, und es duftete frisch nach Pinien und nach Mann, und Ana zog es sich dankbar über. „Ach, das? Ich hab’ mich an einem Felsen aufgeschürft.“
„Sieht mir nicht nach einer Schürfung aus“, sagte er. „Lass mich das mal anschauen. Ich kenne mich mit Erster Hilfe aus. Du kriegst vielleicht eine Infektion.“
„Mir geht es gut“, erwiderte sie und drehte sich dann wieder zu ihm. „Was machst du denn hier?“
„Dein Vater – uhm, ich wusste nicht, dass er dein Vater ist ... George. Ich bin hier, um etwas von seiner Medizin abzuholen und nach Envy mitzunehmen. Egal ... er hat mir gesagt, dass du wahrscheinlich hier bist. Er hat mir was zu essen angeboten, und dann gemerkt, dass du nicht da bist, um es–uhm–zu kochen. Er schien erstaunt, dass du nicht da warst.“ Von der Seite her warf er ihr ein Grinsen zu, bei dem ihr im Magen butterweich wurde. „Also hat er gesagt, ich soll dich holen kommen.“
„Klingt wie mein Dad“, sagte sie mit genervter Zuneigung. Aber sie konnte sich nicht wirklich beschweren – Dad war ein grauenvoller Koch. Sie hinkte rüber zu Bruiser, noch uneleganter als sonst. Ihre Beine fühlten sich, verdammt nochmal, immer noch schwach an.
„Du solltest nicht alleine schwimmen“, sagte Fence, der von hinten an sie ran trat, als sie ihre Shorts aufhob und versuchte sie anzuziehen, ohne auf die Nase zu fallen.
„Ach, ja?“, fragte sie unschuldig und drehte sich einmal kurz um und schaute ihn an, als die Shorts oben an Ort und Stelle war.
„Ja. Es könnte alles Mögliche passieren – du könntest dich verirren oder verletzen oder sogar von einem Hai angegriffen werden.“
Sie hätte schwören können, dass ein kleiner Schauder ihm über den Rücken lief, als er hinaus auf die unendliche Weite des Meeres schaute. „Nun, vielleicht kommst du das nächste Mal einfach mit“, sagte sie zu ihm. Zum Teil auch deswegen, weil sie sich über seine Reaktionen bei der Rettung von Tanya wunderte.
„Hmm, nun, ich möchte mir die Haare nicht so gern nass machen“, sagte er und strich sich mit der Hand über einen sehr kahlen Schädel. „Oh, warte ... hehe“, fügte er mit einem tiefen Lachen hinzu. Aber das Schmunzeln klang gekünstelt und erzwungen.
Ana schaute ihn noch einmal an und sah etwas anderes hinter dem Humor aufblitzen. Dann war es wieder weg. Und dann ging ihr auf, dass sie in sein Gesicht hochschaute – ungewohnt für sie, mit ihren ein Meter achtzig Länge. Aber trotz seiner Größe und seiner Selbstsicherheit war da dieses unbestimmte Etwas, das in seinen Augen lauerte. Und weil das bei einem so großen Draufgänger-Typen wie ihm eine Anomalie schien, war ihre Neugier erwacht.
„Ich kann dir das Schwimmen beibringen“, sagte sie, während sie ihre Schuhe anzog. Sie musste sich dabei Zeit lassen, denn ihre Muskeln waren immer noch schwach und zittrig. Sie war noch nie zuvor von einem Aal gestochen worden. Wie lange würde diese Wirkung anhalten? Und wie zum Teufel würde sie es vor ihrem Vater geheim halten?
„Oh, ich kann schwimmen“, antwortete er mit ausdruckloser Stimme. „Ich habe dir doch gesagt“, fuhr er mit einem seltsamen Lächeln fort, „ich mach mir nicht gerne die Haare nass.“ Dann verengten sich seine Augen, die fast mandelförmig waren, von ultralangen, geschwungenen Wimpern eingerahmt. „Glaub ja nicht, dass ich nicht gemerkt habe, wie du versuchst das Thema zu wechseln.“
„Welches Thema?“, fragte sie. „Du hast mir einen Vortrag darüber gehalten, nicht alleine schwimmen zu gehen.“
Er schnaubte verärgert, aber sie sah seine Augen belustigt aufblitzen. „Ja, aber vorher habe ich verlangt, dass du mich einen Blick auf das werfen lässt, was da mit deiner Haut passiert ist.“
„Ja, verlangt ist das richtige Wort. Ich bin froh, dass dir das auch aufgefallen ist“, entgegnete sie und stellte Bruiser neben einem hohen Stein auf, den sie immer benutzte, um aufzusitzen. Er hatte kleine Einbuchtungen, die sie als Stufen nutzen konnte.
„Hey, ich nenn’ es, wie ich es sehe“, sagte er und sie spürte, wie er sie vorsichtig beobachtete, während sie die Zügel arrangierte, damit sie auf den Felsbrocken raufklettern konnte.
Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Wenn er jetzt vorschlug, dass sie Hilfe brauchte, würde sie ihn in die Pfanne hauen. Denn wenn er das tat, so gab ihr das natürlich einen Grund, ihn unattraktiv zu finden. Was sie jetzt gerade irgendwie nötig hatte.
„Und das ist keine verdammte Schürfwunde von einem Stein. Warum versuchst du so verdammt heldenhaft zu sein? Ich habe genug Leute – darin eingeschlossen auch mein bester Freund Lenny – an etwas sterben sehen, das zu Anfang nichts schien, sich aber dann entzündete und zu etwas wurde, was sie dann getötet hat.“
„Möglich“, sagte sie und benutzte den Zweig von einem Baumschößling, um auf den Stein rauf zu kommen, während sie dabei die ganze Zeit spürte, wie er sie beobachtete. Sie war sich sicher, dass sein Körper angespannt war, und bereit loszuspringen, um ihr zu helfen, wenn sie mit ihrem etwas unverlässlichen Bein ausrutschte. Also gab sie ganz besonders Acht. „Auch möglich, dass du nur versuchst, unter mein Hemd zu schlüpfen. Dein Hemd“, verbesserte sie sich und schaute ihn von oben auf dem Stein nun direkt an. Jetzt war sie größer als er und er musste zu ihr hochschauen. Und verflixt, aus diesem Blickwinkel sah er noch besser aus. Sie unterdrückte einen kleinen Schauder der Erregung. „Ich kenne die Masche von Typen wie dir.“
Ach? Wusste sie das? Ob nun Darian oder nein. Greg Luck versuchte schon seit sechs Monaten, ihr die Kleider abzunehmen, und er war wahrscheinlich der Hartnäckigste. Aber Ana war recht fix darin, sie sich alle weit genug vom Leibe zu halten – weil sie es musste und weil sie auch nicht interessiert war.
Ein Lächeln schlich sich da in die Augen von Fence und seine vollen Lippen zuckten. „Nun, da es mein Hemd ist, wenn es das gewesen wäre, was ich will, hätte ich – du weißt schon ... ‚ein Typ wie ich einer es bin‘ – es dir wohl kaum einfach so überlassen. Du hast ziemlich verdammt gut ausgesehen, wie du da so einfach aus dem Wasser gekommen bist.“ Er runzelte die Stirn und blickte um sich. „Wo ist denn dein Hemd eigentlich?“
„Danke“, sagte sie und hatte nicht vor, ihm zu sagen, dass sie ihr Tank Top bei einem Techtelmechtel mit einem Aal verloren hatte. Sie drehte sich um, um sich auf Bruiser hoch zu werfen. Im Gegensatz zu den meisten Leuten stieg sie wegen ihrem Bein nicht auf der linken Seite auf. Aber diesmal, als sie den Fuß in den Steigbügel setzte und ihr anderes Bein hoch und rüber hob, machten ihre geschwächten Muskeln nicht mit und ihr Knie gab nach.
Sie kippte nach hinten und ehe sie sich’s versah, purzelte sie von Bruiser runter ... und Fence natürlich in die Arme.
„Du hast nur drauf gewartet, dass so was passiert, nicht wahr“, sagte sie schnippisch und etwas außer Atem. Und vor lauter Demütigung wurden ihr die Wangen heiß, als sie ihren Fuß aus dem Steigbügel rauszerrte, wo er sich verdreht und verfangen hatte.
„Ganz und gar nicht“, sagte er ernsthaft und fügte dann hinzu, „aber ich habe den leisen Verdacht, dass du es vielleicht so geplant haben könntest. Denn weswegen sonst solltest du denn in meinen Armen landen? Aber du hättest gar nicht fragen müssen ... schließlich hast du mich schon dazu gebracht mein Hemd auszuziehen.“
Ana stieß schnaubend ein Lachen aus, das amüsierter war, als sie zugeben wollte. Das Herz hämmerte ihr in der Brust, sicherlich heftig genug, dass es von zwischen ihren Rippen her, durch ihre Haut und bis in seine wirklich warme, wirklich breite und kraftvolle und perfekt geformte nackte Brust hinein zu spüren war. Die war wie aus Stein ... aber glatt und warm und lebendig. Sie schluckte das Beben in ihrer Magengegend runter ... auch das etwas tiefer gelegene. „Ok, nun–“
„Bevor ich dich jetzt aber absetze“, sagte er und hielt sie irgendwie mit einem Arm fest und benutzte seine freie Hand, um ihr eine Haarsträhne von der Wange zu streichen, „denke ich, dass ich dich küssen muss.“
„Echt?“, schaffte sie zu sagen, entsetzt, wie außer Atem sie klang. Ihr verkrüppelter Fuß baumelte frei, aber irgendwie hatte sich ihr rechtes Bein leicht um ihn geschlungen. Wegen der Stabilität, sagte sie sich – auch wenn er sie an der Taille festhielt, gegen sich gelehnt. Und so wie sich das anfühlte, würde sie hier nirgends abrutschen. Sie saß dem Mann fast rittlings auf den Hüften. Oh, mein Gott.
„Echt“, sagte er und wartete dann den Bruchteil einer Sekunde lang ... als wolle er ihr die Gelegenheit geben abzulehnen ... bevor er sein Gesicht auf ihres zu bewegte. Seine andere Hand wanderte um sie herum, ihr hinten zwischen die Schulterblätter.
Durch die Art, wie er sie hielt, musste sie sich keine Sorgen machen, dass er ihre Kristalle ertasten könnte. Ihre Gesichter waren hier, genau hier, und demzufolge waren das ihre Münder ebenfalls. Seine vollen Lippen waren weich und zärtlich und sie spürte wie ihre eigenen sich zur Erwiderung entspannten, als sie sich einander anpassten. Süß und zärtlich. Lust prickelte überall in ihr, als er sich bewegte, seine Lippen öffnete und an ihren knabberte, als hätte er alle Zeit der Welt, um ihre Textur zu erkunden, und die Art und Weise, wie sie zueinander passten.
Die Sinnlichkeit seines vollen, weichen Mundes, das rasche, feuchte Wischen einer Zunge zwischen ihren Lippen machten, dass sie die Augen schloss und ein lustvolles Stöhnen unterdrückte. Gutaussehende Männer zu küssen war kein Neuland für Ana, aber es war schon eine Weile her und das hier war ein außergewöhnlicher Kuss. Sie legte ihre Hände auf diesen riesigen Schultern ab, spürte die geschmeidigen Verschiebungen der Muskeln dort, als er ihre Füße wieder zu Boden gleiten ließ.
Ihr Kuss ging dann sanft auseinander, als sie wieder sicheren Halt mit den Füßen fand, seine Arme immer noch locker um sie geschlungen. Seine Augen dunkel vor Hitze und Lust, und seine Lippen waren noch voller, schimmerten ein bisschen von dem Kosten an ihren.
„Hmmm“, sagte er. Seine Stimme, die schon immer sehr tief gewesen war, schien jetzt noch tiefer. „Du hast mich dazu gebracht, mein Hemd auszuziehen, und jetzt hast du meine Knie bis kurz vor den Kollaps getrieben. Ich weiß nicht, ob du das vorhattest, aber es hat funktioniert.“
„Ich hatte nichts dergleichen vor“, sagte sie und befreite sich geschickt aus seiner Umarmung. Ihre eigenen verdammten Knie waren auch total weich und die Brandwunden von dem Aal an ihrem Oberkörper schmerzten wegen seiner Umarmung. Aber diese kleine Unannehmlichkeit fiel ihr erst jetzt auf ... davor hatte sie der Kuss ganz abgelenkt.
„Wie wär’s, wenn ich dir dieses Mal dabei helfe“, sagte er, als sie sich anschickte wieder auf Bruiser aufzusitzen.
„Nein, ich will nicht–“, aber die Worte wurden ihr von einem Wooosch abgeschnitten, als er sie hochhob – als wäre sie so leicht wie Tanya – und sie genau auf dem Sattel niederploppen ließ.
„Es ist nicht wegen deinem Bein, Ana“, sagte er. Die dunklen, samtweichen Augen waren ernst, aber da drunter schwang eine warme Leichtigkeit in seiner Stimme. „Es ist, weil ich weiß, dass jetzt gerade dir die Knie genauso zittern wie mir.“
„Das weißt du ganz und gar nicht“, sagte sie schnippisch und ergriff die Zügel. Aber ein Lächeln zuckte ihr in den Mundwinkeln. Er war unausstehlich, aber seinem Charme konnte sie trotzdem nicht widerstehen. Es war ok zu flirten, oder etwa nicht?
Solange er nicht die Hände unter ihr Hemd steckte.
„Baby, ich kenn’ mich mit Frauen aus. Und ich weiß – dieser Kuss hatte dich so ziemlich von den Socken gefegt.“
Ihre gute Meinung über seine Charme verflüchtigte sich und sie holte da empört Luft, um ihm die Meinung zu sagen, aber er winkte nur ab und fuhr mit seiner köstlich langsamen Stimme genüsslich fort, „aber das ist ok. Ich werd’s nicht schlimmer für dich machen, als es schon ist, Zuckerstück. Zumindest nicht jetzt gleich. Ein Mädel kann nur so viel von Fence auf einmal verkraften, wenn sie ihn noch nicht gewohnt ist.“