KAPITEL SECHS
Siebzig Meilen entfernt….
Remington Truth schaute runter zu ihrem fünfzig Kilo schweren Deutschen Schäferhund mit den erwartungsvoll leuchtenden Augen und sagte, „Platz, Dantès.“
Sein Hintern ploppte natürlich sofort zu Boden und er schaute zu ihr hoch, als wäre sie ein höheres Wesen – was, so dachte Remy bei sich, zumindest aus seiner Sicht der Dinge so war – und sie beugte sich runter, um ihn zu umarmen.
Er war ihr bester Freund. Ihr einziger Freund. Ihr Wächter und ihr Retter. Und das einzige Wesen auf dieser kaputten Erde, dem sie vertrauen konnte.
Sie befanden sich in Sicherheit, hinter den Mauern von dem, was vor dem Wechsel einmal der große Landsitz von einem Computer und Elektronik Genie gewesen war, und vor anderen gut beschützt wurde, inmitten einer kleinen Ansammlung von Bäumen und Büschen, die überall auf dem drei Hektar großen Anwesen wuchsen. Sie hatte Dantès weit weg vom Haus geführt, in dem zu viele Leute (nämlich vier) wohnten. Zumindest, was Remy und ihre Sicherheit sowie Seelenruhe anbetraf – auch wenn Selena und Theo und die anderen ihr gegenüber nichts als freundlich gewesen waren.
Vielleicht auch mehr als freundlich, insbesondere, weil sie selber nicht komplett ehrlich oder offen ihnen gegenüber war. Die Dinge waren seit ihrer Ankunft in Yellow Mountain mehr als nur ein bisschen kompliziert gewesen, einer Siedlung etwa eine Meile von dem alten Landsitz entfernt, der jetzt Selenas Zuhause war und den sie als Hospiz benutzte. Selena kannte man als die Todeslady, denn sie besaß die Gabe, Menschen während ihrer letzten schmerzvollen Tage zu begleiten und sie hinein in das Leben nach dem Tod zu geleiten. Auf diese Weise war sie auch Theo Waxnicki begegnet, als der selber so gut wie tot hier aufgetaucht war.
Das, was als eine kurze Demonstration für ihre Zufriedenheit begonnen hatte, weil Dantès ihr so perfekt aufs Wort gehorchte, wurde jetzt zu einer etwas verzweifelten Umarmung, als sie sich ins Gras hockte. Remy brannten die Augen ein bisschen an den Augenwinkeln und sie versuchte die Erinnerungen wegzudrängen.
Aber sie kehrten zurück, schnell und hart und finster, wie so oft: Die kräftigen Hände, die Grimasse von Seattle, seine Lippen schmal und die Zähne zu einer primitiven Machtdemonstration entblößt, das grobe Zerren an ihrem Körper, als ihre Kleider weggerissen wurden. Kühle Luft auf ihrer nackten Haut.
Und der Schmerz.
Sie presste die Augenlider zusammen, schluckte die brennende Übelkeit runter. Dantès schien zu spüren, dass seine Herrin Kummer hatte, denn er ließ ein leises, trauriges Winseln hören und drehte seinen Kopf weg, um ihr über Nase und Kinn zu lecken. Dann fand er die salzige Spur an ihrer Wange und küsste es ganz ausgiebig fort.
„Danke dir, mein braver Junge“, flüsterte sie in sein tröstliches Fell. „Danke dir, dass du mich gefunden hast.“
Sie konnte sich kaum ausmalen, was sie jetzt tun würde, was jetzt gerade mit ihr geschehen würde, wenn Dantès nicht ihre Fährte aufgenommen hätte und ihr gefolgt wäre.
Sie war an die Vorderachse von Seattles Fahrzeug gefesselt gewesen, zerschunden, blutig, betäubt und noch mit den Schmerzen seines letzten Übergriffs. Ihr brutaler Wächter war drauf und dran mit ihr unter dem Fahrzeug loszufahren, sie über den steinigen Boden mitzuschleifen, als Dantès wie eine Kanonenkugel auf die Lichtung geschossen kam. Der Hund war durch das offene Truckfenster gesprungen, hatte Seattle mit seinem tödlichem Biss an der Kehle gepackt. Und zugebissen.
Seattle, der Kopfgeldjäger, stellte für Remy keine Gefahr mehr dar ... noch für sonst jemanden.
Wäre Dantès doch nur alleine gewesen, als er sie fand!
Aber, nein. Er hatte ja diese Männer aus Envy mitbringen müssen. Die Männer, die ihre Identität aufgedeckt hatten, die Remy fast zwanzig Jahre mühelos geheim gehalten hatte.
Jetzt steckte sie in der Klemme.
Da sie sich immer noch von den Übergriffen und den Schlägen von Seattle erholte, war Remy noch nicht ganz bereit diese kleine Siedlung hier hinter sich zu lassen. Sie mochte zwar dickköpfig sein, aber sie war nicht blöd: Sie wusste, dass sie erst mal ausheilen musste, wieder auf die Beine kommen und dann einen Plan machen, was sie als Nächstes tun würde und wie sie – wieder auf sich alleine gestellt – überleben würde.
Und jetzt, wo Ian – der Kopfgeldjäger, ihr Partner wider Willen und dann auch Gelegenheitslover – höchstwahrscheinlich tot war, wusste niemand außer den Männern von Envy, dass sie die Enkelin des berühmt-berüchtigten Remington Truth war.
Der Mann, den die Fremden seit dem Wechsel fieberhaft suchten.
Der Mann, der ihr den kleinen Kristall gegeben hatte, den sie in ihrem Nabel trug, um ihn verborgen und sicher zu wissen, der ihr gesagt hatte, sie müsse ihn mit ihrem Leben verteidigen.
Gottseidank hatten weder Ian noch Seattle erkannt, für was der Kristall stand.
Nicht dass Remy selbst irgendeine Idee hatte, was das nun war. Sie wusste nur, dass ihr Großvater ihr gesagt hatte, er sei wichtig und dass sie ihn sicher verwahren müsse. Du wirst wissen, was damit zu tun ist, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Ha! Na dann.
„Dantès!“
Die Männerstimme ließ die Ohren von Remys Hund zu voller Aufmerksamkeit spitz hochstehen und zu ihrer Verärgerung und – lass uns ehrlich sein – auch ihren verletzten Gefühlen, erhob Dantès sich, sogar als Remy immer noch die Arme um ihn geschlungen hielt.
Sie spürte, wie er einen inneren Kampf durchmachte: Wollte bei seiner angebeteten Herrin bleiben, bei der er über fünf Jahre gelebt und mit der er zusammen herumgereist war, und wollte auch dem Sirenenruf eines anderen Herrchens folgen.
„Dantès!“, rief die Stimme erneut, jetzt schon viel näher.
Remy schlang ihre Arme fester um ihn, in einem kurzen, letzten Versuch ihren einzigen Trost bei sich zu behalten, dann ließ sie ihn ziehen. Sie entschied, dass es ihrem Herzen weniger abträglich wäre, wenn sie ihn losließ, als wenn er sich tatsächlich losreißen würde.
In seiner Eile fortzuspringen, wäre Dantès fast über sie getrampelt und genau in dem Moment tauchte ein Mann hinter einer Ansammlung von Büschen auf.
„Oh, Remy“, sagte Wyatt. Er blieb abrupt stehen, als wäre er gegen eine Mauer gerannt.
Warum sollte es ihn überraschen, sie hier zu sehen – mit ihrem eigenen Hund?
Was auch immer er sonst noch gesagt hatte oder sagen wollte, ging unter, als er in die Hocke ging, um seinen persönlichen Willkommensgruß von dem abtrünnigen Hund zu bekommen, der sich auf den Bauch warf und winselte und den neu Hinzugekommen küss-leckte.
Auf dem Boden in der Hocke, waren sie alle etwa auf gleicher Augenhöhe miteinander: Mann, Frau und Hund.
Mehr als einmal hatte Remy festgestellt: Der Mann war groß, gut gebaut und kräftig. Er hatte dunkles Haar, das dringend einen Frisör gebrauchen könnte, denn es wellte und wogte rund um sein Gesicht und am Hals, hing ihm fast bis in die Augen und weit über den Kragen seines Hemds. Seine dunkelbraunen Augen waren fast immer ausdruckslos und kalt. Die wenigen Male, als sie gesehen hatte, wie sie zärtlich wurden, waren, wenn er mit Dantès zusammen war. Und – ganz, ganz selten – wenn er und die Waxnicki Brüder über etwas lachten.
Auf eine verwilderte Art sah er eigentlich ganz gut aus, auch wenn er Elliott oder Ian nicht das Wasser reichen konnte. Er wäre vielleicht etwas attraktiver, wenn er ab und zu mal lächeln würde, anstatt immer dreinzublicken, als ob er von der Welt schwer enttäuscht worden sei.
Aber was zum Teufel machte das schon. Sie sah wahrscheinlich genauso aus.
Ein Lächeln war nur eine Einladung.
Remy kam wieder auf die Füße und stand nun über ihrem vierbeinigen Begleiter und dem Mann, den dieser Abtrünnige gerade anbetete. Wahrscheinlich sollte sie Dantès seine Zuneigung zu Wyatt nicht missgönnen, dachte sie bei sich, und auch nicht die nie endende Zuwendung dieses Mannes für ihn.
Denn letztendlich: Wenn die beiden nicht so dicke Freunde geworden wären nach ihrer Flucht, als Wyatt und seine Freunde sie aufgespürt hatten, dann wäre Dantès nicht zur Stelle gewesen, um ihre Fährte zu finden und sie vor Seattle zu retten.
Auch wenn sie eine Schlange nach dem Mann geworfen hatte, als er versuchte sie an der Flucht aus Envy zu hindern, es blieb die Tatsache bestehen, dass er sich in ihrer Abwesenheit gut um Dantès gekümmert hatte.
Mittlerweile hatte Wyatt einen fetten Stock aufgetrieben und zeigte diesen dem übereifrigen Hund. Dantès sah so schön aus, wie er da stand und das Fell ihm vor Aufregung fast zitterte, seine Augen ganz starr und seine Zunge völlig unter Kontrolle, als er auf seinen Lieblingssport wartete. Remy wurde von der Liebe zu ihm auf einmal geradezu überwältigt und war aufs Neue verärgert, dass seine Zuneigung jetzt zweigeteilt war.
Der Stock pfiff durch die Luft und der Hund sauste los, ließ die beiden Menschen mit sich allein.
„Eine schöne Nacht“, sagte er.
Remy blickte um sich und bemerkte da, dass es in der Tat bald Nacht sein würde. Die Sonne war schon hinter den Mauern des Anwesens untergetaucht. „Das ist es“, stimmte sie zu.
„Wie geht es dir?“, fragte Wyatt. Er war aufgestanden, um den Stock zu werfen, und blickte jetzt zu ihr runter.
„Mir geht es gut“, antwortete sie. Wie sie es immer tat, wenn er fragte.
„Irgendwelche schlimmen Träume in letzter Zeit?“
Remys Schultern wurden da ganz steif. „Nicht mehr als sonst auch“, erwiderte sie, genau in dem Moment als Dantès wieder durchs Unterholz zurückgestürzt kam.
Er ließ den Stock fallen und wedelte wild mit dem Schwanz, während er darauf wartete, dass jemand ihn warf.
Remy und Wyatt bückten sich beide zur gleichen Zeit und wären fast mit den Köpfen zusammengestoßen, als sie gleichzeitig danach greifen wollten. Er riss seine Hand sofort wieder weg und überließ ihr die Ehre, den Stock aufzuheben. Dantès war jetzt stocksteif vor Erwartung.
„Theo und Lou haben über unser Computernetzwerk eine Nachricht von Quent bekommen“, sagte Wyatt, „Elliott ist wieder gut in Envy eingetroffen.“
Warum bist du nicht mit ihm zurückgegangen, ich wünschte, ich wüsste das. Sie warf den Stock mit deutlich weniger Geschwindigkeit und sehr viel weniger weit als Wyatt in den dünnen Baumbestand hinein.
„Danke, dass du mir Bescheid gegeben hast.“ Trotz allem war sie hier aufrichtig.
Seit dieses ganze Debakel vor fast sechs Monaten angefangen hatte, als ihr beschauliches, einfaches Leben in Redlow durch das Eintreffen von Wyatt, den Waxnickis und einem weiteren Mann namens Quent gründlich durcheinandergerüttelt worden war, hatte sie die lässige und freundliche Art von Elliott sehr zu schätzen gelernt.
Und natürlich hatte sie mehr als einmal seine medizinische Hilfe nötig gehabt. Und er war überaus sanft und fürsorglich gewesen, nachdem Wyatt sie unter Seattles Truck hervorgezogen hatte.
Dantès kehrte zurück und Remy gestattete Wyatt, diesmal den Stock zu werfen. Der Hund schoss los wie der Blitz.
„Du hast nie erzählt, was du mit Ian Marck zu schaffen hattest“, sagte Wyatt unvermittelt. Seine Augen sahen sie jetzt an und er machte nicht einmal den Versuch sein Misstrauen zu verbergen.
„Nein, das habe ich nicht.“ Remy war sich bewusst, wie wild ihr das Herz jetzt gerade schlug. Sie wünschte, sie hätte ein weiteres Reptil – oder was noch Schlimmeres –, was sie nach ihm werfen könnte.
„Also.“
„Also, was?“
„Was hattest du mit einem Kerl wie ihm zu schaffen? Einem Kopfgeldjäger.“
Weil es sicherer war mitten drin in der Schlangengrube zu sitzen, als von den Schlangen gejagt zu werden. Unter ihrem Hemd schlossen sich Remys Finger um den Kristall dort, bevor ihr das bewusst wurde. Sie zwang sich, die Hand unauffällig wieder zu lösen.
„Es war mir voll und ganz bewusst, was für einen Ruf er hat“, sagte sie. „Er und sein Vater waren derart skrupellos, dass andere Kopfgeldjäger nur allzu froh waren ihnen aus dem Weg zu gehen. So kam es, dass ich bei Seattle gelandet bin: Er hat uns in einen Hinterhalt gelockt und Ian von einem Berg in den sicheren Tod werfen lassen.“
„Wie du bei Seattle gelandet bist, hast du uns schon erzählt. Aber was ich nicht verstehe, ist diese Verbündung mit Ian Marck. Warum hast du seinen Kopfgeldjäger-Partner gemimt, bist mit ihm rumgezogen und hast Unschuldige in Ansiedlungen terrorisiert?“ Wyatt hatte sich nicht gerührt, aber etwas in seiner Körperhaltung war fast einschüchternd geworden, und auf einmal fühlte Remy sich unwohl.
Dantès kam in dem Moment mit großen Sätzen über die Lichtung herangeprescht und ließ den Stock vor ihre Füßen fallen. Anscheinend hatte er die Reihenfolge durchschaut und wusste, jetzt war seine Herrin dran.
Sie schleuderte ihn etwas ungeschickter von sich als vorhin. Verdammt nochmal. Er machte sie nervös. „Das machen Kopfgeldjäger nun mal so.“
„Aber du bist keine Kopfgeldjägerin.“
Remy zuckte die Achseln. „Du weißt gar nichts über mich.“ Dann wandte sie sich ab. „Ich gehe rein“, sagte sie nach hinten über die Schulter, als sie durch das hohe Gras schritt.
„Ich weiß ein paar Sachen. Ich weiß, dass du einen Stock deutlich besser werfen kannst als eine Schlange.“
Es klang nicht, als würde er gerade einen Witz machen.
~*~
„Tja, zumindest wissen wir jetzt etwas mehr“, sagte Vaughn grimmig. „Sie werden Envy zerstören, aber bevor sie das tun, werden diese zwei Arschlöcher hierherkommen und nach Quent suchen“, fügte er hinzu. „Dagegen habe ich schon ein paar Vorkehrungen getroffen – habe deine Beschreibung von Graves und dem anderen Kerl an die Patrouillen weitergegeben. Aber ... verdammt. Was genau haben die denn vor?“
„Und du bist dir ganz sicher, dass es das war, was sie gesagt haben?“, unterbrach ihn Quent. „‚Es wird ohnehin kein Envy geben, in dem er sich verstecken könnte‘?“
Wie die Mitglieder der Widerstandsbewegung es oft taten, saßen sie gerade in ihrer unterirdischen Computer-Festung, zwei Stockwerke unter dem New York, New York Casino. Nur die Mitglieder der Gruppe wussten, dass es diese Räume hier überhaupt gab, geschweige denn wie man den alten Aufzugsschacht benutzte und den richtigen Code eintippte, um hier reinzukommen.
Fence nickte grimmig. „Bis ich richtig kapiert hatte, was das bedeutet, saßen die Arschlöcher schon wieder im Humvee und fuhren weiter. Aber ich bin mir sicher. Das war’s, was er gesagt hat – ich war nah genug dran, um ihre gesamte Unterhaltung mitzuhören.“
„Was werden die also tun? Die Stadt bombardieren?“, sagte Vaughn und rieb sich mit einer breiten Hand die Schläfen. „Herrgott nochmal. Wir lassen niemand mehr als drei Kilometer an die Stadt ran, bis man ihn durchsucht hat.“
Fence schüttelte den Kopf und fühlte sich an die Welt vor dem Wechsel erinnert, mit ihren umfassenden Sicherheitsmaßnahmen nach 9/11. Obwohl das hier eine viel wildere Umgebung war, mit noch weniger Zivilisation, hätte er niemals gedacht, dass solche Maßnahmen notwendig sein würden.
„Was denkst du?“, fragte er und drehte sich zu Marley um. „Irgendeine Idee bei all dem, was du so über die weißt?“
Marley Huvane war eine Freundin von Quent gewesen noch aus der Zeit vor dem Wechsel. Sie hatte die Katastrophe nicht nur überlebt, sondern ihr war auch die Unsterblichkeit gewährt worden, wegen dem Kristall, den ihr milliardenschwerer Vater ihr in die Haut hatte einpflanzen lassen – ohne ihr zu sagen, was das genau war. Jetzt war sie eine Elite, die aus Mekka, der Hauptfestung der Elite, geflüchtet war und jetzt heimlich unter den Sterblichen von Envy lebte. Wenn irgendjemand die Elite aus der Nähe kannte, dann sie.
Sie war knackig auf eine High Society Art, ohne spröde und überkandidelt zu sein, und Fence war sich ziemlich sicher, dass Quent da mehr als nur einmal auf seine Kosten gekommen war – zumindest vor dem Wechsel. Jetzt hatte Quent natürlich nur Augen für Zoë und hatte unlängst Avancen von Marley eine Absage erteilt – oder so hatte sie es Fence erzählt.
Gerade schüttelte Marley den Kopf. „Sie müssen außer sich sein, weil sie wissen, dass du“, sie schaute Quent an, „dich mit dem Kristall aus dem Staub gemacht hast, den sie für die Kommunikation mit Atlantis benutzen. Also haben sie jetzt entweder keinen Weg, wie sie mit denen kommunizieren können, oder sie haben Angst, dass du selber rausfindest, wie das geht – oder beides.“
Alle vier schauten auf den alten Büroschrank aus Metall, wo der Kristall, eingewickelt in ein Tuch, versteckt lag. Bislang hatte Quent nicht so viel Glück mit dem faustgroßen, durchsichtigen blauen Stein gehabt, denn er konnte ihn nicht sehr lange in der Hand halten, ohne in einen komaähnlichen Strudel aus Erinnerungen und Bildern reingesogen zu werden. Während es ihm keine Schwierigkeiten bereitete, die Geschichte von Alltagsgegenständen auszulesen, nur indem er sie berührte, war er eher weniger in der Lage, die immense Flut von Energie hinter dem Atlantis-Kristall zu beherrschen.
„Aber“, fuhr Marley fort, „ich kann mich nicht erinnern etwas gehört zu haben, was man als eine Bedrohung für Envy auffassen könnte. Nicht dass ich Teil vom Inneren Kreis gewesen wäre, oder so was. Faktisch wussten die, dass ich nicht glücklich war dort zu sein, eine von ihnen zu sein, und dass ich schon versucht habe zu fliehen. Aber was Envy anbetrifft ... sicher, die Elite sind sich über die Größe der Stadt im Klaren und sie überwachen sie auch, um sicherzugehen, dass hier nichts passiert, was ihnen missfällt–“
„Klar doch. Beispielsweise die Nutzung von Computern“, fügte Fence hinzu, mit einem ironischen Blick ins Zimmer um sich. Überall im Raum standen Ablagen und Schreibtische und auf jedem standen jede Menge Computer, Monitore, Drucker und eine ganze Brandbreite Elektronik – alles davon war entweder bei Plünderungsstreifzügen aufgetrieben oder von den Waxnicki Brüdern repariert worden. Hier befand sich das Herz der neuen Kommunikationsinfrastruktur, die sie gerade versuchten aufzubauen – alles, ohne dass die Fremden es zu Gesicht bekamen. „Oder jegliche Art von Massenkommunikation oder Infrastruktur. So wie die Dinge jetzt liegen, jede Siedlung – ob klein ober groß – ist von der nächstgelegenen isoliert. Es ist kackscheiße nochmal wie im Wilden Westen.“
Marley nickte. „Wenn sie auch nur eine Ahnung hätten, dass dieser Platz hier unten existiert, wäre er morgen weg. Wir wären tot. Ich bin nicht sicher, was ihnen mehr Sorgen bereiten würde: Die Möglichkeit, dass eine Kommunikationsinfrastruktur existiert, die uns alle miteinander verbindet, oder all die Informationen und Daten, die Theo und Lou und Sage von all den Festplatten und Großrechnern zusammengesammelt haben, die sie finden konnten.“
„Vielleicht haben die Fremden es irgendwie rausgefunden“, sagte Vaughn, das Gesicht jetzt noch ausgezehrter.
„Wir waren scheißvorsichtig“, sagte Fence. „Niemand weiß von dem hier außer uns. Und von uns ist keiner drauf und dran was zu erzählen.“
Er konnte sich fast vorstellen, was der Mann gerade dachte: Dass er die Verantwortung für so viele Menschenleben trug, hier in Envy. Und dass es, wenn er dem Widerstand nicht das Angebot einer sicheren Zuflucht gemacht hätte – oder weil er das Ganze auch einfach nur zuließ –, dann würde wahrscheinlich keine Gefahr für Envy bestehen. Die Fremden würden sie in Frieden leben lassen – auch wenn das ein Friede der Unterdrückung war, der durch das Verschwinden von egal wem jederzeit wieder zerstört werden konnte.
Fence beobachtete Vaughn genau und fragte sich, ob der Bürgermeister sie alle verraten würde, im Austausch für die Sicherheit seiner Leute.
Oder ob er sie in ihrem Kampf, die Fremden zu zerstören, unterstützen würde, ungeachtet der Gefahr für das Leben so vieler.
Marley hatte wieder das Wort ergriffen. „Und wenn ich raten müsste ... so würde ich logischerweise annehmen, dass jede Bedrohung von Envy aus dem Meer kommen würde.“
Vaughn fluchte leise. „Dieses glitzernde, graue Zeug. Wir haben immer noch nicht rausgefunden, was es ist. Aber so was hat noch nie jemand vorher gesehen.“
Aber jemand anderes hatte es gesehen. Die Augen von Fence wanderten zur Decke, wo zwei Stockwerke höher Ana und ihr Vater sich in Elliotts Krankenstation befanden.
Er hatte ihr nicht erzählt, was er bei den Kopfgeldjägern belauscht hatte, aber es war ohnehin an der Zeit für eine kleine Unterhaltung mit der Sonnengöttin.
~*~
Ana flitzte wie ein Fisch durch das Meer und ließ eine glitzernde Spur von Luftblasen leise hinter sich her platzen. Diesen Teil vom Ozean auf der nördlichen Seite von Envy war ein Ort, den sie noch nie erkundet hatte. Und jetzt, wo ihr Vater und sie von Elliott Drake gute Nachrichten bekommen hatten, fühlte sie sich so frei wie ihre Delfin-Freunde loszuschwimmen und an dem Ort einzutauchen, hochzuspringen, den sie als ihr zweites Zuhause betrachtete.
Nach ihrer Ankunft in Envy hatte Fence ein paar Minuten gebraucht, um sie zum Arzt zu bringen, und ihr dann dabei geholfen einen Platz zum Schlafen zu finden – und das alles ohne eine einzige zweideutige oder anzügliche Bemerkung, dass sie doch zu ihm kommen solle – und dann machte er sich woandershin auf und seither hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Zu ihrer großen Erleichterung. Es war so viel einfacher, seine Wirkung auf sie zu ignorieren, wenn er nicht in der Nähe war.
In der Krankenstation hatte Elliott über ihrem Vater seine Hände wie im Scan bewegt, vom Scheitel bis zur Sohle. Er brauchte nur knappe fünf Minuten um George als schwer anämisch zu deklarieren – was, so fuhr er dann erklärend fort, leicht geheilt werden konnte, indem er mehr Eisen mit der Nahrung aufnahm. Es war pure Ironie für Ana: Sie war dem Meer so verbunden und hatte von allem gegessen, was sich bot, von Seetang und Algen bis hin zu Fisch. Aber dass George dann so einen Mangel hatte... Aber dann wiederum: Er vergaß oft, etwas zu essen, es sei denn Ana zwang ihn dazu.
Das würde sie von nun an mit deutlich mehr Nachdruck tun.
Und das war einer der Gründe, warum sie jetzt gerade durch die grünblauen Fluten flitzte: Auf der Suche nach einer Seepflanzenart, die eine hohen Anteil an Eisen und Protein hatte ... ganz zu schweigen davon, die Gelegenheit zu nutzen hier noch zu kundschaften und zu sehen, ob sie noch etwas mehr über diese seltsame silbrige Substanz erfahren könnte, die an den Strand von Envy gespült worden war.
Im Gegensatz zum Ozean in der Nähe von Zuhause in Glenway, war das Wasser hier dunkler und trüber, sogar nahe an der Oberfläche. Teilweise lag das daran, dass das Wasser nicht so tief war und dass vieles, was mal Las Vegas gewesen war, sich an manchen Stellen keine zwanzig Meter unter der Wasseroberfläche befand. Hohe Gebäude, manche davon noch unversehrt und andere zusammengefallene Überreste – genau wie an Land. All das schuf eine ungewöhnliche Wasserlandschaft.
Aber auch hier spürte Ana dieses ungewohnte, befremdliche Gefühl im Meer. Die fast unmerkliche Veränderung, die ihr zu Hause aufgefallen war, war hier noch stärker – entweder wegen der geographischen Lage oder weil mehr Zeit verstrichen war. Egal wie, es bereitete ihr nur noch mehr Sorge – was auch immer sich hier im Wasser zu rühren schien. Auf was auch immer das Meer zu warten schien. Auf was es sich vorbereitete.
Sie hatte ihr Hemd hochgezogen und festgebunden, um ihren Oberkörper frei zu haben, und Anas Kristalle glühten hell, erleuchteten die schummrigen Durchgänge zwischen Dächern und Türmen. Sie tauchte tief runter ... runter, runter, runter ... an der Seite eines riesigen Gebäudes entlang, als würde man hier vom höchsten Stockwerk runterfallen, bis runter auf den Boden.
Es war schwarz und eng und das Wasser drückte auf sie runter, aber sie hatte keine Angst. Das hier war ihre Welt. Rot, rosa und gelb glühende Fische und winzige Seeanemonen erhellten die Dunkelheit und zerstoben bei Anas jähem Tauchgang abwärts. Blitzschnell tauchte sie durch zerbrochene Fenster, das Glas schon längst verschwunden, und aus Zimmern heraus, durch zerborstene Türen, Korridore entlang, die jetzt an manchen Stellen wenig mehr als pelzige Metalltunnel darstellten.
Sie bog um eine Ecke, in einer Spirale hoch, hoch ... und hielt an, als sie an der Ecke eines dunklen Gebäudes ein Licht aufblitzen sah.
Es war nur einen Augenblick dort und dann war es weg. Das Herz sackte ihr weg und blitzschnell verschwand sie hinter einer von Algen bedeckten Säule, wo sie ein paar Seekrabben aus ihrem Versteck aufscheuchte.
Sie achtete kaum auf die Meerestierchen ... denn sie spähte aus den Schatten dort hinaus, während sie rasch ihr Hemd runterzog, um ihre glühenden Kristalle zu verstecken.
Licht von den Energiekristallen war anders als das Licht, das von Fischen oder Pflanzen kam: Es war schärfer, klarer und flackerte weniger, und durchbohrte die düsteren Tiefen mit mehr Kraft. Sie wusste, was sie gesehen hatte.
Ein Leuchten wie das da konnte nur von einem Atlanter stammen.
Sie sah keinerlei Anzeichen mehr von dem kristallenen Licht, also glitt Ana hinter ihrem Versteck hervor und schwamm rasch zu einem weiteren, schattigen Platz, weiter in die Richtung, wohin das Licht verschwunden war.
Und schaute und wartete, mit einem Herz, das wild hämmerte, und einem Magen, der ein einziger Knoten war. Blind tastete sie nach unten und vergewisserte sich, dass ihr Messer an Ort und Stelle war.
Über Ana bewegte sich etwas Langes und Dunkles, auf der Suche nach Beute, mit langsamen, trägen Schwanzschlägen. Aber wie die meisten wilden Tiere – ausgenommen die riesigen elektrischen Aale – waren Haie eigentlich keine Gefahr, solange sie sich nicht bedroht fühlten. Also machte sie sich erst mal keine Sorgen und hörte dem Wasser zu.
Sie ließ ihre Hände von ihrem Körper wegtreiben, sich sanft ausbreiten, um so die kleinste Strömung und Veränderung im Wasser zu spüren. Ana konzentrierte sich, atmete durch ihre Kristalle und achtete nur noch auf das Schieben des Ozeans um sie herum ... und während sie wartete, atmete, erfühlte ... veränderte sich etwas und ihr fiel eine klitzekleine Veränderung im Summen des Meeres auf.
Wenige Augenblicke später schwamm ein menschlicher Umriss vorbei, genau über ihrem Kopf.
Ana wickelte sich ihr Hemd noch fester um den Oberkörper und stellte sicher, dass die kristallierte Seite ihres Körpers zur Wand stand, als sie zu der Gestalt hochblickte, die durch den wässrigen Raum glitt. Das funkelnde Licht von Kristallen an seinem Oberkörper war heller als ihr eigenes, was ihren Verdacht bestätigte.
Er war ein Atlanter.
Tiefe Furcht und Übelkeit ergriffen überall von ihr Besitz und sie drückte sich noch tiefer in die Dunkelheit hinein. Sie holte ihr Messer aus der Scheide. Nur für den Fall.
Er war zu weit weg, als dass sie irgendwelche Einzelheiten hätte erkennen können, bis auf die bloßen Umrisse einer Gestalt, die ihr von früher bekannt vorkam. Natürlich kannte sie einige Atlanter. Es könnte jeder von denen sein, sagte sie entschlossen zu sich selbst.
Sie suchten nicht zwingend nach ihr – noch würden sie sie automatisch erkennen. Ganz besonders nicht, wenn sie ihre Kristalle verbarg.
Wenn sie einen besseren Blick erhaschen könnte, würden die kleinen Punkte vielleicht seine Identität verraten – denn die Farbe der Kristalle und das Muster auf dem Oberkörper eines Atlanters war so einzigartig wie ein Fingerabdruck.
Und noch wichtiger: Er schwamm ungewöhnlich nah am Ufer, viel zu nah an der Welt der Sterblichen...
Anas Magen zuckte nervös, als hinter ihm eine zweite Gestalt auftauchte. Wieder hoch über ihr. Noch mehr Kristalle, wie eine Konstellation angeordnet, leuchteten wie Sternbilder am Meereshimmel. Ein weiterer Mann.
Etwas in der Art, wie sie hintereinander dahin schwammen stimmte nicht. Von Neugier getrieben machte Ana sich leise auf den Weg, unterhalb der zweiten Figur und hinter der her. Sie imitierte sein Bewegungsmuster mit den Stopps und dem erneuten Vorwärtsschwimmen, dem Ducken und dem Verstecken. Und dann ging ihr auf, dass er dem anderen Schwimmer folgte.
Zwei Atlanter. Und einer verfolgte den anderen heimlich...
Das war nun etwas, was neugierig machte.
Sie schwamm schneller, leise, benutzte ein überhängendes Dach als Deckung, um den zweiten Mann einzuholen.
Aber als sie anhielt und verstohlen nach oben spähte – dorthin, wo einer oder auch beide sein sollten –, sah sie nichts als Dunkelheit und Schatten. Ein Schwarm von Segelflossern, dann ein Trio von Eidechsenfischen und die von Korallen besetzte, runterhängende Tür eines Autos.
Und kein Anzeichen von leuchtenden Kristallen, die durch die Dunkelheit schnellten.
Ana bewegte sich in stets weiter werdenden, konzentrischen Kreisen, achtete darauf, dass auch nicht eine Welle von ihr selbst ausging, hielt Ausschau nach Lebewesen, die durch sie vielleicht zu plötzlichen Bewegungen erschreckt werden und so die Aufmerksamkeit anderer erregen könnten.
Aber sie sah nichts.
Wohin waren sie verschwunden?
Und was hatten sie hier zu suchen?
Nach langer Suche gab Ana es schließlich auf und steckte ihr Messer wieder in seine Scheide. Sie machte sich auf den Weg zurück zum Strand, glitt mit leichten, schnellen Schwimmstößen durch das Wasser. Sie war mehr als drei Stunden hier draußen gewesen und auch wenn George es gewohnt war, dass sie den halben Tag oder noch mehr im Meer verbrachte, er war krank gewesen und befand sich jetzt an einem fremden Ort. Sie verspürte leichte Gewissensbisse wegen–
Ana hielt abrupt an, ihr Körper schob sich jäh in eine senkrechte Position, als sie auf das sanfte, rosa Glühen starrte, das aus einem dunklen Kämmerchen hervorströmte. Rasch warf sie einen Blick um sich, das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Es war niemand hier. Nichts rührte sich.
Mit einem ganz sachten Flattern der Hände schob sie sich näher heran. Sie hatte sich nicht geirrt: Da lag ein kleiner rosa Kristall – nicht größer als der Nagel an ihrem kleinen Finger – gut eingebettet in der Mitte einer rosa-orangenen Seeanemone. Die wogenden Arme, Blütenblättern gleich, tanzten sanft zum Rhythmus des Wassers. Anas Herz machte da einen seltsamen kleinen Purzelbaum und ihre Hände fühlten sich auf einmal trocken und wie zusammengepresst an.
Die Blume hatte man in einem geöffneten Briefkasten abgelegt – oder eben in einem Metallobjekt aus vergangenen Tagen, das einem solchen ähnelte. Sie war dort mit Absicht kunstvoll arrangiert worden, als eine Botschaft ... genau wie Darian es gemacht hatte, wenn er wollte, dass sie ihn treffen kam.
Es war doch Darian gewesen, den sie gesehen hatte.
Ana schnellte davon, weg, auf einmal von der Furcht gepackt, dass er hier irgendwo lauerte – oder dass irgendjemand hier lauerte – und sie beobachtete. Mit ihren Händen krampfhaft um eine verrostete Metallstrebe gekrallt, hielt sie inne, um nachzudenken. Sie sog tief lange, kühle Wasserzüge durch ihre Kristalle ein ... und gestand sich die Fakten ein, die sie vorhin noch als pure Einbildung verwerfen wollte. Die vertraute Figur, der erste Atlanter, den sie heute schwimmend über sich gesehen hatte: Das musste Darian gewesen sein.
Ihre Augen wanderten zu der Anemone zurück, die in das Leuchten des rosa Kristalls eingetaucht war. Er suchte wieder nach ihr. Wusste er, dass sie hier in der Gegend wohnte? Oder gab es jemand anderen, mit dem er vielleicht Erinnerungsstücke austauschte? Es war nicht Eifersucht, die sie bei dem Gedanken überkam ... es war Verwirrung und Furcht.
Das letzte Mal hatte sie ihn vor fünf Jahren gesehen – als sie den wahren Grund erfahren hatte, warum er so an ihr hing. Sie war mehr als verletzt und wütend gewesen, und selbst jetzt noch erfasste sie da der Zorn wie ein Donner und erinnerte sie mit aller Kraft daran, dass sie ihm niemals trauen durfte. Oder irgendeinem anderen Atlanter. Aber Darian ... er hatte all die Monate damit verbracht, sie zu umwerben und sie zu lieben, nur als Köder, damit sie mit ihm zurückkehrte.
Und die ganze Zeit über hatte sie gedacht, er liebe sie. Dass sie jemanden gefunden hätte, bei dem sie ganz sie selbst sein konnte, der all ihre Geheimnisse schon kannte. Sie hatte gedacht, dass sie tatsächlich einen von ihrem Volk gefunden hätte, der ehrlich, selbstlos und gütig war.
Aber letztendlich war ihr klar geworden, dass sie alle gleich waren: selbstsüchtig und böse.
Deswegen waren sie und George unmittelbar nach ihrer Auseinandersetzung mit Darian in eine andere Siedlung gezogen. Sie hatten die nördliche Küste, an der sie früher gelebt hatten, weit hinter sich gelassen – hunderte von Kilometer entfernt von ihrem Liebhaber und den Erinnerungen an seinen Verrat und seine Ränkespiele.
Ana drehte um und schwamm weg. Sie ließ die Anemone mit ihrem Kristall hinter sich, unberührt, anstatt das zu hinterlassen, was normalerweise ihre Erwiderung gewesen wäre: Ein Geschenk oder ein Andenken von ihr selbst, um ihm mitzuteilen, dass sie die Nachricht bekommen hatte.
Aber hier war eine Nachricht, die sie nicht wollte...
Oder doch?
Ana hielt wieder inne, diesmal machte sie neben einer großen von Seeanemonen bedeckten Felszunge Halt. Eine spindeldürre, blaugrüne See-Assel flitzte ihr kurz über die Hand, aber sie achtete kaum drauf. Wenn hier im Meer gerade etwas vor sich ging, wusste Darian vielleicht davon.
Ihre Eingeweide drehten sich wild umeinander, als sie an das Risiko dachte, falls sie auf seine Nachricht antwortete. Ihren Aufenthaltsort preisgab, nachdem sie jahrelang so hart dran gearbeitet hatte, ihn geheim zu halten. Wie es wäre, ihn wiederzusehen.
Darian war schließlich ihre erste, wahre Liebe gewesen. Der erste Mann, vor dem sie ihre Kristalle nicht verstecken musste. Verdammt, er war der einzige Mann, dem sie ihre Kristalle nicht verheimlichen musste.
Fence und seine heißen, dunklen Augen platzten da in ihre Gedanken herein. Sie erinnerte sich an die Skepsis in seinem Gesichtsausdruck und in seiner Stimme, als er ihren schlammbedeckten und zerschrammten Oberkörper gesehen hatte, wie sie aus dem Meer rausgelaufen kam. Es würde genauso schwierig sein ihn abzulenken, wie es mit Darian gewesen war – vielleicht noch schwieriger, denn sie konnte vor ihm nicht einfach ins Wasser springen und wegtauchen. An Land war sie deutlich weniger wendig und er war so voller Anmut und–
Warum dachte sie ausgerechnet jetzt an Fence? Er war nichts weiter als einer, der andauernd flirtete und schäkerte, der sich auf seinen Charme verließ, um in der Welt weiterzukommen. Obwohl er ein verteufelt guter Tour-Guide war.
Und denk daran, wie er mit Tanya und den Kindern gewesen war.
Und er war ein superheißer Küsser.
Ana runzelte da über sich selbst die Stirn und schob diesen störenden Gedanken von sich, als eine kalte Strömung im Wasser über ihr sich bewegte. Was soll ich tun?
Sollte sie es wagen, Darian zu antworten und versuchen herauszufinden, was er wusste?
Warum wurde er verfolgt?
Und was in der tiefen, dunklen Finsternis ging hier in ihrem herrlichen Meer gerade vor sich?