»Brr, ist das kalt!«, flüsterte Riccio, als sie
endlich vor dem Notausgang des Kinos standen. Er tastete nach der
Schnur neben der Tür und hielt verblüfft inne. »He, seht mal, die
Tür ist nicht verriegelt.« Vorsichtig stieß er sie mit dem Fuß auf.
»Wahrscheinlich hatte Wespe Angst, dass sie nicht wach wird, wenn
wir die Glocke läuten«, sagte Mosca.
Die anderen beiden nickten, aber unbehaglich fühlten sie sich
trotzdem, als sie den dunklen Flur entlangschlichen. Drinnen im
Saal war es so still, dass sie Bos Katzen in der Dunkelheit
umherhuschen hörten. »Was ist das denn?«, flüsterte Mosca, als sie
an den Sitzen vorbeischlichen. »Wespe hat vergessen, die Kerzen
auszumachen. Wisst ihr noch, wie sie sich aufgeregt hat, als mir
das mal passiert ist?«
»Bestimmt hat sie sich nicht getraut, noch mal aufzustehen, weil
sie wusste, dass Bo ihr die Hölle heiß macht, wenn er wach wird«,
wisperte Riccio.
Kichernd pirschte er sich an Wespes Matratze heran. Ganz links an
der Wand lag sie, umgeben von den zerlesenen Bücherstapeln wie eine
Burg von ihren Mauern. Riccio lugte vorsichtig über den Bücherwall
– und drehte sich mit erschrockenem Gesicht um. »Hier sind sie
nicht.«
»Was soll das heißen?« Prosper spürte, wie sein Herz wild zu
klopfen begann. Er stolperte über Wespes Bücher zu der Matratze,
die er sich mit Bo teilte: nichts als zerdrückte Kissen und Decken.
Kein Bo. Auf Moscas und Riccios Matratze lag er auch nicht. »Die
wollen Verstecken spielen mit uns!«, sagte Mosca. »He, Wespe, Bo!«,
rief er. »Kommt raus, wir haben keine Lust, euch zu suchen. Ihr
könnt euch nicht vorstellen, wie kalt das da draußen war! Wir
wollen nur noch unter unsere Decken.«
»Genau!«, rief Riccio. »Aber vorher dürft ihr euch noch die Berge
von Geld ansehen, die wir mitgebracht haben. Na, ist das
nichts?«
Es kam keine Antwort. Kein Kichern, kein Rascheln. Nicht mal die
Katzen rührten sich. Prosper musste an die unverriegelte Tür
denken. Er hatte das Gefühl, dass ihm jemand die Kehle zupresste.
Plötzlich kniete Riccio sich auf Wespes Matratze. »Hier liegt ein
Zettel. Das ist Wespes Schrift.« Prosper riss ihm das Stück Papier
aus den Fingern. Besorgt beugte Mosca sich über seine Schulter.
»Lies vor. Was steht drauf?«
»Es ist kaum zu entziffern! Sie muss es in großer Eile geschrieben
haben.« Prosper schüttelte verzweifelt den Kopf. Die Schrift
verschwamm ihm vor den Augen. »Vor dem
Haupteingang ist jemand«, las er stockend vor. »Vielleicht Polizei. Wir nehmen den Fluchtweg. Kommt zum
Treffpunkt für Notfälle. Wespe.«
»Das hört sich nicht gut an!«, flüsterte Mosca. Prosper starrte den
Zettel an.
»Verdammt! Ich wusste es! Warum habt ihr nicht auf mich gehört?«
Riccio trat die Bücherstapel um, einen nach dem anderen.
»Wie konntet ihr diesem Schnüffler trauen? Sein Ehrenwort! Er hat
uns verraten. Da seht ihr, was der unter Ehrenwort
versteht!«
Prosper hob den Kopf. Er konnte es nicht glauben, aber es gab keine
andere Erklärung. Riccio hatte Recht. Nur Victor konnte das
Versteck verraten haben. Wortlos stopfte Prosper sich Wespes Zettel
in die Hosentasche und begann wie wild zwischen ihren Kissen
herumzuwühlen.
»Was suchst du da?«, fragte Mosca. Prosper antwortete nicht. Aber
als er sich aufrichtete, hatte er eine Pistole in der Hand, die
Pistole, die er selbst aus Victors Tasche gezogen hatte. »Tu das
Ding weg, Prop!« Mosca trat ihm in den Weg. »Was willst du damit?
Den Schnüffler umlegen? Wir wissen doch gar nicht, ob er uns
verpfiffen hat.«
»Wer sonst?« Prosper steckte die Pistole in seine Jacke und drängte
sich an Mosca vorbei. »Ich geh zu ihm. Wenn ich ihm seine eigene
Pistole unter die Nase halte, wird er mir schon sagen, ob er es
war.«
»Red nicht so einen Unsinn!« Mosca versuchte ihn festzuhalten.
»Jetzt gehen wir erst mal zum Treffpunkt.«
»Wo soll der denn sein?« Prosper zitterte. Er hatte das Gefühl,
dass seine Beine im nächsten Moment nachgeben würden. »Ach ja,
davon wissen Bo und du ja gar nichts. Wespe hat ihn ausgesucht: Es
ist der Cagalibri, der Bücherscheißer,
auf dem Campo Morosini.«
Prosper nickte. »Gut, dann lasst uns gehen! Worauf wartet
ihr?«
»Und was machen wir mit dem Geld?« Riccio starrte die anderen
beiden an wie ein erschrockenes Kaninchen. »Und unsere Sachen, die
sind doch jetzt nicht mehr sicher hier.«
»Wir nehmen nur das Geld mit«, antwortete Mosca
ungeduldig.
»Das andere können wir später holen. Ist doch sowieso nichts
Wertvolles dabei. Und vielleicht ist es ja bloß falscher Alarm.«
Mosca stopfte sich das Geld unter die Jacke, das sie noch vom
letzten Handel mit Barbarossa übrig hatten, und Riccio nahm die
Tasche des Conte. Einmal sahen sie sich noch um, als wären sie
nicht sicher, dass sie je wiederkommen würden. Dann löschten sie
die Kerzen und machten sich auf den Weg. Sie rannten fast den
ganzen Weg zum Campo Morosini. In den Gassen öffneten schon die
ersten Läden, obwohl der Himmel noch dunkel war. Lastkähne schoben
sich unter den Brücken hindurch und brachten Lebensmittel in die
Stadt, Müllschiffe schafften den Abfall des vergangenen Tages fort.
Die Stadt erwachte, aber die drei Jungen merkten es kaum. Während
sie durch die dunklen Gassen rannten, malten sie sich tausend Dinge
aus, die Bo und Wespe zugestoßen sein konnten, und je näher sie dem
Campo Morosini kamen, desto furchtbarer wurden die Bilder. Schwer
atmend erreichten sie das Denkmal, den Mann mit dem Bücherstapel
hinter sich, Niccolò Tommaseo hieß er, aber in der Stadt nannte man
ihn nur den Cagalibri, den
Bücherscheißer. Wespe war nicht da und Bo auch nicht. Daran änderte
sich nichts, so gründlich die drei sich auch umsahen.
Ohne ein Wort drehte Prosper sich wieder um und rannte weiter.
»Prop!«, rief Mosca ihm nach, während Riccio sich die schmerzenden
Seiten hielt. »Es ist weit bis zu dem Schnüffler. Willst du etwa
die ganze Zeit rennen?« Aber Prosper blickte sich nicht einmal um.
»Komm!«, sagte Mosca und zog den schnaufenden Riccio weiter. »Wir
müssen ihm nach, sonst macht er noch eine Dummheit.«