Der Conte wartete schon auf sie.
Sein Boot ankerte nicht weit vom Westufer der Bucht. Es war ein
Segelboot. Die Positionslampen leuchteten hell über das Wasser, und
am Heck hing weithin sichtbar eine rote Laterne. »Ein Segelboot!«,
flüsterte Mosca, als sie darauf zuruderten. »Also hatte Ida Recht.
Er ist von einer der Inseln gekommen.«
»Bestimmt.« Scipio setzte sich seine Maske auf. »Aber der Wind
steht günstig. Da werden wir ihm mit dem Motorboot leicht folgen
können.«
»Raus auf die Lagune.« Riccio stöhnte auf. »Oh, verdammt. Verdammt,
verdammt.«
Prosper sagte nichts. Er ließ die rote Laterne nicht aus den Augen
und hielt das Bündel mit dem Flügel fest umklammert. Der kalte Wind
hatte sich fast gelegt und Moscas Boot glitt ruhig über das glatte
Wasser. Aber Riccio krallte sich trotzdem am Bootsrand fest und
starrte so gebannt auf seine Schuhe, als fürchte er, das Boot würde
auf der Stelle umkippen, wenn er auch nur einen Blick auf das
schwarze Wasser warf.
Der Conte stand am Heck seines Bootes, in einem grauen weiten
Mantel. Er sah nicht so alt und gebrechlich aus, wie Prosper ihn
sich nach dem Treffen im Beichtstuhl vorgestellt hatte. Sein Haar
war weiß, aber er schien immer noch ein kräftiger Mann zu sein, so
aufrecht, wie er da stand. Hinter dem Conte stand noch jemand,
kleiner und schmaler als er, schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß,
aber das Gesicht verbarg eine Kapuze. Als Mosca längsseits ging,
warf der zweite Mann Prosper ein Seil mit einem Haken zu, damit die
Boote nicht wieder auseinander trieben. »Salve!«, rief der Conte ihnen mit heiserer Stimme
zu. »Ich nehme an, euch ist genauso kalt wie mir, also lasst uns
das Geschäft schnell hinter uns bringen. Der Winter kommt in diesem
Jahr früh.«
»Gut. Hier ist der Flügel.« Prosper reichte Scipio das Bündel und
der streckte es vorsichtig dem Conte entgegen. Das schmale Boot
schwankte unter Scipios Füßen, er stolperte fast und der Conte
beugte sich hastig über den Bootsrand zu ihm hinunter, als fürchte
er, das, wonach er so lange gesucht hatte, könnte doch noch
verloren gehen. Aber als er das Bündel entgegennahm, sah sein
zerfurchtes Gesicht plötzlich wie das eines kleinen Jungen aus, der
ein heiß ersehntes Geschenk in den Armen hält. Ungeduldig schlug er
die Decke auseinander. »Das ist er!«, hörte Prosper ihn flüstern.
Fast andächtig strich der alte Mann über das bemalte Holz.
»Morosina, sieh ihn dir an.« Ungeduldig winkte er seinem Begleiter.
Der hatte die ganze Zeit am Mast des Bootes gelehnt. Erst als der
Conte ihn rief, trat er an seine Seite und schob die Kapuze zurück.
Die Jungen sahen überrascht, dass es eine Frau war, nicht viel
jünger als der Conte, mit hochgestecktem grauem Haar. »Ja, er ist
es«, hörte Prosper sie sagen. »Geben wir ihnen ihren Lohn.«
»Erledige du das«, sagte der Conte und schlug die Decke wieder über
den Flügel.
Ohne ein Wort reichte die Frau Scipio eine alte Tasche. »Hier,
nimm!«, sagte sie. »Und benutz das Geld, um dir einen anderen Beruf
zu suchen. Wie alt bist du? Elf, zwölf?«
»Mit dem Geld bin ich erwachsen«, antwortete Scipio, nahm die
schwere Tasche entgegen und stellte sie zwischen sich und Mosca ins
Boot.
»Hast du das gehört, Renzo?« Die Frau stützte sich auf den
Bootsrand und musterte Scipio mit spöttischem Lächeln. »Erwachsen
will er sein. So verschieden sind die Wünsche.«
»Den Wunsch wird die Natur ihm bald erfüllen«, antwortete der Conte
und schlug das Bündel mit dem Flügel zusätzlich in eine Plane ein.
»Mit unseren Wünschen sieht es etwas anders aus. Willst du das Geld
noch nachzählen, Herr der Diebe?« Scipio stellte die Tasche auf
Moscas Schoß und öffnete sie. »Heiliger Pantalon!«, flüsterte
Mosca, nahm ein Bündel Geldscheine heraus und begann mit
ungläubigem Gesicht, die Scheine zu zählen. Neugierig beugte
Prosper sich über seine Schulter. Selbst Riccio vergaß seine Angst
vor dem Wasser und stand auf. Aber als das Boot zu schwanken
begann, setzte er sich schnell wieder. »Teufel, hat einer von euch
schon mal so viel Geld gesehen?«, flüsterte er.
Scipio hielt prüfend einen Schein vor seine Taschenlampe, zählte
die Bündel in der Tasche und nickte Mosca zufrieden zu. »Scheint
alles da zu sein«, rief er dem Conte und seiner Begleiterin zu.
»Wir zählen es in unserem Versteck noch genau nach.« Die
grauhaarige Frau nickte nur. »Buon
ritorno!«, sagte sie. Der Conte trat neben sie. Prosper warf
ihm das Seil zu, mit dem sie an dem größeren Boot festgemacht
hatten, und der Conte fing es auf. »Buon
ritorno und viel Glück für die Zukunft«, sagte er. Dann
kehrte er ihnen den Rücken zu.
Auf ein Zeichen von Scipio nahmen Prosper und Mosca die Ruder auf
und mit jedem Eintauchen der Ruderblätter entfernten sie sich
weiter vom Boot des Conte. Die Mündung des Kanals, an der Ida auf
sie wartete, schien weit, unendlich weit entfernt, und hinter
ihnen, Prosper konnte es trotz der Dunkelheit deutlich erkennen,
richtete der Conte den Bug seines Bootes dorthin, wo die Sacca
della Misericordia sich zur Lagune öffnete.
Scipio hatte Recht gehabt, der Wind war auf ihrer Seite. Nur sacht
kräuselte er das Wasser, und als sie Idas Boot erreichten, war das
Segel des Conte immer noch zu sehen. Schnell machten sie Moscas
Boot im Schutz der Brücke fest und stiegen um auf das größere Boot.
»Nun erzählt schon, ist alles gut gegangen?«, fragte Ida
ungeduldig, als die vier an Bord kletterten. »Ich konnte nur sehen,
dass er ein Segelboot hat, sonst nichts, ihr wart viel zu weit
draußen.«
»Alles klar, das Geld haben wir, und er hat den Flügel«, sagte
Scipio und klemmte sich die Tasche mit der Beute zwischen die
Beine. »Es war noch eine Frau bei ihm. Und Sie hatten Recht, er
segelt raus auf die Lagune.« »Dachte ich’s mir doch.« Ida gab Giaco
ein Zeichen, doch der hatte den Motor schon angeworfen und
knatterte auf die Bucht hinaus. »Die rote Laterne hat er leider
ausgemacht«, rief Mosca ihm durch den Motorenlärm zu, »aber das
Boot ist zum Glück ganz gut zu erkennen.«
Giaco brummte etwas Unverständliches und hielt Kurs, als wäre
nichts leichter, als bei Mondlicht einem fremden Boot zu folgen.
»Habt ihr das Geld nachgezählt?«, fragte Ida. »So ungefähr«, sagte
Scipio. »Es ist auf jeden Fall eine ganze Menge.«
»Kann ich auch mal durch das Fernglas sehen?«, fragte
Mosca.
Ida reichte ihm den Feldstecher und zog sich den Schal enger um den
Kopf. »Siehst du es?«, fragte sie. »Ja«, antwortete Mosca. »Er
kommt ziemlich langsam vorwärts, aber aus der Bucht ist er gleich
raus.« »Komm ihm nicht zu nah, Giaco!«, rief Ida nach vorn. Aber
Giaco schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Signora«, brummte
er.
Sie ließen die Stadt hinter sich. Jedes Mal, wenn Prosper
zurückblickte, kam sie ihm vor wie ein verlorener Schatz, der in
der Dunkelheit schimmerte. Doch irgendwann war das Schimmern
verschwunden und es umgab sie nichts als Nacht und Wasser. Das
Knattern des Motors durchschnitt verräterisch die Stille, aber ab
und zu drangen auch aus anderen Richtungen Motorengeräusche zu
ihnen herüber. Sie waren nicht die Einzigen auf der Lagune, auch
wenn es ihnen so vorkam. Immer wieder tauchten Lichter in der
Dunkelheit auf, rot, grün und weiß, Positionslampen, wie auch Idas
Boot sie hatte.
Aber selbst wenn der Conte ihr Boot bemerkt hätte, wie sollte er
ahnen, dass er verfolgt wurde? Schließlich hatte er den Herrn der
Diebe bezahlt.
Voll Unbehagen blickte Prosper über das Wasser, ein Meer aus Tinte,
das irgendwo, kaum erkennbar, mit dem Dunkel des Himmels
verschmolz. Bo und er waren noch nie hier draußen gewesen, obwohl
die anderen ihnen viel von der Lagune erzählt hatten, von all den
Inseln auf dem flachen Wasser, kleine schilfgesäumte Flecken Land
mit Ruinen längst verfallener Dörfer und Festungen. Mit Obst-und
Gemüsefeldern zur Versorgung der Stadt. Oder Klöstern und
Spitälern, in die man früher die Kranken gebracht hatte, fort mit
ihnen, fort übers schwarze Wasser.
Umsichtig lenkte der schweigsame Giaco das Boot an den bricole vorbei, hölzernen Pfählen, die überall aus
dem Wasser ragten und mit ihren weiß markierten Seiten den Weg
zwischen den Untiefen wiesen. Im Mondlicht waren sie manchmal kaum
zu sehen. »Da vorn liegt San Michele!«, flüsterte Mosca irgendwann.
Langsam fuhren sie an den Mauern der Insel vorbei, auf der seit
vielen hundert Jahren die Toten von Venedig begraben wurden. Als
die Friedhofsinsel wieder in der Nacht verschwand, nahm das Schiff
des Conte Kurs nach Nordosten. Sie ließen Murano, die Glasinsel,
hinter sich und fuhren weiter, immer tiefer hinein in das Gewirr
von Inseln und grasbedeckten Eilanden. »Sind wir schon an der Insel
vorbei, auf die sie früher die Pestkranken gebracht haben?«, fragte
Riccio besorgt, als der Umriss eines verfallenen Hauses
vorbeiglitt. In Venedig kannte er sich aus wie kein anderer von
ihnen, aber hier zwischen den Inseln war er ein Fremder wie
Prosper.
»Das ist doch lange her, Riccio«, murmelte Prosper und dachte, dass
das Boot da vorne ewig so weitersegeln würde, ewig und immer.
Hoffentlich schlief Bo noch, wenn er zurückkam, sonst würde Wespe
eine schlimme Nacht erleben. Bo würde einen Höllenspektakel
veranstalten, wenn er erfuhr, dass die anderen sich mit dem Conte
trafen und Wespe ihn mit heißer Milch und einem Buch in den Schlaf
gelullt hatte, damit sie sich ohne ihn fortschleichen
konnten.
»Du meinst San Lazzaro.« Ida Spavento warf ihren glühenden
Zigarettenstummel über Bord. »Nein, die Insel liegt auf der anderen
Seite der Stadt, aber so unheimlich, wie man sich erzählt, ist es
dort gar nicht. Madonna, wenn die
ganzen Spukgeschichten über die Lagune wahr wären…«
»Spukgeschichten?« Riccio blies sich in die eiskalten Hände.
»Welche denn?«
Mosca lachte, aber sein Lachen klang nicht echt. Sie alle kannten
solche Geschichten, Wespe hatte ihnen schon Dutzende erzählt. In
ihrem Versteck, eingemummelt in warme Decken, machte es Spaß, sich
etwas zu gruseln, aber hier draußen auf dem offenen Wasser, mitten
in der Nacht, sah das schon anders aus. »Lass mal sehen, Mosca.«
Riccio griff nach dem Fernglas, um auf andere Gedanken zu kommen.
»Wie weit will der Kerl denn noch segeln? Wenn das so weitergeht,
sind wir bald in Burano und steif gefroren wie
Tiefkühlhähnchen.«
Weiter und weiter ging es durch die Dunkelheit. Sie alle spürten,
wie sie schläfrig wurden, trotz der Kälte. Da pfiff Riccio
plötzlich leise durch die Zähne. Er kniete sich hin, um besser
sehen zu können. »Ich glaube, jetzt dreht er bei!«, raunte er
aufgeregt. »Da, er steuert auf die Insel da zu! Keine Ahnung,
welche das sein könnte. Erkennen Sie sie, Signora?«
Ida Spavento nahm ihm das Fernglas aus der Hand und spähte
hindurch. Prosper beugte sich über ihre Schulter. Auch ohne
Fernglas erkannte er zwei Laternen am Ufer, eine hohe Mauer und
weiter entfernt, hinter schwarzen Zweigen, den Umriss eines Hauses.
»Madonna, ich glaube, ich weiß, welche
Insel das ist!« Idas Stimme klang etwas erschrocken. »Giaco, nicht
näher! Mach den Motor aus. Und lösch die
Positionslampen.«
Als der Motor verstummte, umfing sie die Stille so plötzlich, dass
sie Prosper vorkam wie ein unsichtbares Tier, das im Dunkeln
lauerte. Er hörte das Wasser der Lagune gegen die Bootswand
schwappen, das Atmen von Mosca neben sich und, aus der Ferne,
Stimmen, die über das Wasser klangen. »Ja, sie ist es!«, flüsterte
Ida. »Die Isola Segreta, die Geheime Insel. Über sie gibt es
wirklich unheimliche Geschichten. Die Vallaresso, eine der ältesten
Familien der Stadt, hatten dort früher einen Landsitz, aber das ist
lange her. Ich dachte, die Familie wäre fortgezogen und das Anwesen
längst verfallen. Doch da habe ich mich wohl getäuscht.«
»Isola Segreta?« Mosca starrte zu den Lichtern hinüber. »Das ist
doch die Insel, zu der keiner fährt.«
»Stimmt, es ist nicht leicht, einen Bootsführer zu finden, der das
tut«, antwortete Ida, ohne das Fernglas von den Augen zu nehmen.
»Die Insel gilt als verhext, es sollen schlimme Dinge auf ihr
passiert sein… Dort soll das Karussell stehen? Das Karussell der
Barmherzigen Schwestern?«
»Hört doch mal!«, hauchte Riccio. Hundegebell schallte übers
Wasser, laut und bedrohlich. »Das müssen mehrere Hunde sein!«,
flüsterte Mosca. »Und große dazu.«
»Reicht es Ihnen jetzt nicht, Signora?« Riccios Stimme klang
schrill vor Angst. »Wir sind dem Conte gefolgt, bis zu dieser
dreimal verfluchten Insel. Von mehr war bei dem Handel nicht die
Rede, also sagen Sie dem schweigsamen Kerl da, dass er uns nach
Hause fahren soll.«
Aber Ida antwortete nicht. Sie beobachtete die Insel immer noch
durch ihr Fernglas. »Sie gehen an Land«, sagte sie leise. »Aha, so
sieht euer Conte aus. Ich habe ihn mir nach eurer Beschreibung
älter vorgestellt. Und das neben ihm…«, sie senkte die Stimme noch
etwas mehr, »… das ist wohl die Frau, von der Scipio erzählt hat.
Wer können die zwei nur sein? Wohnen auf der Insel doch noch
Vallaresso?«
Mosca, Prosper und Scipio starrten ebenso gespannt wie Ida zu der
Insel hinüber. Nur Riccio hockte mit finsterer Miene neben der
Geldtasche und starrte Giacos breiten Rücken an, als könnte das
seine Angst besänftigen.
»Da ist ein Bootssteg«, flüsterte Scipio, »und eine steinerne
Treppe, die das Ufer hinaufführt, zu einem Tor in der
Mauer.«
»Wer ist da auf der Mauer?« Mosca klammerte sich erschrocken an
Prospers Arm. »Da stehen zwei weiße Gestalten!«
»Das sind Statuen«, beruhigte Ida ihn. »Steinerne Engel. Jetzt
öffnen sie das Tor. Oh, die Hunde sind wirklich groß.« Selbst die
Jungen konnten sie sehen, auch ohne das Fernglas: riesige weiße
Doggen, groß wie Kälber. Plötzlich, als hätten sie etwas
Ungewohntes gewittert, kehrten sie die Schnauzen dem Wasser zu und
begannen zu bellen, so laut und wütend, dass Ida zusammenfuhr und
das Fernglas fallen ließ. Prosper griff noch danach, aber der
Feldstecher rutschte ihm durch die Finger und landete mit einem
lauten Platscher im Wasser. Das Geräusch durchschnitt die Stille
wie ein Schuss. Entsetzt presste Riccio die Hände auf die Ohren,
als könnte er so ungeschehen machen, was passiert war, während die
anderen sich erschrocken im Boot zusammenkauerten. Nur Giaco schien
das Ganze nicht aus der Ruhe zu bringen. Ungerührt stand er hinter
dem Steuer. »Die haben uns gehört, Signora!«, sagte er gelassen.
»Sie sehen in unsere Richtung!« »Stimmt!«, raunte Scipio und lugte
über den Bootsrand. »So ein verfluchtes Pech!«
»Tut mir wirklich Leid!«, flüsterte Ida. »O mein Gott! Zieht die
Köpfe ein, du auch, Giaco! Ich glaub, die Frau hat ein
Gewehr!«
»Auch das noch!« Mosca stöhnte und zog sich die Jacke über den
Kopf.
»Na, dich sehen sie doch sowieso nicht!«, zeterte Riccio und
kauerte sich mit der Geldtasche auf den Boden. »Aber wir anderen
leuchten wie Mondkäse in der Dunkelheit! Ich hab doch gesagt, das
ist alles eine Schnapsidee! Ich hab gesagt, wir sollen umdrehen!«
»Riccio, halt die Klappe!«, fuhr Scipio ihn an.
Die Doggen drüben auf der Insel bellten immer aufgeregter. In das
Gebell mischte sich eine Frauenstimme, laut und ärgerlich, und dann
– fiel ein Schuss. Prosper duckte sich und zog Scipio mit nach
unten, als das Mündungsfeuer aufblitzte. Riccio begann zu
schluchzen.
»Giaco!« Idas Stimme klang scharf. »Dreh um! Sofort!« Ohne ein Wort
warf Giaco den Motor an.
»Und was ist mit dem Karussell?« Scipio wollte sich aufrichten,
aber Prosper zerrte ihn wieder an seine Seite.
»Das Karussell kann keine Toten zum Leben erwecken!«, rief
Ida.
»Gib Gas, Giaco! Und du, Herr der Diebe, lass den Kopf
unten!«
Der Motorenlärm dröhnte ihnen in den Ohren und das Wasser spritzte,
als Giaco die Isola Segreta hinter sich ließ. Immer kleiner wurde
sie, bis die Nacht sie verschluckte.
Zusammengedrängt hockten Ida und die Jungen da, Enttäuschung auf
den Gesichtern, Angst, aber auch Erleichterung, dass sie alle mit
heiler Haut davongekommen waren.
»Das war knapp!«, sagte Ida und zog sich den verrutschten Schal
über die Ohren. »Tut mir Leid, dass ich euch zu diesem Blödsinn
überredet habe. Giaco!«, rief sie ärgerlich. »Warum hast du mir die
Sache nicht ausgeredet?«
»So was kann man Ihnen nicht ausreden, Signora!«, antwortete Giaco,
ohne sich zu ihr umzudrehen. »Ach, ist doch jetzt auch egal«,
meinte Mosca. »Hauptsache, wir haben das Geld.«
»Genau!«, murmelte Riccio, obwohl er noch reichlich verschreckt
dreinblickte.
Scipio aber starrte mit finsterer Miene in die schäumende Spur, die
das Boot hinterließ.
»Komm, vergiss es«, sagte Prosper und stieß ihn an. »Ich hätte das
Karussell auch gern gesehen.« »Es ist da!«, sagte Scipio und sah
ihn an. »Ganz sicher.«
»Na, meinetwegen«, sagte Riccio. »Aber jetzt sollten wir unser Geld
zählen.« Als Scipio und Prosper keine Anstalten machten zu helfen,
machten er und Mosca sich an die Arbeit, während Ida mit
nachdenklichem Gesicht neben ihnen saß und eine Zigarettenkippe
nach der anderen in die Lagune warf. Als die ersten Lichter der
Stadt sich schon im Wasser spiegelten, zählten Riccio und Mosca
immer noch.
Erst als Giaco das Boot in die Sacca della Misericordia
zurücksteuerte, klappten sie die Tasche zu. »Scheint zu stimmen«,
sagte Mosca. »So ungefähr jedenfalls. Man verzählt sich ja dauernd
bei all den Scheinen.« Ida nickte und musterte die Tasche besorgt.
»Habt ihr einen Platz, wo ihr es lassen könnt? Das ist wirklich
eine Menge Geld.« Verunsichert blickte Mosca zu Scipio hinüber. Der
zuckte nur die Schultern. »Versteckt es da, wo wir das Geld von
Barbarossa aufbewahren. Da ist es erst mal sicher.«
»Gut.« Ida seufzte. »Dann setze ich euch jetzt bei eurem Boot ab.
Einen warmen Platz zum Schlafen habt ihr ja wohl hoffentlich. Grüß
den Kleinen von mir, Prosper, und das Mädchen. Ich…« Sie wollte
noch etwas sagen, aber Riccio unterbrach sie, hastig, als müsste er
die Worte loswerden, bevor sie ihm die Lippen verbrannten: »Scipio
muss woandershin. Vielleicht können Sie den nach Hause
fahren.«
Prosper senkte den Kopf, Mosca spielte mit den Schnallen der
Geldtasche und vermied es, in Scipios Richtung zu sehen.
»Ach ja, natürlich.« Ida drehte sich zu Scipio um. »Der
Waffenstillstand ist beendet. Willst du wieder zur
Accademia-Brücke, wo ich dich abgeholt habe, Herr der
Diebe?«
Scipio schüttelte den Kopf. »Fondamenta Bollani«, sagte er leise.
»Geht das?«
Wir gehören nicht mehr zusammen, dachte Prosper. Er versuchte sich
an seine Wut zu erinnern, an die Enttäuschung, als er entdeckt
hatte, dass Scipio sie belogen hatte. Aber er sah nur Scipios
blasses, starres Gesicht, die zusammengepressten Lippen, mit denen
er wohl die Tränen zurückhielt. Stocksteif saß Scipio da, die
Schultern gestrafft, als fürchte er zusammenzufallen, wenn er auch
nur einmal Luft holte. Oder einen seiner Freunde ansah. Auch Ida
schien zu spüren, wie mühsam er sich beherrschte. »Gut, Giaco, erst
zum Boot und dann zur Fondamenta Bollani!«, sagte sie
schnell.
Als sie in den Kanal fuhren, in dem Moscas Boot lag, begann es
wieder zu schneien, ganz leicht nur, winzige Flocken wehten über
das Wasser. Ida bekam eine Flocke ins Auge und musste blinzeln.
»Nun ist mein Flügel weg«, sagte sie und blickte hinauf zu den
Häusern am Kanalufer. »Wahrscheinlich werde ich die ganze Nacht die
Wand über meinem Bett anstarren und mich fragen, ob er jetzt
wirklich auf einem Löwenrücken steckt. Oder wer dieser
geheimnisvolle Conte und die grauhaarige Frau waren.« Fröstelnd zog
sie ihren Mantel enger um sich. »Im warmen Bett lässt sich darüber
ja gefahrlos nachdenken.«
Moscas Boot schaukelte friedlich dort, wo sie es zurückgelassen
hatten. Eine Katze hatte es sich unter der Ruderbank bequem gemacht
und sprang erschrocken ans Kanalufer, als das Motorboot sich
näherte.
»Buona notte!«, sagte Ida, bevor
Prosper, Riccio und Mosca wieder in ihr eigenes Boot kletterten.
»Kommt mich mal besuchen, aber wartet damit nicht, bis ihr
erwachsen seid und ich euch nicht mehr erkenne. Und wenn ihr
irgendwann mal Hilfe braucht – ich weiß, ihr seid jetzt reich, doch
man weiß ja nie –, dann denkt an mich.« Die Jungen sahen sich
verlegen an.
»Danke!«, murmelte Mosca und klemmte sich die Tasche des Conte
unter den Arm. »Das ist wirklich nett. Wirklich…«
»Wir werden auch bestimmt nie wieder in die Casa Spavento einbrechen. Ganz bestimmt nicht«,
fügte Riccio hinzu. Was ihm einen Ellenbogenstoß von Mosca
einbrachte. Die beiden kletterten schon von Bord, als Prosper sich
noch einmal zu Scipio umdrehte. Mit abgewandtem Gesicht saß der
Herr der Diebe da und starrte zu den dunklen Häusern hoch. »Du
kannst dir natürlich jederzeit deinen Anteil abholen, Scip«, sagte
Prosper.
Einen Augenblick lang dachte er, Scipio würde nicht antworten. Aber
dann wandte er sich doch um. »Mach ich«, sagte er und sah Prosper
an. »Grüß Wespe und Bo von mir.« Dann drehte er ihm schnell wieder
den Rücken zu.