24. Kapitel

Einige Tage später befanden sie sich förmlich in einem Belagerungszustand.

Nur schleichend hatte er begonnen. Immer wieder waren sie vom Hufgetrampel an der Grundstücksgrenze aufgeschreckt worden, um entweder Esteban oder Jerónimo, mal allein oder in Begleitung von Männern, entlangreiten zu sehen. Nie überwanden sie einen der langen Zäune, und kein zweites Mal betraten sie den Patio – doch man konnte ihr herausforderndes Lachen hören und alsbald ihre Taktik verstehen: Zum einen wollten sie die Frauen zermürben, zum anderen prüfen, wie viele Menschen tatsächlich auf der Farm lebten, wie viele Männer darunter waren und wie viele Waffen sie besaßen.

Emilia gab sich kampfeslustig, hätte sich jedoch manches Mal am liebsten der Verzweiflung hingegeben wie Rita. Nach außen hin hielt diese sich zwar gut und verkniff es sich, zu weinen und zu klagen, aber in unbeobachteten Momenten hockte sie mit starrem, bleichem Gesicht da, blickte ins Leere und schien sich ganz und gar der Macht dunkelster Erinnerungen anheimzugeben. Sie verbat Aurelia, ins Freie zu gehen, und als das Kind daraufhin jammerte, fuhr sie es so schroff und kalt an, dass Emilia sie kaum wiedererkannte. Während Aurelia regelrecht darum bettelte, brachte Don Andrea nichts und niemand dazu, das Haupthaus zu verlassen. Er weigerte sich, in die Mission zurückzukehren, und wenn er auch vorgab, er könne gute Nachbarn nicht im Stich lassen, wusste Emilia, dass ihn in Wahrheit allein die Angst hier hielt. Schon mancher Missionar wäre gemeinsam mit Indianern niedergemetzelt worden, erzählte er, und er war sich sicher, dass ihm das Gleiche blühe, gab er die Sicherheit des Hauses auf.

Leider war die Angst nicht groß genug, dass er sich dazu bereit erklärte, sich notfalls mit Gewalt zu verteidigen. Emilia wollte ihm den Gebrauch eines ihrer beiden Gewehre zeigen, doch er lehnte ab, es auch nur anzufassen. Später verlangte Emilia, dass er wenigstens in unterschiedlicher Kleidung über die Estancia laufen möge, um vorzugaukeln, dass mehrere Männer hier arbeiteten – doch auch dazu war er nicht bereit und faselte hilflos etwas von Lüge und Betrug, deren er sich nicht schuldig machen dürfte.

Balthasar hätte alles liebend gerne getan, was Don Andrea verweigerte – doch er hinkte zu offensichtlich, als dass ihm die Täuschung abgenommen werden würde. Maril wiederum war zu groß und seine Haut zu dunkel, um dafür zu taugen.

Seine Wunde war mittlerweile fast ganz verheilt, und nur dass er manchmal die Stirn runzelte, verriet seine Schmerzen. Noch am ersten Tag, nachdem Esteban und Jerónimo aufgetaucht waren, erklärte er, er würde sich freiwillig den Männern ausliefern, um sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

»Bist du verrückt geworden?«, herrschte Ana ihn an.

Emilia war mit ihren Beteuerungen, er könne bleiben, nicht ganz so schnell. Tatsächlich dachte sie kurz, ob nicht alle Probleme gelöst wären, wären sie den Tehuelche los: Doch am Ende kam sie zur Einsicht, dass ihnen das keineswegs helfen würde.

»Das hat keinen Sinn«, erklärte sie. »Esteban und Jerónimo werden wir nicht so einfach los. Ihnen geht es längst nicht mehr nur darum, eine verhasste Rothaut zu meucheln.«

Maril wollte weiterhin im Schuppen wohnen, aber sie holte ihn ins Haus, so dass alle Bewohner im Falle eines Angriffs zusammen waren. Don Andrea beglotzte ihn fasziniert, neugierig und abgestoßen zugleich. Tagelang wagte er kein Wort mit ihm zu reden, und als er schließlich doch allen Mut zusammennahm und den Mund öffnete, fuhr Emilia ihn an: »Wenn Sie jetzt anfangen, ihm irgendetwas über Gott und Jesus Christus zu erzählen, jage ich Sie auf der Stelle fort. Das kann ich jetzt unmöglich ertragen.«

Der Mund des Missionars klappte wieder zu, während Emilia ein schwaches Lächeln auf Marils Gesicht zu sehen glaubte. Vielleicht irrte sie sich aber auch.

In jedem Fall setzte sie bald großes Vertrauen auf Maril. Er schlief ebenso wenig wie Ana, und ihm entging nichts – weder ein ungewohntes Geräusch noch ein fremdes Gesicht. Emilia wechselte sich nicht länger nur mit Ana, sondern auch mit ihm bei ihren Kontrollgängen über die Estancia ab. Sie selbst und Ana trugen dabei stets eines der Gewehre – Maril hingegen verweigerte diese Waffe ebenso wie Don Andrea, allerdings nicht aus Abscheu vor Gewalt, sondern weil er eine bessere hatte. Normalerweise würde er auch Pfeil und Bogen besitzen, hatte er erklärt, doch beides hatte er auf seiner Flucht verloren. Was er sich jedoch aus einem Stück Leder mühelos selbst basteln konnte, war eine Steinschleuder oder eine Boleadora, wie er sie nannte. Noch im Inneren des Hauses führte er vor, wie zielgenau er damit treffen konnte. Obwohl Emilia kurz befürchtete, er würde das wenige Geschirr zerschlagen, das sie besaßen, musste sie alsbald anerkennen, dass er die Waffe tatsächlich perfekt beherrschte.

Auch Aurelia war davon begeistert. Anfangs quengelig, ständig im Haus hocken zu müssen, wich sie Maril nun nicht mehr von der Seite und konnte nur dann nicht bei ihm sein, wenn er einen seiner Erkundungsgänge durchführte.

Emilia war erstaunt, dass Rita Aurelia den Umgang mit dem Tehuelche erlaubte – so skeptisch, wie sie sich gegenüber allen Männern zeigte, die nicht hinkten wie Balthasar oder Priester waren wie Don Andrea. Vielleicht hatte sie ob ihrer Schreckensstarre gar nicht bemerkt, was um sie vorging. Oder sie hatte instinktiv zu Maril Vertrauen gefasst, weil er ein Verwandter ihres Volkes war.

Danach fragen wollte sie sie nicht. Sie konnte nicht in Ritas verängstigtes Gesicht sehen, ohne sich selbst in dunklen Phantasien zu ergehen, was ihnen womöglich allen bevorstand.

Ana dagegen glaubte, Maril vor Aurelia schützen zu müssen. »Sag offen, wenn sie dir lästig ist«, forderte sie ihn auf. Wenn es notwendig war, kümmerte sie sich zwar um Aurelia genauso fürsorglich wie Emilia und Rita – doch von ihnen dreien war sie mit dem Kind am strengsten und konnte nicht verbergen, dass sie sich oft von ihm belästigt fühlte.

»Ich mag Kinder«, erklärte Maril mit seiner rauhen, kehligen Stimme. »Sie reden nie mit zwei Herzen.«

Ana hob überrascht eine Braue.

»Er meint: Sie rede nie mit zwei Zungen«, übersetzte Don Andrea. »Sie lügen nicht.«

Er war sichtlich stolz auf sein Wissen, und kurz hob er so eitel, wie sich sonst nur Pedro el Ballenero gebarte, den Kopf, doch alsbald schlotterte er wieder vor Furcht.

Wenn er wenigstens eine kleine Hilfe wäre, da wir ihn doch durchfüttern!, ging es Emilia durch den Kopf. Ach, und wenn Pedro nur bald mit ein paar seiner Männer zurückkehren würde!

Jeden Tag hielt sie Ausschau nach ihm, doch die einzigen Männer, die wie hungrige Aasgeier um die Estancia kreisten, waren Esteban, Jerónimo und ihre Begleiter.

Emilia war gewiss, was sie planten: Wenn sie erst genügend über die Bewohner der Estancia herausgefunden hatten, würden sie den Überfall wagen und sie alle töten – die Frauen wahrscheinlich erst dann, nachdem sie sich ausreichend mit ihnen amüsiert hatten. Folgen hatten sie wohl keine zu befürchten, denn hier draußen in der Wildnis würde der Vorfall nahezu unbemerkt bleiben. Wären Engländer betroffen, so würden Nachbarn zu Hilfe eilen, und wenn sie Spanier wären, vielleicht auch. Doch sie wurden von den anderen Estancieros ohnehin misstrauisch beäugt – nicht nur, weil sie Fremde waren, sondern obendrein Frauen. Wenn sie also überleben wollten, mussten sie sich selbst schützen.

Als erste Maßnahme, so entschied sie, musste sie lernen, besser mit dem Gewehr umzugehen. Bis jetzt hatte sie nie gedacht, dass sie mit dieser Waffe eines Tages auf Menschen schießen müsste – nun richtete sie im Garten kleine Steinberge auf und zielte darauf.

Wortlos tat es ihr Ana gleich und traf ohne Mühen. Emilias Hände jedoch zitterten plötzlich so stark, dass alle Steine stehen blieben. Sie fluchte laut, verstummte jedoch augenblicklich, als eine Stimme hinter ihr ertönte und verkündete: »Ich … ich will es auch versuchen.«

Sie fuhr herum und traute ihren Augen nicht: Rita hatte sich erstmals aus der Starre gelöst und war ins Freie getreten. Sie wirkte noch kleiner und zarter als sonst.

»Du willst schießen?«, fragte Emilia verwirrt. Don Andrea wollte sie schon die ganze Zeit zur Waffe drängen – bei Rita wäre sie nie auf die Idee gekommen, es auch nur zu versuchen. Doch diese nahm ihr schweigend das Gewehr aus der Hand. Kurz zitterten ihre Hände so stark wie die von Emilia, und diese dachte schon, Rita wäre viel zu schwach, die Waffe zu halten, aber dann hob sie sie ohne Schwierigkeiten hoch. Ihre Augen waren schwarz und leer – nicht vor Grauen, sondern vor tiefster Konzentration.

Im nächsten Augenblick ertönte ein Schuss – und alle Steine lagen auf dem Boden.

»Das glaube ich ja nicht!«, stieß Emilia aus – halb bewundernd, halb neidisch, weil sie selbst versagt hatte.

Ana grinste, Maril, der von den Schüssen ins Freie gelockt worden war, nickte anerkennend.

»Ich bring sie um.« Ritas Stimme war nicht lauter als ein Hauch. »Wenn sie mir oder meinem Kind etwas antun wollen, dann bringe ich sie um.«

Auch Don Andrea lugte aus dem Fenster und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wer die Gewalt sucht, wird darin umkommen«, klagte er.

»Pah!«, machte Emilia. »Auch einige Missionare haben die Indianer lieber getötet, als sie zu bekehren.«

Als sie nach den Schießübungen wieder ins Hau zurückkehrten, blickte sich Emilia suchend nach Balthasar um. Eigentlich hatte sie erwartet, dass auch er sich an den Übungen beteiligen würde, sich dann jedoch, als er nicht aufgetaucht war, gedacht, dass er bei Aurelia bleiben wollte. Doch Aurelia saß ganz alleine in der Wohnstube. Vor ihr aufgeschlagen lag Balthasars Skizzenblock, und erstmals versuchte sie, selbst mit dem Kohlestift etwas zu zeichnen.

»Wo ist Balthasar?«, fragte Emilia.

Auch Rita schien besorgt. »Ja«, bekräftigte sie, »wo ist er?«

»Fort«, meine Aurelia knapp.

»Wie – fort? Wollte er nach den … Männern Ausschau halten?« Seit einigen Stunden hatten Emilia nichts von Esteban und Jerónimo gesehen, aber sie traute dem Frieden nicht, hielt ihn eher für die Ruhe vor dem Sturm.

»Nein«, sagte Aurelia gleichmütig. »Er ist ganz fort. Mit dem Pferd.« Sie deutete in Richtung Westen.

Ana schien eher als die anderen zu begreifen, was die Worte bedeuteten. »Was für ein Narr, ausgerechnet jetzt fliehen zu wollen!«, schimpfte sie. »Wenn sie ihn abfangen, ist er so gut wie tot.«

Rita hatte keine Ähnlichkeiten mehr mit der Frau, die eben zielgenau geschossen hatte. Blass stammelte sie: »Er ist nicht geflohen. Gewiss will er Hilfe holen! Und er hat gewartet, bis wir so abgelenkt sind, damit wir ihn nicht aufhalten und es ihm ausreden!«

»Von wegen!«, schrie Emilia und stampfte heftig auf dem Boden auf. Ihre Selbstbeherrschung zeigte Risse, und mit jedem wütenden Wort wurde ihre unermessliche Anspannung deutlich. »Er hat sich aus dem Staub gemacht!«, tobte sie. »So wie sich einst Arthur aus dem Staub gemacht hat. Die beiden sehen sich zwar nicht ähnlich und könnten doch Brüder sein.«

Eine Weile fluchte sie so laut wie vorhin, als sie danebengeschossen hatte, und stampfte mehrmals auf. Dann erst bemerkte sie, dass alle sie anstarrten – Rita entsetzt, Aurelia neugierig, Ana grinsend und Maril ausdruckslos. Don Andrea faselte wieder etwas von Gewalt und dass sie darin umkommen würden.

Wortlos wandte sie sich ab und stürmte nach draußen. Sie schichtete erneut die Steine übereinander und schoss darauf. Diesmal zitterten ihre Hände nicht: Sie traf alle mühelos.


Drei Tage später warteten sie immer noch auf den Angriff der Männer – angespannt, sorgenvoll, aber entschlossen, zurückzuschlagen.

Es war Abend, als Ana und Emilia wieder einmal gemeinsam ums Haus gingen. Aurelia schlief bereits. Don Andrea las mit verzweifeltem Gesicht in der Bibel, Maril starrte ausdruckslos vor sich hin.

Rita hatte versucht zu schlafen, aber sie konnte einfach keine Ruhe finden und beschäftigte sich schließlich mit dem, was ihr in den letzten Jahren die meiste Kraft gegeben hatte: dem Weben. Schon im ersten Winter hatte sie damit begonnen, als heftige Schneestürme sie alle im Haus gefangen gehalten und zur Untätigkeit gezwungen hatten. Damals hatte Rita das Haus durchstöbert und war auf einen Webstuhl gestoßen – ein sehr simples Gerät, bestehend aus zwei Kisten und zwei horizontalen Stangen, an deren Enden Ketten gebunden worden waren, die beim Weben dafür sorgten, dass die Ränder des Stoffes gerade blieben. Mit einer glatten Nadel oder einem Stab ließen sich die Ketten trennen, um den Faden durchzuziehen.

Anfangs war Rita sehr langsam vorangekommen, nun konnte sie fast blind mit der Straußenfeder, die als Weberschiff diente, und einem Stab, durch den man das Garn schoss, arbeiten. Sie bemerkte kaum, dass Maril aufgestanden, zu ihr getreten war und sich an ihrer Seite niederließ. Vor einigen Tagen noch hätte sie sich vor ihm zu Tode gefürchtet – doch nun galten ihre Ängste zwei ganz anderen, die irgendwo da draußen in der Finsternis darauf warteten, ihr zuzusetzen.

»Guanako- oder Schafwolle?«, fragte er knapp.

Sie glaubte sich daran zu erinnern, dass Don Andrea, als er von den Tehuelche erzählt hatte, behauptet hatte, sie würden vor allem von Guanakos leben.

»Schafwolle«, sagte sie leise.

Schweigend sah ihr Maril eine Weile über die Schultern. »Unsere Frauen zwirnen die Wolle mit Hilfe eines Schilfsrohrs«, erzählte er. »Das könntest du auch versuchen. Und wie färbst du sie eigentlich – die Wolle, meine ich, und später den Stoff?«

Rita blickte verwirrt hoch.

»Ich färbe die Wolle gar nicht – und den Stoff auch nicht«, antwortete sie.

Wieder schoss der Stab hin und her.

»Unsere Frauen stellen Erdfarben her«, sagte Maril. »Sie werden mit dem Mark des Straußes vermischt, und später werden die Quillangos damit bemalt. Manchmal mischen sie auch Kohle oder Ton mit Blut und Fett, um daraus Farben zu machen.«

Don Andrea blickte von der Bibel hoch. »Ihr bemalt auch eure Gesichter, nicht wahr?«, fragte er.

Maril nickte. »Meist rot. Und die Augen werden gelb umkreist, die Backen ebenfalls. Und manchmal bemalen wir uns mit schwarzer Farbe. Die schützt am besten vor Kälte und Wind. Ja, auf Farben verstehen wir uns gut. Und das Weben haben wir von den Mapuche gelernt.«

Rita war kaum merklich zusammengezuckt. War es Zufall, dass er von ihrem Volk sprach? Wusste er oder ahnte er zumindest, dass sie eine Rothaut war? Vielleicht hatte er gehört, wie Jerónimo und Esteban über sie gesprochen hatten, und wollte nun mehr herausfinden. Rita ließ das Weberschiff sinken.

»Du machst das wirklich gut«, sagte er leise, die dunklen Augen starr auf sie gerichtet.

Sie wusste, dass er es gut meinte, doch in ihren Ohren klangen die Worte nicht wie ein Kompliment, sondern wie eine Beleidigung, und sie fühlte sich entlarvt.

»Ach was«, sagte sie hastig, »das ist doch gar nichts.«

»Woher kannst du es?«

»Ich … ich …« Sie geriet ins Stocken. Ich habe es mir selbst beigebracht, wollte sie sagen, aber sie wusste insgeheim, dass das nicht so war. Auch Emilia oder Ana hätten den Webstuhl finden und ihn in Gebrauch nehmen können, doch das hatten sie nicht getan. Und obwohl Rita sich einzureden versucht hatte, dass es daran lag, weil weder die eine noch die andere so lange stillsitzen konnte wie sie, war stets klar gewesen, warum ausgerechnet sie webte. Sie hatte es einst von der Großmutter gelernt. Der Großmutter mit dem gefurchten Gesicht, den warmen, rauhen Händen und dem Geruch nach Erde.

»Ich kann es eben«, sagte sie.

Sie sah, dass Maril den Mund wieder öffnete, zu einer neuen Frage ansetzte, und sie überlegte schon, wie sie ihn dazu bringen konnte, sie in Ruhe zu lassen, ohne unhöflich zu sein, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und Ana hereingestürzt kam. Emilia folgte ihr, die Haare vom Wind zerzaust, das Gesicht gerötet. Beide umklammerten sie ihre Gewehre.

»Was … was …«, begann Rita.

Die Augen der beiden Frau waren schreckgeweitet. Im nächsten Augenblick hörte sie es selbst: das Getrampel von Pferden, vielen Pferden, die Rufe und das Gelächter von Männern und plötzlich einen Schuss.

Emilia schloss die Tür hinter sich und schob den Riegel vor, stürzte dann zum Fenster, um zunächst zwischen den Balken ins Freie zu lugen und dann zwischen einem Spalt das Gewehr hindurchzuschieben.

»Sie sind zurück«, stellte Rita tonlos fest.

Don Andrea schlug ein Kreuzzeichen, Marils Züge erstarrten. Emilia nickte düster. »Esteban und Jerónimo haben Verstärkung mitgebracht«, sagte sie. »Gewiss ein Dutzend Männer. Sie scheinen von allen Seiten zu kommen und kreisen das Haus ein!«


Vor diesem Augenblick hatte sich Emilia am meisten gefürchtet, der Augenblick, da es losbrach, da die Horde Männer nicht länger wartete, sondern das Feuer eröffnete. Doch nun, da es geschah, da dieser ohrenbetäubende Lärm einsetzte, Schüsse und Schreie, hatte sie keine Angst mehr. Nichts war da mehr, keine Sorgen, keine Panik, nicht einmal Wut. Ihr Kopf wurde von einem Rauschen erfüllt, und der einzige Gedanke, den dieses Rauschen nicht zum Verstummen brachte, war der Befehl: Ich muss die Meinen schützen.

Als sie hinter dem Fenster stand, mit dem Gewehr nach draußen zielte, schien ihre ganze Welt geschrumpft zu sein: Es gab nur sie und die Feinde. Und Ana, die dicht neben ihr ebenfalls auf die Männer zielte – und als Erste schoss. Sie jubelte auf, als einer fiel, und Emilia, die sich die letzten Tage noch gefragt hatte, ob es ihr gelingen würde, auf einen Menschen zu schießen, fand nichts Verwerfliches daran, fühlte nur tiefen, heißen Triumph und dass sie es auch wollte – jemanden erschießen. Ihn ein für alle Mal von dem Land zu verjagen, das ihnen Agustina geschenkt hatte. Ihm die Macht zu nehmen, sie zu ängstigen.

Sie suchte sich ein Ziel und drückte ab. Ob sie getroffen hatte, wusste sie nicht. Nicht nur, dass die aufziehende Nacht das letzte Licht vom Himmel scheuchte – in der Luft hing überdies eine dicke Sandwolke.

»Wir haben den Vorteil auf unserer Seite!«, jubelte Ana. »Sie haben nicht geglaubt, dass wir zurückschießen werden. Sieh nur! Sie fliehen! Sie …«

Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Kurz, ganz kurz war ihre Erleichterung auf Emilia übergeschwappt, aber dann erkannte sie, dass die Gefahr noch lange nicht vorbei war, im Gegenteil. Die Männer liefen oder ritten zwar fort, doch sie entfernten sich nur vom Patio, wo sie den Schüssen der Frauen ausgeliefert waren, und fielen stattdessen an anderen Stellen in die Estancia ein, wie das laute Kläffen der Hütehunde, das angstvolle Blöken der Schafe, das Knirschen von Holz bekundete.

Emilia begriff. Der Angriff auf ihr Haus war erst der Anfang gewesen, um sie zu erschrecken. In Wahrheit hatten sie es auf die Schafe abgesehen, von denen ihre ganze Existenz abhing. Zuerst zerstörten sie die Zäune aus Ciprésholz – eigentlich ein festes, gut haltbares Holz –, deren Pfeiler jedoch unter Äxten und Sägen krachend nachgab; als Nächstes trampelten sie mit den Pferden die Tranquera, das breite Zauntor, nieder.

Emilia biss sich auf die Lippen. Es war so mühsam gewesen, das alles aufzubauen – nicht nur die Außenzäune, sondern auch die niedrigeren, die die Koppeln in vierzehn große, elf mittlere und acht kleinere unterteilten. Sie glaubte, noch die Rückenschmerzen zu fühlen, weil sie so viel Holz geschleppt hatte, die Blasen an ihren Händen, die vom Hämmern kamen.

Abermals ertönten Schüsse – diesmal nicht auf das Haus gerichtet, sondern auf … die Schafe. Das Blöken wurde erst noch panischer, dann dünner.

»Mein Gott, sie schießen die Schafe tot!«, schrie sie auf.

Ana fluchte auf Russisch.

Erst jetzt sah Emilia, dass auch Rita nicht weit von ihr entfernt stand und durch das Fenster lugte. Sie ließ sich von Ana deren Gewehr reichen, doch anders als beim Üben zitterten ihre Hände so stark, dass sie es nicht halten konnte und es schnell wieder an sie zurückgab. »Was sollen wir nur tun?«, rief sie verzweifelt.

Emilia rang die Hände. »Wir müssen sie aufhalten!«

Sprach’s und wollte schon zur Tür laufen, um nach draußen zu stürzen. Ana erhaschte ihre Schürze und hielt sie daran fest. »Bist du verrückt geworden? Genau das ist doch ihr Plan! Sie erschießen die Tiere, um uns aus dem Haus zu locken!«

»Aber wenn wir keine Schafe mehr haben …«, setzte Rita an.

»… dann haben wir gar nichts mehr«, beendete Emilia den Satz, riss sich von Ana los und lief zur Tür.

»Nicht!« Diesmal war es Rita, deren Schrei sie aufhielt. »Besser wir verlieren die Tiere – als unser aller Leben.«

Emilia zögerte. Kurz hörte sie nichts mehr, weder Schüsse noch Geschrei, noch das stete Rauschen. Sie sah, wie Aurelia, die vom Lärm wach geworden war, weinte, aber sie vernahm es nicht. Sie sah auch, dass sich Don Andrea unter dem Tisch verkrochen hatte, aber sie hörte das Gebet nicht, das er murmelte. Für einen Augenblick lang konnte sie nichts anderes denken, als was für einen lächerlichen Anblick er bot – ganz anders als Maril, dessen Hand fest seine Boleadora umklammerte.

Er nickte Emilia zu. Mach nur, schien ihr sein stolzer Blick zu sagen, lass sie nur kommen – ich werde mit euch kämpfen.

Emilia griff nach dem Riegel, mit dem sie die Tür verschlossen hatte.

»Nicht!«, schrie Rita wieder. »Wenn du öffnest, dann können sie das Haus stürmen.«

»Soll ich hier warten, bis sie alle Schafe getötet haben?«, entgegnete Emilia aufgebracht. »Nie und nimmer! Ich lasse mir von diesen Schuften meinen Besitz nicht nehmen.«

Ana trat zu ihr, das Gewehr fest umklammert. Jeglicher Zweifel war aus ihrem Gesicht geschwunden. So kalt und hart wie in diesem Augenblick war ihr Blick schon lange nicht gewesen. »Ich auch nicht.«

»Ich helfe euch«, erklärte Maril und schwang bedrohlich die Boleadora.

»Wenn ich die Tür öffne, müsst ihr mir Rückendeckung geben und …«, sagte Emilia.

Rita packte sie am Arm: »Emilia! Wir sind zu wenige, viel zu wenige! Wenn wir das Haus verlassen, werden wir umkommen.«

Emilia hielt ihrem verzweifelten Blick stand. »Du musst dich mit Aurelia irgendwo verstecken. Am besten in einer der Vorratskammern. Ich glaube nicht, dass sie euch dort suchen werden.«

Rita schüttelte energisch den Kopf. »Wie soll ich uns beide durchbringen, wenn dir etwas zustößt?«, rief sie. »Und wenn wir doch Esteban und Jerónimo in die Hände fallen … oh, lieber wäre ich tot.«

»Verdammt!« Emilia hätte viel gegeben, einige von Anas russischen Flüchen zu kennen, deren Wirkung ihr stets vernichtender erschienen waren als ihre eigene. Zitternd klammerte sich Rita an ihr fest; zugleich wurde das Bellen der Hütehunde immer verzweifelter, knallten Schüsse durch die Nacht, knirschte immer noch Holz. Wahrscheinlich zerstörten sie nicht mehr nur Zäune, sondern auch die Scheune und die Ställe. Und sie lachten. Ja, die Männer schrien nicht nur, sondern lachten laut und triumphierend.

»Verdammt!«, rief Emilia wieder und umkrampfte den Riegel fester. Sie wusste, dass Rita recht hatte. Wenn sie ins Freie trat, könnte sie sterben.

Doch sie konnte nicht anders, schob den Riegel zur Seite, schüttelte erst Rita ab und öffnete dann die Tür. Als sie über die Schwelle auf den Patio trat, steckte sie augenblicklich in einer Wolke aus Sand und Staub fest, doch sie ließ sich nicht davon abhalten, einen zweiten Schritt zu tun.

Kurz herrschte wieder Stille in ihrem Kopf, ehe der Lärm über sie hereinbrach, noch lauter, noch wilder, noch ohrenbetäubender. Sie zuckte zusammen. Dieser Lärm kam nicht nur von den Angreifern, sondern von weiteren Männern, die nun in den Hof geritten kamen. Sie konnte nicht genau erkennen, wie viele es waren, denn die Hufe ihrer Pferde wirbelten noch mehr Staub auf. Doch es mussten mehr als ein Dutzend sein, und die Schüsse, die sie abgaben, kamen aus allen Richtungen.

»Sag, hat Esteban ganz Punta Arenas zusammengetrieben, um uns zu überfallen?«, schrie Emilia. Alles in ihr pochte darauf, dass sie sich duckte und schnell wieder im Haus versteckte, bevor sie eine Kugel abbekam. Stattdessen hob sie das Gewehr, umklammerte es und wollte in die Menge schießen. Gewiss, gegen diese Übermacht hatten sie keine Chance – aber wenn sie sterben musste, würde sie so viele wie möglich mit in den Tod reißen.

Ehe sie den ersten Schuss abfeuern konnte, riss Ana ihr das Gewehr aus der Hand. »Tu das nicht!« Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Was, zum Teufel …«

»Das sind nicht …«, schrie Ana, aber das Hufgetrampel wurde so laut, dass Emilia nicht hörte, wie Anas Satz endete. Nur Aurelias Weinen drang zu ihr. Und Ritas Stimme, wie sie ganz nah an ihrem Ohr sagte: »Es sind zu viele.«

Das wusste sie doch selbst! Und gerade deswegen wollte sie …

Da warf Ana den Kopf zurück und lachte schallend: »Ja, es sind zu viele! Viel zu viele, die gegen Esteban und Jerónimo kämpfen.«

Emilia fuhr herum und starrte verständnislos die lachende Ana an. Sie musste ihren Verstand verloren haben. Doch dann sah sie, dass auch in Ritas Zügen kein Entsetzen mehr stand, nur Erleichterung, und endlich begriff auch sie: Die Männer, die eben in den Hof geritten kamen und wild um sich schossen, waren keine Feinde. Pedro war darunter, der wuchtige Pedro, der laut brüllte, niemand dürfe seinen Mädchen ein Haar krümmen. Er selbst schoss nicht, wahrscheinlich konnte er nicht richtig zielen, aber er gab seinen Männern Anweisungen. Manch einer hielt nicht nur ein Gewehr in der einen Hand, sondern obendrein eine Pistole in der anderen.

»Balthasar!«, hörte Emilia Rita rufen, und dann hatte sie ihn selbst erblickt – trotz kurzem Bein wacker auf einem Pferd sitzend und ebenfalls in beiden Händen Waffen. Rauch stieg aus der Pistole, doch er drückte kein weiteres Mal ab – musste es schlichtweg nicht. Einige von Estebans und Jerónimos Männern waren vorhin, als sie die Zäune zerstören wollten, vom Pferd gestiegen. Nachdem ihre Tiere verschreckt davongaloppiert waren, standen sie nunmehr schutzlos einer Übermacht gegenüber. Kurz waren sie völlig erstarrt, dann ließen sie ihre Äxte und Sägen fallen, rannten los und verschmolzen alsbald mit der Dunkelheit der Pampa. Einer trug einen Mann auf dem Rücken und schleppte schwer an ihm – offenbar einem Verwundeten. Emilia konnte nicht erkennen, ob es Esteban oder Jerónimo war, aber sie hoffte, dass einer von den beiden eine Kugel aus ihrem Gewehr abbekommen hatte.

»Wer«, brüllte Pedro, »wer wagt es, meinen Mädchen etwas anzutun?«

Seine Stimme ging im Kläffen der Hunde unter, die erst in den Patio stürzten, dann, auf den Befehl eines der Männer hin, die überlebenden Schafe zusammentrieben, die über die kaputten Zäune in die Wildnis geflüchtet waren. Manch eines würde wohl einem hungrigen Puma zum Opfer fallen, andere hatten sich an den zerstörten Zäunen verletzt, doch für die Verluste, die ihnen dieser Überfall gekostet hatte, hatte Emilia in diesem Augenblick keinen Kopf.

Ana lachte immer noch spöttisch und befreit, und Emilia konnte nicht anders, als es ihr gleichzutun. »Wir sind gerettet!«, schrie sie triumphierend. »Wir sind gerettet!«

»Balthasar hat tatsächlich Hilfe geholt!«, rief nun auch Rita viel lauter, als sie sonst die Stimme erhob.

Emilia blieb indes das Lachen jäh im Hals stecken – nicht weil Rita von Balthasar sprach, sondern weil sie jetzt erst sah, wer unter den Männern war, die ihnen zu Hilfe geeilt waren: nicht nur der hinkende Balthasar, nicht nur der dicke Pedro, sondern auch Arthur mit gerötetem, vom Kampf verzerrtem Gesicht und wildem blonden Haar, das im Wind der Steppe wehte.


Wie erstarrt blickte Emilia auf ihn und konnte eine Weile nichts anderes tun, als ihn anzusehen. Schließlich zwang sie sich, den Blick zu senken, und nahm nur aus den Augenwinkeln wahr, dass auch er sie nun entdeckt hatte und seine Augen über ihre Gestalt huschten. Sie verweilten nicht. Alsbald gab er genau wie sie vor, dass er sie nicht gesehen hatte oder dass es, selbst wenn er es getan hätte, nicht wichtig wäre. Wendig sprang er vom Pferderücken, klopfte Balthasar mit aufgesetztem Lachen auf den Rücken und bückte sich dann, um seinen Hut aufzuheben, der ihm im Eifer des Kampfes vom Kopf geflogen war. Danach sah Emilia erst einmal gar nichts mehr von ihm, sondern nur mehr Pedros massigen Leib. Mit einem lauten Schrei, in dem gleichermaßen Triumph und Erleichterung durchklangen, hob er sie hoch und presste sie an sich. Schon früher hatte sie oft geglaubt, dass sie irgendwann in seinen Armen ersticken würde, doch noch nie hatte er ihr die Luft so stark abgepresst. Er ließ sie erst los, als sie mit beiden Fäusten auf seine Brust trommelte.

»Diese Mistkerle!«, fluchte er, um dann – ernsthaft wie einen Schwur – hinzuzufügen: »Ich lasse euch nie wieder allein.«

»Das würdest du ja doch nicht ertragen«, gab Emilia trocken zurück. »Du kannst nie lange an ein und demselben Ort bleiben. Versprich also nichts, was du nicht halten kannst!«

Ihre Stimme war eigentümlich belegt. Sie wusste nicht, ob das vom Angriff rührte oder von dem Schock, Arthur wiederzusehen.

Eben hatte er sich seinen staubigen Hut wieder aufgesetzt und blickte erstmals offen in ihre Richtung, doch weder sie noch er machten Anstalten, einander zu begrüßen. Stattdessen breitete Balthasar die Arme aus, als Rita auf ihn zugelaufen kam und ihm um den Hals fiel.

»Ich wusste es!«, rief sie atemlos. »Ich wusste, dass du uns nicht im Stich lässt und dass du nur fortgeritten bist, um Hilfe zu holen!«

Emilia zog die Stirn in Falten. Bis vor wenigen Augenblicken hätte sie nicht geglaubt, dass Rita jemals wieder freiwillig einen Mann umarmen würde, doch nun legten sich ihre zarten Hände ganz selbstverständlich um Balthasars Nacken. »Nicht wahr, Emilia, wir beide wussten es?«

Emilia kämpfte um ein höfliches Lächeln, aber es geriet frostig. Nun endlich gab Arthur doch seine Distanz auf und kam leise auf sie zugeschritten.

»Was ist schlimmer?«, setzte er angelegentlich an. »Mich wiederzusehen oder die Schaffarm zu verlieren? Ich wette, du hättest Letzteres auf dich genommen, um Ersteres zu vermeiden.«

Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. Trotz der Dunkelheit entging ihr der harte Zug um seinen Mund nicht. Kerben furchten sein Gesicht, die es früher nicht gegeben hatte. Er schien älter, erwachsener: Das blonde Haar war von Sonne und Wind noch mehr gebleicht worden, wirkte jedoch nicht mehr lockig-weich, sondern hart wie Stroh; seine Haut war rauh und tiefbraun. In den blauen Augen lag nicht mehr diese Mischung aus Koketterie, Selbstherrlichkeit und einer Spur Naivität, sondern Nachdenklichkeit.

Er trotzte ihrem Blick, und kurz fragte sie sich, was er seinerseits wahrnahm und ob sie sich ebenso stark verändert hatte. Die Zeit, die seit ihrer letzten Begegnung – ganze sechs Jahre – vergangen war, erschien ihr plötzlich wie eine Ewigkeit. Zwar waren die einzelnen Stunden wie im Flug vergangen, aber aneinandergereiht ergaben sie eine schier endlose Kette, die das Leben, das davor lag, verblassen ließ und die sie vielleicht zu einer verhärmten, hässlichen Frau gemacht hatten. Ihre Gedanken waren stets um die Arbeit gekreist, nicht um die eigene Schönheit, doch unter seinem prüfenden Blick konnte sie nicht anders, als sich ängstlich zu fragen, ob die Blüte ihrer Jugend längst vorbei war. Unwillkürlich griff sie sich ans Gesicht. Ihre Haut fühlte sich glatt an, noch nicht von Runzeln übersät. Ihre Haare hatten sich aus ihrem Knoten gelöst und fielen borstig wie eh und je über ihre Schultern. Ihre Gestalt war gewiss noch sehniger und muskulöser geworden, aber immerhin waren ihre Brüste noch groß und weich.

»Was ist?«, fragte er knurrend. »Hat es dir die Sprache verschlagen, weil du mich wiedersiehst?«

»Rede keinen Unsinn!«, bellte sie. »Und natürlich ertrage ich lieber deinen Anblick, als die Estancia zu verlieren.«

Er öffnete den Mund, doch das, was er sagen wollte, ging im Stimmengewirr unter. Eben kam Don Andrea ins Freie geeilt, fiel zu Boden und dankte Gott für die wundersame Rettung. Aurelia folgte ihm und versuchte, tapfer zu lächeln, obwohl ihr Gesicht tränenüberströmt war. Als Balthasar sie erst auf den Arm nahm und später in die Luft warf, war der Schrecken allerdings schnell vergessen, und sie kreischte freudig auf. Rita dagegen fragte angstvoll, ob sein Bein unter dem Gewicht nicht schmerzen würde. Als Letzter erschien Maril im Hauseingang, und Pedro, der eben noch dröhnend damit geprahlt hatte, wie er all diese Mistkerle verjagt hatte, kam ins Stocken und fragte mit zusammengekniffenen Augen, wer diese Rothaut sei. Rita und Ana fielen sich gegenseitig ins Wort, als sie es ihm erklärten, während Maril selbst hoheitsvoll schwieg.

Emilia wandte sich wieder an Arthur. »Wenn du die ganze Strecke von Punta Arenas bis hierher geritten bist, dann bist du sicher müde, hungrig und durstig«, sagte sie und versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen. »Also komm herein und sei mein Gast.«

Ebenso hoheitsvoll wie Maril Pedros neugierige Blicke über sich ergehen ließ, wandte sie sich ab. Es entging ihr jedoch nicht, dass sich seine Lippen ob ihrer Einladung zu einem Schmunzeln verzogen hatten, und kurz, ganz kurz, glich er dem jungen, abenteuerlustigen, lebenshungrigen Arthur von einst, für den das Leben ein großer Spaß ist und jede Hürde nur ein Spiel.


Esteban ächzte. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Schmerzen gelitten. Vorhin hatte Jerónimo ihn noch aufrichtig besorgt gemustert, doch nachdem er festgestellt hatte, dass die Kugel ihn nur gestreift, nicht getroffen hatte, war sein Mitleid rasch verschwunden. Verächtlich blickte er nun auf ihn herab, doch sosehr er sich auch darum mühte, Esteban konnte sich nicht beherrschen und das Jammern unterdrücken. Ob getroffen oder nur gestreift – er blutete wie ein Schwein am rechten Bein, und jeder Schritt tat höllisch weh.

»Nun sei doch nicht so eine Memme!«, schimpfte Jerónimo.

Esteban wusste, dass es nur eins gab, was Jerónimo noch lästiger war als Langeweile: wenn er Schwäche zeigte. Bei Frauen mochte er es, provozierte es sogar – bei Männern duldete er es nicht. Vielleicht hatte es mit seinem Vater zu tun, Felipe Callisto, der sein Vermögen als Reeder gemacht hatte und der nach dem Tod von Jerónimos Mutter den Sohn entweder eingesperrt oder an einem Tischpfosten angebunden hatte, um in Ruhe seinen Geschäften nachzugehen. Zu essen und frische Kleidung hatte er ihm nur gegeben, wenn er nicht weinte.

Esteban stöhnte wieder. Er war zu kraftlos, um an Jerónimos Kindheit zu denken. Er war sogar zu kraftlos, um auf die verfluchten Weiber zu schimpfen. Er hoffte nur, dass der Schuss, der ihn getroffen hatte, nicht aus Emilias Gewehr stammte, sondern aus dem einer der plötzlich aufgetauchten Männer. Allzu schmählich wäre es, von einer Frau angeschossen zu werden. Schlimm genug, dass ihm die Rothaut einst diese Wunde im Gesicht zugefügt hatte!

»Ich habe mich von dir zu diesem voreiligen Angriff hinreißen lassen«, murrte Jerónimo. »Aber ich ahnte gleich, dass es ein Fehler war. Wir hätten alles besser vorbereiten müssen.«

»Die Estancia gehört mir!«, zischte Esteban.

Angewidert schüttelte Jerónimo den Kopf. »Wenn du wüsstest, wie gleichgültig mir das ist …«

In ausreichender Entfernung zu der Estancia hatten sie kurz haltgemacht und gerastet. Nun, da das Morgenlicht an den Rändern der Nacht zerrte, erhob sich Jerónimo, um so schnell wie möglich nach Punta Arenas zurückzukommen. Ob Esteban ihm mit seiner Verletzung folgen konnte, war ihm gleich.

Eigentlich bin ich ihm immer gleich, fuhr es Esteban durch den Kopf. Nur, wenn ich ihm einen Vorschlag mache, wie sich Menschen töten oder quälen lassen, bin ich von Wert für ihn …

Er war es auch gewesen, der Jerónimo kürzlich davon berichtet hatte, wie viel Schafzüchter für tote Indianer zahlten, und Jerónimo hatte sich mit sichtlicher Begeisterung auf die Jagd nach ihnen gestürzt. Doch im Augenblick schien ihm die Lust darauf gründlich vergangen zu sein, desgleichen wie er nicht länger davon sprach, den Frauen die Estancia wegzunehmen.

Trotzdem gehört sie mir, dachte Esteban.

Er wagte nicht länger, es laut zu sagen. Weder wollte er Jerónimo noch mehr erzürnen noch an seinen ohnehin nur spärlichen Kräfte mit sinnlosen Flüchen zehren.

Jenseits von Feuerland: Roman
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