35. Kapitel
Rita stand vor der Estancia und starrte in die Weite. Das Wetter war umgeschlagen und der Winter innerhalb weniger Tage mit seinen beißenden Stürmen, die baldigen Schnee ankündigten, über das Land hereingebrochen. Wie eine dicke Decke würde sich der über alles legen, erstickend und lautlos.
Emilia und Ana hatten den Winter immer gehasst, denn er verlangte von ihnen, viel häufiger stillzusitzen als in den betriebsamen wärmeren Monaten. Rita hingegen hatte diese Zeit gemocht – die Zeit des Spinnens, des Webens, des Färbens. Selbst jetzt war sie irgendwie dankbar dafür, dass die Sonne sich versteckte, ihr nicht mit warmen Strahlen Ahnung von Frohsinn und Glück vorgaukelte und das Wetter den Winter in ihrem Herzen spiegelte. Doch zugleich machte ihr die Kälte schreckliche Angst. Würde ihr Mädchen frieren? Aber lebte es überhaupt noch, um zu frieren?
Balthasar beschwor sie eindringlich, dergleichen nicht einmal zu denken, sich ihren Ängsten und Sorgen nicht anheimzugeben, sondern beharrlich an der Hoffnung festzuhalten, dass alles gut werden würde, aber sie konnte nicht anders, als sich wieder und wieder diese Fragen zu stellen.
Mittlerweile waren sie seit vielen Wochen auf der Suche nach Aurelia, Esteban und Jerónimo: Maril und seine Männer halfen ebenso mit wie – sobald dieser zur Estancia zurückgekehrt war – Pedro und seine Männer. Balthasar ignorierte eisern die Schmerzen, die ihm sein Bein bereitete, und sattelte jeden Tag aufs Neue sein Pferd. Und auch sie selbst und Agustina ließen es sich nicht nehmen, das Land zu durchforschen.
Doch bisher war alles vergeblich gewesen. Maril, der das Land am besten kannte, behauptete zwar, Spuren gefunden zu haben, die von der Estancia wegführten, doch es gab nicht den geringsten Beweis, dass diese tatsächlich von Jerónimo und Esteban stammten – und darüber war sich auch Maril im Klaren, dessen Miene immer verschlossener und dessen dunkler Blick immer trauriger wurde.
Balthasar fiel es zunehmend schwerer, an seiner Hoffnung festzuhalten, dass sie Aurelia finden würden. Und Pedro dröhnte zwar laut, er würde jedem die Haut vom Leibe reißen, der sich an der Kleinen vergriffe – aber Rita wusste: Laut dröhnend etwas zu verkünden und es tun waren bei Pedro zweierlei Sachen, und solange sie Esteban und Jerónimo nicht fanden, konnte er sich auch nicht an ihnen rächen.
Dass Rita sich Balthasars Aufforderung widersetzt hatte und selbst nach Aurelia suchte, war längst aufgeflogen, und anfangs hatten sie noch darüber gestritten. Mittlerweile stritten sie nicht mehr, weil sie kaum mehr miteinander redeten. Sie starrten sich hilflos an wie zwei verlorene Kinder. Balthasar wusste nicht mehr, wie er sie trösten sollte. Und sie wusste nicht, wie sie verhindern konnte, dass um sie herum eine dünne Wand aus Kälte und Härte wuchs, an der alles abprallte.
Fröstelnd strich sich Rita über ihre Arme. Sie hörte Schritte hinter sich, und als sie sich umdrehte, sah sie Maril. Der Wind schien ihm nichts anzuhaben; sie hatte noch nie erlebt, dass er zitterte.
Ob seines Anblicks seufzte sie erleichtert. Von allen Bewohnern der Estancia konnte sie ihn noch am besten ertragen, weil er die größte Ruhe ausstrahlte.
»Gibt es … gibt es etwas Neues?«, fragte sie.
»Es wurde kein weiteres Mal Geld gefordert …«
Rita seufzte wieder – diesmal kummervoll. Vor drei Wochen hatte sie erstmals zu hoffen gewagt, dass sie Aurelia heil zurückbekommen würden. Ein Fremder war auf die Estancia gekommen, verlottert, zerrissen und dreckig, und hatte im Namen von Esteban und Jerónimo Geld verlangt, Lösegeld, und zwar zweihundert Pesos. Das war nicht wenig, aber auch nicht zu viel, um es nicht irgendwie zusammenzubringen.
Pedro war anzusehen, dass er den Mann am liebsten vom Pferd gezerrt und ihn geprügelt hätte, bis er gesagt hätte, wo Aurelia versteckt wäre – doch Rita hatte ihn davon abgehalten. Sie könnte ihm erst das Geld geben, wenn sie in Punta Arenas bei der Bank gewesen wäre – im Augenblick hätte sie nur etwa zwanzig Pesos zur Hand. Der Mann nahm es als Anzahlung entgegen, versprach im Tausch ein Lebenszeichen von Aurelia und dass er bald zurückkehren würde, aber nachdem er mit dem Geld weggeritten war, hatten sie nie wieder von ihm gehört. Irgendwann waren sie zum Schluss gekommen, dass er Esteban und Jerónimo gar nicht kannte, sondern lediglich von der Entführung gehört und ihre Sorgen schamlos ausgenützt hatte, zumal sie alle Menschen, denen sie auf der Suche begegnet waren, nach Aurelia gefragt hatten – Wegelagerer, Händler, Estancieros, Indianerjäger –, es also viele gab, die von ihrer Notlage wussten.
Rita umkrallte ihre Arme. »Das Schlimme ist …«, murmelte sie, »das Schlimme ist, dass es Jerónimo nicht ums Geld geht. Esteban vielleicht. Er würde Aurelia nicht töten, wenn er im Gegenzug die Estancia bekommt. Aber Jerónimo … er braucht keine Estancia und auch kein Geld, er weidet sich am Leid anderer Menschen, weil ihn das sein eigenes ödes Leben am besten ertragen lässt. Er würde das größte Vergnügen daran finden, wenn wir ihm alles geben, was wir haben – und am Ende erkennen müssen, dass Aurelia längst tot ist.«
Sie wandte sich rasch von Maril ab, damit er ihre Tränen nicht sah, und starrte wieder auf die karge Landschaft. Patagonien war so groß, weit und wild, und nirgendwo war ihr Kind. Sie ertrug den Anblick nicht, blickte verzweifelt hoch zum Himmel. Obwohl sich die Nacht noch nicht über das Land gesenkt hatte, war das Sternenzelt sichtbar.
Maril folgte ihrem Blick. Sie wusste, dass die Tehuelche sich an den Sternen orientierten, dass der Himmel ihnen oft den Weg zeigte. Nur zu Aurelia konnten die Sterne ihn nicht führen.
»Ich würde so gerne helfen«, murmelte er tieftraurig. Von allen ließ er es sich am wenigsten anmerken – aber Rita ahnte, dass er genauso um Aurelia bangte wie sie. Kinder galten bei seinem Volk als etwas ganz Besonderes. Wenn alte Menschen starben, war dies etwas Selbstverständliches. Wenn es Junge traf, war die Trauer ungleich größer. Aber am schrecklichsten war der Tod von Kindern.
»Was soll ich nur tun?«, stammelte Rita. »Was soll ich nur tun?«
Maril betrachtete sie nachdenklich. »Du musst hören, was Aurelia dir zu sagen hat.«
»Was sie mir zu sagen hat? Aber sie kann nicht mit mir reden!«
Plötzlich trat er ein wenig dichter heran. Sie konnte die Wärme seines riesenhaften Leibs spüren. »Vielleicht in deinen Träumen«, murmelte er. »Unsere Träume erzählen mehr als die der Weißen.«
Rita zuckte zusammen – nicht nur wegen dieser Aufforderung, sondern weil er in der Sprache der Mapuche, dem Mapudungun, zu ihr gesprochen hatte. Viele seines Volks beherrschten sie, denn sie hatten lange mit den Stämmen der Kordilleren Handel getrieben, und Maril nutzte sie ihr gegenüber nicht zum ersten Mal. Doch bis jetzt hatte sie es immer abgelehnt, darauf zu antworten, ja, hatte vorgegeben, ihn gar nicht zu verstehen. Heute war es anders.
»Ich habe mein Volk so oft verraten«, brach es aus ihr hervor. »Warum soll es mir jetzt helfen?«
»Du hast es nicht verraten, du hast nur zu überleben versucht. Aber jetzt geht es nicht um dein Leben, sondern um das deines Kindes.«
Wortlos drehte sich Rita um. Sie war sich nicht sicher, was sie von seinem Vorschlag zu halten hatte, aber mittlerweile war sie so verzweifelt, dass sie jeden Ratschlag befolgt hätte, und wäre er noch so aberwitzig, um Aurelia zurückzubekommen.
In den letzten Wochen hatte sie nie geträumt, was allerdings daran lag, dass sie auch fast nie geschlafen hatte. Der Schlaf war ein Feind, der sie von der Suche nach Aurelia abhielt und gegen den sie sich so verbittert wie möglich wehren musste. Nun ging sie in ihr Zimmer und schloss die Tür. Wenn überhaupt, hatte sie in den letzten Wochen bei Ana geschlafen, damit sie den Anblick von Aurelias leerem Bett nicht ertragen musste. Nichts hatte sie daran geändert, das Laken lag genauso wie an dem Tag, da sie entführt worden war. Rita trat auf das leere Bett zu, strich über das Laken, legte sich schließlich mitsamt ihrer Kleidung darauf.
»Aurelia«, murmelte sie, »sag mir, wo du bist … hörst du mich? Du musst es mir sagen.«
Sie formte die Worte in der Sprache der Mapuche. Ganz leicht kamen sie ihr über die Lippen, ohne Zögern, ohne Nachdenken. Tränen quollen aus ihren Augen, nicht nur wegen Aurelia, sondern wegen der Erinnerungen, die die rauhen Worte in ihr beschworen. Sie schloss die Augen und sah ihren Vater Quidel – nicht blutüberströmt wie zuletzt, sondern als jungen Mann, der sie auf dem Rücken getragen hatte. Ihre Hände fuhren durch sein glattes schwarzes Haar.
»Trag mich zu ihr, Vater! Trag mich zu Aurelia!«, rief sie ihm zu.
Ihr Körper schien leicht wie eine Feder. Es bereitete Quidel keine Anstrengung, sie zu tragen. Leichtfüßig schritt er durch die satten, grünen Wälder, die es hier nicht gab.
»Führ mich zu ihr!«, forderte sie wieder.
Die Tränen strömten über ihre Wangen, sie waren das Einzige, was sie spürte, ansonsten schien sie zu schweben. Schlief sie schon oder war sie noch wach?
Plötzlich war ihr Vater fort. Sie hatte nicht bemerkt, dass er sie auf den Boden abgesetzt hatte. Sie spürte warme, trockene Erde unter ihren nackten Füßen, als sie auf ein Zelt zulief – das Zelt ihrer Großmutter. Die alte Frau saß in der Sonne, den Webstuhl vor ihren Knien.
»Großmutter!«, rief Rita. »Großmutter! Wo ist mein Mädchen?«
Die alte Frau blickte hoch. Ihr pechschwarzes Haar war von weißen Strähnen durchzogen, ihre Haut so gefurcht wie die Rinde, und sie roch so gut – nach Erde und Sonne und frischer Lamamilch.
»Wo ist sie? Wo ist mein Mädchen?«
Die Großmutter sagte nichts, deutete nur auf ihren Webstuhl, und Rita trat näher, blickte darauf. Sie sah keinen Stoff, kein Muster. Es schien vielmehr, als würde das Bild vor ihren Augen Sprünge bekommen, und durch diese Sprünge quoll ein anderes: das Bild von einem flachen Land, nicht grün und bewaldet, sondern karg und braun. Kleinere Hochflächen aus Basaltstein hoben sich aus der Ebene, ihre Steilhänge waren schroff. Flüsschen gruben sich dazwischen ihre Bahn – manche zu einem dünnen Rinnsal verkommen, andere ganz vertrocknet. Rita starrte nicht länger nur auf das Bild. Sie lief und lief und lief, an den Flüssen, an den Hügeln und an kleinen Höhlen vorbei, und plötzlich hörte sie ein Kreischen. Von Enten kam es, Shack-Enten. Zu Hunderten nisteten sie auf den Hochebenen, hockten auf Nestern aus Schlamm und Stroh. Wenn sie im Tiefflug schwebten, sah man ihren veilchenblauen Bauch.
»Dort ist sie, Großmutter, nicht wahr? Dort ist mein Mädchen?«
Das Bild zerrann. Sie sah nun wieder den Webstuhl ihrer Großmutter, sah die flinken braunen Hände, die ihn bearbeiteten, doch als sie den Kopf hob und ihr noch einmal ins Gesicht blicken wollte, war sie verschwunden. Rita stand nicht länger vor dem vertrauten Zelt, sondern lag in Aurelias Bett.
»Ich will, dass du von diesem Ort fernbleibst und dich nicht einmischst, hörst du?«
Balthasar schien zu ahnen, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war, deswegen wiederholte er den Satz immer wieder. Am Ende nickte Rita, doch sein Seufzen verriet ihr, dass er ganz genau wusste, was in ihr vorging.
Seit sie aus dem Traum aufgeschreckt war, hatte sie keinen Augenblick mehr ruhig zu sitzen vermocht, und Balthasar hatte sie nicht beschwichtigen können. »Es war nur ein Traum! Niemand weiß, ob es diese Landschaft wirklich gibt.«
»Sie ist dort. Ich fühle es. In einer der Höhlen der Hochebene, nicht weit von den nistenden Vögeln entfernt …«
Noch in der Nacht hatte sie Maril aufgesucht und ihm erklärt, wie der Ort aussah – die Hochebene, die schroffen Steilhänge mit den Höhlen, die Shack-Enten mit den blauen Bäuchen. Anders als Balthasar, der mit gerunzelter Stirn gelauscht hatte, hatte Maril aufmerksam zugehört und schließlich genickt. »Ich weiß nicht, ob es dort Höhlen gibt, aber ich weiß, wo so viele Shack-Enten nisten.«
Nun war es unmöglich gewesen, Rita auf der Estancia zu halten. Noch vor dem ersten Morgengrauen waren sie aufgebrochen – Maril ernst, Balthasar sorgenvoll, Pedro grimmig, Rita voller fiebriger Unruhe. Mit dieser hatte sie auch Agustina angesteckt, die es sich wieder einmal nicht nehmen lassen wollte, mitzukommen.
Sie waren kaum losgeritten, als in der Ferne rötliches Dämmerlicht aufblitzte. Der Morgen kam heute nicht langsam, zögerlich, sondern mit rotglühender Macht. Der Wind peitschte unbarmherzig auf sie ein, wirbelte die ganze Wegstrecke über Sand und Staub hoch; der Geruch nach Schnee lag in der Luft, doch noch war keine einzige Flocke gefallen.
»Hör zu«, murmelte Balthasar. »Selbst wenn es diesen Ort tatsächlich gibt – jetzt vor Anbruch des Winters nisten gewiss keine Vögel dort.«
»Mag sein«, gab sie zur Antwort, »aber vielleicht waren die Enten nur ein Zeichen – damit ich Maril den Ort beschreiben kann und er ihn findet.«
Der Sturm wurde im Laufe des Tages heftiger. Zu Mittag, als sie eine kurze Rast einlegten, konnten sie kaum Brot essen, ohne dass Sand in ihre Münder geweht wurde. Rita brachte ohnehin nichts hinunter, so eindringlich Balthasar sie auch beschwor, sie müsse etwas essen, und auch Agustina verweigerte das Brot, weil sie ganz und gar damit zu kämpfen hatte, sich die schlimmen Rückenschmerzen nicht anmerken zu lassen. Nur Pedros Appetit war unvermindert – beinahe frohlockend klang seine Stimme, als er wieder einmal dröhnte, er würde jedem die Haut abziehen, der der kleinen Aurelia etwas zuleide täte.
Am späten Nachmittag erreichten sie die Hochebene. Nicht mehr der grobkörnige Sand regnete auf ihre Gesichter, sondern Federn, Geäst und Bröckelchen von trockenem Schlamm. Weit und breit flogen keine Vögel, aber die Überreste der Nester vom Frühling und Sommer waren gut zu erkennen.
Rita glaubte zu zerspringen, so aufgeregt wurde sie. Ihre ohnmächtige Furcht war von ihr abgefallen. Aurelia, flehte sie im Stillen ihre Tochter an, Aurelia, halte nur ein ganz klein wenig durch. Bald bin ich bei dir.
»Ich weiß, dass sie hier ist«, rief sie. »Ich fühle es. Dies ist der richtige Ort!«
Agustinas Gesicht wurde hoffnungsvoll – Balthasar dagegen blickte zweifelnd in die Ödnis und zuckte zusammen, als sie nicht weit von ihnen plötzlich Pferdegetrampel hörten. Rita war so konzentriert darauf gewesen, ob die Großmutter noch einmal zu ihr sprach, dass sie sie zunächst nicht wahrnahm, doch als Balthasar an ihrem Ärmel zupfte und aufgeregt in eine bestimmte Richtung deutete, erkannte sie eine Truppe uniformierter Männer.
Balthasar tauschte einen kurzen Blick mit Pedro.
»Wir sollten sie fragen, ob sie etwas gesehen haben.«
Rita hatte wenig Hoffnung, als die beiden auf die Truppe zuritten. In den letzten Wochen hatte Balthasar immer wieder darauf bestanden, dass sie sich Hilfe von der Obrigkeit holen sollten – doch immer wieder hatte sie erklärt, dass es keinen Sinn hatte. Nicht nur, dass diese uniformierten Truppen, die man Pampa-Polizei nannte und die im Namen der Gobernación von Punta Arenas unterwegs waren, ohnehin so gut wie nie in der menschenleeren Weite Patagoniens anzutreffen waren. Obendrein, so hatte Maril ihr bestätigt, griffen sie nie ein, wenn es um den Schutz einer Rothaut ging, sahen vielmehr zu, wenn diese von Farmern und Estancieros grausam abgeschlachtet wurden. Manche halfen sogar dabei. Doch Balthasar hatte stets eingewandt, dass Aurelia ein kleines Mädchen sei, dessen Geschick einen jeden rühren würde – und offenbar hoffte er dies auch weiterhin, als er nun die Truppe erreichte und Rita aus der Ferne sah, wenn auch nicht hörte, wie er auf sie einredete.
Die Uniformen der Truppe waren ungemein farbenprächtig. Die Männer, die sich in den Dienst des chilenischen Staates gestellt hatten, kamen hier im Süden aus aller Herren Länder und redeten in verschiedenen Sprachen miteinander. Um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erzeugen, hatte man ihnen wenigstens eine einheitliche Kleidung verpasst. Dies wiederum hatte ein Ungar oder ein Österreicher so entschieden, der sich die Uniform der königlich-kaiserlichen Armee seiner Heimat zum Vorbild genommen hatte.
»Was macht diese Truppe wohl in dieser Einsamkeit?«, fragte Rita.
Maril runzelte die Stirn. »Vielleicht ein paar Rothäute töten?«, schlug er vor.
Rita schüttelte den Kopf. »Sie wissen bestimmt nicht, wo Aurelia ist.«
Als Balthasar und Pedro zurückkehrten, mussten sie gegen den Wind anschreien, um mitzuteilen, was sie erfahren hatte. Die Pampa-Polizisten waren ausgerückt, um einen Streit zwischen zwei Estancieros zu klären. Offenbar hatte jemand unberechtigterweise Land beansprucht, das eigentlich zu Argentinien gehörte. Auf dem Rückweg wären sie eben erst an einer Familie vorbeigekommen – einem Mann, einer Frau und einem Kind. Der Mann hätte behauptet, er wäre Händler.
»Na und?«, murmelte Rita und hielt an den steilen Hängen der Hochebene Ausschau nach einer Höhle.
»Sie sind drei Menschen begegnet! Verstehst du?«, rief Balthasar aufgeregt. »Einem Mann, einer Frau und einem Kind! Es könnten die drei sein …«
Geistesabwesend schüttelte Rita den Kopf. »Weder Esteban noch Jerónimo würden sich als Frau verkleiden.«
»Vielleicht haben die Männer nicht genau hingesehen. In jedem Fall habe ich ihnen unsere Lage erklärt, und sie sind bereit, mit uns gemeinsam dieser Familie nachzureiten. Am besten, du bleibst hier und wartest, ja?«
Gedankenverloren hörte Rita ihm nicht zu.
»Verstehst du mich?«, rief er eindringlich.
»Sie sind in einer Höhle …«, murmelte sie. »Sie ziehen nicht durch das Land. Sie haben sich in einer Höhle versteckt.«
»Rita, hör mir zu! Vielleicht waren sie auch in einer Höhle! Vielleicht hattest du recht mit deinem Traum. Aber jetzt … jetzt haben sie die Höhle verlassen. Und die Pampa-Polizei ist bereit, sie zu suchen. Es wird alles gut, Rita, das verspreche ich dir, es wird alles gut, aber bitte bewahre jetzt die Ruhe.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind in einer Höhle, ich weiß es. Aurelia … Aurelia sagt es mir.«
»Rita …« Hilflos war sein Blick auf sie gerichtet.
Da riss sie sich zusammen. »Nun mach schon!«, erklärte sie. »Reitet dieser Familie nach. Es kann auf jeden Fall nicht schaden zu prüfen, wer sie wirklich sind. Pedro soll mit dir kommen – und Maril und Agustina warten bei mir.«
Balthasar seufzte erleichtert. »Es wird alles gut«, sagte er wieder. Es klang ebenso erschöpft wie verzweifelt, aber auch ein klein wenig hoffnungsfroh. »Es wird alles gut.«
Dann gab er dem Pferd die Sporen und verzog dabei kurz das Gesicht vor Schmerzen, die ihm sein krummes Bein bereiteten. Pedro folgte rasch und fluchte wieder auf die Unholde, die sein Mädchen entführt hätten.
Schweigen senkte sich über sie. Agustina hatte bis jetzt noch kein Wort gesagt.
»Und nun?«, fragte Maril. So erleichtert er auch schien, den neugierigen Blicken der Pampa-Polizei entgangen zu sein, er wollte nicht untätig bleiben. Er deutete in die Ferne. »Siehst du dort das Becken? Hier muss ein Fluss einst durchs Land geflossen sein, vielleicht hat er auch Höhlen ins Land gegraben. Ich könnte dort nach ihnen suchen.«
Rita lag es auf der Zunge zu widersprechen, doch sie verkniff es sich. »Ja«, murmelte sie. »Ja, mach das. Ich bleibe hier.«
Eine Weile hielt sie ihr Pferd ruhig auf der Anhöhe, sah zu, wie Balthasar und Pedro mit den farbenprächtig uniformierten Männern in die eine Richtung ritten und Maril in die andere. Nicht mehr lange, dann würde die Abenddämmerung einsetzen, aber noch war der Himmel klar.
»Was willst du nun tun?«, schrie Agustina gegen das Heulen des Windes an.
Er wehte so stark, dass Rita das Gefühl hatte, er würde alles aus ihrem Kopf pusten – sämtliche Furcht und Panik und Sorge. Leer war es in ihr, und zugleich gab es so viel Klarheit, wohin sie reiten musste. Sie griff nach ihrem Gurt, wo ihre Pistole steckte.
»Aurelia«, murmelte sie, »ich spüre, dass sie in der Nähe ist … Ich muss einfach nur folgen …«
Wie traumwandlerisch gab sie ihrem Pferd die Sporen, ritt auf die einstigen Brutstätten der Shack-Enten zu und drehte sich nicht um, um zu sehen, ob Agustina ihr folgte. Sie wusste, dass sie es tat. Sie spürte es, wie sie auch die Gegenwart der Tochter spürte.
»Mama!«
Aurelia sprang auf. Wie so oft hatte sie sich schlafend gestellt, jedoch alles aus den Augenwinkeln beobachtet und plötzlich zwei Schatten am Eingang der Höhle wahrgenommen. Eine Weile standen diese Schatten ruhig, dann kamen sie schleichend näher. Zwar hatten Esteban und Jerónimo vor kurzem die Höhle verlassen, doch wenn sie zurückkehren würden, würde das nicht so lautlos geschehen. Nicht nur ihre Schritte gerieten stets fest – gerade in den letzten Tagen hatten sie oft lautstark miteinander gestritten, und nicht selten war es dabei um sie gegangen.
Jerónimo sprach öfter davon, dass sie endlich das Balg loswerden sollten, woraufhin dieser Esteban erklärte, er würde kein Kind töten und das hätte nie zum Plan gehört.
Jerónimo neckte ihn dann mit väterlichen Gefühlen, und Esteban wurde wütend – so sehr, dass er einmal auf Jerónimo losging und in sein Gesicht schlagen wollte. Jerónimo war erst ganz steif dagestanden, hatte sich dann aber blitzschnell bewegt – und sich als der Stärkere herausgestellt. Aurelia hatte nicht genau gesehen, was geschehen war, aber wenig später war Esteban röchelnd am Boden gelegen.
Nun ist es so weit, hatte sie gedacht, nun wird Jerónimo erst Esteban töten und dann mich.
Doch Jerónimo hatte sich nur die staubigen Hände an seiner Hose abgeklopft und war zurückgetreten. Die Erleichterung, noch zu leben, währte nicht lange. Aurelia spürte, wie die Feindseligkeit der beiden Männer von Tag zu Tag wuchs – und ahnte, dass sie ihr jederzeit zum Opfer fallen könnte.
Nun, als diese lautlosen Schatten näher traten, regte sich erstmals seit langem Hoffnung in ihr. Aurelia stockte der Atem, als die beiden Schatten in den Schein des Feuers traten. Nein, es waren nicht Esteban und Jerónimo, es waren nicht einmal Männer, sondern Frauen, und zwar nicht irgendwelche, sondern zutiefst vertraute Frauen: ihre Mutter und die alte Agustina, die sie in der Zeit vor der Entführung oft so intensiv angestarrt hatte, halb traurig, halb hoffnungsvoll, und die ihre gefurchten, zitternden Hände manchmal nach ihr ausgestreckt hatte, um sie zu streicheln. Aurelia war das immer etwas unangenehm gewesen – nun hätte sie sich gerne streicheln lassen, egal von wem, Hauptsache es waren weder Jerónimo noch Esteban.
Sie riss die Augen auf, sprang hoch und stürzte auf ihre Mutter zu.
»Mama!«
Sie warf sich in die weit ausgebreiteten Arme, versenkte ihr Gesicht in der warmen, weichen Brust. Aurelia konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter sie jemals so inniglich umarmt hatte. Ihr Geruch war vertraut, aber ihr Körper wirkte sehr dünn – auch sie selbst fühlte sich nach den vielen Wochen mit der kargen Kost ganz schwach.
»Mama!«, murmelte sie erstickt.
Nur schwer konnten sie sich voneinander lösen. Die Mutter strich ihr immer wieder über die Arme, nahm dann ihr Gesichtchen zwischen die Hände, um sie zu mustern. »Aurelia, wo sind die beiden? Wo sind Jerónimo und Esteban?«
Aurelia zuckte hilflos die Schultern. Trotz der Erleichterung, ihre Mutter zu sehen, war sie so müde, so unendlich erschöpft.
»Sie haben gestritten … wie so oft … Jerónimo wollte nicht länger hierbleiben. Er sagte, er hätte alles so satt, und Esteban sagte, es wäre doch sein Plan gewesen. Immer lauter haben sie aufeinander eingeredet, und dann sind sie hinausgegangen, und ich habe die Pferde gehört, und …«
Die Worte blieben ihr im Mund stecken. Sie zuckte zusammen und fühlte, wie sich die Hände der Mutter um sie krampften.
Sie hatte es also auch gesehen – gesehen, wie die Flammen des Feuers zuckten und auf einen Luftzug reagierten, der vom Eingang der Höhle stammte. Die Mutter hatte sie noch nicht zur Seite gerissen, als Aurelia etwas hörte – erst einen dumpfen Knall, dann ein klägliches Seufzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kippte Agustina plötzlich zur Seite und krachte auf den staubigen Boden wie ein Sack Mehl – nicht mehr fähig, sich nach demjenigen umzudrehen, der auf sie eingeschlagen hatte. Die Mutter öffnete den Mund und schrie auf. Der Mann dagegen lachte – der Mann, dessen Gestalt das Tageslicht abschnitt, der immer näher kam und der nun die Hände sinken ließ, nachdem er Agustina niedergeschlagen hatte. Es war der narbige Esteban, groß und breit. Meist war seine Miene verdrießlich, doch nun verzerrte ein bösartiges Grinsen seine Lippen. Nie hatte er Jerónimo derart geglichen wie in diesem Moment.
Jetzt erkannte Aurelia auch, womit er Agustina niedergeschlagen hatte – mit einer Pistole, die er nun langsam, aber sicher auf sie beide richtete.
Sie spürte den Griff der Mutter, wie sie sie am Arm packte, sie hinter ihren Rücken zerrte und mit dem eigenen Körper zu verstecken versuchte. Doch Aurelia konnte nicht anders, als sich zu wehren. Zu lange hatte sie unter groben Griffen stillhalten müssen, nun war die Panik zu groß, um sich nicht zu rühren. Und sie wollte, sie musste doch sehen, was Esteban nun tat!
Seine Hand zitterte etwas, als er mit der Pistole durch die Luft fuchtelte.
»Sieh an«, sprach er gemächlich, »die Indianerhure …«
Die Mutter straffte den Rücken. »Wenn du mich töten willst, Esteban, dann tu’s«, sagte diese mit erstaunlich fester Stimme. »Aber lass mein Kind gehen.«
Eben noch hatte Aurelia wild um sich schlagen, hatte fortlaufen wollen, nun erstarrte sie. Sie hatte geglaubt, sie könnte sich nicht noch mehr fürchten wie in all der letzten Zeit, doch nun spürte sie, dass etwas Schlimmes geschehen würde. Zwar duckte sie sich hinter dem Rücken der Mutter, aber nicht, um still stehen zu bleiben. Sie musste etwas tun! Sie musste versuchen, dieses Schlimme zu verhindern!
»Und wenn es mir besser gefallen würde, erst das Kind und dann dich zu erschießen?«, fragte Esteban gedehnt.
In den letzten Wochen hatte Aurelia den einen oder anderen Stein gesammelt und hatte aus ihrem Kleid Stofffetzen gerissen, um sie als Boleadora zu verwenden. Doch da die Männer sie so gut wie nie allein ließen, hatte sie keine Gelegenheit gehabt, das Wurfgeschoss auszuprobieren.
Nun, da Esteban langsam noch näher trat, griff Aurelia hastig nach dem erstbesten Stein, der ihr in die Hände kam, stülpte den Fetzen darüber und dachte an Marils Anweisungen. Man dürfe nicht zu viel nachdenken, hatte er gesagt, man müsse die Schleuder einfach ganz schnell kreisen lassen, damit sie nicht schlaff wurde, und das Ziel ganz fest im Auge haben.
»Ja«, gab sich Esteban selbst die Antwort, »ja, wenn ich es mir recht überlege, würde mir das sogar sehr gut gefallen.«
Aurelia fühlte den Stoff gar nicht, der sich um ihre Hand wickelte, sah den Stein nicht, der schließlich durch die Luft flog, sah nur Estebans spöttisches Gesicht, das sich jäh verzerrte. Noch als er aufbrüllte, konnte sie kaum glauben, dass tatsächlich sie es gewesen war, die diesen Stein nicht nur abgefeuert, sondern ihn auch damit getroffen hatte. Laut ließ sie den Atem entweichen; sie hatte die ganze Zeit über die Luft angehalten.
Der Moment der Erleichterung währte nur kurz. Ja, Esteban brüllte, aber er brüllte viel zu laut. Sie hatte ihm keine ernsthafte Verletzung zugefügt, so dass er das Bewusstsein verlor, sondern ihn nur verärgert.
»Du Miststück!«, schrie er.
Gleich würde er sich rächen, würde sie packen und sich nicht länger scheuen, sie zu töten; er würde ihr die Kehle aufschlitzen, wie er es so oft angekündigt hatte, oder sie erwürgen oder ihren Kopf an die Wand schlagen.
Tatsächlich machte er einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen, wankte. Sie hatte ihn nicht fest genug getroffen, dass er ohnmächtig wurde, doch nun sah sie, dass er im Schreck seine Pistole hatte fallen lassen und die Mutter im gleichen Atemzug eine eigene Waffe aus ihrem Gürtel gezogen hatte. Langsam erhob sie sich. »Mach die Augen zu!«, befahl sie mit einer kalten, fremden Stimme.
Aurelia wusste weder, ob der Befehl ihr galt, noch, was sie damit bezweckte. Unmöglich konnte sie die Augen schließen, konnte sie nur immer weiter aufreißen, um Esteban anzustarren, der nunmehr verständnislos auf die Pistole der Mutter glotzte. Anders als seine Hände zitterten deren nicht.
»Mama!«, schrie Aurelia.
»Mach die Augen zu!«, gab die Mutter wieder zurück.
Aurelia duckte sich.
Estebans Verwirrung wich unterdessen Hohn. Er lachte auf, und es klang ähnlich schrill wie sein Schmerzenslaut. »Du erschießt mich nie und nimmer!«, lästerte er. »Nicht du, du kleine, ängstliche Rita.«
Immer noch zitterten die Hände der Mutter nicht.
»Ich bin nicht Rita«, erklärte sie kalt. »Nicht für dich. Und ich habe keine Angst mehr vor dir.«
Sie trat einen Schritt auf Esteban zu, und dann geschah alles so schnell.
Da war dieser ohrenbetäubende Knall, der Aurelias Ohren zu zerreißen schien. Da war Esteban, der wankte, sich im Kreis drehte, als vollführe er einen grotesken Tanz, und schließlich zu Boden kippte. Da war die große Blutlache, die sich auf seiner Brust ausbreitete. Als der Schuss verklungen war, glaubte Aurelia, ein Stöhnen zu hören, doch es kam nicht von ihm, sondern von der alten Agustina.
Unbemerkt war sie wieder zu sich gekommen und hatte sich mühsam aufgerappelt. Verzweifelt schrie sie »Nicht!«, doch da war es schon zu spät, da hatte ihre Mutter schon geschossen. Agustinas Augen waren erst schreckgeweitet auf sie gerichtet, dann glitten sie zu ihrem Sohn. Wieder schrie sie etwas, doch diesmal konnte Aurelia es nicht verstehen. Estebans Augen waren weit aufgerissen und völlig starr – ähnlich wie die der Mutter, die mit kaltem, hartem Blick die Pistole fallen ließ, jedoch keinen Schritt von dem Toten zurückwich. Dann sagte sie etwas, was Aurelia nicht verstand.
»Ich weiß meinen Namen wieder«, murmelte ihre Mutter, die alle Rita nannten. »Ich weiß wieder, wie ich heiße.«
Die Worte waren kaum verklungen, als Schritte ertönten. Während Agustina halb stöhnte, halb schluchzte, die Blutlache um den toten Esteban größer wurde, und die Mutter ein ums andere Mal sagte, dass sie ihren Namen wieder wisse, sah Aurelia, wie Jerónimo mit seinem üblichen eisigen Grinsen in die Höhle gelaufen kam.
Seit dem Schuss rauschte es in Ritas Ohren. Sie hörte nichts, hörte rein gar nichts. Sie sah, dass Aurelia weinte, dass Agustinas Mund weit geöffnet war, als sie Wehklagen ausstieß, und dass auf Jerónimo so viele andere Männer folgten, unter deren Füßen der sandige Boden knirschen musste. Aber nichts davon drang zu ihr durch.
Sie starrte in Jerónimos kalte Augen und empfand zum ersten Mal keine Furcht vor ihm, nicht einmal Unbehagen.
Sie wusste wieder, wie sie hieß. Sie hatte Esteban erschossen, und dann war es ihr eingefallen.
Leicht fühlte sie sich kurz, leicht und von allem losgelöst. Aber dann erstarb das Rauschen plötzlich, und sie konnte Jerónimos Stimme hören. Sie rechnete damit, er würde auf sie losgehen, sie töten oder zumindest auf sie einschlagen, doch nun erkannte sie, dass er einen ganz anderen Weg erwählt hatte, um Esteban zu rächen.
»Kommt!«, schrie er, und seine Stimme hallte von den Wänden der Höhle. »Kommt und seht! Diese Rothaut hat einen weißen Mann erschossen! Er war völlig wehrlos, und sie hat ihn einfach umgebracht.«
Sein Lächeln wurde triumphierend, doch bald schwand es von den Lippen – klagend und verzweifelt wurde vielmehr seine Miene, als er sich zu den Uniformierten umdrehte, die nun in die Höhle stürmten, zu Balthasar, dessen Erleichterung, Aurelia zu sehen, sich rasch in Entsetzen wandelte, als sein Blick auf den toten Esteban glitt, zu Pedro, der immer wieder schrie: »Wo ist die Kleine? Wo ist die Kleine?«
Auch er verstummte, als er den toten Esteban sah – nicht minder entsetzt wie Balthasar: Der Tod dieses Unholds erschütterte die beiden mitnichten, aber sie begriffen – genauso wie es Rita nun begriff –, welche Folgen es für sie haben würde.
Einer der Pampa-Polizisten war vorgetreten und beugte sich zum toten Esteban herunter. »Er ist tot«, stellte er fest. Agustina schlug sich die Hände vor die Lippen, um einen klagenden Laut zu drosseln.
»Er hat mein Kind entführt«, sagte Rita leise. »Er hat mir mein Kind geraubt, ich musste mich doch wehren.«
Wieder erschien dieser triumphierende Glanz in Jerónimos Augen: »Von wegen ihr Kind! Es war das Kind von Esteban Ayarza, ich persönlich kann es bezeugen! Sie hat es ihm einfach gestohlen und ihm über Jahre jeglichen Kontakt verwehrt. Wir mussten es an uns bringen, damit es zu einer Spanierin erzogen wird – nicht zu einer verfluchten Rothaut.«
Rita fühlte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. In dem Augenblick, als sie Esteban erschossen hatte, hatte sie nichts gefühlt als Kraft, unendliche Kraft, den Willen, ihn zu besiegen, und das Wissen, dass sie es konnte. Nun fühlte sie, wie ihre Knie zitterten. Sie machte den Mund auf, wollte wieder etwas sagen, aber es kam nichts heraus.
Balthasar schrie an ihrer Stelle: »Du Verfluchter!«, und stürzte hinkend auf Jerónimo zu.
Er kam nicht weit. Ehe er ihn mit erhobener Faust erreicht hatte, packten ihn zwei der Polizisten und zerrten ihn zurück. »Du Verfluchter!«, schrie Balthasar dennoch weiter. »Du verleumdest meine Frau nicht!«
»Das ist nur ein Ausländer«, rief Jerónimo verächtlich, »hört nicht auf ihn! Ich hingegen bin Chilene und obendrein der Sohn des ehrenwerten Reeders Felipe Callisto. Diese Frau«, er hob die Hand und deutete anklagend auf Rita, »diese Rothaut hat einen ehrenwerten Bürger von Punta Arenas erschossen, weil sie ihm sein Kind rauben wollte.«
»Halt endlich dein Maul!«, brüllte Balthasar.
Der Offizier, der die Truppe angeführt hatte, achtete nicht auf ihn.
Eine Weile ging sein Blick von einem zum anderen, blieb schließlich bei Rita hängen. »Das muss vor Gericht geklärt werden«, stellte er fest.
»So ist es!«, höhnte Jerónimo. »Diese Frau hat den Galgen verdient.«
Rita sah, wie Balthasar verbissen gegen die beiden Männer kämpfte, die ihn festhielten, jedoch keine Chance gegen sie hatte. Endlich konnte sie sich aus ihrer Starre lösen. Sie umschritt den toten Esteban, ging auf Balthasar zu, legte ihm die Hand auf die Brust.
»Bitte«, flüsterte sie heiser, »bitte, beruhige dich! Um Aurelias willen! Bring sie nach Hause und kümmere dich um sie. Es wird … es wird alles gut werden.«
Sie wählte genau die Worte, mit denen er sie in den letzten Wochen stets zu beschwichtigen versucht hatte, aber sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. Sie wusste, dass sie log, und er wusste es auch. Sie hielt den Blick auch dann noch gesenkt, als einer der Polizisten sie von ihm wegzerrte. Obwohl sie sich nicht wehrte, wurden ihr die Hände so fest zusammengebunden, dass sämtliches Blut aus ihren Fingern zu schwinden schien. Roh schliff man sie zu einem der Pferde, die vor der Höhle warteten. Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie Aurelias Blick suchte. »Mach dir keine Sorgen! Balthasar und Ana werden sich um dich kümmern!«
Endlich hatte Balthasar seine Fassung wiedergefunden, trat nun zu dem schreckerstarrten Kind, das aufgehört hatte zu weinen, und drückte es an sich.
An seiner statt begann nun Pedro zu fluchen, doch Rita hörte nicht mehr, was genau er schrie, denn eben wurde sie auf ein Pferd geworfen. So beschämend es war, wie eine Mörderin behandelt zu werden – zugleich war sie erleichtert, dass sie weder Jerónimos triumphierendem Lächeln noch Agustinas fassungslosem Blick länger ausgesetzt war.