19. Kapitel

Emilia wusste nicht, was in den nächsten Wochen überwog – Trauer oder Wut, weil Arthur ohne Erklärung aus ihrem Leben verschwunden war, Erschöpfung, weil es so viel Arbeit gab, oder Glück, wenn sie die kleine Aurelia herumtrug und in den Schlaf sang. Es war ein sachtes Glück, eigentlich wagte sie kaum, es so zu benennen, und es war stets von tiefer Sorge um Rita begleitet, die das Kind nicht annehmen konnte.

Und dennoch: Aurelia gab allem einen Sinn. Arthur mochte sie verlassen und damit bewiesen haben, dass er doch der Schuft war, für den sie ihn von Anfang an gehalten hatte – aber sie war nicht allein. Sie trug Verantwortung für die Kleine; für sie lohnte sich die Schufterei – und sie hatte Ana und die Amme Juanita, die ihr dabei halfen.

Letztere war eine geschwätzige Chilenin mit riesigem Busen, die ihr zwar manchmal lästig war, aber so viel Milch hatte, dass das Kind prächtig gedieh. Rita sah es kaum an und berührte es kein einziges Mal – zumindest, und dies gab Emilia ein wenig Hoffnung, schlief sie nicht mehr ganz so viel wie während der Schwangerschaft, kam sogar manchmal in die Gaststube und in die Küche und bot dort ihre Hilfe an. Sie war so langsam, dass sie Emilia mehr schadete als nützte, doch wenn diese ihr sagte, sie könnte sich ruhig ausruhen, erklärte Rita mit starrem, ausdruckslosem Gesicht: »Du hast viel für mich getan. Jetzt bin ich an der Reihe.«

Ihr aufgedunsener Körper fand die Form wieder, die Haut war nicht mehr ganz so blass, und ihr Haar glänzte etwas mehr. Nur der Blick blieb stumpf und leer.

Als der Herbst dem Ende zuging und schließlich der Winter mit heftigen Stürmen und Schnee kam, gab es kaum mehr etwas zu tun. Es war nicht der erste Winter, den sie hier in Punta Arenas verbrachten, aber keiner war so kalt gewesen. Die wenigen Robbenjäger, die zu Gast waren, erzählten, dass die Flamingos im Eis festfrieren würden. Kormorane wiederum schliefen im Winter so tief, dass man ihnen problemlos den Hals umdrehen oder – wie es die Indianer taten – sie mit einem Biss in den Hals töten konnte. Meist kamen diese Männer nur zum Essen – die Zimmer hingegen blieben leer.

Kurz und trübe waren die Tage, die Nächte endlos. Nichts zu tun zu haben war für Emilia so ungewohnt, dass sie sich sogar auf die unliebsame Näharbeit stürzte und damit bis nach Mitternacht vor dem Ofen in der Küche saß. Manchmal unterbrach sie das Nähen, starrte in die zuckenden Flammen und fragte sich, wie es weitergehen würde. Der Traum von Deutschland war in den letzten Jahren immer weiter in die Ferne gerückt, trotzdem hatte sie ihn manchmal heraufbeschworen, um sich daran aufzurichten. Nun schien es ihr undenkbar, Punta Arenas jemals wieder zu verlassen. Weder konnte sie Ana hier zurücklassen noch Rita in ihrem Zustand auf eine weite Reise mitnehmen und schon gar nicht ein kleines Kind. Und außerdem – wenn sie an Deutschland dachte, dachte sie unweigerlich auch an Arthur und dass es ein schlimmer Fehler gewesen war, ihm zu trauen. Hatte sie sich nicht damals, als sie Manuel verlassen musste, aus gutem Grund geschworen, nie wieder einen Mann zu lieben? Wobei sie Arthur natürlich gar nicht liebte, wie sie sich nun stur vorsagte. Was sie in seine Arme getrieben hatte, war etwas anderes gewesen, Begehren und Lust, die Sehnsucht nach Freiheit, nach Leichtigkeit und der Wunsch, nicht allein zu sein, aber nicht Liebe. Und dennoch: Manchmal konnte sie nicht anders, als die Augen zu schließen, die Erinnerungen an diese Nacht hervorzurufen und sich daran zu laben, auch wenn sie sich hinterher darüber ärgerte, dass sie sich das Gesicht eines Schufts wie Arthur so viel leichter vergegenwärtigen konnte als das von Manuel und dass sie jede Berührung von ihm immer noch auf ihrer Haut zu spüren glaubte, während die Stunden, die sie damals mit Manuel im Wald verbracht hatte, verblasst schienen. Sie ärgerte sich nicht nur – sie hatte auch ein schlechtes Gewissen. Nachdem Arthur ohne Erklärungen einfach sein Schiff bestiegen hatte, konnte sie sich noch besser vorstellen, wie Manuel sich damals gefühlt haben musste, als sie ihn verlassen hatte – verwirrt und wütend zugleich, ohnmächtig und traurig. Vielleicht hatte er sich trotzig eingeredet, dass sie es nicht wert sei, auch nur an sie zu denken – und war dann doch von verräterischer Sehnsucht überwältigt worden, sie wenigstens einmal noch wiederzusehen.

Nun, beschwor sie sich selbst immer wieder, sie konnte gut und gerne darauf verzichten, Arthur wiederzusehen. Sie brauchte ihn nicht! Es lebte sich so viel leichter ohne treulose Männer! Nie wieder wollte sie sich auf einen einlassen!

Das schwor sie sich inbrünstig – und wurde so unachtsam beim Nähen, dass sie sich mit der Nadel in den Finger stach und ihn noch lauter verfluchte.

Es war leichter, nicht an Arthur zu denken, wenn Ana bei ihr war. Wie die Herberge blieb auch das Bordell häufig leer, so dass sie die Abende in der Casa Emilia verbrachte, und wenn Rita und das Kind oben schliefen, setzte sich manchmal auch die Amme Juanita zu ihnen. Ihre Stimme war Emilia unangenehm, aber sie wusste jede Menge Tratsch zu erzählen, der Emilia und Ana bislang entgangen war.

In diesen Tagen gab es vor allem ein Thema, über das ständig gesprochen wurde und das Juanita nachhaltig beschäftigte – so auch an einem dieser Abende Mitte August. Um den Präsidenten Santa Maria ging es und um dessen großen Streit mit dem Papst. Ausgebrochen war dieser, weil der liberale Francisco de Paulo Taforó nach Wunsch des Präsidenten neuer Erzbischof von Valdivieso werden sollte. Papst Leo XIII. lehnte diesen ab, Santa Maria bestand jedoch darauf – und so kam es zum Abbruch sämtlicher diplomatischer Beziehungen zwischen Chile und dem Heiligen Stuhl. Santa Maria kam das nur eben recht. Die Kirche war ihm längst zu mächtig; schon lange hatte er im Sinn, deren Monopol über Eheschließungen und Geburts- und Todesregistrierung zu brechen.

»Stellt euch das nur vor!«, rief Juanita aufgeregt.

Was gläubige Chilenen am meisten erboste, war, dass Santa Maria im Zuge der Säkularisierung auch sämtliche Friedhöfe verstaatlichen ließ.

»Im ganzen Land wird dagegen protestiert!«, erklärte die Amme aufgeregt. »Doch er achtet nicht auf den Willen des Volkes, stellt sich seinen Bedürfnissen blind.«

»Ich habe gehört, dass mancherorts Särge aus den staatlichen Friedhöfen ausgegraben werden«, warf Ana trocken ein. »Man verscharrt die Leichname heimlich neben den Kirchen und füllt die Särge stattdessen mit Steinen.«

Sie lachte auf, als fände sie das komisch, und auch Emilia musste unwillkürlich grinsen.

Die Amme hingegen rief empört: »Viele fromme Katholikinnen weigern sich dieser Tage, den Rosenkranz zu sprechen. Weil der doch Santa Marias Namen beinhaltet!«

Sie nickte bekräftigend, als hielte sie das für eine gute Maßnahme, während Emilia laut losprustete.

Es war ein heller, befreiter Ton, und sie wunderte sich selbst darüber, dass sie dazu noch fähig war, doch schon im nächsten Augenblick blieb er ihr in der Kehle stecken.

Ein lautes Krachen ertönte, das sie alle gleichzeitig aufspringen ließ. Es kam von der Gaststube, und Emilia stürzte dorthin und drehte sich verwirrt in sämtliche Richtungen. Im ersten Moment konnte sie unmöglich sagen, was den Lärm verursacht hatte. Doch dann sah sie ein zerborstenes Fenster. Die meisten Fenster waren Sommer wie Winter mit Leder abgedeckt – nur eines war aus Glas, und in diesem klaffte ein riesiges Loch. Während sie noch entsetzt darauf starrte, schrie Ana plötzlich auf, stürzte an ihr vorbei und warf sich auf etwas, das auf dem Boden lag. Da erst erkannte Emilia, dass es kein Stein war, den man durch das Fenster geworfen hatte, sondern ein Holzstück – ein großes, lichterloh brennendes Holzstück. Offenbar war es zuvor in Teer getaucht worden, so dass es sich kaum löschen ließ. Ana hatte ihre Schürze gelöst, schlug mit dem Stoff darauf ein, aber die Flammen loderten munter weiter. Funken sprangen und erfassten die hölzernen Möbel; schon kroch Feuer einige Tischbeine hoch.

Hastig tat Emilia es Ana gleich, schlug erst mit ihrer Schürze, dann mit bloßen Händen auf das Feuer ein, ohne darauf zu achten, dass sie sich verbrannte. Juanita kreischte und schluchzte hinter ihnen, doch noch ehe Emilia sie anschrie, ihnen zu helfen, flogen weitere brennende Scheite durch das Fenster, schossen haarscharf an ihrem Kopf vorbei und trafen Tische und Stühle, die alsbald in Flammen standen. Sosehr sie auch auf das Feuer schlug und trat – irgendwann konnte Emilia nur mehr ohnmächtig zusehen, wie es sich verbreitete, in nur wenigen Augenblicken wie ein heißes Meer Stühle und Tische überzog, erst den Boden entlangkroch und dann die Wände erfasste – Wände, die aus Holz gebaut waren.

»Wasser!«, schrie Emilia und trat wild auf die Flammen. »Wir brauchen Wasser!«

Der Rauch war so dicht, dass sie Ana und Juanita kaum mehr sehen konnte. Er drang in ihre Nase, in ihren Mund, verätzte ihre Haut und ließ ihre Augen tränen. So laut wurde das Knistern der gefräßigen Flammen, dass sie auch kaum mehr etwas hören konnte. Die Amme heulte nicht mehr, sondern stürzte zur Tür und floh eilig vor den Flammen, und auch Ana ließ hilflos ihre Hände sinken, packte Emilia, anstatt auf die Flammen einzuschlagen, und wollte sie ins Freie ziehen.

»Komm!«, schrie sie. »Wir schaffen es nicht!«

Emilia wehrte sich verbissen, aber als die Flammen schließlich an ihren Kleidern leckten, gab sie Anas festem Griff nach. Doch der Weg zur Tür war ihnen längst versperrt: Der Türbalken hatte Feuer gefasst, brannte gleißend und würde gewiss gleich einstürzen. Geistesgegenwärtig riss Emilia Ana zurück und kämpfte sich durch den dichten Rauch Richtung Küche. Das Fenster war hier von einem Balken geschlossen und als sie sich dagegenwarf, klemmte er kurz. Doch als sie sich mit vereinten Kräften dagegen stemmten, sprang er endlich auf.

»Beeil dich!«, schrie Ana.

Emilia hustete, stürzte dann kopfüber durch das Fenster. Hart prallte sie auf der Straße auf, drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Als sie endlich zum Liegen kam, versteifte sie sich kurz, so schmerzhaft, wie das Eis unter ihren Händen in die eben noch glühende Haut schnitt, dann rappelte sie sich ächzend auf. Die Lungen schienen ob der so kalten Luft zu bersten.

Mehrere Menschen waren aus den umliegenden Häusern herbeigeströmt und deuteten angsterfüllt auf die brennende Herberge.

Emilia nahm sie kaum wahr. »Mein Gott!«, schrie sie, als auch Ana aus dem Fenster geklettert kam. »Wir haben Rita zurückgelassen! Rita und das Kind!«

Das Feuer hatte das ganze Erdgeschoss erfasst und kroch nun langsam auf den Dachbalken zu.

Eben noch hatte sie geglaubt, sie könnte sich vor Schreck nicht mehr rühren, nun stürzte sie auf die Eingangstür zu.

Ana stellte sich ihr in den Weg. »Nicht!«, rief sie. »Nicht! Es ist zu spät. Du kannst nichts mehr für sie tun!«

»Aber …«, stammelte Emilia ebenso fassungs- wie hilflos.

Ana zerrte sie von der brennenden Herberge zurück, ehe sich ein Balken lösen und unter sie begraben konnte. Immer mehr Leute liefen auf der Straße zusammen, die einen sensationsgierig, die anderen voller Angst, dass das Feuer auf ihre eigenen Häuser übergreifen könnte. Ihre Stimmen verkamen zu einem Rauschen. Nur mehr Anas Worte konnte Emilia verstehen, als diese dicht an ihrem Ohr murmelte: »Nun kann Rita sich nur mehr selbst retten.«


Rita roch den Rauch und hörte das Kind schreien. Sie wälzte sich zur Seite und drückte das Kissen auf ihre Ohren. Beides war ihr einfach nur lästig.

Eine Weile versuchte sie, wieder einzuschlafen, aber sie konnte nicht. Der Rauch hing immer dichter – ob etwas in der Küche angebrannt war? Und warum schrie das Kind? War die Amme nicht in seiner Nähe?

Je durchdringender der Säugling brüllte, desto mehr schmerzten die eigenen Brüste. Sie seufzte gequält und wälzte sich wieder auf den Rücken. Seit der Geburt spottete ihr Körper über sie: Obwohl sie das Kind nicht wollte, hätte sie es – so prall, wie ihre Brüste waren – wahrscheinlich noch besser nähren können als die Amme. Ständig tropfte Milch aus ihnen, und manchmal wurde der Druck so unerträglich, dass sie sich vorstellte, das Kind einfach hochzuheben und anzulegen. Die Sehnsucht nach dieser Erleichterung wurde dann so stark, dass sie dieses brüllende Wesen für wenige Augenblicke nicht als Feind betrachtete.

Aurelia.

Nein, sie wollte nicht an diesen Namen denken. Sie wollte überhaupt nicht an das Kind denken. Sie wollte schlafen!

Wieder presste sie die Augen fest zusammen – es nützte nichts. Das Schreien des Kindes wurde regelrecht panisch, und auch in ihrem Magen verkrampfte sich etwas. Ihr Geist war zwar träge, aber ihr Körper witterte Gefahr. Unwillig setzte Rita sich auf und hatte beim nächsten Atemzug das Gefühl, ihre Nase würde von diesem beißenden Gestank förmlich verätzt werden. Und es war so heiß unter ihrer Decke! Als sie sie zurückschlug, sah sie unter dem Türschlitz nicht nur Rauch ins Zimmer wabern, sondern außerdem einen dunkelroten Lichtschein.

Wieder reagierte ihr Körper schneller als ihr Geist. Sie sprang auf – seit Wochen, vielleicht sogar Monaten die erste abrupte Bewegung. Der Holzboden war warm, nahezu heiß – und jetzt hörte sie es auch: das Knistern, Krachen, Fauchen des Feuers. Sie stürzte zur Tür, öffnete sie – die Klinke war so heiß, dass sie sich die Hand verbrannte – und war prompt in einer noch dichteren Rauchwolke gefangen. Hustend presste sie sich die Hände vor den Mund, und sie spürte, wie ihre Augen tränten. Doch war sie nun auch blind, so nicht taub: Sie hörte genau, wie das Flammenmeer die Treppe hochkletterte und wie es die Wände des Gangs erfasste, in dem sie stand.

Die Gäste, schoss es ihr durch den Kopf, die Gäste werden alle verbrennen …

Dann erst fiel ihr ein, dass sie gerade keine Gäste hatten, weil es so kalt war und kaum ein Schiff anlegte.

Sie vermeinte, der Kopf müsste ihr zerspringen, als sie den Gang entlanglief.

»Emilia!«, schrie sie. »Emilia!«

Sie versuchte, sich zu erinnern, wo sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Ana, kam ihr in den Sinn, Ana hatte mit Emilia geredet … unten in der Küche … sie waren mit Juanita zusammengesessen … hatten geplaudert. Gewiss hatten sie sich vor dem Feuer in Sicherheit bringen können.

Sie lief auf das Fenster am Ende des Gangs zu. Bei jedem Schritt wuchs die Angst, dass der heiße Boden unter ihr nachgeben und sie direkt in das Flammenmeer fallen würde. Schon die heiße Luft schmerzte unerträglich. Wie würde es sich erst anfühlen, wenn die Haut verbrannte?

»Emilia!«

Sie riss das Fenster auf, prallte kurz vor der Kälte zurück, aber labte sich sodann an der frischen Luft, die ihr entgegenströmte. Ihre Augen tränten immer noch, aber nun konnte sie sie verschwommen sehen – Ana, die dort unten im Freien stand, und Emilia, die ihr verzweifelt zuschrie: »Rita! Sieh zu, dass du hier rauskommst! Und Aurelia … nimm Aurelia …«

Die letzten Worte gingen in einem lauten Krachen unter. Irgendwo hatte sich ein Balken von der Decke gelöst und war auf den Boden gestürzt – nicht mehr lange, und das Dach würde sie unter sich begraben.

Rita drehte sich um, doch nichts drängte zur Eile. Anstatt zu tun, was Emilia ihr zugeschrien hatte, stand sie wie starr da. Das Greinen des Kindes erschien ihr etwas leiser. Eben noch waren die Töne spitz und hoch gewesen, jetzt klangen sie heiser. Wahrscheinlich war seine Kehle ebenso vom Rauch verätzt wie ihre.

Immer noch rührte Rita sich nicht. Nur mehr eine kurze Weile müsste sie warten und einfach nichts tun, dachte sie, dann wären sie beide tot. Sie und das Kind. Vom Feuer verschluckt, weil sie nicht das Recht hatten, hier zu leben. Sie nicht, weil sie zu einem untergehenden Volk gehörte. Das Kind nicht, weil es aus Hass und Rache und Gewalt hervorgegangen war.

Ja, dachte sie, wir werden sterben.

Dieser Gedanke fühlte sich tröstlich an – trotz der Furcht, die ihren Magen weiterhin verkrampfte, trotz Emilias Stimme, die ihr immer noch etwas zuschrie. Anstatt auf sie zu hören, schloss Rita einfach das Fenster, und die Stimme verstummte. Dann war da nur mehr das Weinen des Kindes, das Prasseln des Feuers, ihr eigener erstickter Atem und …

Eine andere Stimme erklang nun, nicht die von Emilia, aber nicht minder fordernd und eindringlich. Rita fuhr herum und bemerkte erst beim Anblick des brennenden, leeren Gangs, dass diese Stimme nicht aus der Wirklichkeit kam, sondern aus der Erinnerung.

Es war Anas Stimme, Ana, die immer wieder zu ihr gesagt hatte: Es ist dein Kind. Dein Leben. Nicht ihres.

Sie wollte es nicht hören, hob die Hände, um sich die Ohren zuzuhalten, und konnte doch nicht anders, als sich aus der Starre zu lösen, über den heißen Gang zu huschen. Sie war sich nicht sicher, was sie da eigentlich tat – floh sie vor dem Feuer oder rannte sie nicht vielmehr in seine heißen Arme?

Sie war schon beim Zimmer angekommen, als ihr aufging, dass sie dem Schreien des Kindes gefolgt war, das mittlerweile zu einem schwachen Röcheln verkommen war. Und weiterhin trieb eine Stimme sie an, nicht länger die von Ana, sondern eine andere. Sie hieb die Hände noch fester auf ihre Ohren, um ihrem Befehl zu entgehen, doch als sie die Stimme erkannte, konnte sie nichts anderes tun, als die Hände sinken zu lassen und ihr fassungslos zu lauschen.

Ihr Vater … ihr Vater sprach zu ihr. Sprach zu ihr wie damals, als sie sich über seinen sterbenden Leib gebeugt hatte und er ihr befohlen hatte: »Du musst weiterleben!«

Danach hatte er ihren Mapuche-Namen gesagt, und obwohl sie sich an diesen nicht erinnern konnte – seinem Befehl konnte sie sich nicht widersetzen.

Du musst weiterleben!

Weiterhin blind öffnete sie die Tür zum Zimmer, in dem die Amme für gewöhnlich mit dem Kind schlief, und trat auf Zehenspitzen über die heiße Schwelle. Kaum merkte sie, wie sie die nächsten Schritte zurücklegte, nur, dass sie plötzlich an der Wiege stand. Das Kind gab nicht mehr von sich als ein paar heisere Laute.

Kurz senkte sich wieder Starre über sie.

Bald, dachte sie, bald …

Bald würden sie im Rauch ohnmächtig werden und die Flammen sie verschlingen. Bald würde nichts mehr von ihnen beiden bleiben als Asche, würden nicht nur ihrer beider Leben ausgelöscht sein, sondern der Schmerz, die Qualen, die Todesangst, die Enttäuschung … und auch die Liebe zu Jerónimo, die von allem am unerträglichsten war. Wie ein dreckiges Kleid klebte sie auf ihrem Körper, das sie nicht ablegen konnte.

Bald …

Doch abermals ertönte der strenge Befehl ihres Vaters: Du musst weiterleben!

Jener Befehl hatte sie einst durch die Wildnis zum Llanquihue-See geleitet. Jetzt brachte er sie dazu, die Arme auszustrecken, das Kind hochzuheben und diesen kleinen, weichen, warmen Körper an sich zu pressen. Danach war es nicht mehr die Stimme, die ihr Befehle erteilte, sondern dieses arme Würmchen selbst. Sie musste es halten, musste es tragen, musste es beschützen – vor dem Rauch, vor der Hitze, vor dem Feuer … Sie musste es auch vor der Rohheit der Welt beschützen, vor Estebans und Jerónimos Gewalttätigkeit, vor dem eigenen Hass und dem Ekel. Sie presste es an sich, spürte, wie die feinen Härchen ihr Kinn kitzelten, konnte nicht anders, als das Köpfchen zu küssen.

»Es wird gut, es wird alles gut …«

Dann sagte sie nichts mehr, dachte auch nichts, folgte nur blind ihren Instinkten. Hinaus aus diesem Raum … den Gang entlang …

Die Treppe brannte lichterloh – dieser Weg war ihr verwehrt –, aber es gab noch das Fenster …

Noch im Gehen zog sie ihren Umhang von den Schultern und wickelte das Kind ein. Dann riss sie ihr Kleid in Fetzen und band einen Strick daraus, öffnete das Fenster, schlang den Strick um das Bündel mit dem Kind. Vorsichtig ließ sie es zu Emilia herunter. Ana stand dicht neben ihr und nicht weit von ihr viele Schaulustige mit offenen Mündern und fassungslosen Blicken. Eben kamen Männer in die Straße gelaufen – nicht, um zu glotzen, sondern um das Feuer mit Eimern voller Wasser einzudämmen. Wahrscheinlich waren sie Mitglieder jenes Feuerwehrvereins, den einst ein Deutscher in Punta Arenas gegründet hatte. Emilia hatte früher so oft gespottet, dass die Deutschen immer Vereine gründen müssten …

Langsam ließ Rita den Strick durch ihre Hände gleiten – dann war das Kind sicher in Emilias Armen angekommen. Emilia schien ihr etwas zuzurufen, aber das Knistern und Krachen hinter ihr übertönte jeden Laut. Die Hitze wurde unerträglich. Rita konnte ihre Glieder kaum spüren, als sie aus dem Fenster stieg, sich am Rahmen festhielt, sich erst langsam hinunterließ und dann sprang. Als sie aufprallte, biss ein spitzer Schmerz in ihre Beine, aber er verebbte sofort, und sie konnte sich zur Seite rollen – keinen Augenblick zu früh, denn eben brach hinter ihr eine der Hauswände ein. Sie konnte nichts mehr sehen, sondern war in einer Wolke aus Rauch und Hitze und Funken und Staub gefangen, spürte nur die Arme, die sie packten und wegzogen. Im nächsten Augenblick beugte sich Emilia über sie. Sie öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Laut hervor, stieß Emilias Hand beiseite und tastete nach dem Bündel mit dem Kind. Nein, es war nicht mehr das Kind. Es war Aurelia. Es war ihre Tochter.

Sie wusste nicht, wie lange sie – ihre Tochter in den Armen wiegend – dort auf der Straße hockte. Sie drehte sich kein einziges Mal zu dem brennenden Haus um, presste nur das Bündel an sich.

Irgendwann hörte sie wieder Stimmen, hörte Emilia, die da verzweifelt rief: »Mein Gott! Ich dachte, du würdest es nicht schaffen!«, hörte nun auch wieder Aurelia weinen, immer noch heiser, aber etwas kräftiger. Sie lebte. Genauso wie sie selbst lebte. Weil der Vater es ihr befohlen hatte.

Emilia streckte die Hand aus und wollte ihr die Kleine abnehmen.

Rita gab sie nicht her. Aurelia war nicht nur ihre Tochter, sondern das Kindeskind ihres Vaters und ihrer Großmutter.

»Nein«, sagte sie erstickt, ihre Zunge war geschwollen, jedes Wort tat ihr in der Kehle weh. »Nein, ich halte sie selbst.«


Wortlos brachte Ana sie zu Ernesta Villans Bordell. Als Emilia erkannte, wohin ihre Schritte führten, wäre sie am liebsten stehen geblieben und hätte eine andere Richtung eingeschlagen. Allerdings fiel ihr kein anderer Ort ein, wo sie nun mitten in der Nacht Unterschlupf finden konnten.

Eben noch hatte die Erleichterung überwogen, weil sie alle überlebt hatten. Nun fühlte sie tiefe Trostlosigkeit in sich aufsteigen.

Verloren. Wieder einmal hatte sie alles verloren.

Obwohl es Nacht war, schlief Ernesta Villan nicht, sondern empfing sie mit einem bodenlangen, glänzenden Kleid und einem Cape aus Nerz. Als Emilia in ihrem kostbar geschmückten Salon auf sie traf, hatte sie das Gefühl, ihr Leben würde sich im Kreis drehen und immer wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren – ohne Hoffnung, dass es je anders, je besser werden würde. Hier war sie schon einmal mitten in der Nacht gestanden, damals, als Esteban nach Punta Arenas zurückgekehrt und sie aus der Herberge der Mutter geworfen hatte.

Ernesta war wie immer stark geschminkt und parfümiert. Wann schlief sie? Oder schlief sie womöglich mitsamt der kostbaren Kleidung, der Schminke und dem Parfüm?

Nun, verschlafen oder müde wirkte sie nicht. Ihr Blick war stechend und kalt wie immer. Emilia hob kraftlos die Hände, doch ihr fiel nichts zu sagen ein. Ana indes ging unruhig im Zimmer auf und ab – so sie denn zwischen den vielen Möbelstücken überhaupt Platz für ihre Schritte fand.

»Es waren Esteban und Jerónimo!«, schimpfte sie. »Ich bin mir ganz sicher! Sie haben das Haus angezündet und wohl gehofft, dass wir alle verbrennen.«

Emilia nickte schweigend. Es war auch ihr erster Verdacht gewesen, und je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, damit richtig zu liegen. Aber Ärger und Wut auf diese beiden Schufte blieben aus. Nur Leere und Kälte breitete sich in ihr aus.

Wieder hatten sie alles verloren. Wieder standen sie vor dem Nichts …

»Und selbst wenn es so gewesen ist?«, schaltete sich Ernesta ein. »Ihr könnt es ja doch nicht beweisen!«

»Er wird dafür büßen!«, rief Ana erbost.

Emilia warf einen Blick auf Rita, die ihr Kind weiterhin in den Armen wiegte. Die kleine Aurelia machte glucksende Geräusche; Rita hatte die Lippen fest aufeinandergepresst.

Bei ihrem Anblick wurde Emilia noch mutloser. Wie sollte sie das Kind durch die nächsten Jahre, ja nur durch die nächsten Wochen bringen?

»Sie sollen büßen!«, rief Ana wieder und hieb ihre Ferse auf den Boden – ein Laut, der von einem purpurfarbenen Teppich gedämpft wurde.

»Ach was«, murmelte Emilia und war über die eigene Stimme entsetzt. Kraftlos klang sie, wie die einer Greisin, die jeden Lebensmut verloren hat. »Ich habe diesen ständigen Krieg so satt!«

»Willst du denn lieber …«, setzte Ana an, doch da hob Ernesta die Hand und fiel ihr barsch ins Wort: »Es ist mir gleich, wer das Haus angezündet hat. Was zählt, ist, dass es mir gehört. Wie wollt ihr mir das Geld zurückzahlen, das ihr mir schuldet?«

Emilia hob langsam den Blick und hielt nur mühsam den stechend grauen Augen stand. Sie hatte geahnt, dass Ernesta das fragen würde, aber insgeheim doch darauf gehofft, dass die berechnende Frau etwas mehr Gnade zeigen würde: »Es ist doch nicht unsere Schuld!«, stammelte sie.

»Das behauptest du!«, rief Ernesta. »Doch wer sagt mir, dass ihr nicht einfach nur unachtsam ward und in der Küche etwas brennen habt lassen?«

»Aber Jerónimo und Esteban …«, setzte Ana an.

Ernesta schüttelte den Kopf. »Ich will nichts davon hören. Ich will lediglich wissen, wie ihr meinen Kredit zurückzahlen wollt.«

Emilia rang nach Worten, aber es fielen ihr keine ein. »Das Geld«, gab sie schließlich zu, »das ganze Geld ist mit der Herberge verbrannt.«

Mehrmals hatte sie in den letzten Jahren überlegt, ihre Ersparnisse zu einer der Banken zu bringen, aber wegen der vielen Überfälle, von denen aufgeregt erzählt wurde, war ihr das zu unsicher erschienen, und obendrein hatte sie sich stets am Anblick der Papiernoten erfreut. Es war ein Fehler gewesen, das Geld zu behalten, ein schwerer Fehler.

Drei Jahre Schufterei, dachte sie, für nichts …

Ernesta maß sie mit kaltem Blick: »Ich wüsste schon eine Möglichkeit, wie du wieder zu Geld kommen kannst«, erklärte sie.

Sie ließ ihren Blick erst über ihren Körper wandern, dann über Ritas. Diese presste ihr Kind noch fester an sich.

Emilia fielen die Worte ein, die Ernesta damals schon, vor drei Jahren, gesagt hatte – dass sie beide als Huren taugen würden und dass manche Männer viel bezahlen würden, wenn sie sie zusammen kriegen könnten.

Das Atmen schmerzte, ihre Augen brannten, ihr fiel nichts ein, was sie Ernesta entgegensetzen konnte.

Eben noch hatte sie das Gefühl gehabt, nicht tiefer sinken zu können – nun bekam sie langsam eine Ahnung davon, dass es in der Hölle viele dunkle Kammern gab, die sie noch nicht kannte.

Jenseits von Feuerland: Roman
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