21. Kapitel
HAMBURG
Nora schreckte hoch. Ein Rumpeln hatte sie geweckt, und als sie schlaftrunken zum Fenster spähte und nur graues Morgenlicht sah, das durch die Ritzen strömte, konnte sie sich nicht erklären, wer so einen Lärm veranstaltete. Niemand machte im Haus der Hoffmanns Lärm – weder Gustav oder Minna noch die vielen Dienstboten. Ein jeder schien wie auf Zehenspitzen durch die Gänge zu schleichen, und sie genoss diese Ruhe, diesen Frieden.
Doch da war es wieder! Ein Rumpeln, gefolgt vom Knallen einer Tür und einem quietschenden Geräusch, als würde ein schwerer Gegenstand über den Boden gezogen werden.
Nora sprang so abrupt auf, dass ihr die Schlafhaube vom Kopf rutschte. Während sie auf den Gang stürzte, fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare und hielt sie im Nacken umfasst, damit sie nicht wirr vom Kopf abstanden. So hektisch sie auch nach draußen stürmte – so steif wurden ihre Bewegungen, als sie erkannte, wer da frühmorgens heimgekehrt war und keine Rücksicht auf die anderen Bewohner nahm.
Fast ein ganzes Jahr war seit ihrer Hochzeit vergangen – und eigentlich hatte sie sich in ihrem neuen Leben gut eingefunden. Tief in ihr wucherte zwar die Bitterkeit, die sie in der Hochzeitsnacht zum ersten Mal geschmeckt hatte, weil Arthur sich ihr gegenüber so kalt verhielt. Doch sie hatte sich davon abzulenken vermocht, indem sie die Haushaltsführung übernahm und sich, wenn auch nicht den Respekt des Ehemanns, doch den der Dienstboten, allen voran Frau Christa, errungen hatte. Man schätzte ihre besonnene, ruhige Art, dass sie, auch wenn sie tadelte, stets höflich blieb und dass sie sich nicht in jede Kleinigkeit einmischte, sondern jedem seinen Verantwortungsbereich überließ. Überdies hatte sie ein umfangreiches ehrenamtliches Engagement aufgenommen, das sie mehr erfüllte, als sie erwartet hatte. Ja, alles war irgendwie besser geworden als erwartet. Und am besten war, dass sie Arthur nicht ertragen musste.
Zumindest dachte sie das manchmal.
In diesem Augenblick wusste sie nicht, was sie denken sollte. Eben wankte Arthur die Treppe hinauf, nicht allein, sondern in Begleitung zweier schrill bemalter und leichtbekleideter Frauen, die ihn rechts und links stützten. Ohne ihre Hilfe wäre er längst auf der Treppe gestolpert und gefallen – so betrunken, wie er war: Seine Weinfahne traf Nora wie ein Schlag, sein Gesicht war ungesund gerötet, seine Kleidung besudelt.
Der erste Weg nach seiner Rückkehr musste ihn direkt in eine Hafenkneipe geführt haben, wo er nicht nur jede Menge Branntwein getrunken, sondern auch die Bekanntschaft der Animierdamen gemacht hatte. Obwohl nichts an seinem erbärmlichen Zustand zum Lachen war, kicherten diese in einem fort.
Nora ließ die Hand sinken. »Arthur …«, stieß sie aus.
Er war ihr fremder als je zuvor – nicht nur, dass er seiner Sinne und Regungen nicht Herr war, überdies wirkte er so verloren, der Blick so leer … und irgendwie traurig.
Wie ein Kind erschien er ihr, ein Kind, das nicht recht weiß, wo es ist und was es tun soll.
»Ihr kö-kö-kö-könnt nun ge-ge-gehen«, lallte er in Richtung der Animierdamen, obwohl er ihre Arme noch fester umkrampfte.
Nora seufzte. Morgen früh würde er sich vor lauter Kopfschmerzen krümmen und Tageslicht nicht vertragen – ein Gedanke, der sie eher mit Mitleid als mit Schadenfreude erfüllte. Schon wollte sie nach Frau Christa rufen, damit sie ihm einen starken Kaffee braute und eine Wanne einließ. Doch als sie sich abwandte, sah sie, dass Gustav Hoffmann neben ihr stand. Er musste schon eine geraume Weile zugesehen haben, wie sein Neffe sich die Treppe hochkämpfte. In seinem Gesicht stand nicht auch nur das geringste Mitleid oder Amüsement – sondern einfach nur Verachtung.
»Du wagst es, so zurückzukommen?«, presste er hervor.
Obwohl er die Worte nur leise gesagt hatte, kaum lauter als ein Flüstern, gingen sie Nora durch Mark und Bein. Gustav Hoffmanns Lippen zitterten vor Entrüstung, und diese Entrüstung, diese tiefe Empörung schwappte jäh auf sie über wie eine schwarze Welle.
Wie konnte er nur?, durchfuhr es sie. Wie konnte er sie nur mit diesen zwei halbnackten Mädchen so bloßstellen? Wie konnte er dem ganzen Haus offen zeigen, dass er nichts von ihr hielt? Wie konnte er sie hier einfach unberührt zurückgelassen haben, um auf diese lange Reise zu gehen?
Kein einziges Mal hatte er ihr geschrieben. Wenn Gustav Hoffmann ihr nicht dann und wann davon berichtet hätte, was er in Chile trieb, sie hätte sich nicht einmal sicher sein können, ob er überhaupt noch lebte.
Sie kniff die Lippen aufeinander. Ihr Leben, das sie eben noch als so geruhsam, friedlich, erfüllend empfunden hatte, war plötzlich nur noch eins: ein Leben in Schande.
Mittlerweile hatte Arthur das Ende der Treppe erreicht und konnte nun aufrecht stehen, ohne sich auf die Mädchen zu stützen.
»Macht, dass hier rauskommt!«, fauchte Gustav in ihre Richtung, ohne sie eingehender zu mustern.
Arthur hatte ihnen wohl schon ihren Lohn bezahlt, denn sie folgten dem Befehl augenblicklich. Es dauerte allerdings eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich das Haus verlassen hatten.
Erst als das Kichern endgültig verstummt war, wandte sich Gustav an Arthur. »Ich dachte, du wärst in Chile endlich erwachsen geworden«, sagte er – nicht länger streng, sondern müde, nahezu ausgelaugt.
Arthur griff sich an die Schläfen. »Was willst du denn?«, murrte er. »Ich habe alles getan, was du wolltest. Meinetwegen verfügst du über eine stolze Mitgift – und nun auch über beste Geschäftskontakte nach Übersee. So lass mir doch wenigstens ein bisschen Spaß.«
Er klang trotzig wie ein kleines Kind, und kurz erwachte in Nora gleiches Mitleid wie vorhin, die Einsicht auch, dass er wie sie ein Getriebener war, dass sie beide zu etwas gezwungen worden waren, was sie nicht wollten, beide sich zu schwach erwiesen hatten, sich dem zu widersetzen, aber beide immerhin genügend Willenskraft aufbrachten, um sich ein eigenes Leben aufzubauen und das Beste daraus zu machen.
Doch dann spürte sie Gustavs Blick auf sich ruhen. Er war voller Scham. Und das wiederum beschämte sie.
Arthur wankte ein paar Schritte auf sie zu, starrte sie an wie eine Fremde. Übelkeit stieg in ihr hoch, als eine neue Woge des Branntweingestanks sie traf.
»Du bist also wieder hier«, stellte sie tonlos fest.
»Keine Angst«, murmelte er, »ich bleibe nicht lange. Ich werde bald nach Chile zurückkehren – es gibt dort vieles zu tun für mich. Und dann seid ihr mich wieder los.«
Es war mit Abstand die längste Rede, die er jemals an sie gerichtet hatte, doch mit jedem Wort, das er sagte, fühlte sie sich mehr vor den Kopf gestoßen.
»Das ist gut«, murmelte sie. »Wie erbärmlich musst du sein, in solchem Zustand heimzukehren? Dein Anblick ist mir unerträglich!«
Abrupt wandte sie sich ab.
Solange sie in sein Gesicht geblickt hatte, hatte sie jedes Wort, das sie sagte, gemeint. Ja, sie fand es gut, dass er nicht bleiben würde. Ja, sie verachtete ihn.
Doch kaum hatte sie sich abgewandt, erschienen ihr die Worte als zu heftig, die Gefühle, die er in ihr entfachte, viel zu groß und zu stark. Er war doch ein Fremder für sie, und im Grunde wollte sie genau das, was er ihr anbot: dass er ihr fernblieb.
Aber dann sah sie, wie Gustav ihr zunickte, als Zeichen, dass er auf ihrer Seite stand.
»Und außerdem stinkst du wie ein Straßenköter«, schimpfte sie da plötzlich los, »wag es nicht, heute bei mir zu schlafen!«
Wieder erschien es ihr augenblicklich lächerlich, was sie da sagte. Die Rolle der zeternden Ehefrau war fehl am Platz. Und außerdem machte er ohnehin nicht auch nur die geringsten Anstalten, ihr zu folgen und die Nacht im gemeinsamen Bett zu verbringen.
Das erleichterte sie ungemein. Und verärgerte sie zugleich noch mehr.