31. Kapitel
Die Hufe des Pferdes gruben sich in die Erde, als Emilia es durch die Steppe trieb, in harte Büschelgräser und die Polsterpflanze, die nun im Herbst gelblich braun vertrocknete, ehe sie im nächsten Frühjahr neue, grüne Triebe hervorbringen würde. Am höchsten wuchsen die Dornbüsche – ein dichtes Gestrüpp an manchen Stellen, das sich nur durch einen beherzten Sprung mit dem Pferd überwinden ließ. In der Ferne reckten sich die weißen Spitzen der Berge gen Himmel, abwechselnd drohend dunkel, von sanftem Violett oder gleißend hell. An einem Tag konnte man in Patagonien vier Jahreszeiten erleben, hieß es, und Emilia hatte das oft genug erfahren, wenn sie bei Sonne ins Freie ging und wenig später vom Regen durchnässt ins Haus zurückkehrte, doch noch nie war ihr das Wetter so launisch und wankelmütig erschienen wie in diesen Tagen.
Ohne das Pferd anzuhalten, drehte sie sich um. Der Wind wehte so heftig, dass ihr das Haar wie so oft nach allen Seiten vom Kopf wegflog, aber er war erträglich im Vergleich zum Regen, der sie vorhin heimgesucht hatte. Es hatte den Anschein gehabt, als würden die Tropfen waagerecht fallen. Als der Wolkenbruch endlich sein Ende gefunden hatte, war Emilia sich sicher gewesen, niemals wieder trocken zu werden, doch die bissige Sonne hatte rasch ihre ganze Kraft entfaltet – ehe sie vom Wind hinter neuerlichen Wolken vertrieben wurde. »Sind wir bald da?«, fragte sie.
Sie vernahm Arthurs Antwort inmitten von Wind und Hufgetrampel nur undeutlich, glaubte jedoch ein knappes Ja zu hören. Als sie sich wieder umwandte, war von den weißen Bergspitzen zunächst nichts zu sehen, so dicht waren sie von Nebelschwaden verhüllt. Doch nachdem sie eine Weile weitergeritten waren, nahm der Wind nicht länger nur den Kampf mit Emilias störrischem Haar auf, sondern auch mit dem düsteren Knäuel. Ein paar energische, stöhnenden Atemzüge – dann riss der Himmel auf und zeigte die stolzen Gipfel der Südkordillere.
Die Berge, die vor ihnen aufragten, glichen Felsenburgen. Breit und wuchtig dort, wo sie aus dem Flachland erstanden, wurden sie nach oben hin immer dünner und mündeten in Felsspitzen, gichtigen Fingern gleich, die sich dem Blau entgegenreckten. Die Gipfel waren vom Schnee gekrönt, der bei düsterem Himmel schmutzig grau wirkte, jedoch reinlich weiß glitzerte, wenn die Sonne darauf fiel.
Emilia zog an den Zügeln. »Das also ist es«, sagte sie ehrfürchtig, als das Pferd stillstand.
Manchmal hatte sie von der Estancia aus in der Ferne die Berge gesehen, doch niemals so nah und niemals so weiße, spitze und mächtige.
»Ja«, murmelte Arthur und brachte sein Tier neben ihr zum Halten. »Bevor ich erstmals nach Chile kam, hat mich irgendwer auf dem Schiff gewarnt, dass Patagonien das düsterste Land der Welt sei, wild, einsam und unerforscht, dass es nichts als Steppe oder Urwald gäbe und alles vom tückischen Eismeer umgeben sei. Aber es gibt eben doch mehr – diesen Ort zum Beispiel. Es heißt, er ist der schönste Patagoniens. Ich wollte immer schon einmal hierher zu den Torres del Paine – nur hat sich bis jetzt niemals eine Gelegenheit geboten.«
Emilia nickte. Eine Weile betrachteten sie schweigend jene Hörner aus Granitstein, die von den Mapuche blaue Türme genannt wurden, ehe wieder Wolken aufzogen, nicht dunkel diesmal, sondern kaum dichter als ein Spinnennetz, das sich um die Gipfel flocht. Dann ritten sie weiter, von zwei Männern gefolgt, die den Proviant und die Zelte transportierten, die sie in Punta Arenas erworben hatten.
Als Arthur diese Reise vorgeschlagen hatte, war Emilia skeptisch gewesen. Nach Punta Arenas zu reiten und ihn dort zu suchen war das eine – für diesen Zweck verließ sie die Estancia gerne für einige Zeit. Aber nun einfach mit ihm unterwegs zu sein, ohne klares Ziel und ohne Zweck, nur, um zum eigenen Vergnügen das Land zu erforschen, erschien ihr als lächerliches Ansinnen, das sie zunächst entschieden zurückgewiesen hatte. Doch er hatte sie so lange geneckt und gelästert, dass sie wohl Angst vor Pferden hätte, bis sie schließlich nachgab – weniger aus Neugierde, fremdes Gebiet zu erforschen, sondern aus Stolz.
Nun war sie froh, hier zu sein – vier kostbare Tage lang, da sie sich vor der Welt und vor den Pflichten, die dort auf sie warteten, davonstehlen konnte. Emilia atmete tief die klare Luft ein, entschied, nicht länger daran zu denken, welche Arbeiten sie versäumte, und nahm sich fest vor, die Zeit zu genießen.
Vier Tage vergingen auf der Estancia meist schnell – hier in der Stille und der Einsamkeit kamen sie ihr wie eine Ewigkeit vor. Es gab nichts zu tun – und zugleich so vieles: durch Wälder zu reiten und an verkümmerten Bäumen entlang. Die Gletscherseen zu bewundern, die sich blaugrün färbten, wenn die Sonne auf sie fiel, schwarz, wenn sich Wolken am Himmel zusammenbrauten, oder glasig wie Eis, wenn der Himmel hinter Dunst verblasste. Sie hörten Getöse, wenn in der Ferne meterhohe Eisblöcke aus der Eiswand brachen, um später lautlos im Wasser zu treiben, hörten die Schreie von Kondoren und Guanakos, hörten Wasserfälle und Wind, glucksende Sümpfe, wenn es geregnet hatte, und brechendes Gras, wenn zu lange die Sonne darauf gestochen hatte – doch ansonsten hörten sie nichts. Sie spazierten an Nandus vorbei, sahen Füchse durch das Gebüsch huschen und ein totes Fohlen, das ein Puma angefallen hatte, ehe er von der Herde wilder Pferde vertrieben wurde. Für das Junge kam trotzdem jede Hilfe zu spät.
An windgeschützten Stellen errichteten ihre Begleiter jeden Abend ihr Zelt, um dann ihr eigenes in ausreichender Entfernung aufzustellen und sie allein zu lassen. Emilia hatte immer geglaubt, dass sie die Einsamkeit kennen würde, dass sie wüsste, wie sich das Leben in einer Welt anfühlte, in der so viel Natur so wenigen Menschen gegenüberstand. Doch noch nie hatte sie sich so von allem Alltag losgelöst gefühlt wie jetzt. Wohin sie auch traten – man hätte bei jedem Schritt meinen können, sie wären die ersten Menschen hier. Niemand hatte hier Spuren hinterlassen, Siedlungen gegründet oder Tiere gezähmt. Einzig von Gottes Wirken gab es Zeugnisse, der die Berge aufeinandergetürmt und sie mit Schnee bedeckt hatte, der an manchen Stellen so übereifrig Farben verschwendet und an anderen so gegeizt hatte, der diesem Land so viele Gesichter gegeben hatte, die einander wankelmütig wie das Wetter abwechselten: rauh und abweisend erschien die Einöde in einer Stunde, einladend und freundlich in der nächsten.
Anderswo war die Welt für Emilia ein Hort des Kampfes – hier war sie ein Ort des Staunens: darüber, dass etwas so schön sein konnte wie die funkelnden Schnee- und Eismassen, die zugleich Kälte und Tod verhießen. Darüber, dass die Berge, die doch aus totem, reglosem Stein waren, ihre Spitzen spielerisch zu recken schienen. Darüber, dass die Sonne, wenn sie auf- und unterging, manchmal langsam, manchmal voller Hast so viele Farben auf den Himmel zeichnete, vom blutigen Rot bis zum zarten Rosa, vom kalten Weiß bis zum geschmeidigen Orange.
Als Arthur diesen Ausflug vorgeschlagen hatte, hatte er nicht nur im Sinn gehabt, die Torres del Paine zu sehen. Er hatte überdies gemeint, dass sie nach den letzten Monaten endlich genug Zeit haben würden – Zeit, sich zu lieben, und Zeit, miteinander zu sprechen. Ersteres fiel nicht sonderlich schwer. Ihre Körper waren einander tief vertraut und fanden selbstverständlich zueinander – auch auf dem harten Boden des Zeltes und in den sturmdurchpeitschten, kalten Nächten. Keine Fremdheit, kein Zögern stand zwischen ihnen, von einem schier endlosen Vorrat an Gier und Lust konnten sie schöpfen. Zu reden jedoch blieb eine Herausforderung – und dies nicht nur, weil die Landschaft ihnen stets aufs Neue ehrfürchtiges Schweigen abrang, sondern weil es schwerfiel, andere Worte zu finden als die trotzigen und schnippischen, wenn sie ganze Vormittage lang über unwichtige Dinge stritten – wie man am besten Feuer machte, Fleisch briet oder wer voranritt.
»Du bist wie ein Guanakoweibchen«, lästerte Arthur einmal, »dieses läuft stundenlang vor dem Männchen davon und bespuckt es, bevor es sich endlich besteigen lässt.«
»Und weißt du auch, wie die Tehuelche Jagd auf die Guanakos machen?«, gab sie scharf zurück. »Sie warten, dass die Männchen nach der Vereinigung geschwächt sind – und dann greifen sie an. Hörst du? Nur die Männchen werden zur Beute – weil sie so dumm sind, sich fangen zu lassen.«
»Kein Wunder, dass sie geschwächt sind – bei den anstrengenden Frauen.«
»Vielleicht bin ich nicht anstrengender als andere Frauen – nur bist du nicht lange genug bei einer geblieben, um Vergleiche anstellen zu können.«
Manchmal klang ihr Necken verspielt, dann wieder kam ein bissiger Unterton hinzu, nie artete der Streit in Feindseligkeit aus, stets versöhnten sie sich bereitwillig. Ein ernsthaftes Wort aber wechselten sie nie, und Frieden herrschte zwischen ihnen nur, wenn sie die Natur bestaunten oder wenn sie, nachdem sie sich Lust geschenkt hatten, schlaftrunken aneinander gepresst lagen und beide kaum hörbar Bekenntnisse raunten, die tagsüber unmöglich waren: dass sie zusammengehörten, dass sie die Zukunft miteinander verbringen wollten.
Ungeklärt war allerdings, wie und wo, und manchmal streifte Emilia die Ahnung, dass sie sich nur darum über Nichtigkeiten stritten, um diesen Fragen auszuweichen. Nicht nur vor der Zukunft verschlossen sie dann die Augen – wenn sie stritten, musste Emilia auch nicht über ihre Vergangenheit und Herkunft reden und Arthur wiederum nicht über das, was ihn zwischendurch ungewohnt abwesend und nachdenklich wirken ließ. Emilia rührte nie daran, solange auch er im Gegenzug keine bohrenden Fragen stellte, und verschob es auf später, restlos ehrlich zu sein.
Und weiter ritten sie durch das Land rund um die Torres del Paine, wurden eines Tages fast vom Wind in einen Wasserfall geweht und lachten hinterher laut, um den Schrecken zu verbergen.
»Ich hätte nie gedacht, dass das möglich ist!«, rief Emilia.
»Was? In einem Wasserfall zu ersaufen?«
»Nein … einfach nur so unterwegs zu sein. Ohne Grund und Ziel.«
»Wie sehr Balthasar uns beneiden würde«, rief Arthur aus. »Er hat immer so gerne die Bücher von George Chaworth Musters gelesen.«
»Wer ist das?«, fragte Emilia.
Er antwortete ihr später, als sie – weit genug vom Wasserfall entfernt und an einem sturmgeschützten Plätzchen – ein Lagerfeuer entfacht hatten. »George Chaworth Musters war Engländer, der in Patagonien mit den Indianern Guanakos gejagt hat. Er nahm ein Jahr Urlaub von der britischen Armee, schiffte sich nach Punta Arenas ein, und dort angekommen, legte er sich ein Lasso und Boleadoras zu. Wie er es sich seit jeher erträumt hatte, ritt er mit den Indianern alte Pfade von Süden nach Norden entlang, und über alles, was er erlebte, führte er Tagebuch. Vor einigen Jahren ist es auf Deutsch erschienen, und Balthasar hat es regelrecht verschlungen … Das war einer der seltenen Momente, da ich gehört habe, wie er auf sein Bein fluchte. Wie gerne würde er nun auch hier sein und zeichnen.« Er zögerte kurz, ehe er bekannte: »Früher habe ich nicht verstanden, was ihm daran liegt, dieses Land zu erforschen, aber jetzt …«
Er schüttelte den Kopf und schien über sich selbst erstaunt zu sein. Für einen Augenblick standen kein Schalk, kein Spott, kein Trotz in seiner Miene, und auch der übliche Zweikampf schien ausgesetzt, als sie in den türkisgrünen See starrten, der die spitzen Felsenhörner spiegelte.
Stillschweigend schienen sie die Übereinkunft zu treffen, dass kein Augenblick besser für eine Aussprache taugte als dieser, und als sie erst einmal zu reden begannen, fiel es leichter als erwartet.
»Ich habe nie ausreichend darüber nachgedacht, was ich tue und warum«, begann Arthur. »Was immer mir in den Sinn kam – dem bin ich nachgegangen. Und ich habe keine Gedanken daran verschwendet, was andere davon halten.«
Emilia runzelte sie Stirn. »Du klingst, als hätte dir ein Pfaffe ins Gewissen geredet.«
Er schüttelte den Kopf. »Kein Pfaffe, sondern du. Weißt du …«, er zögerte kurz, fuhr dann aber entschlossen fort: »Du packst dein Leben an. Du stehst so fest auf deinem Platz, als wärst du mit dem Boden verwurzelt. Du fliehst nicht, wenn es schwierig ist. Und bleibst treu bei der Sache, für die du dich entschieden hast.«
Sie sagte nichts, aber es lag ihr auf den Lippen, alles abzustreiten. Ja, sie hatte manche Herausforderungen gemeistert, doch es stimmte nicht, dass sie nie geflohen war. Sie war vor der Schande ihrer Geburt davongerannt. Und vor Manuel. Wobei das vielleicht sein Gutes hatte. Dennoch: In gewisser Weise lief sie immer noch fort, sonst hätte sie Arthur längst anvertrauen können, wer nach wie vor den dunkelsten Schatten auf ihre Seele warf – ganz gleich, was Elisa zu ihr gesagt hatte: Viktor und Greta.
»Ja«, bekräftigte er indes. »Du überlegst, was du willst, und dann tust du es.«
Wieder lauschte sie ihm zweifelnd. Das mochte für Zäune gelten, die man um die Estancia aufstellte, und für Schafböcke, die es auf dem Markt zu kaufen gab – aber bei anderen Dingen hatte sie sich als nicht ganz so willensstark erwiesen. Um den Traum von Deutschland hatte sie nicht ausreichend gekämpft, hatte dieses Ziel vielmehr vor sich hergeschoben, abgelenkt von anderen Aufgaben oder zu bequem, die tägliche Routine zu ändern. Wann hatte sie in den letzten Jahren überhaupt je innegehalten? Wann die Sehnsucht zugelassen, wild und stark, dass es noch mehr geben müsse als Schufterei?
»Ich war … ich bin ein Luftikus«, fuhr er fort. »Gewiss brauche ich beides – Abenteuer und Herausforderung. Aber eben nicht nur. Ich will so gerne zur Ruhe kommen! Ich möchte mit dir zur Ruhe kommen!«
Er rührte sie wie immer mit seiner Ehrlichkeit. Sosehr er sie zur Weißglut bringen konnte und sosehr sie ihm seine vermeintliche Sorglosigkeit manchmal neidete – meist gab er bedenkenlos zu, was er dachte, verschanzte sich nicht hinter Ausreden und Lügen, und dies war der Grund, warum sie ihm vertraute. Es ihm zeigen konnte sie allerdings nicht. »Zur Ruhe kommen! Pah! Wie langweilig!«, spottete sie.
»Ich dachte, du willst es auch …«, murmelte er hilflos.
Der Spott in ihrer Stimme erstarb. »Gesetzt den Fall, dass ich es wollte – wie sähe dieses ruhige Leben dann aus?«
Er zuckte mit den Schultern. »Bevor wir es beginnen können, muss ich noch etwas klären. In Deutschland.«
»Geschäfte?«, fragte sie.
»Auch.«
Wie so oft in den letzten Tagen versank er in Gedanken. Sie überlegte nachzubohren, entschied sich aber dagegen. Wenn sie ihn nicht nach einem Leben fragte, das nichts mit ihr zu tun hatte – dann würde er auch sie nicht nach dem fragen, was ihr eben durch den Kopf geschossen war.
»Wenn wir morgen wieder nach Punta Arenas zurückkehren«, fuhr er nach einer Weile fort, »reitest du zurück auf die Estancia, und ich fahre nach Hamburg. Und wenn ich wiederkehre, überlegen wir endgültig, wie es weitergeht.«
Es war ungewohnt, dass ein anderer Pläne für sie machte, und Emilia verbiss sich nur mit Mühe einen Protest. Die Idee, die ihr so plötzlich gekommen war und zugleich so selbstverständlich erschien, entwickelte sich zu einem handfesten Plan, während sie auf die Berge starrte.
»Woran denkt du?«, stellte er die Frage, die sie sich eben noch verkniffen hatte.
»Nichts weiter …«
»Aber du lachst?«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie tatsächlich lachte – aus Vorfreude auf das, zu dem sie sich in nur wenigen Augenblicken entschieden hatte, ohne Zögern, ohne längere Vorbereitung, sondern mit jener Sturheit und Entschlossenheit, die Arthur gerade an ihr gelobt hatte.
»Ich lache, weil ich glücklich bin«, sagte sie.
»Wenn man glücklich ist, lächelt man. Aber du lachst.«
»Ich zeige mein Glück eben so, wie ich will.«
»So bist du. Alles muss immer nach deinem Kopf gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber nun gut, solange ich es bin, der dich glücklich macht, soll es mir recht sein.«
Trotz des ernsten Gesichts stimmte er in ihr Lachen ein, und dann schwiegen sie wieder, genossen den flüchtigen Frieden genauso sehr wie die Selbstverständlichkeit, in eine gemeinsame Zukunft zu blicken – wie immer diese auch aussehen würde.
Die Abendsonne schien nicht rötlich, sondern eher bläulich über Punta Arenas, als hätte sich ihre Glut mit der Farbe des glatten Meeres vermischt. Möwen kreischten über ihren Kopf hinweg, als Emilia zum Steamer gerudert wurde, der am nächsten Morgen ablegen würde. Alle Kajüten waren beleuchtet, und im schwindenden Tageslicht glich das Schiff von ferne einem Häusermeer, das mitten aus den Fluten ragte. Emilia konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als das kleine Beiboot den Dampfer erreichte und sie ihn bestieg. Noch größer als ihre Belustigung, wenn sie sich Arthurs erstauntes Gesicht ausmalte, war jedoch die Aufregung.
Endlich, endlich war es so weit. Sie würde doch noch nach Deutschland reisen, obwohl sie diesem Traum vermeintlich abgeschworen hatte. Und wie mühelos alles geklappt hatte! Nun lohnte es sich, dass sie schon vor vielen Jahren einen Pass beantragt hatte und diesen mit einem Teil ihres Geldes in einem englischen Bankhaus in Punta Arenas deponiert hatte. Beides hatte sie nun an sich genommen und sich mit dem Geld eine Schiffspassage nach Hamburg gekauft – zu ihrem Glück war gerade noch eine Kajüte erster Klasse frei.
Viel schwieriger, als das alles zu organisieren, war es, Arthur Abschiedsschmerz vorzuheucheln. Am liebsten hätte sie ihn getröstet, als er die lange Trennung beklagte, die ihnen nun bevorstand, doch sie verkniff es sich, um die Überraschung nicht zu verderben, zumal er sich ohnehin bald hinter aufgesetztem Gleichmut versteckte: Er würde ja so schnell wie möglich wieder zurückkehren, bekräftigte er immer wieder, er müsse in Hamburg aber noch wichtige Dinge regeln, dann stünde einer gemeinsamen Zukunft nichts im Weg.
So waren sie voneinander geschieden; sie hatte ihm nachgewunken, dann die Männer gesucht, die sie auf ihrem Ausflug durch Patagonien begleitet hatten, und sie – mit einem Teil des Geldes und einem längeren Brief an Rita – zurück auf die Estancia geschickt.
In dem Schreiben übertrug sie ihr und Ana die Verantwortung für die Estancia. Diese wäre nunmehr ihr Besitz, für den sie sorgen mussten, wann sie, Emilia, zurückkehre, wüsste sie nicht. Vielleicht schon bald, vielleicht aber auch für viele Jahre nicht. Jetzt wäre endlich die Zeit gekommen – Zeit, die Liebe zu Arthur einzugestehen, aber auch Zeit, einen alten Traum zu leben, den Traum von Deutschland.
Sie bedauere aufrichtig, so hatte sie auch geschrieben, dass sie nicht mehr mit den beiden sprechen, es ihnen nicht ausführlicher erklären könne, aber dazu fehlte die Zeit. Sie hoffe auf Verständnis, wüsste zudem, dass Balthasar alles tun würde, damit es ihr und Aurelia gutgehe … und sie würde sich natürlich so bald wie möglich wieder melden …
Sie schrieb die Worte so schnell, dass sie viele Fehler machte, aber sie nahm sich nicht die Zeit, sie auszubessern, sondern wollte so schnell wie möglich auf das Schiff.
Auch hier galt es zunächst, ihre Ungeduld zu bezähmen. Am liebsten wäre sie sofort zu Arthur geeilt, aber sie ahnte, dass seine Überraschung, sie zu sehen, noch größer sein würde, wenn sie noch bis zum nächsten Morgen wartete. Die Nacht erschien ihr endlos lang. Sie konnte nicht schlafen, ging in der kleinen Kajüte auf und ab, rieb erregt die Hände aneinander und kicherte zwischendurch los. Sie hatte viel erlebt – und doch erschien ihr die Entscheidung, mit Arthur nach Hamburg zu reisen, als größtes Abenteuer in ihrem Leben.
Als im Morgengrauen das Schiff ablegte, blieb sie nicht lange an der Luke stehen, um zu sehen, wie das dunstverhangene Punta Arenas langsam ihrem Blick entschwand, sondern stürzte regelrecht zu Arthurs Kajüte. Noch gestern hatte sie sich beim Steward erkundigt, wo Herr Hoffmann untergebracht sei. Auch er hatte ein Ticket erster Klasse erstanden.
Laut klopfte sie an der Tür.
»Ja?«, hörte sie ihn antworten. Seine Stimme klang ziemlich schlecht gelaunt.
»Hier ist der Steward«, antwortete sie lachend.
Eine Weile blieb es still in der Kajüte, dann hörte sie Schritte. Er riss die Tür auf, lief fast in sie hinein und starrte sie dann völlig entgeistert an, als würde er ein Gespenst sehen. »Was machst du denn hier?«
»Such es dir aus!«, antwortete sie kichernd und drängte sich an ihm vorbei. »Vielleicht könnte ich deine Krankenschwester sein, die dir beisteht, wenn du dich vor Seekrankheit übergibst. Vielleicht bin ich dir auch als Freudenmädchen nützlich, das dir die Zeit vertreibt.«
Er rührte sich nicht, starrte sie nur fassungslos an. Dass er überrascht sein würde, hatte sie erwartet, jedoch nicht dieses Ausmaß an … purem Entsetzen. »Emilia, wie kommst du nur auf die Idee, dass du …«
Klang es etwa vorwurfsvoll?
Sämtliches Lachen in ihr erstarb. »Hast du erwartet, ich würde dich künftig bei allem, was ich tue, um Erlaubnis fragen?«, fuhr sie ihn an.
»Aber wie kannst du nur …? Ohne mich zu fragen …?«
Auch er schien nun verärgert, was ihre Wut noch mehr anstachelte.
»Du entscheidest nicht über mein Leben!«, rief sie. »Ich habe Geld. Genug Geld. Rita, Ana und Balthasar und zwischendurch auch Pedro werden sich um die Estancia kümmern – ich kann also tun, was ich will. Und ich will nach Deutschland. Das wollte ich schon immer. Ob mit dir oder ohne dich.«
Hilflos rang er seine Hände. »Aber du hättest doch wenigstens mit mir darüber reden können!«
Die Enttäuschung darüber, dass ihre Überraschung misslungen war und er sich alles andere als freute, schnürte ihr die Kehle zu, aber das wollte sie sich nicht anmerken lassen. »Du erzählst mir doch auch nicht alles, was du treibst«, rief sie empört. »Ich weiß zum Beispiel nicht, was du in Hamburg Dringendes zu erledigen hast.«
Er ließ seine Hände erst sinken und verschränkte sie dann trotzig vor seiner Brust. »Bin ich verpflichtet, es dir zu sagen?«
»Nein, bist du nicht!«, rief sie. »Und ich eben auch nicht! Du hast gesagt, dass du gemeinsam mit mir ein ruhiges Leben führen willst. Es ist dein Problem, wenn du dachtest, dass mir das genügt. Ich bin nicht in Patagonien verwurzelt, und wer sagt, dass ich den Rest meines Lebens dort verbringen will? Seit ich denken kann, wollte ich nach Deutschland gehen, der Heimat meiner Vorfahren!«
Der sehnsuchtsvolle Unterton in ihrer Stimme schien ihm nicht zu entgehen. Sein Blick wurde etwas freundlicher, seine Lippen waren nicht mehr ganz so hart aufeinandergepresst. Langsam schien er zu ahnen, um wie viel angenehmer es war, mit ihr zu reisen als ohne sie. Trotzdem hielt er die Arme weiterhin vor der Brust verschränkt, anstatt sie an sich zu ziehen und sie zu küssen.
»Freust du dich kein bisschen?«, fragte sie nicht mehr ganz so wütend.
»Wenn ich gewusst hätte, wie gerne du …«
»Nun, jetzt weißt du es. Und wenn du jetzt die ganzen drei Monate mit mir darüber streiten willst – dann bitte. Glaub nicht, ich könnte dir nicht Paroli bieten.«
»Das würde ich nie und nimmer glauben«, gab er mit schwachem Lächeln zurück. »Aber ich will ja gar nicht streiten. Ich will nur einige Angelegenheiten klären, bevor … bevor …« Er geriet ins Stottern.
»Bevor was?«
»Bevor wir heiraten«, brach es aus ihm hervor.
Sie lächelte kurz gerührt, verkniff es sich aber rasch und winkte ab. »Ach was«, meinte sie, »dafür bleibt später noch genug Zeit. Meinetwegen können wir gerne noch ein wenig länger in Sünde leben. Sofern du überhaupt noch mit mir sündigen willst, so ein bockiges Gesicht, wie du ziehst.«
»Ach Emilia …« Er klang resigniert, zugleich jedoch auch heiser vor Begierde. Nun endlich nahm er die Arme von der Brust und zog sie an sich; sie vergrub ihr Gesicht in seinem Haar, küsste ihn. Später schauten sie sich lange an, versanken in den Augen des anderen. Keine Ablehnung stand mehr in seinem Gesicht, von nun an gab er sich freundlich wie immer, nur manchmal, wenn er dachte, dass sie es nicht bemerken würde, runzelte er die Stirn, wirkte nachdenklich, besorgt und irgendwie abwesend – und dabei blieb es während der ganzen langen Reise.